Kapitel 26
Eigon hatte so sehr von ihrer Kraft
gezehrt, dass Jess völlig erschöpft war. Der Kopf tat ihr weh, ihr
ganzer Körper verlangte nach Ruhe und Erholung. Als also das
Zimmermädchen zum Saubermachen kam, nutzte Jess die Gelegenheit und
verließ das Haus. Schließlich gab es immer noch mehrere Orte, die
sie gern sehen wollte, oder vielmehr: die sie unbedingt sehen
musste. Orte von großer historischer Bedeutung, an denen auch Eigon
gewesen war. Daniel musste längst über alle Berge sein, folgte
Rhodri quer durch Europa, und sie hatte Titus’ Versuche, Zugang zu
ihren Gedanken zu bekommen, erfolgreich abgewehrt. Also konnte ihr
nichts passieren. Niemand würde sie finden, und da sie auch nur
zwei Stunden ausbleiben wollte, würde niemand von ihrem kleinen
Ausflug erfahren. Als sie das Haus verließ, versteckt unter einem
Sonnenhut und mit einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase, suchte
sie die Straße in beiden Richtungen ab. Niemand achtete auf sie,
davon war sie überzeugt, und bevor sie das Haus verlassen hatte,
hatte sie alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die ihr einfielen, um
Titus aus ihrem Kopf fernzuhalten. Dieses Mal rezitierte sie T.S.
Eliot.
Langsam ging sie auf den Fluss zu, immer Richtung
Vatikan, wobei sie sich oft mühsam einen Weg durch die
Menschenmassen bahnen musste. Irgendwo dort, am Fuß des
Mons Vaticanus, war Neros Zirkus gewesen, der Ort, an dem Melinus
gestorben war. »Links gegenüber der Kirche«, wie ihr Reiseführer in
aller Kürze mitteilte. Lächelnd betrachtete sie die große Basilika
St. Peter. Seit alters galt der Petersdom als der Ort, an dem sich
das Grab des heiligen Petrus befand. Und der Obelisk, der jetzt vor
ihr in der Mitte der Piazza San Pietro stand und den Kaiser
Caligula 36 n. Chr. nach Rom gebracht hatte, hatte jahrelang in der
Mitte des Zirkus gestanden zum Gedenken an Petrus’ Tod. Jess war
längst entfallen, dass sie eigentlich Gedichte rezitieren sollte,
suchend blätterte sie im Stadtführer und schaute zwischendurch
immer wieder zum Obelisken. Seit zweitausend Jahren stand er hier
oder hier in der Nähe. Er hatte miterlebt, wie Löwen die
sogenannten Staatsfeinde zerfleischten, hatte deren Schreie gehört,
hatte gesehen, wie die Sägespäne zusammengekehrt und alle Spuren
des Todes beseitigt wurden. Er hatte mit angesehen, wie ein alter
Mann gekreuzigt wurde, hatte das Wachsen des Glaubens miterlebt,
dem dieser Mann gefolgt war und zu dessen Ruhm Michelangelos
großartige Kuppel, die alles Umstehende überragte, entstanden war.
Langsam drehte Jess sich einmal um die eigene Achse. Sie wollte den
Petersdom nicht betreten. Jetzt war nicht der richtige Moment, um
Architektur und Kunst zu bewundern, und auch nicht, um daran
erinnert zu werden, wie militant sich die Kirche entwickelt hatte.
Das waren die Dinge, die Jess am Christentum nicht begreifen
konnte: die Inquisition, der Fundamentalismus, die politischen
Einlassungen, der unermessliche Reichtum. Die Kirche Petrus’
glaubte sie zu kennen, des Petrus’, der mit Jesus umhergewandert
und ihm ein Fels gewesen war, die Kirche Eigons und Marcellus’. Es
war eine Kirche der kleinen häuslichen Zusammenkünfte, der
inständigen Gebete und der feierlichen Mahlzeiten mit Brot und
Wein.
Damals waren dafür noch keine besonderen Gebäude nötig gewesen. Es
war eine Kirche der Liebe gewesen, eine Kirche der Menschen und des
Glaubens.
Allmählich wurde Jess bewusst, welch unglaubliche
Erfahrung ihr gerade ermöglicht wurde. Voller Erstaunen lächelte
sie. Wie viele der Leute, die hier wie sie mit ihren Stadtführern
herumgingen, ihren Kameras, ihrer Liebe zu Rom, würden glauben,
dass sie, Jess, den heiligen Petrus gesehen hatte? Ihn hatte reden
hören? Mit gerunzelter Stirn ging sie weiter Richtung Fluss. Sie
hatte in ihren Träumen erstaunliche Ereignisse miterlebt, das war
ein ungemeines Privileg. Und jetzt hatte sie dieselbe Luft geatmet
wie die Gestalten aus ihren Träumen, war dieselben Straßen
entlanggegangen, hatte den Fluss gesehen, den auch sie gesehen
hatten. Daniel war vergessen. Jess ging wieder ganz in ihrer
Geschichte auf.
Einen Ort wollte sie noch sehen: den Mamertinischen
Kerker, in dem Julius und sein Großvater eingesperrt gewesen waren
und in dem später auch Petrus gefangen gehalten worden war, wie sie
aus ihrem Führer wusste. Dort stand auch, dass man den Kerker noch
besichtigen könne. Er lag unter einer alten Kirche am Fuß des
Kapitolinischen Hügels. Den wollte, den musste sie sehen. Der Weg
dorthin, Richtung Forum, führte nahe an ihrer Pension vorbei. Am
Ende der Gasse blieb sie zögernd stehen. Eigentlich war sie müde
und wünschte sich nichts sehnlicher, als in die Stille, die
Sicherheit und die Kühle ihres Zimmers zurückzukehren. Andererseits
wollte sie unbedingt den Kerker aufsuchen, und sie wusste, wenn sie
erst einmal wieder in der Pension war, würde sie sich nicht mehr
aufraffen, noch einmal nach draußen zu gehen. Kurz entschlossen
überquerte sie die Straße und ging zur Campidoglio hinauf.
