Kapitel 13
Erschöpft setzte Jess sich in ein kleines
Restaurant in einer Nebenstraße der Via dei Serpenti unter einen
roten Sonnenschirm, bestellte ein kaltes Bier und streifte die
Sandalen von den Füßen. Die Hitze war unerträglich, die Sonne
reflektierte grell vom Pflaster. Jess war kilometerweit bergauf und
bergab gelaufen im Versuch, die Erhebungen in der Stadt der sieben
Hügel auszumachen. Sie war Touristenscharen ausgewichen und hatte
Straßen überquert, war Treppen gestiegen und verschlungenen Gassen
in schattige Höfe gefolgt und hatte dabei das ganze Viertel des
Esquilin erforscht. Sie hatte ihren Rundgang am Ort von Neros
Palast, der Domus Aurea, begonnen, und doch hatte sie nirgends das
Gefühl bekommen, in der Stadt zu sein, die Eigon gekannt
hatte.
Aber vermutlich hatte sie sie gar nicht allzu gut
gekannt. Vielleicht hatte die Villa außerhalb der Stadt gelegen.
Das war sogar recht wahrscheinlich, immerhin hatte es dort einen
richtigen Garten mit Bäumen gegeben, den Blick auf Rom nicht zu
vergessen. Jess seufzte. Vielleicht folgte sie einer völlig
falschen Fährte. Das Rom zur Zeit Claudius’ war im Vergleich zu
heute sehr klein gewesen und außerdem völlig ausgelöscht worden.
Soweit Jess wusste, standen nur noch sehr wenige der ursprünglichen
Bauten. Und selbst wenn es sie noch gab, waren sie für Eigons Leben
ohne Bedeutung. Abgesehen von ihrem kurzen Aufenthalt als
Gefangene und der langen Prozession vom Kerker zum Forum, wo
Claudius und seine Frau Agrippina auf dem Podium warteten, hatte
sie nichts von der Stadt gesehen.
Seufzend zog Jess ihren Skizzenblock zu sich und
schlug eine neue Seite auf. Die vorhergehenden Blätter zeigten
lauter Skizzen des römischen Lebens: Menschen, Gebäude, Plätze,
Brunnen, Schirme. Jess lächelte. Überall Schirme und Markisen, die
Schutz vor der sengenden Sonne spendeten. Auf einer Mauer ganz in
ihrer Nähe saßen zwei Männer und unterhielten sich mit einem
dritten, der rittlings auf einem Motorroller saß und sich eine
Zigarette drehte. Sie schienen bester Laune, entspannt, als sei die
Hitze das Normalste der Welt. Ein anderer Mann ging an ihnen vorbei
und blieb einen Augenblick stehen, drehte sich halb um und schaute
zu ihr. Daniel.
Jess erstarrte.
Ein Bus brauste heran, blieb mit zischenden Bremsen
stehen, öffnete seine drei Flügeltüren und verstellte Jess die
Sicht auf die gegenüberliegende Straßenseite. Als die Türen sich
wieder schlossen und der Bus weiterfuhr, war von Daniel nichts mehr
zu sehen. Jess suchte das Gedränge der Passanten auf dem
Bürgersteig ab. Nichts. Aber es war eindeutig Daniel gewesen. Sie
hatte ihn genau gesehen, das Lächeln auf seinem Gesicht, als er zu
ihr herüberschaute, nur wenige Meter von ihr entfernt.
»Signora?« Der Kellner servierte ihr Essen, stellte
den Teller vor ihr auf den Tisch und zeigte ihr auffordernd die
riesige Pfeffermühle, die er unter den Arm geklemmt hatte.
»Pepe?«
»Sì, grazie!« Nervös sah sie an dem Kellner
vorbei. Sie hatte es sich nur eingebildet. Jemand, der Daniel
ähnlich sah, mehr nicht. Daniel war nach Hause gefahren.
»Buon appetito!« Der Kellner ging schon zum
Nachbartisch weiter, lächelte dem nächsten Gast zu. Jess schob sich
die Sonnenbrille in die Haare und hielt weiterhin die Straße im
Auge. Wer immer es gewesen war, er war fort.
»Danke.« Verspätet lächelte sie dem Kellner nach.
