Kapitel 32
Jess, warte!« Rhodri eilte ihr den Pfad hinauf nach. Er war kurz nach neun in Ty Bran angekommen, wo Aurelia und Steph mit dem Frühstück warteten, bis Jess von ihrem Spaziergang zurückkam. Er war sofort aufgebrochen, um ihr entgegenzugehen.
Sie blieb stehen und lächelte. »Du klingst außer Atem. Von der Lunge eines Maestro würde ich eigentlich Besseres erwarten!«
»Selbst die Bühne in der Scala ist nicht so steil wie dieser Berg!«, gab er zurück. »Und da kommt’s drauf an, dass mir die Puste nicht ausgeht, nicht hier. Wo willst du hin? Doch nicht wieder zu den Steinen hinauf, oder?«
Sie machte eine ausweichende Geste. »Ich musste einfach raus. Mummy und Steph haben so getan, als sei alles ganz normal, haben das Frühstück hergerichtet und Alltagskram erledigt, als sei nichts passiert. Ich kann das Ganze nicht so schnell vergessen. Der kleine Junge, ganz allein.«
»Das kann ich verstehen, Jess.« Seine Stimme war sehr sanft. »Du denkst also, dass es der Junge ist?«
»Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ja, doch. Eigentlich bin ich mir sicher. Ein kleiner Junge, der sich verlaufen hat und weiß, dass das Heer seines Vaters da unten hingemetzelt worden ist.« Sie machte eine weit ausholende Geste. »Er hat gewusst, dass feindliche Soldaten nach ihm und seinen Schwestern suchen. Er hat gewusst, dass sie aufgespießt werden, wenn die Römer sie finden.«
»Ich glaube nicht, dass er das gewusst hat, Jess«, widersprach er leise. »Seine Schwester hatte ihm gesagt, dass es ein Spiel ist, vergiss das nicht. Das hast du mir selbst gesagt. Sie hat versucht, ihn vor dem Wissen zu schützen.« Er sah ihr ins Gesicht. »Du darfst nicht mehr daran denken, Jess. Es ist einfach zu schmerzlich. Stell dir vor, dass er sich unter den Steinen im Trockenen zusammengekuschelt hat und eingeschlafen ist. Vielleicht war es eine kalte Nacht, und er ist erfroren. Davon hat er gar nichts mitbekommen. Er ist einfach in einen immer tieferen Schlaf gesunken. Das wäre ein schöner Tod gewesen.«
Sie schniefte. »Manchmal drehen meine Gedanken einfach durch.«
Er lachte freundlich. »Das kann man wohl sagen!«
Sie schaute auf. »Bin ich sehr nervig gewesen?«
»Nervig würde ich mal als Untertreibung bezeichnen, aber dieser Sommer ist eindeutig ganz anders für mich geworden, als ich erwartet hatte.« Er zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn. »Ich wurde ausgeschickt, um dich zum Brunch zu holen.«
Einen Moment blieben sie reglos so stehen. Jess hielt die Luft an. Wenn sie den Kopf hob, würde er ihr einen Kuss auf die Lippen geben. Das wusste sie, aber sie wusste nicht, ob sie das wirklich wollte. Ein Teil von ihr wünschte sich nichts sehnlicher, als immer in seinen Armen zu bleiben. In seinen Armen fühlte sie sich so sicher. Doch ein anderer Teil von ihr zog sie ungeduldig von ihm fort, wollte an einen anderen Ort und in eine andere Zeit zurückkehren.
»Jess …?«
Sie trat zwei Schritte zurück. »Rhodri, nein. Es tut mir leid. Es geht nicht.«
Er bewegte sich nicht. »Warum nicht?«
»Weil … ich bin zurzeit völlig durch den Wind, ich bin verwirrt und durcheinander und habe furchtbare Angst.«
Er überlegte kurz. »Ich würde gern etwas tun, damit du keine Angst mehr hast«, sagte er leise. »Ich würde dich gern beschützen.«
»Ich weiß.«
»Wenn wir schon dabei sind, reinen Tisch zu machen, würde ich’s gern wissen - ist es William?«
Sie schüttelte den Kopf. »Zwischen William und mir ist es aus.«
»Weiß er das?«
Sie nickte. »Ich glaube schon.«
»Also ist es Eigon.«
Wieder nickte sie. »Ich kann sie dir nicht zumuten, Rhodri. Ihretwegen bin ich völlig durcheinander. Ich weiß nicht, warum ich so tief in der Geschichte drinstecke, aber sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf, weder tags noch nachts. Es gibt noch etwas, das ich für sie tun muss.«
»Ihren kleinen Bruder beerdigen?«
Überrascht sah sie zu ihm. »Du verstehst das?«
»Natürlich verstehe ich das. Das verstehen wir alle. Deine Mutter und Steph wissen genau, was dir durch den Kopf geht. Sie sehen es vermutlich genauso wie du. Friss es nicht in dich hinein, Jess. Sei so nett und gesteh uns zu, dass wir eine gewisse Ahnung haben, was in dir vorgeht. Und weißt du, wir haben sogar selbst Gefühle. Du glaubst offenbar, du hättest als Einzige Anspruch auf sie!« Plötzlich war er wütend. »Verdammt nochmal, schließ uns nicht von allem aus!« Er machte kehrt und ging zornig davon. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. »Also, kommst du?«
Sie lächelte zerknirscht. »Ja.«
»Gut! Ich werde es nämlich allmählich leid, dir ständig nachzulaufen.«
Beide schwiegen. Sie wusste, dass sie etwas sagen sollte. Irgendetwas, um ihn zurückzuhalten. Sie sollte ihm sagen, dass sie sich wünschte, er würde ihr immer weiter nachlaufen. Sie sollte zu ihm gehen und ihn küssen. Sie tat nichts. Gelähmt vor Unschlüssigkeit blieb sie stehen und sah zu, wie er sich nach kurzem Zögern umdrehte und den Berg hinunterging. Wenig später war er um die Biegung aus ihrem Blickfeld verschwunden.