Neben dem Eingang zur Kirche, unter der sich das
Gefängnis befand, führte eine lange Treppe nach unten. Nach kurzem
Zögern stellte Jess sich ans Ende der kurzen Schlange von
Wartenden. Offenbar wurden die Besucher nur in kleinen Gruppen
eingelassen, und als Jess schließlich über die steilen Stufen in
den Kerker hinunterstieg, wurde ihr auch der Grund klar. Hier unten
war es beengt und dunkel, die Gewölbe waren sehr niedrig. Im ersten
Moment hätte sie am liebsten kehrtgemacht und wäre nach oben
geflohen, Gänsehaut lief ihr über die Arme, ein Anflug von Panik
stieg in ihr auf. Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen und
weiterzugehen, hielt sich dicht an die Mauern, während die anderen
Mitglieder der Gruppe den Führer umringten. Er sprach so schnell
auf Italienisch, dass Jess sich gar nicht die Mühe machte, ihn zu
verstehen; sie beschränkte sich darauf, sich umzusehen. Durch ein
Loch im Gewölbe drang ein schwacher Lichtstrahl. Durch ebendieses
Loch, so wusste sie aus ihrem Führer, waren die Gefangenen in den
Kerker gestoßen worden; die Treppe hatte es damals noch nicht
gegeben. Vor der hinteren Wand stand ein kleiner Steinaltar, im
Boden davor war eine Vertiefung, die mit etwas Wasser gefüllt war.
Dies war die Quelle, die laut ihrem Stadtführer am Abend vor dem
Tod des heiligen Petrus entsprungen war, damit er seine Bewacher
taufen konnte. Unversehens gaben sich die Besucher als Pilgerschar
zu erkennen und sprachen gemeinsam ein Gebet. Einen Moment rissen
sie Jess mit ihrer Andacht mit, und sie spürte die Heiligkeit
dieses Ortes. Doch das dauerte nur wenige Sekunden, dann strömte
die Gruppe wieder der Treppe und der frischen Luft entgegen. Einen
Moment blieb Jess allein im Kerker zurück, spürte die Atmosphäre
mit ihren vielen Erinnerungen, doch als die nächste Besuchergruppe
auf der Treppe zu hören war, zwängte sie sich an ihr vorbei nach
oben, begierig
darauf, nach draußen zu gelangen. Die Traurigkeit des Ortes
berührte sie zutiefst, ebenso wie das Wissen, das Eigon und Julius
nicht gehabt hatten - dass die Ereignisse, die sie durchlebt
hatten, historisch außerordentlich bedeutsam gewesen waren.
Die Pension wirkte verwaist, als Jess zurückkam.
Sie hatte sich etwas Gebäck gekauft, eine Tüte mit Feigen und ein
paar Flaschen Wasser. Müde stieg sie zu ihrem Zimmer hinauf, stieß
die Tür auf und trat ein. Sie stellte die Einkaufstüten auf dem
Tisch ab, warf ihre Tasche aufs Bett und ging direkt ins Bad, um
sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen.
Als sie wieder herauskam, lehnte Daniel an der Tür
zum Flur. In der Hand hatte er den Schlüssel zu ihrem Zimmer.
»Buongiorno, Jess. Hast du einen schönen Tag gehabt?«
Kurz schloss sie die Augen, zu entsetzt, um auch
nur ein Wort herauszubringen.
Er lächelte. »Ein hübsches Zimmer hast du da, sehr
ruhig. Als ich deine Schritte auf der Treppe gehört habe, bin ich
kurzerhand im Schrank verschwunden, um dir Zeit zu lassen, wieder
anzukommen.«
»Wie hast du mich hier gefunden?« Endlich hatte sie
ihre Sprache wiedergefunden. Sie setzte sich auf den Rand des
Stuhls, der am Schreibtisch stand. Ihre Beine zitterten.
»Titus?«
»Nicht Titus. Nicht dieses Mal. Viel banaler und
einfacher! Ich habe Carmellas Handy geklaut. Ich habe jeden
angerufen, mit dem sie in der letzten Zeit gesprochen hat, und das
Mädchen, das hier ans Telefon ging, bestätigte bereitwillig, dass
du dich hier einquartiert hast.«
»Und was willst du machen, nachdem du jetzt hier
bist?«
Er stand immer noch lässig an die Tür gelehnt.
»Tja, das ist die Frage. Ich bin mir nicht ganz sicher. Überhaupt
nicht sicher. Ich warte auf Anweisungen.«
»Anweisungen?« Sie verschränkte die Arme vor der
Brust. Plötzlich war sie sich sehr bewusst, dass sie im Bad ihre
Leinenbluse ausgezogen hatte und jetzt zu ihrer Hose nur ein dünnes
Hemdchen trug.
Er nickte. »Das ist das Problem. Titus will ständig
mehr.«
»Daniel, du bist nicht Titus!«, sagte sie scharf.
»Du bist ein guter Mensch, ein Lehrer, dem eine große Zukunft
bevorsteht. Wenn diese Zukunft sich zerschlägt, ist das deine
Schuld, nicht meine. Momentan weiß noch niemand irgendetwas. Warum
lässt du es nicht dabei bewenden? Vergiss mich. Geh zurück zu
Nat.«
Er schüttelte den Kopf. »Tja, das ist genau das
Problem. Ich habe mit Nat gesprochen. Offenbar will die Polizei mit
mir reden. Und was denkst du, aus welchem Grund?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ganz sicher nicht
meinetwegen. Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich nicht angezeigt
habe. Wenn irgendjemand bei der Polizei war, dann William, und
weshalb, das weißt du so gut wie ich.«
»Ah ja, William. Aber dann gibt es noch Steph. Und
Kim. Und Carmella.« Er zählte die Personen an den Fingern ab. »Und
den ungemein liebenswerten Waliser nicht zu vergessen. Du hast sehr
viele Freunde.«
Jess biss sich auf die Unterlippe. Als er das
bemerkte, lächelte er vor Vergnügen. »Und keiner von ihnen ist
jetzt hier, stimmt’s?« Er schüttelte den Kopf. »Carmella vertreibt
sich den Nachmittag mit Henrico. Rhodri und Steph müssen
mittlerweile den Ärmelkanal erreicht haben. Kim hat ihren Palast
zugesperrt und treibt sich bei irgendwelchen Freunden an
irgendwelchen Seen herum. Der einzige Unsicherheitsfaktor ist
William, aber der ist eindeutig auch nicht hier.«
»Aber er ist auf dem Weg hierher.« Das sagte sie,
ohne nachzudenken.
Seine Miene verhärtete sich. »Das macht alles
natürlich ein bisschen dringlicher.«
»Nein, Daniel, das stimmt nicht. Das bedeutet nur,
dass du jetzt gehen solltest. Bevor er kommt. Geh einfach. Wir
vergessen, dass du hier warst.« Sie warf ihm ein flehentliches
Lächeln zu. »Bitte, du willst mir nicht noch mehr wehtun. Du bist
nicht Titus. Titus war ein absolut widerliches Ekel!«
»Das stimmt, das war er.« Daniel lächelte ironisch.