Hunger hatte sie keinen mehr.
Es war schon nach fünf, als sie in Kims Wohnung
zurückkam. Die anderen saßen bereits zusammen mit Carmella im
Wohnzimmer.
»Da bist du ja endlich!« Kim begrüßte sie mit einem
Lächeln. »Setz dich doch zu uns, Jess.«
Jess schaute auf den Couchtisch, der vor dem Sofa
stand. Zwischen den Gläsern und einer gekühlten Flasche Frascati
lagen Karten in einem System ausgebreitet. Jess runzelte die Stirn.
»Was macht ihr da?«
Kim und Carmella tauschten rasch einen Blick.
»Carmella hatte das Gefühl, wir sollten noch etwas mehr erfahren«,
antwortete Kim zögernd. »Komm, setz dich. Ich schenk dir ein Glas
Wein ein, Carmella kann es dir erklären.«
Jess schaute zu Steph und dann zu William, der
seinen Sessel ein Stück vom Tisch weggerückt hatte. Auf seinem
Gesicht lag skeptische Missbilligung. Jess setzte sich auf die
Armlehne von Stephs Sessel, so weit wie möglich von ihm
entfernt.
»Ich glaube, ich habe Daniel gesehen«, sagte sie.
»Habt ihr nicht gesagt, er sei nach Hause gefahren?«
Einen Moment herrschte Stille. »Das hat er uns
zumindest gesagt«, meinte William schließlich. »Ist er doch wieder
hier?«
Jess schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht mit ihm
gesprochen. Er stand auf der anderen Straßenseite. Dann war er
verschwunden.« Sie zögerte. »Vielleicht habe ich mich auch
getäuscht, und er war es gar nicht. Aber er sah ihm sehr
ähnlich.«
»Ein Doppelgänger«, sagte Kim mit einem Lächeln.
»Den haben wir doch alle.«
Dann herrschte wieder Stille. Schließlich beugte
William sich vor. »Also, Carmella, dann erzähl uns doch mal, was du
in den Karten siehst.« Er schaute auf den Tisch. »Eins verstehe ich
nicht. Dies ist doch eine andere - wie nennst du es? - Auslage als
vor ein paar Tagen. Woher willst du dann wissen, ob die Karten das
Gleiche sagen?«
»Die Karten lügen nie.« Carmella warf ihm einen
scharfen Blick zu. »Sie geben die gleiche Warnung, wenn auch
vielleicht auf eine andere Art.«
Jess trank einen Schluck, der frische, kalte Wein
prickelte ein wenig auf ihrer Zunge. »Verstehe ich das recht, dass
es hier um mich geht?«, fragte sie. Ihre Stimme klang kritischer
als beabsichtigt.
Carmella zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Verzeih mir, aber ja, es geht um dich. Beim letzten Mal sind wir
nicht fertig geworden. Wir wurden unterbrochen. Ich mache mir
Sorgen. Um das Kind und um dich.«
»Und um Daniel. Du hast mich vor Daniel gewarnt«,
ergänzte Jess.
Kim schaute zu William und zog die Stirn kraus,
doch sein Blick war auf Jess’ Gesicht gerichtet. Sie versuchte
vergeblich, seine Miene zu deuten. Sie räusperte sich und fragte
Carmella mit einem Lächeln: »Also, machen wir dann da weiter, wo
wir aufgehört haben?«
Carmella schüttelte den Kopf. »Neulich wollten wir
eine Séance abhalten. Darum geht es jetzt nicht. Dafür braucht Jess
uns nicht. Das Kind spricht direkt zu ihr, oder nicht?« Sie sah zu
Jess hoch.
Jess hatte einen Kloß im Hals. Sie nickte. »Sie hat
vergangene Nacht mit mir gesprochen. Bald ist sie kein Kind mehr«,
sagte sie langsam. »Langsam wird sie eine junge Frau.«
»Das ist gut.« Carmella lächelte. Auch sie
beobachtete Jess’ Gesicht. »Aber bei dieser Auslage geht es nicht
um Eigon. Es geht um dich.« Sie klopfte mit dem Fingernagel auf die
Karten. »Und jetzt mische ich, und wir fangen noch einmal von vorn
an. Diesmal hebst du sie ab. Wenn wir dann die gleiche Deutung
bekommen, wissen wir, dass die Karten die Wahrheit sagen.« Sie warf
William einen kurzen Blick zu. Dann schob sie die Karten zusammen
und begann, sie zu mischen. Als sie einen ordentlichen Stapel in
der Hand hielt, legte sie ihn vor Jess auf den Tisch. »Heb
ab.«
Jess stellte ihr Glas beiseite und streckte die
Hand aus.