 
Der Postbote in London hatte gerade ein paar Briefe durch den Briefschlitz gesteckt, als er stutzte. Hatte er da hinter der Tür ein Ächzen gehört? Normalerweise hätte er auf so etwas nicht geachtet, aber im Lauf der Monate hatte er William Matthews ein wenig kennengelernt, er war ihm öfter auf der Treppe begegnet, als der junge Mann zur Arbeit ging, und irgendwie hatte der Typ ihm gefallen. »Hallo?« Er stand vor der Tür und schaute zum Fenster hinein, dann bückte er sich und spähte durch den Briefschlitz in den Flur.
Der Notarzt traf zur selben Zeit ein wie die Polizei. Sie brachen die Tür auf und betraten die Wohnung. Offenbar war nichts berührt worden. Sie konnten keinerlei Anzeichen für einen Raubüberfall entdecken, nur den Mann, der wenige Meter hinter seiner Haustür in einer Blutlache lag. Jemand hatte ihm mit einem bislang unbekannten stumpfen Gegenstand einen Schlag auf den Kopf versetzt. Offenbar hatte er das Bewusstsein lange genug wiedererlangt, um zu stöhnen, als die Post auf den Türabstreifer fiel. Außerdem hatte er das Bewusstsein lange genug wieder erlangt, um mit seinem eigenen Blut ein Wort an die Wand zu schmieren:
Daniel.
Bis die Polizei bei Brian Barker angerufen hatte, dem Collegedirektor, dessen Name und Nummer sie auf Williams Schreibtisch gefunden hatten, war er tot.
 
Als Catherine in Ty Bran anrief, nahm Steph den Anruf in der Küche entgegen. Sie hatten es aufgegeben, auf Jess zu warten, und sich zu einem späten ausgedehnten Frühstück hingesetzt. Jetzt saßen sie bei einer letzten Tasse Kaffee zusammen. Jess war noch immer nicht aufgetaucht, und Rhodri war am Gehen, als das Telefon läutete. Ein Blick auf Stephs Gesicht ließ ihn innehalten. Er setzte sich wieder und hörte erschrocken dem bruchstückhaften Gespräch am Telefon zu.
»Was ist passiert?«, fragte Aurelia, als Steph das Mobilteil in die Ladestation zurücklegte. Stephs Gesicht war aschfahl.
»William.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er ist tot.« Sie schluckte, tastete sich zu ihrem Stuhl vor und ließ sich schwer darauf fallen. »Offenbar hat der Postbote ihn heute früh gefunden. Jemand hat ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt. Er …« Sie machte eine Pause, einen Moment versagte ihr die Stimme. »Er hat mit seinem eigenen Blut einen Namen an die Wand geschrieben. Sie haben Catherine und Brian gefragt, ob sie jemanden namens Daniel kennen.« Ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern.
Rhodri stand auf, er schob seinen Stuhl so heftig zurück, dass er krachend zu Boden fiel. »Das Schwein! Dieses miese Schwein!« Er ballte die Hände zur Faust. »Wo ist er, wissen sie das? Haben sie ihn erwischt?«
Steph schüttelte den Kopf. Sie schaute zu ihrer Mutter, die sie schockiert ansah. »Catherine weiß es nicht. Sie wollte, dass Jess von uns erfährt, was mit William passiert ist.
Sie sagte, die Polizei könnte vielleicht herkommen und sie befragen.« Sie zögerte. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, war William vorher noch bei ihnen. Er ist gleich nach seiner Rückkehr aus Rom zu ihnen gegangen und hat ihnen gesagt, dass er mit der Polizei gesprochen hat. Er hat sie vor Daniel gewarnt.«
Rhodri hob seinen Stuhl auf. »Ich gehe Jess suchen. Mittlerweile muss sie doch auf dem Rückweg sein. Ich dachte, sie würde mir folgen.« Auf dem Weg zur Tür blieb er stehen. »Soll ich es ihr sagen? Oder wäre es besser, wenn eine von euch ihr es sagt?«
»Sag du’s ihr«, flüsterte Steph. »Ich glaube nicht, dass ich es über mich bringe.«
 
Rhodri ging zu der Stelle zurück, wo er Jess zuvor zurückgelassen hatte. Dort war sie nicht mehr, aber das hatte er im Grunde auch nicht erwartet.
»Jess?«, rief er. »Wo bist du?«
Im Wald herrschte absolute Stille. Nicht einmal ein Vogel antwortete ihm. Er seufzte. Er wusste, wo sie sein würde. Er machte sich an den Aufstieg zum Gipfel, doch als er den Steinhaufen erreichte, wurde seine Hoffnung enttäuscht. Auch dort war nichts von ihr zu sehen. Er ging in die Hocke und spähte in den Hohlraum unter den Steinen. »Jess, bist du da?«, rief er leise. Als sich seine Augen nach ein paar Sekunden an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die Knochen ausmachen, die noch genau so dort lagen wie am Tag zuvor. Die Fingerhutstiele, die Jess danebengelegt hatte, waren mittlerweile verwelkt. Sonst war nichts dort. Er setzte sich auf und sah sich um. In der Ferne hörte er das leise Hämmern eines Spechts. Das Geräusch hallte durch die Bäume und verstärkte noch das Gefühl von Einsamkeit, das er plötzlich empfand. Jess war nicht wieder hier gewesen, das spürte er. Und der kleine Junge war auch nicht hier, in keinerlei Hinsicht. Sein Geist war schon lange an einen anderen Ort gezogen. Seufzend setzte Rhodri sich auf einen alten moosbewachsenen Baumstamm. Der arme William. Ihnen hätte klar sein sollen, was passieren würde.