»Man kann sich von ihm echt eine Scheibe abschneiden. Aber das
Problem ist, er ist in meinem Kopf. Ich weiß, ich habe dir
vorgeworfen, du seiest verrückt, und was die anderen Leute
betrifft, stimmt das ja auch, für die bist du total durch den Wind.
Aber ich fürchte, ich könnte auch verrückt sein.« Er seufzte
nachdenklich. »Du wirst bloß von einem Gespenst heimgesucht, Jess.
Bei mir ist es etwas viel Einschneidenderes. Es ist wirklich sehr
seltsam, jemand anderen im Kopf zu spüren. Eine sehr merkwürdige
Empfindung. Irgendwie spricht sie einen frei von dem, was man tut.
Man tritt einfach in den Hintergrund und schaut zu. Gleichzeitig
nimmt man aber trotzdem daran teil.« Er machte eine kurze Pause.
»Der zweifache Spaß, sozusagen.« Er legte den Kopf schief. »Als ich
dich nach der Schülerdisco gevögelt habe, war das nur zum Spaß. Ich
habe dir was gegeben, damit du müde wirst. Die arrogante,
hochnäsige Miss Kendal, die mich keines Blickes würdigte und sich
im Bett dann wie eine Hure aufführte und alles tat, was ich ihr
befahl. Es war großartig. Aber nichts, wofür es sich lohnen würde,
meinen Job zu verlieren. Als du sagtest, du wüsstest, dass ich es
gewesen bin, als du alles gefährdet hast, was für mich im Leben
wichtig ist, wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste.
Meine Wut hat mich selbst erstaunt. Und genau die war es, die
Titus angezogen hat. Ihm war sofort klar, dass wir Seelenverwandte
sind.«
Jess merkte, dass sie am ganzen Leib zitterte.
»Daniel, bitte. Wehr dich gegen ihn.«
Daniel lächelte. »Warum denn? Es ist ein
fantastisches Gefühl. Unglaublich beflügelnd!«
»Kannst du ihn sehen?« Irgendwie musste sie dafür
sorgen, dass er ständig weiterredete - nicht auf seinen Hohn
eingehen, ihn beruhigen. Ganz ruhig das Gespräch in vernünftigere
Bahnen lenken. »Beschreib ihn doch mal. Ich würde gern wissen, ob
es derselbe Titus ist, den ich sehe.«
Er schwieg eine Weile. Sie glaubte, tatsächlich
sehen zu können, wie er eine Leinwand vor sich betrachtete. »Er ist
groß. Dunkler Typ. Römische Nase. Sieht gut aus. Eine Tätowierung
auf dem Arm. Ein verschlagener Blick und merkwürdig goldfarbene
Augen.« Er dachte kurz nach. »Ehrlich gesagt, als befehlshabenden
Offizier würde ich ihn mir nicht wünschen.« Er lachte auf und
richtete seine Aufmerksamkeit unvermittelt wieder auf sie. »Tja,
also, sieht er aus wie deiner?«
Jess nickte. »Und Eigon?«
»Dunkle Haare, blasses Gesicht. Neigt zu
Sommersprossen. Wunderschöne klare graue Augen. Wunderschön. Völlig
anders als du!«
»Danke!«
»Ich meinte damit, dass sie ganz anders aussieht
als du.« Er lehnte sich wieder gegen die Tür. Jess überlegte sich,
dass er doch langsam müde werden musste. Das war gut, oder
nicht?
»Jetzt wird sie mir allerdings ein bisschen zu
fromm«, fuhr er nachdenklich fort. »Ab und zu ein bisschen
Widerstandsgeist, aber sonst ständig dieses christliche Zeug, das
geht mir allmählich auf die Nerven. Was sie braucht, ist mal ein
bisschen männliche Aufmerksamkeit!« Er grinste.
»Weißt du, was am Ende passiert?«, fragte Jess,
ohne auf seine letzte Bemerkung einzugehen.
»Nein. Du?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß, wo sie
zurzeit ist. Da, wo Titus sie nicht finden kann.«
»Wo?«
»Irgendwo in den Bergen in einem halb verfallenen
Dorf, ein ganzes Stück von Rom entfernt.« Sie zwang sich zu einem
Lächeln. »Und es haben ja ziemlich viele Christen überlebt und von
den Gräueltaten berichtet. Das weißt du ja.«
»Ich könnte ihm sagen, wo sie war. Ist.« Er kniff
die Augen zusammen. »Er hört auf mich.«
»Ach ja? Wirklich?« Wenn es ihr nur gelingen würde,
ihn aus dem Zimmer zu locken, nach draußen auf die Straße, dann
hätte sie eine Chance zu entkommen. Hier, in diesem Zimmer, war sie
ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »Ich könnte dich ja
hinbringen«, sagte sie beiläufig, fast widerwillig. »Ich bin mir
zwar nicht ganz sicher, wo es ist, aber ich weiß, welchen Weg sie
genommen haben. Ob das Dorf wohl noch steht?«
»Was haben sie denn vor?« Jetzt richtete Daniel
sich auf. »Erzähl mir doch.«
»Sie besprechen, was sie tun sollen.«
»Wenn sie die Gefangenen herausholen wollen, das
ist aussichtslos«, sagte er höhnisch. »Das ist unmöglich. Hast du
die Gewölbe gesehen?«
Jess schauderte. Er wusste, was in ihrer Geschichte
passierte. Er war ein Teil davon. Er konnte das sehen, was sie auch
sah, aber durch die Augen einer anderen Person. »Ich bin heute im
Mamertinischen Kerker gewesen«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Da
hat auch der heilige Petrus seine
letzten Tage verbracht. Über dem Gefängnis haben sie eine Kirche
errichtet. Draußen steht eine Tafel mit einer Inschrift. Ich habe
sie nicht ganz verstanden, aber sie besagt so etwas in der Art,
dass man sich die Aufenthaltsdauer im Fegefeuer verkürzt, indem man
eine Wallfahrt dorthin unternimmt.« Das war völlig absurd. Jetzt
klangen sie wie zwei Historiker, die sich über die Wechselfälle der
Geschichte austauschten. »Es gibt noch andere Gefängnisse, und zwar
auf dem Esquilin, hast du das gewusst? Im Mamertinischen Kerker war
nicht genug Platz für alle Gefangenen. Die Häuser von Leuten wie
Felicius Marinus und Julius, die im großen Feuer abgebrannt waren
oder die abgerissen worden waren, um eine Brandschneise zu
schlagen, wurden dem Erdboden gleichgemacht. Nachdem die einmal weg
waren, stand Nero nichts mehr im Weg, seinen unglaublichen
Vergnügungspalast zu bauen. Aber bevor es dazu kam, wurden die
Keller der ganzen Häuser in Kerker verwandelt, in denen sie die
Gefangenen unterbrachten, die er den Löwen vorwerfen wollte.« Sie
verschränkte die Hände, um das Zittern zu unterdrücken. »Titus ist
ein schlauer Mann. Wenn er dich hören kann, wenn er dich sehen
kann, fragt er sich doch bestimmt, wie das funktioniert, genauso
wie du und ich uns das fragen. Wenn er weiß, dass du weißt, wo sie
sind, und dass du ihm diese Information vorenthältst, wird er dann
nicht wütend?« Die Unlogik ihrer Worte entging ihnen beiden.