»Warte«, sagte Carmella. »Bevor du sie anfasst,
überleg dir, was du wissen willst. Du sollst es mir nicht sagen,
sondern einfach daran denken, und wenn du so weit bist, dann heb
ab.«
»Soll die Frage Eigon betreffen?«
»Das ist egal.« Carmella sah sie mit
zusammengekniffenen Augen an. »Du kannst fragen, wonach du willst.«
Sie lehnte sich zurück. »Meine Großmutter hat immer Weihrauch
abgebrannt, bevor und nachdem sie die Karten las«, erzählte sie
leise. Wieder verspürte sie das seltsame Unbehagen, als wollte eine
andere Person aus weiter Ferne bei dieser Auslage mitspielen. »Sie
sagte, die Karten seien heilig. Das ist kein Spiel, es ist ein
Ritual.«
»Und? Haben wir keinen Weihrauch?« William sah noch
skeptischer drein.
Carmella zuckte mit den Schultern. »Adriano fand
solche Sachen entsetzlich, stimmt’s, Kim?« Sie lachte. »Er liebte
die Karten, aber für ihn waren sie reine Unterhaltung. In gewisser
Hinsicht ist mir nicht ganz wohl dabei, das Tarot hier zu legen. Es
hätte ihm nicht gefallen, und ich nehme das, was die Karten sagen,
ernst. Nein, aus Respekt vor Adrianos Wünschen habe ich keinen
Weihrauch mitgebracht,
aber hier« - sie klopfte auf ihre Brust -, »hier habe ich ein
Gebet gesprochen, auch für euer kleines Mädchen.« Sie trank einen
Schluck Wein, setzte ihr Glas ab und beugte sich vor. »Bist du
bereit, Jess?«
Jess nickte. Plötzlich war sie nervös. Sie wartete
noch einige Sekunden, dann hob sie das Deck vorsichtig ab.
»Gut. Und jetzt musst du dich konzentrieren.«
Carmella nahm die Karten und teilte sie in drei Stapel.
»Moment mal.« William beugte sich vor. »Es sollte
doch wohl Jess sein, die die Karten aussucht.«
Carmella schaute auf und verzog das Gesicht. »So
mache ich das normalerweise nicht.«
»Aber ich finde, in diesem Fall solltest du es ihr
überlassen. Es geht doch um sie.«
»William, ich habe nichts dagegen, wenn Carmella
das übernimmt. Ich weiß sowieso nicht, wie man’s macht«, warf Jess
ein.
»Kennst du dich mit Kartenlegen aus, William?«,
fragte Kim. »Plötzlich klingst du wie ein Experte.«
»Ich möchte nur, dass es richtig gemacht wird.«
William schürzte die Lippen. »Nein, ich bin kein Experte, außerdem
glaube ich nicht an solchen Hokuspokus, aber ich bin nicht bereit
zuzusehen, wie du, Jess, unnötig in Aufregung versetzt wirst
…«
»Wie soll die Person, die die Karten auswählt,
Carmellas Deutung beeinflussen, wenn die ganze Sache sowieso
abgekartet ist, wie du sagst?«, fragte Kim süffisant. »Ich schlage
vor, du gehst mit deinem Glas Wein nach nebenan, bis wir hier
fertig sind.«
»Nein.« Carmella hob beschwichtigend die Hand.
»Nein, er hat Recht, vorsichtig zu sein. Und er hat auch Recht mit
dem anderen. Manchmal lassen Leger den Fragesteller die Karten
wählen. Mir ist es egal. Jess, bitte zieh neun Karten
aus dem Deck und leg sie mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch,
und zwar in drei Reihen à drei.«
Jess warf William einen wütenden Blick zu, nahm den
Stapel in die Hand, zog neun Karten und legte sie umgedreht vor
sich auf den Tisch. Als sie die erste aufdecken wollte, hielt
Carmella abwehrend die Hand hoch.