Und wo war Daniel jetzt? Das war die Frage. Rhodri spürte, wie sich eine unbehagliche Spannung in ihm ausbreitete. Wohin würde Daniel gehen, nachdem er William umgebracht hatte? Er würde London zweifellos sobald wie möglich verlassen wollen. Und es würde ihm vor allem um zweierlei gehen: sich der Polizei zu entziehen und Jess zum Verstummen zu bringen. Sicher würde er vermuten, dass Jess, wenn sie nicht bei William war, nach Ty Bran zurückgekehrt sein würde. Erschrocken schnappte Rhodri nach Luft. War er womöglich schon hier? Panik erfasste ihn. Jess war ganz allein hier gewesen. Vielleicht hatte er sie schon gefunden.
Hektisch sah er sich um. »Jess!« Sein Ruf hallte über die Berge und blieb unbeantwortet.
 
Julius saß auf einem Stuhl und schaute ins Feuer. Auf seinen Knien lag eine Decke, seine Hände zitterten. Er bemühte sich, sie um einen Becher mit warmem Wein zu legen und ihn an den Mund zu heben. Als die Frau ins Zimmer kam, merkte er, dass ihm Wein übers Kinn tropfte. Er schaute auf und versuchte zu lächeln, auch wenn ihm grausam bewusst war, dass sein halbes Gesicht wie gelähmt war. Er hatte um einen Spiegel gebeten. Sie hatten ihm keinen gegeben, doch sogar mit seinen zitternden Händen spürte er die derbe gezackte Narbe, die von seinem Auge bis zum Kinn lief.
»Der Wein ist gut«, sagte er. Es bereitete ihm Mühe, die Worte deutlich zu artikulieren. »Stärkend.«
»Gut. Das soll er auch sein«, sagte sie und trat näher, machte sich daran, den Tisch abzuräumen, nahm ihm beiläufig den halbleeren Becher aus der Hand, ehe er ihn fallen ließ, wie es am Tag zuvor passiert war, als ein anderer Becher auf den eleganten Bodenfliesen in tausend Scherben zersprungen war. »Fehlt Euch etwas?«
Es gelang ihm, den Kopf zu schütteln. Sie war eine beeindruckende Frau, groß, etwa Mitte vierzig, ihr dunkles Haar wurde an den Schläfen schon leicht grau, sie hatte es zu einem Knoten zusammengebunden, der offenbar ganz von selbst hielt, ohne kunstvolle Kämme und Nadeln. Außerdem hatte sie die sanften, fähigen Hände einer Heilerin. Mühsam brachte er ein Lächeln zustande. »Und wann darf ich den Arzt sehen, der mich versorgt hat?«
Ruhig erwiderte sie seinen Blick. »Er steht vor Euch.«
Er schaute verblüfft drein. »Nein. Ich habe einen Mann gesehen. Einen alten Mann mit weißen Haaren.«
»Mein Apotheker.« Sie lächelte etwas bemüht. »Er macht meine Heilmittel und kopiert die Rezepte, um sie an andere Ärzte in der Stadt zu verteilen. Aber macht Euch keine Sorgen. Ich habe eine richtige Ausbildung erhalten. Die Stiche in Eurer Wange sind die ordentlichsten, die Ihr für Geld bekommen könnt.«
Vor Konzentration zerfurchte sich seine Stirn, er versuchte, ihre Bemerkung richtig zu verstehen. »Ihr verlangt Geld? Ich weiß nicht, ob ich etwas Gold …«
Sie schüttelte den Kopf. »Das war ein Scherz.«
Er fuhr sich über die Stirn, versuchte aufzunehmen, was sie sagte, aber ihre Stimme ging unter in der Flut der Geräusche in seinem Kopf, die langsam vor und zurück wogte, die Wörter ein wirres, unverständliches Durcheinander. »Wo sind wir?« Endlich gelang es ihm, eine vernünftige Frage zu formulieren.
»Wir sind in der Nähe von Tibur«, sagte sie. Sie sah seine verständnislose Miene, unterdrückte die Besorgnis, die in ihr aufstieg, und legte ihm die Hand auf die Stirn. Er hatte etwas Fieber. »Ein halber Tagesritt östlich von Rom. Ihr wurdet vor vielen Wochen zu mir gebracht, auf einem Wagen liegend. Ihr wart in so vielen Stücken, dass ich dachte, sie hätten mir einen Probanten für meine Schüler gebracht, damit sie an Euch das Nähen lernen können.«
»Ihr unterrichtet auch?« Er klang etwas ungläubig.
»Meine Fähigkeiten sind schier grenzenlos.« Sie lächelte wieder. Ihr Lächeln war außerordentlich warm und herzlich, stellte er fest. Allein der Anblick der Frau tat ihm gut.
»Was ich Euch allerdings nicht sagen kann, ist Euer Name und was mit Euch passiert ist«, fuhr sie fort. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist ein Rätsel. Der Mann, der Euch gebracht hat, fand Euch bewusstlos in seinem Wagen liegen. Da Ihr unmöglich von selbst dorthin gekommen sein konntet, muss Euch jemand dorthin gelegt haben. Neben Euch lagen eine Münze und ein Wachstäfelchen, auf dem stand, Ihr möget hierhergebracht werden.« Sie stockte kurz und neigte den Kopf zur Seite. »Denkt nicht darüber nach, wenn es zu schmerzhaft ist.«
Er atmete tief ein und aus und versuchte, seine vielen Alpträume zusammenzufügen, die Geräusche und den Schmerz, die Angst und den Gestank des Todes. »Sie sind aus der Dunkelheit gekommen. Sie müssen mir gefolgt sein.« Gequält brach er ab. »In meinem Kopf höre ich Schreie. Meine Freunde …« Er spürte Tränen über seine Wangen laufen. »Meine Schwester. Sie haben meine Schwester umgebracht.«
»Das reicht für den Moment.« Sie legte ihm eine kühle Hand auf seinen brennenden Arm. Dann schnalzte sie vor seinen Augen mit den Fingern. »Denkt an die Elefanten!«
Verständnislos sah er sie an. »Elefanten? Welche Elefanten?«
Sie lächelte. Dieser Trick funktionierte bei jedem, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Jeder Patient, den sie behandelt hatte, wusste von den Elefanten des Kaisers. Große, sanfte Lebewesen und eine gute Ablenkung - wenn auch nur für einen Moment - von den Erinnerungen, die aus der Dunkelheit hereinströmten.