Daniel zuckte mit den Schultern. »Mit ein bisschen
Gewalt kriegen wir das locker aus dir heraus.«
Sie schauderte. »Da ist nichts aus mir
rauszukriegen. Ich kann dir nicht beschreiben, wo sie sind. Ich
müsste einfach dem Weg folgen, den sie genommen haben.«
»Und dafür müsste ich dir erlauben, das Zimmer zu
verlassen.« Daniel grinste freundlich. »So dumm bin ich auch
wieder nicht, Schätzchen. Ich sehe doch, worauf du
abzielst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich sehr
schlau. Also gut. Und was machen wir jetzt?« Bevor er etwas sagen
konnte, griff sie nach ihren Einkaufstüten. »Ich weiß nicht, wie es
dir geht, aber ich habe wahnsinnigen Hunger. Ich habe ein bisschen
Gebäck und Obst gekauft. Möchtest du auch etwas?«
Er machte eine abwehrende Geste. »Aber iss nur. Ich
schau dir zu.«
Es war ihr unmöglich, etwas zu essen. Beim Kauen
wurde das Gebäckstück zu Beton. Nachdem sie sich gezwungen hatte,
zwei Bissen hinunterzuschlucken, legte sie es beiseite. Sie spürte,
wie er sie beobachtete, und konnte sich seine belustigte Miene
vorstellen, aber sie weigerte sich aufzuschauen. Mit dem
Daumennagel öffnete sie eine Feige und saugte das süße, saftige
Fruchtfleisch heraus.
»Gut?« Sein spöttischer Ton brachte sie dazu,
aufzuschauen. Sie wusste, dass ihr Saft von der Feige übers Kinn
lief. Neben ihm stand eine Gestalt. Schattenhaft, groß. Die
beobachtete sie ebenso amüsiert wie Daniel. Vor Schreck schrie Jess
auf und ließ die Feige auf den Tisch fallen.
»Was? Was ist denn?« Angespannt sah Daniel sich mit
aufgerissenen Augen um.
»Kannst du ihn nicht sehen?«, stammelte sie und
zeigte dorthin, wo sie die Gestalt sah.
»Wen?«
»Titus!« Es war ein tonloses Flüstern.
»Wo?« Daniel war kreidebleich geworden. »Wo? Ich
kann ihn nicht sehen. Du lügst.«
»Ich lüge nicht!« Sie stand auf und trat ein paar
Schritte zurück, damit der Tisch zwischen ihr und Daniel stand. Die
Erscheinung stand direkt neben ihm, berührte ihn beinahe. Und dann
berührte sie ihn tatsächlich.
»Aber, Daniel, kannst du ihn nicht spüren? Er ist
direkt auf dir drauf. Er ist um dich herum.« Dann fiel es ihr
wieder ein. »Hugo! O mein Gott, Hugo, mein Braver, komm, hilf mir.
Bitte!«
»Wovon redest du denn?« Daniel war starr vor Angst.
»Ich kann ihn nicht sehen.«
»Kannst du ihn nicht spüren? Daniel, er ist um
dich. Hugo!« Dieses Mal schrie sie den Namen, und plötzlich war der
Hund da, stand in der Mitte des Raums Daniel gegenüber. Riesig,
schwarz, kräftig - und sprungbereit.
»Großer Gott, was ist das?« Daniel war aschfahl,
entsetzt streckte er die Arme aus. »Halt ihn mir bloß vom
Leib!«
Jess lächelte. »Geh. Jetzt. Ganz ruhig. Geh
einfach. Ich kann ihn nicht lang zurückhalten.«
Daniel tastete panisch nach dem Türknauf, drehte
hektisch daran, aber die Tür ging nicht auf. Wütend zerrte er
daran.
»Du hast sie zugesperrt, Daniel«, sagte Jess ruhig.
Sie sah, dass der Hund zu beben begann. »Hol den Schlüssel und
steck ihn schnell ins Schloss. Viel Zeit bleibt dir nicht. Ich kann
den Hund nicht mehr kontrollieren.«
»Ich kann ihn nicht finden!«
»Du hast ihn in der Hand gehabt. Du hast mich damit
verspottet!«
»Was zum Teufel ist das, Jess?« Fahrig durchsuchte
er seine Taschen. Endlich hatte er den Schlüssel gefunden, rammte
ihn ins Schloss, drehte ihn um, und die Tür ging auf. Sekunden
später rannte Daniel die Treppe hinunter.
Hugo drehte sich um und schaute zu Jess. Sie hätte
geschworen, dass er lächelte. »Danke«, flüsterte sie. »Du hast mir
das Leben gerettet.« Sie streckte die Arme nach ihm
aus, doch er verblasste schon. Sie war überzeugt, dass er mit dem
Schwanz wedelte, ehe er verschwand.
Mit zwei Schritten hatte sie die Tür erreicht. Sie
warf sie ins Schloss, bückte sich nach ihrer Tasche und kramte ihr
Handy hervor. Mit zitternden Händen schaltete sie es an und betete,
dass der Akku nicht völlig leer war, während sie Williams Nummer
eintippte. »William, er war hier. Daniel. Er hat mich bedroht.
Bitte komm.«
»Jess, ich habe die ganze Zeit versucht, dich zu
erreichen. Rhodri hat mich gewarnt.« Williams Stimme drohte
überzuschnappen. »Bleib, wo du bist. Schließ dich ins Zimmer ein.