»Nein, wenn William nichts dagegen hat, drehe ich
sie um und deute sie für dich.« Einige Sekunden herrschte Stille,
dann hatte sie die Karten zu ihrer Zufriedenheit angeordnet und
drehte die erste um. Ihr stockte der Atem.
Jess schaute erschreckt auf. »Was ist?«
Carmella sagte nichts, sondern deckte schweigend
die restlichen Karten auf. Alle schauten ihr zu, während sie die
ausgelegten Karten studierte. Nach einer langen Weile sah sie
schließlich auf. »Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich als
Betrügerin bezeichnet«, sagte sie mit einem strengen Blick zu
William, »aber diese Auslage bestätigt, was ich die anderen Male
gelesen und gesagt habe. Dieselbe Karte ist gekommen.« Sie deutete
auf eine. »Il re di coppe. Der König der Kelche, und er
steht auf dem Kopf. Jess, das ist der Mann, der dich verfolgt. Den
haben wir auch bekommen, als deine Schwester mich nach dir fragte.
Weißt du noch, Steph? Er bedeutet Gefahr für dich. Dieser Mann ist
gefährlich und bösartig. Er ist eifersüchtig und fühlt sich von dir
bedroht.«
Jess schaute zu ihrer Schwester, ihr Gesicht war
kreidebleich. »Genau das habe ich dir gesagt.«
»Und schaut hier, und hier.« Carmella zeigte
zunächst auf eine und dann eine zweite Karte. »Il sei di spade e
il otto di spade.« Sie schüttelte den Kopf. »Beides
Schwert-Karten, beide negativo. Das ist sehr schlimm. Du
weißt doch, von wem ich spreche?«
Jess nickte. »Daniel«, flüsterte sie.
»Also bitte!«, fuhr Kim ungeduldig dazwischen. »Er
hat gesagt, dass du das sagen würdest. Er hat uns gesagt, dass du
absolut besessen bist von ihm!«
»Wie bitte? Was hat er gesagt?«, fragte Jess
wütend.
»Er hat gesagt …« Kim schaute zu William. »Jetzt
musst du mir helfen, William! Daniel ist deinetwegen nach Hause
gefahren. Er hat uns erzählt, was in London passiert ist.«
Jess erstarrte. »Und was genau hat er
erzählt?«
»Er ist nicht mehr hier.« Kim sah sie zornig an.
»Es ist doch sinnlos, jetzt noch darüber zu streiten!«
»Es ist überhaupt nicht sinnlos!«, fuhr Jess auf.
»Was hat er euch erzählt? Das will ich wissen!«
Kim schüttelte den Kopf. »Lass es gut sein, Jess,
bitte. Ich hätte den Mund halten sollen.«
»Ich will es aber nicht gut sein lassen.« Jess sah
alle am Tisch der Reihe nach an. Carmella schaute auf die Karten.
William starrte in sein Glas, das er zwischen den Knien hielt,
drehte es unablässig am Stiel und wich ihrem Blick aus. Steph sah
unbehaglich zwischen Jess und Kim hin und her.
»Ich finde, du solltest uns sagen, was genau er
gesagt hat, Kim«, meinte Steph schließlich mit einem Blick auf ihre
Schwester. »Jess hat ein Recht darauf, es zu erfahren.«
»Ich sage euch, was er gesagt hat«, fuhr William
unvermittelt dazwischen. Er sah Jess direkt in die Augen. »Er
sagte, nachdem wir uns getrennt haben, hättest du dich Hals über
Kopf in ihn verknallt. Er sagt, du hättest dich an ihn
rangeschmissen, und als er sich nicht darauf einlassen wollte,
hättest du ihm vorgeworfen, er hätte dich vergewaltigt.«
»Ich hab’s doch gewusst!« Jess sprang auf. »Das
miese Schwein! Er hat alles einfach verdreht! Erzähl’s ihnen,
Steph!«
»Du weißt davon?« Kim drehte sich erstaunt zu
Steph.