Allerdings würden seine Erinnerungen letztlich unweigerlich zu ihm zurückkehren. Stunde um Stunde hatte sie an seinem Bett gesessen, während er getobt und geschrien und geschluchzt hatte. In seinen Träumen hatte er alles noch einmal durchlebt: das Gemetzel, das Blut, den Tod. Sie wusste nur allzu gut, was mit ihm passiert war, denn sie hatte zugehört, als er von seinem Grauen und seiner Angst und seiner Hilflosigkeit sprach. Er hatte seine Schwester und seinen Großvater und seine Freunde verloren. Vor seinen Augen waren sie aufgespießt und hingemetzelt worden, und dann hatte er gesehen, wie ein Schwert, das von zwei Händen gehalten wurde, auf ihn herabsauste, um seinen Schädel und seinen Rumpf zu spalten. Fast wäre es dazu gekommen. Die Ärztin vermutete, dass es eine Christenfamilie war. Zu viele von ihnen hatten ein ähnliches Schicksal erlitten. Sein Glaube kümmerte sie nicht. Für sie war er ein interessanter Fall, da nicht nur sein Körper, sondern auch sein Geist zu heilen war. Dass ihr Ersteres gelingen würde, davon ging sie aus, und im Interesse ihres zweiten Ziels hatte sie nicht die Absicht, ihm zu sagen, dass einer der Anführer seines Glaubens, wenn es tatsächlich sein Glaube war, Petrus, in Rom festgenommen und zum Tod verurteilt worden war.
»Meine Kinder sind hier«, sagte sie stattdessen leise. »Sie bringen Euch noch etwas Wein. Ich mische etwas Schlafmittel darunter, damit Ihr ruhen könnt.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will nicht schlafen.« Flehentlich sah er zu ihr.
Also erinnerte er sich doch an seine Träume. »Dann bitte ich Portia, Euch etwas vorzuspielen. Ihre Musik gefällt Euch.«
Er nickte. Musik hatte er immer schon geliebt.
Sie hatte ihm oft vorgesungen.
Sie.
Wer?
Ihr Gesicht trieb gerade außerhalb seiner Erinnerungen. Er wusste nur, dass es der Person gehörte, die er am allermeisten liebte. Und dass er sie verloren hatte.
Wer immer sie war, sie war tot, wie die anderen. Alle, die er liebte, waren tot. Eigentlich sollte auch er tot sein.
 
Rhodri und Aurelia saßen am Küchentisch und hörten Steph zu, die gerade mit Nat telefonierte. Als sie schließlich auflegte und sich zu ihnen umdrehte, sah sie sehr besorgt aus.
»Daniel hat sie heute Morgen wieder verlassen. Er war über Nacht zu ihnen gefahren, direkt von London. Vermutlich gleich nachdem er William umgebracht hat.« Ihre Stimme zitterte. »Sie hat mir gesagt, dass er schon früher gewalttätig geworden ist. Er hat sie ein paarmal verprügelt. Sie haben sich gestritten, und er ist gleich wieder gefahren. Wohin, weiß sie nicht. Aber die Polizei ist bei ihr gewesen und hat nach ihm gefragt. Offenbar sagten die Beamten, es sei dringend und Nat müsse sich sofort bei ihnen melden, wenn sie von ihrem Mann hört. Sie haben ihr geraten, vorsichtig zu sein.«
»Und sie weiß nicht, wohin er gefahren ist?«
»Nein.«
Sie schauten sich an. »Ihr glaubt, er ist hierhergekommen?«, fragte Aurelia leise.
Rhodri nickte. »Es ist doch immer hinter Jess her gewesen, oder nicht? Er geht bestimmt davon aus, dass sie hier ist.« Er mochte Aurelia. Trotz ihrer Sorge war sie ruhig und vernünftig.
»Wir sollten die Polizei einschalten«, sagte Steph bestimmt. »Mir ist schleierhaft, warum sie noch nicht hier ist!«
»Ich rufe mal bei der Wache hier an. Ich kenne da einen.« Rhodri ging zum Telefon. »Wir können nicht einfach Däumchen drehen, bis Daniel hier auftaucht. Vielleicht ist er ja sogar schon hier. Ich habe überall nach Jess gesucht, aber sie ist spurlos verschwunden. Wo kann sie nur sein? Ich habe sie da oben stehen lassen, das war wirklich dumm von mir. Ich hätte sie zwingen sollen, mit mir zurückzugehen. Sie hat gesagt, sie würde nachkommen …«
»Dir macht wirklich niemand einen Vorwurf, Rhodri.« Aurelia legte ihm eine Hand auf den Arm und lächelte ihn matt an.
»Ich mir schon!« Er wählte bereits die Nummer. Als Nächstes rief er seine Mutter an. Jess war nicht zur Farm hinübergegangen, und als er bei der Post unten im Dorf anrief, hatte auch dort niemand sie gesehen.
Keine Stunde später war die Polizei da. Rhodris Bekannter, District Inspector James Lloyd, und der ihn begleitende Sergeant setzten sich an den Küchentisch und ließen sich von Steph und Rhodri die ganze Geschichte schildern. Wie sich herausstellte, wussten sie bereits, dass Daniel möglicherweise auf dem Weg nach Ty Bran war; die mit dem Fall beauftragte Mordkommission in London hatte sie vorgewarnt. Jess’ Verschwinden bereitete ihnen zusätzlich Sorge. Gemeinsam brachen alle auf, um den Weg zum Gipfel hinaufzugehen, suchten den Wald ab, riefen sich heiser nach Jess. Schließlich fanden sie sich alle am höchsten Punkt ein, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, in den sich das kleine Kind zum Sterben verkrochen hatte. Aber das erwähnte niemand. Das war Jess’ Geheimnis. Die beiden Polizisten schauten sich überall um, spähten sogar in den Hohlraum unter den Steinen, aber die kleinen Knochen entdeckten sie nicht. Von Jess war kein Lebenszeichen zu sehen, ebenso wenig wie von jemand anderem. Es gab keine anderen Fußabdrücke als ihre eigenen und diejenigen, die bereits da gewesen waren. Keine Hinweise, nichts, das darauf hindeutete, dass Daniel irgendwo in der Nähe gewesen wäre. Und an den Feldwegen stand nirgends ein unbekannter Wagen.