Ich komm so bald wie möglich.« Damit war die Verbindung
unterbrochen. Entsetzt schaute sie auf das Telefon. Hatte ihr Akku
den Geist aufgegeben, oder war es seiner? Sie wählte noch einmal,
bekam aber keine Antwort. Wo immer William war, sie konnte ihn
nicht erreichen.
»Zeig dich kurz, dann versteck dich wieder hinter
der Mauer.« Marcellus stand direkt neben ihr. »Das genügt, um sie
wissen zu lassen, dass du hier bist.« Sie sahen die Gruppe Männer
in der Ferne, doch sie waren zu weit weg, als dass sie jemanden
erkennen konnten.
Ihr Bote hatte eine eindeutige Nachricht
überbracht. Eigon würde sich ihnen freiwillig ausliefern, wenn
Felicius und Julius unverletzt freigelassen würden. Neutrale
Unterhändler müssten sicherstellen, dass der Austausch korrekt
ablief. Nur waren die Unterhändler nicht neutral. Sie würden im
letzten Moment vortreten und sich zwischen Eigon und ihre Häscher
werfen, gerade lange genug, dass die drei im Schutz der Dunkelheit
in Sicherheit gebracht werden konnten. Marcellus hatte das alles
organisiert, wenn auch mit Bauchgrimmen. Es war die einzige
Möglichkeit, um Julius und seinen Großvater aus dem Verlies frei zu
bekommen.
Die Spiele konnten jeden Tag beginnen. Die Vorbereitungen in der
Arena waren im vollen Gang, die Tiere hatten wieder Hunger.
Eigon war entschlossen. Sie war zu allem bereit, um
Julius zu retten, und jetzt würde sie endlich auch Titus wieder
begegnen. Es war, als hätte sie sich ihr Leben lang auf diese
Begegnung vorbereitet. Dieses Mal würden sie sich als Ebenbürtige
gegenüberstehen. Sie würde nicht im Nachteil sein. Sie wusste, wann
und wo die Begegnung stattfinden würde, und sie hatte sich dafür
gewappnet. Jetzt hatte sie keine Angst mehr, vielmehr bebte sie vor
Wut. Er bedrohte die Menschen, die sie liebte. Seit sie
zurückdenken konnte, hatte er sie terrorisiert. Er hatte ihre
Freundin getötet, fast hätte er auch sie umgebracht. Er hatte den
Tod ihres Vaters verschuldet. Diese Begegnung würde zu ihren
Bedingungen ablaufen.
Marcellus warf einen Blick zu ihr. Er spürte ihre
Wut und ihre kalte Entschlossenheit. »Bereit?«, flüsterte er. Er
hielt das ganze Unterfangen immer noch für Wahnsinn, aber welche
andere Wahl hatten sie denn?
Sie nickte. »Ich kann nichts sehen. Sind sie es?«
»Wir bewegen uns erst, wenn wir uns absolut sicher sind.« Er
lächelte aufmunternd. »Stephanus geht voran. Er hat Julius und
seinen Großvater ein paarmal gesehen und kennt sie gut genug, um zu
wissen, ob sie es wirklich sind.« Über die Schulter warf er einen
Blick zu Stephanus, der grinsend den Daumen hob. »Soll ich jetzt
losgehen?«
»Lass sie noch ein paar Schritte näher kommen. Sie
haben bei weitem nicht die Hälfte des Wegs zurückgelegt.« Marcellus
spürte, wie sich sein Körper anspannte. Er sah sich in der
Dunkelheit um. Der Plan war ihm so simpel erschienen, so absolut
sicher, aber jetzt, in der Dunkelheit, beschlichen ihn wieder
Zweifel. Er und Eigon wollten die
anderen überlisten, aber das konnte Titus Marcus Olivinus
ebenfalls im Sinn haben.
»Worauf warten wir noch?« Eigon war zu ihm
getreten, er spürte, dass ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt
waren.
»Wir wissen noch nicht hundertprozentig, ob sie es
sind. Es ist zu dunkel«, flüsterte Marcellus.
»Ruf ihnen zu.«
Marcellus warf einen Blick zu Stephanus. »Soll
ich?«
Stephanus nickte. »Wir wollen uns ihnen ja nicht
heimlich nähern. Sie wissen doch, dass wir kommen.«
Marcellus trat ein paar Schritte vor. »Titus Marcus
Olivinus? Seid Ihr da? Zeigt uns unsere beiden Männer.«
Sie bekamen keine Antwort, aber die Gruppe schritt
unentwegt auf sie zu.
»Julius?«, rief Stephanus. »Bist du da?«
Wieder bekamen sie keine Antwort, wieder näherte
sich die Gruppe lautlos.
Eigon biss sich auf die Unterlippe, ihre Hände
waren schweißnass. Und plötzlich wusste sie es. »Sie sind nicht da.
Sie haben uns getäuscht!«
Fluchend packte Marcellus sie am Arm, machte kehrt
und lief los. Plötzlich waren überall Männer. Fackeln loderten auf
und erhellten die Nacht. Sie waren umzingelt. Geblendet von den
tanzenden Flammen, blieb Eigon stehen. Sie konnte nichts sehen. Ihr
Arm wurde aus Marcellus’ Griff gerissen, sie spürte, wie sie von
ihm fortgeschleppt wurde. Mit einem Schrei der Wut bohrte sie ihre
Finger in die Augen dessen, der sie gepackt hatte. Sie hörte lautes
Fluchen. Der Griff um ihren Arm löste sich ein wenig, sie konnte
sich losreißen, drehte sich um und lief blindlings durch das
Gewühl, wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Irgendwo
wieherte ein Pferd. Sie hörte das Donnern
und Scharren von Hufen auf der gepflasterten Straße. Dann hatte
jemand anderes sie gepackt. »Hier entlang! Schnell!« Sie erkannte
Stephanus’ Stimme. »Hierher!«
»Julius?«, rief sie. »Wo ist Julius?«
»Er ist nicht hier. Er ist nie hier gewesen.« Einer
Gruppe von Männern ausweichend, zog Stephanus sie durch ein Tor und
in die Dunkelheit eines Weinbergs. »Hier weiter. Die anderen kommen
allein klar. Die haben nicht damit gerechnet, dass wir genauso
zusätzliche Leute mitgebracht haben.« Stephanus und Eigon liefen
durch die Weinstöcke, vage konnten sie den Mond ausmachen. Dann
bogen sie scharf nach rechts in ein Gebüsch. In der Ferne zog sich
die Silhouette eines Aquädukts durch die Landschaft, die
Mondschatten seiner Bögen fielen auf die Ebene. Auf diese Schatten
steuerte Stephanus zu. Sie fanden eine Lücke in der Mauer des
Weinbergs und liefen hindurch. Jetzt waren sie in einer Gegend mit
vielen Gärten, hier und dort standen Obstgärten und kleine
Bauernhäuser. Stephanus blieb stehen und sah sich um. »Ich kann
niemanden hören. Du?« Sein Atem ging keuchend.