»Jess hat es mir gestern Abend erzählt«, sagte
Steph leise. »Wir haben uns lange darüber unterhalten, nachdem
Daniel ihr ins Forum gefolgt ist.«
»So, wie er ihr heute Nachmittag gefolgt ist?« Kim
hob spöttisch die Augenbrauen.
Das Blut stieg Jess in die Wangen. »Mit heute
Nachmittag bin ich mir nicht sicher, das habe ich ja auch gesagt.
Wahrscheinlich war er’s nicht…«
»Wahrscheinlich war er’s gestern auch nicht, Jess«,
sagte William freundlich.
»Entschuldigt«, warf Carmella ein. »Darf ich etwas
sagen, bitte?« Sie sah alle der Reihe nach an. »Die Karten lügen
nicht. Sie sehen in Jess’ Leben einen gefährlichen Mann. Einen
hinterhältigen Mann. Einen Mann, der lügt und betrügt, um seinen
Willen durchzusetzen. Sie sehen Unfälle. Sie sehen, dass die
Vergangenheit Jess einholt. Sie sagen, dass sie nicht mehr
davonlaufen kann.«
»Das ist nicht Daniel!«, sagte Kim mit
Nachdruck.
»Warum nicht?« Jess kniff die Augen zusammen. »Was
ist denn da zwischen dir und Daniel, Kim?«
»Es reicht!« Abrupt stand William auf. »Schluss
damit. Carmella, bitte nimm deine Karten und geh. Wir brauchen uns
diesen Quatsch keine Sekunde länger anzuhören.« Er fegte die Karten
zusammen.
»Nicht!« Schützend breitete Carmella die Arme über
den Tisch, aber zu spät.
»Das ist im besten Fall ein Gesellschaftsspiel und
im schlimmsten Fall teuflisch. Du nutzt jemandes Unglück und
Hilflosigkeit aus. Das ist alles absoluter Schwachsinn!«, rief
William wütend.
»Das geht dich überhaupt nichts an!«, brauste Jess
auf. »Wie kannst du es wagen, so dazwischenzufahren!«
»Und wie ich es wagen kann. Wenn ich sehe, wie du
ausgenutzt und mit diesem abergläubischen Hokuspokus kaputtgemacht
wirst!«
»Ich werde nicht ausgenutzt und kaputtgemacht!«
Jess funkelte ihn an. »Du bist derjenige, der gehen sollte. Niemand
hat dich gebeten herzukommen. Das geht dich alles nichts mehr an.
Fahr zurück nach England und lass mich in Ruhe!« Zu ihrem Ärger
merkte sie, dass sich ihre Augen vor Wut mit Tränen füllten. Sie
drehte sich um, damit er sie nicht weinen sah, und marschierte zur
Tür. »Vergesst es, ihr alle zusammen. Keiner von euch glaubt mir.
Vergesst es einfach!«
Carmella stand auf, ging rasch um den Tisch und
hielt Jess am Arm zurück. »Warte. Hier.« Sie holte eine Börse aus
ihrer Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. »Wenn du mich
brauchst, ruf mich an, ja?«
»Danke.« Jess warf einen kurzen Blick auf das
Kärtchen und steckte es in die Hosentasche.
»Jess, warte!«, rief William ihr nach, aber sie war
bereits zur Tür hinaus und ging den Korridor entlang.
Er lief ihr nach. Kurz vor der Wohnungstür hatte er
sie eingeholt, packte sie am Arm und drehte sie zu sich. »Jess, ich
wollte dich nicht verletzen. Ich mache mir Sorgen um dich, das ist
alles. Du glaubst doch nicht wirklich an das, was Carmella sagt,
oder? Ihrer Meinung nach hilft sie dir, aber das ist nicht der
Fall. Glaub mir. Du musst der Wahrheit ins Gesicht sehen.«
»Der Wahrheit ins Gesicht sehen?«, wiederholte
Jess. »Du kennst die Wahrheit doch gar nicht!« Eine Träne rann ihr
über die Wange, wütend wischte sie sie fort. »Es steht mein Wort
gegen seins. Warum glaubt jeder ihm und nicht mir? Außer Steph. Und
Carmella. Sie glaubt mir, weil die Karten ihr sagen, was Daniel für
ein Mensch ist.«
»Ich kann mir gut vorstellen, dass er sich wie ein
Schwein verhalten hat«, sagte Will ruhig.