»Hunde?«, schlug Rhodri vor.
Der Inspector zuckte mit den Schultern. »Jess ist hier überall gewesen, das heißt, die Fährte wäre mehr als verwirrend. Wir sprechen mit London und Shrewsbury. Sie schicken mehr Männer, und vielleicht raten sie uns auch, einen Hubschrauber einzusetzen; andererseits ist es dafür vielleicht noch zu früh. Aber ich verspreche Ihnen, wir melden uns bei Ihnen, sobald wir irgendetwas erfahren, und wenn Jess auftaucht oder Sie etwas von Mister Nicolson hören oder sehen, geben Sie uns bitte sofort Bescheid. Sicher brauchen wir Ihnen nicht eigens zu sagen, dass Sie sich von ihm fernhalten sollen.«
»Also lassen sie uns allein«, sagte Aurelia unzufrieden, als die beiden Polizisten wieder in ihren Range Rover stiegen und den Feldweg hinunter ins Dorf fuhren.
Steph warf einen Blick zu Rhodri. »Carmella?«, sagte sie.
»Wer ist denn Carmella?« Aurelia suchte mit leicht entsetzter Miene Stephs Weinregal durch. »Ich brauche etwas Alkoholisches!« Ihre Hände zitterten vor Erschöpfung.
»Sie ist eine Freundin von Kim, eine Hellseherin, und sie liest die Tarotkarten.« Steph klang etwas zögerlich.
Aurelia richtete sich auf und starrte sie an.
»Sie hat gewusst, dass Jess in Schwierigkeiten ist«, verteidigte sich Steph. »So hat überhaupt alles angefangen!«
»Dann ruf sie an.« Aurelia wandte sich wieder dem Weinregal zu und nahm eine Flasche heraus. »Wo ist der Korkenzieher?«
»Der hat einen Schraubverschluss, Mummy!« Steph hatte Carmellas Nummer schon aus dem Adressbuch herausgesucht und ging zum Telefon. »Tut mir leid, kein französischer, ich mag australischen Wein lieber. Carmella? Ciao! Ich bin’s, Steph!«
Während sie auf Carmellas Rückruf warteten, die zwischenzeitlich ihre Karten befragen würde, kam Megan. Sie war eine füllige, energische Frau mit vom Wind geröteten Wangen und blonden Locken. Als sie ihr erzählten, was vor sich ging, sah sie mit wachsendem Entsetzen in die Runde.
»Das klingt ja wie in einem Krimi!«, sagte sie schließlich. »Rhodri? Warum hast du mir das alles nicht schon längst erzählt?«
Er seufzte. »Damit du keinen Anfall kriegst, Mum! Was meinst du denn?«
Der Anruf aus Italien ließ sehr lange auf sich warten. Carmella entschuldigte sich. »Ich sehe überhaupt nichts von ihr, Steph. Es tut mir wirklich leid. Ich weiß nicht, was passiert ist. Das ist eine völlig neue Erfahrung für mich. Die Karten reagieren nicht, als wären sie Holzklötze. Sie machen auf taub. Die spärlichen Botschaften drehen sich im Kreis. Sie sagen, dass sie in Gefahr ist, dann sagen sie, dass sie in Sicherheit ist. Sie sagen, sie hätte den einen gefunden, nach dem sie gesucht hat, dann sagen sie, sie hat den, den sie gesucht hat, verloren. Sie sagen, dass sie auf der Schwelle zur Erfüllung ihres Lebenstraums steht, dann sagen sie, dass sie alles verloren hat.« Ihre Stimme stieg vor Frustration schrill an. »Es tut mir wirklich leid. Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Außer, dass ich nicht weiß, wo sie ist. Ich habe meine Kristallkugel gebeten, mir zu zeigen, was sie sehen kann. Ich habe Bäume und Laub gesehen und Zweige, die im Wind tanzen. Ich habe Vögel gesehen, die darüber kreisen, ich habe den Himmel gesehen. Das könnte überall gewesen sein.«
»Aber sie ist am Leben?«, fragte Steph mit belegter Stimme.
Den Bruchteil einer Sekunde herrschte am anderen Ende Schweigen. »Ich glaube schon. Ich bete darum. Ich weiß es nicht, Steph. Die Vision war zu verschwommen.«
Irgendwo im Hintergrund hörte Steph eine tiefe Stimme auf Italienisch sprechen. »Carmella, entschuldige! Du hast Besuch, und ich habe dich gestört.« Steph tat ihr Bestes, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen.
»Nein, nein, das war mein Freund, er hat mir einen Kaffee gebracht, damit ich wieder einen klaren Kopf bekomme.« Steph glaubte fast, Carmellas amüsiertes Lächeln zu hören. »Er hat großes Verständnis für diese Dinge.« Nach einer kurzen Pause sagte sie dann: »Steph, ich habe eine Idee. Ich rufe dich in einer halben Stunde wieder an, ja?« Damit war die Verbindung unterbrochen.
Steph drehte sich zu den anderen um und schüttelte den Kopf. »Nichts Neues«, sagte sie. Sie musste sich bemühen, nicht aufzuschluchzen.
»Warum hast du sie nicht wegen Daniel gefragt?«, fragte Rhodri vorwurfsvoll.