Eigon war zu erschöpft, um zu sprechen. Sie
schüttelte den Kopf, schluckte heftig und presste die Hand in die
Leiste, vom schnellen Laufen hatte sie Seitenstechen bekommen. »Und
was ist mit Marcellus?«
»Er kann sich um sich selbst kümmern, aber wir
müssen uns in Sicherheit bringen. Du bist es, hinter der sie her
sind, vergiss das nicht.« Er sagte ihr nicht, dass Marcellus einen
der jungen Männer aus ihrer Gruppe dazu überredet hatte, einen Rock
und einen Umhang zu tragen für den Fall, dass ihr Plan fehlschlug.
Mittlerweile würde er seine Verkleidung abgestreift haben, aber
einige lebensrettende Momente sollte er die Häscher getäuscht
haben, die mit etwas Glück ihm gefolgt waren. Lauschend hielt
Stephanus die
Luft an. Nichts. Eine leichte Brise wisperte in den Blättern der
Ölbäume, die in der Nähe in einem Hain standen.
»Und was machen wir jetzt?« Eigons früherer Mut
hatte sie völlig verlassen, sie merkte, wie zittrig sie klang. »Wo
ist Julius?«
»Ich bezweifle, dass sie ihn überhaupt mitgebracht
haben«, flüsterte Stephanus. »Das Risiko hat immer
bestanden.«
Er sah, wie einen Moment Kummer über ihr Gesicht
huschte, denn straffte sie die Schultern und atmete tief durch.
»Wir müssen nach ihm suchen. Wir können ihn nicht
dortlassen.«
Stephanus schüttelte den Kopf. »Eigon, überlass das
den anderen. Es ist zu gefährlich für dich. Das weißt du auch. Du
bist unser einziges Unterpfand.«
Sie wusste, dass er Recht hatte.
»Aber sie haben uns hereingelegt. Ein zweites Mal
werden sie nicht in einen Tausch einwilligen.«
»Marcellus wird etwas einfallen. Er ist ein guter
Stratege. Überlass es nur ihm. Bis es hell wird, brauchen wir ein
sicheres Versteck. Dann müssen wir uns wieder mit den anderen
zusammentun. Jetzt müssen wir uns erst zu einem Haus durchschlagen,
das einigen Christen gehört. Dort werden sich auch die anderen von
uns wieder einfinden.«
»Ist es weit?«
»Ja, aber wir gehen langsam, und nach einer Weile
können wir eine kleine Rast einlegen. Hier ist das Gelände einfach
zu offen, hier sind wir nicht sicher.«
»Und was ist mit Julius und seinem
Großvater?«
Stephanus schwieg einen Moment, bevor er
antwortete. »Wir beten für sie. Du musst fest daran glauben, Eigon.
Gott ist auf unserer Seite. Er wird uns beschützen.«
»Gott will Märtyrer«, sagte sie bitter. »Ich habe
doch gehört, wie Marcellus das sagte. Er will, dass Leute ihren
Glauben unter Beweis stellen, indem sie qualvoll für ihn sterben.
Ich dachte, er sollte ein Gott der Liebe sein.« Fröstelnd zog sie
ihren Umhang enger um sich.
Stephanus erwiderte nichts darauf und setzte sich
seufzend wieder in Bewegung. Er ging so schnell, dass Eigon laufen
musste, um Schritt zu halten. Sein Schweigen hatte sie daran
erinnert, dass seine Frau bereits für ihren Glauben gestorben war.
Peinlich berührt wegen ihrer Gedankenlosigkeit fasste sie ihn am
Arm. »Und wo sind deine Kinder, Stephanus?«
»Jemand kümmert sich um sie.«
»Du hast sie allein gelassen, um mir zu helfen?«
Sie zwang ihn stehen zu bleiben und sah ihm in die Augen.
»Das war meine Pflicht.«
»Nein, das war nicht deine Pflicht. Das war eine
Tat der Liebe.« Sie machte eine hilflose Geste. »Es tut mir leid.
Ich bin noch keine besonders gute Christin.«
Er lächelte verständnisvoll. »Ist das irgendeiner
von uns? Wir bemühen uns alle darum, das zu tun, was Jesus sich von
uns gewünscht hätte, aber er hat Verständnis für uns. Er wusste,
dass wir nicht so stark sind wie er. Schau dir Petrus an. Sogar er
leugnete Christus, als er Angst hatte.«
Eigon ließ seinen Arm los und schritt entschlossen
wieder aus. »Du hast Recht.« Schweigend gingen sie ein Stück
weiter. »Melinus war tapfer«, sagte sie schließlich. »Er war ein
Druide. Sie wurden in Rom auch verfolgt. Ich glaube nicht, dass ich
so stark sein könnte.«
»O doch. Du bist einer der tapfersten Menschen, den
ich kenne.« Stephanus grinste zu ihr hinüber. »Julius hat
Glück.«
Eigon errötete. »Ich habe nie zu hoffen gewagt, wir
könnten ein Paar werden. Das hätten meine Eltern nie
erlaubt.«
»Und du hättest nicht gegen ihren Willen
gehandelt?« Fragend hob er die Augenbrauen.
Sie lächelte. »Nicht gegen den meines Vaters,
nein.«
»Aber jetzt ist er tot.«
Sie nickte traurig. »Jetzt ist er tot.«
»Also, was hindert dich jetzt?«
Sie lachte auf. »Abgesehen von einem Kerker,
überhaupt nichts.« Beim Gedanken an ihre Mutter, die jetzt mit
ihren Erinnerungen allein in der Villa war, wurde sie traurig.
Hatte sie auch nur einmal an die Tochter gedacht, die sie verstoßen
hatte? Das würde sie vermutlich nie erfahren.