Sie entriss ihm ihren Arm.
»Es geht um all das andere. Die Dramatik, die
Vorwürfe. Die Gespenster«, erklärte er.
»Die Gespenster?« Jess starrte ihn an. »Du hältst
mich für verrückt wegen Eigon?«
»Nicht verrückt, Jess …«
»Aber?«
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast eine schwere
Zeit hinter dir. Daniel sagte, sie hätten dich aufgefordert zu
kündigen.«
»Und du glaubst ihm natürlich.«
Er zögerte.
»Hast du Brian gefragt, weshalb ich gekündigt
habe?«
»Ja, das habe ich.« Er zuckte wieder mit den
Schultern. »Er sagte, es sei eine persönliche Entscheidung. Deine
Entscheidung.«
»Natürlich!« Am liebsten wäre sie vor Zorn mit dem
Fuß aufgestampft. »Und das stimmt auch. Ich wollte ihm ja nicht
unbedingt auf die Nase binden, dass Daniel mich vergewaltigt
hat!«
Entsetzt starrte William sie an. Eine ganze Weile
herrschte Stille. Jess sah zunächst die Wut in seinem Gesicht, die
in Ungläubigkeit und schließlich in Mitgefühl überging. Als er nach
einer ganzen Weile etwas sagte, war seine Stimme sehr sanft. »Aber,
Jess, wenn er dich vergewaltigt hat, warum bist du dann nicht zur
Polizei gegangen? Warum hast du niemandem davon erzählt?
Irgendjemandem.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Das verstehe
ich nicht.«
»Warum nicht? Was soll daran so schwer zu verstehen
sein?«, fragte sie empört. »Ich bin in meiner eigenen Wohnung
körperlich und emotional missbraucht worden. Eine
ganze Weile wusste ich nicht einmal, wer es gewesen ist. Ich
dachte, es wäre Ash gewesen. Verdammt, ich dachte, du wärst es
gewesen! Ich habe Daniel vertraut. Ihn hätte ich als Letzten
verdächtigt. Ich habe mich ihm anvertraut.« Vor Zorn schluchzte sie
auf. »Ich habe ihn um Rat gefragt!«
Die Tür ging auf, Steph trat in den Korridor.
»Jess, ist alles in Ordnung?«
»Nein! Nichts ist in Ordnung! Offenbar bin ich eine
geistesgestörte, paranoide Lügnerin!« Jess machte auf dem Absatz
kehrt, lief in ihr Zimmer, knallte William die Tür vor der Nase zu
und drehte den Schlüssel um.
In der Mitte des Zimmers stand eine Gestalt.
»Eigon?«
Jess lehnte an der Tür, Adrenalin jagte durch ihren
Körper, als die Gestalt sich zu ihr umdrehte. Dies war eine ältere,
größere Eigon, sie war vielleicht vierzehn oder fünfzehn und trug
einen cremefarbenen Umhang mit passendem Kleid. Ihr rabenschwarzes
Haar war mit dunkelblauen Schleifen zusammengebunden, um die
Handgelenke und den Hals trug sie Goldschmuck.
Es ist nicht sicher, nach draußen zu gehen. Er
ist dort draußen und beobachtet alles. Er wartet. Ich hab’s nicht
gewusst! Ich hatte es mit aller Macht versucht zu
vergessen!
Sie verblasste vor Jess’ Augen. Jess sackte in sich
zusammen, zu erschöpft, um sich zu bewegen, während die Gestalt
sich in Nichts auflöste.
»Ich bin verrückt«, sagte sie laut. »Die anderen
haben Recht. Ich bin total am Durchdrehen.«
Sie stemmte sich vom Boden hoch, ging zum Fenster
und sah hinaus. Es wurde dunkel, der Innenhof war verwaist.
Eigentlich wirkte er immer verwaist, obwohl irgendjemand ihn
bisweilen doch betreten musste, dachte Jess beiläufig, der Gärtner,
der Hausmeister, vielleicht sogar Mieter. Der Friede
dort unten im Hof war fast greifbar, dazu plätscherte das Wasser,
das sich in den Brunnen ergoss, und in der Ferne das alles
überlagernde leise Dröhnen des Verkehrs.