»Das wollte ich gerade, aber dann hatte sie eine Idee. Sie ruft in einer halben Stunde wieder an.« Steph ließ sich auf ihren Stuhl fallen.
Megan stand auf und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Es wird alles wieder gut, ihr werdet schon sehen. Ich habe so ein Gefühl in den Knochen!«
Aurelia schaute plötzlich auf. »Moment mal, wenn wir schon dabei sind, Okkultisten zu befragen, dann fällt mir jemand ein, an den wir uns wenden könnten. Megan, erinnerst du dich an Meryn Jones? Lebt er noch hier in der Gegend? Er würde wissen, was wir tun sollen.«
Megan runzelte die Stirn. »Du hast Recht. Ein unglaublicher Mann. Bist du ihm nicht mal ein bisschen nähergekommen, Aurelia?« Sie lächelte liebevoll. »Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Er ist doch in die Staaten gegangen, oder? Als Letztes glaube ich gehört zu haben, dass er nach Schottland gezogen ist.«
»Mummy?« Steph sah ihre Mutter fragend an.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Aurelia wehmütig. »Die erzähle ich dir ein anderes Mal. Nicht jetzt.«
Das war zu der Zeit gewesen, als auch sie hier in den Bergen gelebt hatte. Jess und Steph wohnten nicht mehr bei ihr. Sie war allein, und Aurelia hatte beschlossen, für sich etwas Neues zu suchen. Sie hatte ihnen nie von Meryn erzählt, und er und sie hatten sich voneinander entfernt, ehe sie sich allzu nahe gekommen waren. Aber sie hatte sich öfter gefragt, wo er wohl steckte und was passiert wäre, wenn sie in Kontakt geblieben wären.
Rhodri setzte sich auf. »Meryn Jones war der Berater bei der Sendung über Cartimandua. Ich wusste doch, dass mir der Name bekannt vorkam. Jess hat die Sendung auch gehört. Damit hat ja ihre Obsession mit Eigon und Caratacus überhaupt erst richtig angefangen.«
»Aber wer ist er?«, fragte Steph empört.
»Er macht ähnliche Sachen wie Carmella«, sagte Rhodri. »Er kann in die Zukunft und in die Vergangenheit schauen und mit den Geistern reden. Ich glaube nicht, dass er Tarot liest oder eine Kristallkugel hat, er macht es ein bisschen akademischer, aber meines Wissens ist er auch ein heidnischer Priester und ein Schamane und außerdem Fachmann für die Kelten. Ein Druide!« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß zwar nicht, wo er ist, aber ich glaube, du hast Recht und die Sendung kam aus Schottland.«
»Kannst du das nicht herausfinden?«, fragte Steph. »Du musst doch Leute bei der BBC kennen. Irgendjemand muss dir doch sagen können, wo er ist.« Sie wandte sich wieder zu ihrer Mutter. »Mummy, warum hast du ihn nie erwähnt?«
»Ich weiß, wer wissen könnte, wo er ist«, unterbrach Megan. Sie ging zum Telefon, wählte eine Nummer in Hereford, und wenige Sekunden später bedeutete sie Steph, ihr etwas zu schreiben zu reichen. Sie notierte eine Nummer, legte auf und wählte erneut.
»Allerdings weiß ich nicht so genau, was er tun kann«, sagte sie über die Schulter, während sie wartete, dass am anderen Ende abgehoben wurde. Schließlich schaltete sich ein Anrufbeantworter an. Sie machte ein enttäuschtes Gesicht, hinterließ aber trotzdem eine Nachricht: »Meryn? Hier ist Megan Price von Cwm-nant. Erinnerst du dich? Sag, könntest du mich bitte zurückrufen? Ich brauche Hilfe, dringend. Ich bin bei meiner Nachbarin in Ty Bran, im Tal nebenan. Die Nummer ist …« Sie sprach sie langsam und deutlich vor und legte den Hörer dann achselzuckend auf. »Jetzt hoffen wir nur, dass er nicht verreist ist.« Sie hatte Aurelia in ihrer Nachricht nicht erwähnt, das war Steph aufgefallen. Nach einem Blick auf ihre Mutter sprach sie aber nicht darüber. Wer immer dieser Typ war, wenn ihre Mutter ihn so lange nicht gesehen hatte, dann musste die Beziehung zwischen ihnen, wie immer sie geartet gewesen war, längst zu Ende sein.
Als das Telefon klingelte, war Carmella am anderen Ende. »Also gut, ich habe die Karten nach Daniel und William befragt. « Sie machte eine kurze Pause. »William steckt in Schwierigkeiten.«
»William ist tot, Carmella!«, sagte Steph scharf. »Daniel hat ihn umgebracht.«
»Dio mio!« Einen Moment herrschte Stille. »Das tut mir schrecklich leid. Aber das erklärt, was ich über Daniel gesehen habe. Willst du es hören?« Ihre Stimme zitterte, dann fuhr sie fort. »Ich glaube, du musst es erfahren. Es ist nichts Gutes.«
Steph schluckte schwer. »Dann schieß los.«
»Titus ist zu euch unterwegs. Vielleicht ist er schon in England angekommen. Er ist Eigon auf der Spur, und Jess. Jemand anderes beobachtet sie alle. Eine Hellseherin, eine Frau aus dem alten Rom. Ich habe sie schon ein paarmal gesehen, sie ist immer da, wenn ich Verbindung aufnehme. Sie hat Titus gesagt, wo Eigon sich aufhielt, aber dann hat sie es bedauert. Sie weiß, dass er ein böser Mensch ist. Ich weiß nicht, wie das funktioniert, ob er von Daniel Besitz ergriffen hat oder ob er ihm folgt oder ihn benutzt, aber er ist zu dem Ort unterwegs, an dem alles begonnen hat.«
»Ty Bran.«
»Ja. Und er ist ganz in der Nähe. Ich spüre, dass er außer Kontrolle geraten ist.« Carmella holte tief Luft. »Erzähl mir, was mit William passiert ist.«
»Offenbar ist Daniel bei ihm in London in die Wohnung eingebrochen und hat ihn erschlagen.« Stephs Augen füllten sich mit Tränen.