Als der Tag dämmerte, hatten sie ihr Ziel endlich
erreicht. Erschöpft und mit staubigen Kleidern betraten sie den
Garten der Villa, wo Stephanus an eine Seitentür klopfte. Sie wurde
sofort geöffnet, die beiden traten ein und wurden von einer großen,
weißhaarigen Frau empfangen, die selbst zu dieser frühen Stunde
elegant gekleidet war. Ihr Gesicht war blass, ihre Haut sehr glatt,
sie war durch und durch eine Patrizierin, obwohl das leuchtende
Kornblumenblau ihrer Augen zusammen mit ihrer hellen Haut
verrieten, dass ihre Herkunft weit im Nordwesten des römischen
Reiches lag. Gleich darauf wurde Eigon von einer hübschen, gut
gekleideten Sklavin fortgeführt, die ihr bereitwillig half, zu
baden und den Staub aus ihren Haaren zu bürsten, ihr neue Kleider
gab und sie innerhalb kürzester Zeit zu Stephanus und ihrer
Gastgeberin zurückbrachte, wo ihr zu essen vorgesetzt wurde.
»Ich bin Junilla Gallica, meine Liebe. Willkommen.
Hier bist du in Sicherheit.« Lächelnd reichte die Frau Eigon ihre
Hände und zog sie an sich, um ihr einen Kuss auf die Wange zu
geben. »Setz dich. Hier sind Brot und Käse und Honig und
calda zu trinken.« Sie schob eine Karaffe des warmen,
schwach gewürzten Weins zu ihren Gästen hinüber. »Bitte,
Stephanus, segnest du für uns das Mahl?«
Als warmes Sonnenlicht den Raum füllte, merkte
Eigon, dass ihr die Augen zufielen. Verlegen zwang sie sich, sie
wieder zu öffnen, doch wieder schlossen sie sich wie von selbst.
Ihre Gastgeberin lächelte. »Wehr dich nicht dagegen, meine Liebe.
Geh ins Gästezimmer und schlaf. Wir holen dich, wenn die anderen
kommen.«
Es dauerte mehrere Stunden, ehe die ersten
Nachrichten eintrafen. Marcellus und sechs andere staubige,
erschöpfte Männer, unter ihnen auch Silas, kamen schließlich, als
Eigon und Junilla in einem schattigen Hof beisammensaßen und sich
unterhielten.
»Wir sind ihnen entkommen, bald nachdem du und
Stephanus fort wart«, sagte Marcellus und ließ sich auf einen
Schemel neben den beiden Frauen fallen. »Niemand wurde ernstlich
verletzt, wir haben niemanden verloren. Und wir haben
Neuigkeiten.«
Erwartungsvoll schauten die beiden Frauen zu
ihm.
»Felicius ist freigelassen worden.«
»Was?« Eigon sprang auf. »Und was ist mit
Julius?«
»Soweit ich es verstanden habe, stehen sie auf
Befehl des Kaisers beide unter Hausarrest. Wir wissen nicht, warum.
Ihr kennt ja Neros Launenhaftigkeit. Aber ich vermute, es hat etwas
damit zu tun, dass Felicius als Senator einflussreiche Freunde hat.
Mein Informant hat gesagt, dass Marcus Olivinus schäumt vor Wut,
aber in der Sache machtlos ist. Trotzdem müssen wir uns vor ihm in
Acht nehmen. Alle seine Pläne sind durchkreuzt worden, und er kann
Julius immer noch als Köder einsetzen, also« - abwehrend hob er die
Hand, weil Eigon ihn unterbrechen wollte -, »werden wir nichts
überstürzen und uns zuvor genau den nächsten Schritt
überlegen.«
Am nächsten Morgen hatten sie sich auf einen Plan
geeinigt, den sie so lange besprochen hatten, bis er ihnen absolut
sicher erschien. Alles hing von Junilla Gallica ab.
Sie und Eigon hatten beide einen schweren Schleier
angelegt und waren schlicht und unauffällig gekleidet, um so wenig
Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Unter ihren Umhängen trugen
sie zwei weite Gewänder, die auch eine größere Körperfülle
verborgen hätten. Zu ihrem Schutz wurden sie von zwei mit Keulen
bewaffneten Sklaven begleitet, wie es üblich war für Damen aus
weniger begüterten Patrizierhäusern, die sich keine kostspieligen
bewaffneten Leibwächter leisten konnten. Einer der Sklaven trug
zusätzlich eine Tasche über die Schulter geschlungen, in dem sich
ein weiterer Schleier und ein Umhang befanden. Die Absicht war, den
Eindruck zu erwecken, dass die beiden Frauen in Trauer waren,
sollte jemand das Haus beobachten.
Auf dieser Mission sahen sowohl Junilla Gallica als
auch Eigon Rom zum ersten Mal seit dem Brand wieder und waren
entsetzt vom Ausmaß der Zerstörung. Ganze Viertel lagen in Schutt
und Asche, überall ragten die Ruinen halb zerfallener, verlassener
Häuser auf, in den Straßen türmten sich Berge von Steinen, Asche
und verkohltem Holz. In anderen Vierteln hatte das Feuer offenbar
überhaupt keinen Schaden angerichtet. Das Leben in der Stadt ging
seinen gewohnten Gang, wenn auch in gedämpfterer Atmosphäre. Das
Haus, in dem Felicius und Julius sich aufhielten, lag in einem
ruhigen Viertel mit vornehmen Häusern auf dem Caelius, einem
Viertel, das von den Flammen verschont geblieben war. Das Haus
schien lediglich von zwei Sklaven bewacht, die vor der Haustür
standen. Junilla ging langsam, aber selbstbewusst darauf zu. Dann
wandte sie sich zu einem der Sklaven und neigte anmutig den Kopf.
Der Sklave
verbeugte sich, trat vor und klopfte mit seiner Keule an die Tür.