Eine Bewegung im Schatten fiel ihr ins Auge. Sie
zog die Stirn kraus, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich
vor dem Lichtschein ihrer Nachttischlampe im offenen Fenster
deutlich abzeichnen musste.
Sie beugte sich hinaus und versuchte irgendetwas
dort unten zu erkennen. »Eigon?« Sie sprach im leisesten
Flüsterton. Dann sah sie ihn. Daniel. Er stand auf dem
kurzgeschnitten Rasen, umgeben von den perfekt gestutzten
Buchsbaumhecken. Mit verschränkten Armen schaute er unverwandt zu
ihrem Fenster hinauf. Panisch lief sie zum Bett und schaltete das
Licht aus, dann schlich sie zum Fenster zurück und spähte mit wild
pochendem Herzen wieder nach unten. Von Daniel war nichts mehr zu
sehen.
Hinter ihr klopfte es leise an der Tür.
»Geh weg!«, rief sie mit zitternder Stimme.
»Jess, ich bin’s, Steph. Bitte lass mich rein. Wir
müssen reden.«
»Nein.« Sie schaute angestrengt in den Garten,
versuchte etwas zu erkennen, obwohl es rasch dunkler wurde.
»Bitte, Jess.« Steph klopfte wieder.
Jess konnte dort draußen nichts mehr erkennen. Nur
das Plätschern des Brunnens unterbrach die friedliche Stille.
Sie ging zur Tür und schloss auf.
Steph trat ein. »Warum sitzt du hier im
Dunkeln?«
»Weil …« Jess unterbrach sich gerade noch
rechtzeitig. Weil Daniel da draußen steht und mein Fenster
beobachtet. Fast hätte sie es laut gesagt. Aber das war unmöglich.
Wie sollte er in den Innenhof des Palazzo gelangen? Der Hof war
umgeben von hohen Mauern, in die keine Türen eingelassen waren, bis
auf die hohen Terrassentüren der vier
Wohnungen im Erdgeschoss, die direkt auf die Kieswege rund um den
Garten führten. Keine dieser Türen hatte offen gestanden, alle
waren verriegelt und mit Läden verschlossen, die Bewohner waren in
die Kühle ans Meer oder in die Berge gereist. Jess seufzte. Sie
ging zum Bett und schaltete die Lampe an, dann schloss sie die
Fensterläden. »Ist Carmella gegangen?«
»Ja.« Steph setzte sich aufs Bett. »Offenbar hat
Daniel länger mit Kim und William geredet, bevor er gestern
gefahren ist. Er hat ihnen seine Version davon erzählt, was in
London passiert ist, und sie zu Stillschweigen vergattert.«
»Hat er ihnen auch erzählt, was in Ty Bran passiert
ist?«
Steph zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich
nicht. Davon haben sie nichts gesagt. Er hat sich heftig ins Zeug
gelegt, um deine Glaubwürdigkeit zu untergraben, aber Kim und
William sind deine Freunde, Jess. Sie glauben dir, nicht ihm. Auch
Kim, die ja früher mal eine große Schwäche für ihn hatte.« Sie
zögerte. »William liebt dich immer noch, ist dir das klar?«
»Das hast du schon mal gesagt.« Jess zog die Nase
hoch und setzte sich neben ihre Schwester aufs Bett. »Das hindert
ihn aber nicht daran, mich für verrückt zu halten. Vielleicht bin
ich ja auch verrückt.« Sie lächelte matt.
»Nein. Du bist einfach nur völlig
überanstrengt.«
»Rhodri könnte dir erzählen, was in Ty Bran
passiert ist. Er hat Daniel hautnah miterlebt.«
»Rhodri Price?« Steph schüttelte den Kopf. »Der ist
in Mailand.«
»Und wahrscheinlich würde er mir auch nicht den
Rücken stärken.« Jess ließ sich ins Kissen sinken. »Was soll ich
bloß machen?« Sie warf einen Blick zum Fenster. War Daniel in
diesem Moment dort draußen und wartete auf eine Gelegenheit, zu
ihrem Fenster hinaufzuklettern? Sie schauderte.