»Woher wissen sie, dass es Daniel war?«
»William hat Daniels Namen mit seinem Blut an die Wand geschrieben.«
»Hat die Polizei euch das gesagt?«
»Nein. Aber sie haben’s dem Direktor des Colleges gesagt, an dem Daniel und Jess und William unterrichten. Unterrichtet haben.«
»Dio mio!«, wisperte Carmella wieder. »Das ist ja grauenvoll.«
»Glaubst du, dass er von Titus besessen ist?«
Carmella lachte bitter auf. »Ich glaube nicht, dass das ein Grund ist, der vor dem Richter Bestand haben wird! Steph, ich habe ihn in der Kristallkugel gesehen. Ich habe ihn gesehen in römischer Uniform, gekleidet wie ein Legionär, und von seinem Schwert tropfte Blut. Du weißt schon, die kurzen Schwerter, wie die Soldaten sie hatten.«
»Titus?«
»Daniel.«
»Und Jess? Jess hast du nicht gesehen?«
»Es war eine Frau bei ihm, Steph. Ich habe sie gesehen. Ihr waren die Arme auf dem Rücken gefesselt, und sie hatte ein Tuch vor den Augen.«
Steph zwang sich, ruhig durchzuatmen und ihre Panik so gut wie möglich zu unterdrücken. »Das kann nicht Jess gewesen sein. Vorhin hast du doch gesagt, dass Jess Blätter und Bäume sieht.«
»Ich weiß nicht, was sie sieht, Steph. Aber ich habe ein äußerst ungutes Gefühl bei dieser ganzen Sache. Ich mache weiter, aber ihr müsst Daniel finden.«
»Ein ganzer Trupp Bereitschaftspolizei sucht nach Daniel, Carmella.«
Damit legte Steph auf und drehte sich zu den anderen um. »Habt ihr ungefähr mitbekommen, worum es geht? Sie hat nur bestätigt, was wir schon wissen. Jess ist in Gefahr, und Daniel ist offenbar von diesem bösartigen Römer besessen. In ihrer Vision hält er ein blutiges Schwert in der Hand.«
Am Tisch herrschte entsetztes Schweigen. »Was sollen wir machen?«, flüsterte Aurelia schließlich. »Irgendetwas müssen wir doch unternehmen!«
»Ich gehe sie nochmal suchen!« Rhodri schob seinen Stuhl zurück. »Ich kann nicht einfach hier sitzen und warten, bis irgendetwas passiert!«
»Moment mal! Hat jemand mal versucht, ihr Handy anzurufen?«, fragte Megan plötzlich. Sie schauten sich an. Steph ging wieder zum Telefon. Sekunden später hörten sie von oben den unverkennbaren Klingelton.
»Verdammt!« Mehr sagte sie nicht.
 
Sie standen an der Küste und schauten auf die Wellen, die an den Strand krachten, den Sand aufwirbelten, ihre Füße überspülten und wieder zurückwichen, als seien sie lebendig. Eigon schauderte. »Ist es weit zur anderen Küste?«
Commios schaute fragend zu ihrem Führer. Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ziemlich weit.«
»Wo bekommen wir ein Boot?« »Geht hier entlang nach Gesoriacum, und dort bezahlt ihr jemanden.« Der Führer grinste. »Ich hab meine Arbeit getan. Jetzt seid ihr hier, euch ist nichts passiert.«
Commios hob die Augenbrauen. »Mein Freund, du solltest uns zum Hafen bringen.«
Der Führer schüttelte den Kopf. »Wir hatten als Ziel die Küste vereinbart. Der Hafen ist gleich da jenseits der Dünen. Ihr könnt ihn nicht verfehlen.«
Commios schaute ihn wieder fragend an. »Ich vermute mal, du willst nicht mit uns übers Meer reisen?«
»Nein.« Der Mann war kurz angebunden. Mit einer Verbeugung wandte er sich zu Drusilla. »Mögen die Götter dich begleiten. Und dich, o Königin.« Er verneigte sich mit einer gewissen Ehrfurcht vor Eigon. »Und mit dir, Freund.« Er gab Commios einen freundlichen Klaps, dann war er fort.
Verwundert schauten sie ihm nach. »Das war plötzlich.« Drusillas Gesicht war etwas rot geworden. Die Gesellschaft dieses Mannes hatte ihr gefallen, des Galliers, der sie in den vergangenen Tagen durch die Wälder, über das Bauernland und die Flusstäler entlang zur Küste geführt hatte.
Plötzlich spitzte Commios die Ohren. »Schnell, versteckt euch!« Er zog die beiden Frauen in den Schutz der Bäume. In der Ferne waren zwei Reiter erschienen, die von Südosten her den Strand entlang auf sie zugaloppierten.
Die beiden Gestalten kamen näher und ritten an ihnen vorbei, ohne ihre Geschwindigkeit zu drosseln. Sie trugen römische Uniformen, beugten sich über den Hals ihrer Pferde, die Augen zusammengekniffen vor dem kalten Wind.
Eigon wagte kaum zu atmen, bis die Männer im Dunst verschwanden. »Titus«, hauchte sie.
»Ich kann es nicht fassen, dass er uns immer noch folgt.« Commios fluchte verhalten. »Woher weiß er, wo wir sind?«
»Unser Führer?«, sagte Drusilla bitter. »Ist das vielleicht der Grund, warum er uns so überstürzt verlassen hat? Vielleicht haben sie ihn bezahlt. Gestern Abend in der caupona, wo wir eingekehrt sind. Bei einigen der Männer dort hatte ich ein mulmiges Gefühl. Wir hätten nicht hineingehen sollen.«
Eigon und Commios starrten sie an, dann nickten sie widerwillig. »Das könnte zusammenpassen«, sagte Commios zornig. »Er war uns nichts schuldig. Das werden wir nie wissen. Er hat uns wie vereinbart zur Küste gebracht und sich seinen Lohn verdient.« Er seufzte. »Andererseits, Titus hat uns nicht gesehen, das heißt, wir sind ihm immer noch einen Schritt voraus. Und da unser überaus freundlicher Begleiter fort ist, wird Titus von unserer Ankunft hier erst erfahren, wenn wir es ihn wissen lassen.«
»Falls wir es ihn wissen lassen«, warf Drusilla ein.
»Was wir nicht tun werden«, ergänzte Eigon. Sie schauderte. »Werden wir den Mann denn nie los?« Verzweifelt schaute sie über die Wellen hinaus. Am Horizont, wo die Sonne im Meer versank und einen Moment ihre Strahlen auf die tiefhängenden Wolken warf, war eine dünne silberne Linie zu sehen. Eigon sank auf die Knie. »Lieber Herr, bring uns sicher über das Wasser. Behüte uns und segne uns und schütze uns vor unseren Feinden.« Lange Zeit blieb sie so knien, verlor sich im Rhythmus des Meeres. Schließlich richtete sie sich langsam wieder auf. »Gott wird uns ein Boot schicken. Wir brauchen nur zu warten.« Sie lächelte ihren zwei Begleitern zu. »Schaut mich nicht so an. Ich habe einfach das Gefühl, dass mein Gebet erhört werden wird. Wir brauchen nicht zum Hafen zu gehen. Dort wird Titus uns umsonst suchen.«
Sie entzündeten ein Feuer, um das sie lagern konnten, und aßen das Brot und die Äpfel, die sie sich erbettelt hatten, als sie einige Meilen zuvor ein Haus passierten. Als es dunkel war, hüllten sie sich fest in ihre Umhänge und legten sich auf den Sand. Es war kalt, der Wind wurde immer stärker. Drusilla und Commios tauschten einen Blick. Beiden dachten sich, dass sie im Ort eine wärmere und sicherere Unterkunft finden könnten, ohne dass Titus erfuhr, wo sie waren. Eigon saß aufrecht in ihren Umhang gehüllt da, die Augen aufs Meer gerichtet.
Es war schon völlig dunkel, als sie Ruder ächzen hörten und Männerstimmen, die übers Wasser zu ihnen trieben. »Da am Strand brennt ein Feuer.« Das Boot steuerte auf sie zu.
Commios fluchte leise. Sofort versuchte er, die Glut mit Sand zu löschen, aber Eigon hielt ihn mit einer Geste davon ab. »Das ist das Boot, das Gott uns schickt«, flüsterte sie.
»Vielleicht hast du Recht, vielleicht auch nicht«, antwortete er. »Zeig dich nicht, ehe wir wissen, wer sie sind!«
Zumindest war sie so vernünftig, seinem Vorschlag zu folgen. Schweigend warteten sie, bis das Boot angelandet war und zwei Männer ausstiegen. »Der Wind dreht«, sagte einer von ihnen. »Wie’s aussieht, steht uns eine gute Nacht bevor. Der Fang sollte sich lohnen. Tja, was haben wir denn hier?« Sie näherten sich und blieben neben dem Feuer stehen.
»Guten Abend.« Die größere der beiden schattenhaften Gestalten starrte zu ihnen herüber, ohne sie in der Dunkelheit der Bäume zu sehen. »Ist da jemand?«
Commios trat vor. »Seid gegrüßt, Freunde.« Er hob die Arme, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. »Ihr seid an unserem Feuer willkommen.«
»Unserem?«, fragte der zweite Mann und blickte sich wieder suchend um. Von den beiden Frauen war nichts zu sehen.
Commios nickte. »Wir erwarten ein Boot. Seid ihr die Seeleute, die geschickt wurden, um uns nach Britannien überzusetzen?«
Die beiden Männer brachen in schallendes Gelächter aus. »Das glaube ich nicht!«, sagte einer von ihnen. »Wir sind einfache Binnenfischer, damit verdienen wir uns unser täglich Brot, und sonst kümmern wir uns um nichts. Wenn ihr übersetzen wollt, müsst ihr nach Gesoriacum hinüber. Dort findet ihr genügend Boote, die euch mit ihrer Fracht hinüberbringen.« Als Eigon, gefolgt von Drusilla, aus dem Schatten trat, weiteten sich seine Augen, und er wich ein paar Schritte zurück.
Eigon ging direkt zum größeren der beiden Männer, der offenbar der Wortführer war. »Bitte, ist dein Boot groß genug, um die Überfahrt zu schaffen?«
»Nein!« Das sagte der Begleiter des Mannes.
»Ja!«, prahlte der Bootseigentümer.
»Wir würden euch gut entlohnen. Wie viel verdient ihr mit dem Fang einer Nacht?«
Der Mann zögerte. Es war unverkennbar, dass er schnell ein paar Zahlen überschlug. Zu viel, und er würde die Kundschaft verlieren. Commios griff in die Börse an seinem Gürtel und ließ leise die Münzen klimpern. Bei dem Geräusch kamen die beiden Männer offenbar zu einem Entschluss. »Bezahlung im Voraus.«
Commios nickte.
»Und angelandet wird dort, wo immer wir die Küste erreichen. Ich kenne das Land dort nicht.« Er schaute über die Schulter zu den sanft wogenden Wellen. Der Wind war noch mehr abgeflaut, aber er kam von hinten, blies vom Land aufs Meer hinaus.
»Eine Bedingung.« Commios hob die Hand. »Wenn ihr wieder hier seid, erzählt ihr niemandem, dass ihr uns gesehen habt. Tut ihr es doch, kommt der Zorn Gottes über euch.«
Der Mann schnitt eine Grimasse. »Der Zorn meiner Frau wird über mich kommen, wenn sie erfährt, wo wir gewesen sind. Keine Sorge, mein Freund. Wir erzählen niemandem davon. Keiner Menschenseele.«
Die Tochter des Königs
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