Steph bemerkte es. »Kannst du versuchen, das alles
abzuhaken, Jess? Tun wir doch so, als wäre nichts passiert. Daniel
ist nicht mehr da. William meinte, wenn du es möchtest, würde er
auch nach Hause fahren. Dann kannst du dich entspannen und einen
richtig schönen Urlaub hier verbringen. Dir Sachen ansehen und
malen. Und dafür sorgen, dass du wieder etwas Farbe ins Gesicht
bekommst.« Sie nahm Jess’ Hand. »Wenn es dir hilft, so richtig warm
bin ich mit Daniel nie geworden. Er ist zu einnehmend, zu charmant.
Und seine Augen sind grausam.« Sie schauderte. »Komisch, das ist
mir früher nie aufgefallen. Ich glaube, was Carmella sagt. Weiß der
Teufel, wie sie es macht, aber sie hat mit ihren Karten ziemlich
Recht. Vielleicht ist sie sehr intuitiv oder verfügt einfach über
eine gute Menschenkenntnis, aber aus welchem Grund auch immer - ich
glaube, mit Daniel hat sie wirklich Recht.« Seufzend schüttelte sie
den Kopf, zog die Beine an und schlang die Arme darum.
»Und was ist mit Eigon?«, fragte Jess leise.
»Glaubst du auch an sie?«
Steph sah sie von der Seite an. »Ich glaube, dass
es in Ty Bran spukt.«
»Aber nicht, dass sie mir nach Rom gefolgt
ist?«
Steph machte eine ausweichende Geste. »Ich habe
keine Ahnung, wie Gespenster funktionieren, Jess. Heißt es nicht,
dass sie kein Wasser überqueren können oder so?«
»Sagt man das nicht von Hexen? Außerdem, eigentlich
bin ja ich ihr gefolgt und nicht umgekehrt.«
»Dann weiß ich es nicht. Ich weiß nicht, was ich
glauben soll. Ich möchte nicht, dass du Angst hast. Und ich möchte
mich nicht fragen müssen, ob du paranoid geworden bist.« Steph
zögerte. »Daniel hat etwas von einem römischen Soldaten gesagt, von
dem du dich verfolgt fühlst.«
»Das ist Unsinn.« Ungehalten stand Jess auf und
trat wieder zum Fenster. »Wenn jemand mich verfolgt, dann Daniel.
Ich habe ihn vorhin in der Dämmerung unten im Garten gesehen.« Sie
wirbelte zu Steph herum. »Ich habe es dir nicht gleich gesagt, weil
ich wusste, dass du mir nicht glauben würdest! Meinst du, dass ich
halluziniere? Wer weiß, vielleicht stimmt’s ja auch.« Sie strich
sich das Haar aus dem Gesicht.
»Auf jeden Fall hast du schreckliche Angst vor
ihm.«
»Und deswegen bin ich natürlich paranoid. Und so
drehe ich mich im Kreis. Es ist aussichtslos.«
»Bei Tageslicht und im Sonnenschein ist alles
besser, Jess. Warum unternehmen wir morgen nicht alle zusammen
etwas? Solange du nicht allein bist, kann Daniel dir ja nichts tun,
wenn er dir folgt, oder?« Steph glitt vom Bett und stand auf.
»Vergessen wir das doch alles und machen einen Ausflug zur Villa
Borghese oder etwas in der Art. Vergiss Daniel.«
Vergiss Eigon.
Jess lächelte matt. »Ja, das würde mir
gefallen.«
Als Steph gegangen war, blieb sie einen Moment
still stehen, dann schlich sie zur Tür und drehte den Schlüssel um.
Als Nächstes schloss sie die Fenster und verriegelte sie, zog die
Vorhänge zu und ging ins Bett. So heiß es auch sein mochte, sie
würde die Fenster nicht offen stehen lassen.
Stunden später war sie immer noch wach. Um halb
drei hatte jemand ans Fenster geklopft. Als sie aufgestanden war
und durch den Spalt zwischen den Fensterläden hinausgeschaut hatte,
hatte sie nur ihr eigenes Spiegelbild gesehen.