Schweigend warteten sie. Unter ihrem Schleier wagte Eigon kaum zu
atmen, während sie aus den Augenwinkeln die Häuser rechts und links
von ihnen beobachtete. Die beiden Wachen würdigten sie keines
Blickes. In der Straße war es ruhig, Sonnenlicht spielte auf den
Pflastersteinen. Nichts erweckte den Eindruck, dass sie beobachtet
würden. Endlich hörten sie aus dem Hausinneren Schritte, die Tür
wurde geöffnet. Junilla trat vor. »Ich bin gekommen, um meinen
Bruder zu besuchen.« Ihre Stimme klang überzeugend schwach und
bekümmert. »Bist du das, Septimus?« Mit zusammengekniffenen Augen
spähte sie durch ihren Schleier. »Bitte, sag ihm, dass ich gekommen
bin.«
Sie trat ins Haus, gefolgt von Eigon und den
Sklaven. Hinter ihnen wurde die Tür geschlossen. Vor Erleichterung
atmete Eigon tief durch. Bis zu diesem Moment hatten sie nicht mit
Sicherheit gewusst, ob ihre Nachricht, in dem sie ihren Plan grob
umrissen, tatsächlich hier im Haus eingetroffen war. Sie hatten
Silas zu ihrem Boten bestimmt. Wenn sich irgendjemand durchschlagen
konnte, dann er, und ihm würde sie ihr Leben anvertrauen. Septimus,
ein hagerer Mann mit schütterem Haar, der die tadellose, aber
schlichte Tunika eines älteren Haussklaven trug, legte den Finger
auf die Lippen und ging ihnen durch den Korridor rasch in eines der
Zimmer voraus. »Hier herein, Herrinnen«, sagte er laut. Im
Flüsterton fuhr er fort: »Bitte sagt nichts Unüberlegtes. Wir
wissen nicht, wer ein Spion sein könnte.«
Junilla warf einen warnenden Blick zu Eigon, die
schweigend nickte. Ihr Herz klopfte vor Angst und Aufregung wie
wild.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe jemand erschien,
aber schließlich kam Tempus Decimus, der Besitzer des Hauses,
begleitet von seinen zwei Gästen. Sie wirkten erschöpft und waren
beide sehr mager. Decimus war ein großer Mann Anfang vierzig,
Kummerfalten hatten sich tief in sein Gesicht eingegraben. Im
Augenblick jedoch lächelte er. Eigon merkte, dass Julius’ Blick sie
streifte. Das war die einzige Geste des Erkennens zwischen ihnen.
»Erfrischungen, bitte«, ordnete ihr Gastgeber an. Die beiden
Sklaven, die wartend neben der Tür standen, verneigten sich und
verschwanden. Junillas Sklaven folgten ihnen. Eine kurze Zeit waren
die fünf allein im Raum.
»Schnell, Eigon.« Junillas Gebaren als gebeugte
alte Dame verschwand im Handumdrehen. »Zieh dein Gewand und deinen
Schleier aus. Und deinen Umhang. Gib alles Julius. Und du,
Felicius, streifst dir dieses Gewand über.« Junilla reichte ihm die
Tasche, die sie mitgebracht hatten.
Grinsend wandte Julius Eigon den Rücken zu, als sie
tat, wie ihr geheißen. Dann reichte sie ihm ihr Kleid, das er über
den Kopf zog, gefolgt von Umhang und Schleier. Nur mit Mühe konnten
sie ein Lachen unterdrücken, als die Säume der Ärmel unter seinen
kräftigen Schultern fast platzten. »Geht das?«, fragte Eigon
Junilla.
Diese lächelte. »Wenn die Wachposten blind sind!
Aber du musst wie sie gehen, Julius. Und sie muss gehen wie ich,
gebeugt und alt!« Sie nahm ihren Umhang und ihren Schleier ab und
reichte beides Eigon.
»Sie kommen!« Decimus stand neben der Tür.
»Schnell, Felicius, Junilla, hinaus in den Hof.«
Als die Sklaven zurückkehrten, waren wie zuvor zwei
Frauen im Raum, jetzt saßen sie allerdings nebeneinander auf einer
Liege, beide noch verschleiert. Decimus stand neben ihnen. Zwei
andere Damen, halb verborgen hinter den eingetopften Pflanzen im
Hof, betrachteten den Teich, den Rücken dem Raum zugewandt. Wortlos
stellten die Sklaven
die Erfrischungen auf den niedrigen Tisch und zogen sich
zurück.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Decimus,
als die Tür hinter ihnen geschlossen war. Er ging zum Fenster und
bedeutete Junilla und Felicius, wieder ins Zimmer zu kommen.
»Nachdem wir die Erfrischungen zu uns genommen
haben, gehen Eigon und ich wieder, wie wir gekommen sind, mit
unseren Sklaven«, sagte Junilla entschlossen, streifte ihren Umhang
ab und warf ihn über die Lehne der Couch. »Nur bin es natürlich
nicht ich.« Sie lächelte zu Julius hinüber. »Zum Glück hat Eigon in
etwa meine Größe. Ich bezweifle, dass die Wachposten den
Unterschied bemerken. Als wir angekommen sind, haben sie uns kaum
beachtet.«
»Und wie verlässt du dann das Haus?«, fragte
Felicius.
»Mit dir, mein Lieber. Nachdem die Wachposten
abgelöst worden sind.« Junilla warf Felicius ein Lächeln zu. »Wir
tragen Umhänge und Schleier und gehen ganz ungestört Arm in Arm
hinaus, so, wie wir gekommen sind. Selbst wenn jemand etwas sagt,
dass wir bereits gegangen wären, wird niemand zwei Frauen
aufhalten, die das Haus verlassen.« Sie runzelte die Stirn. »Aber
was wird mit dir passieren, wenn sie herausfinden, dass deine Vögel
ausgeflogen sind?« Sie wandte sich zu Decimus.
Er lächelte spöttisch. »Ich habe nicht vor, hier zu
sein, wenn sie das feststellen. Ich weiß, welchen meiner Sklaven
ich vertrauen kann. Bei anderen bin ich mir nicht so sicher. Aber
wir haben einen Plan. Ich werde das Haus sehr bald nach euch
verlassen und mich zum Bad begeben. Und dort werde ich
verschwinden. Ich werde so bald wie möglich zu dir aufs Land
kommen, meine Liebe.«
»Wenn sie feststellen, dass deine Gäste
verschwunden sind, verlierst du unseretwegen sehr viel, Decimus.«
Junilla
legte ihm eine Hand auf den Arm. »Dein Haus ist in Gefahr, dein
ganzer Besitz, dein Platz im Senat.«
Wieder lächelte er. »Es wird nicht das erste Mal
sein, dass ich zum Wohle meiner Gesundheit freiwillig ins Exil
gehe! Ich komme wieder.« Er schenkte ihr einen Becher Wein ein,
dann einen zweiten, den er Eigon reichte. »Trinkt das, um euch Mut
zu machen. Dann solltet ihr beide«, er deutete mit dem Kopf auf
Eigon und Julius, der unbehaglich in der Frauenkleidung dastand,
»gehen, bevor sie die Wachen austauschen. Soll ich eure Sklaven
rufen?«
Junilla nickte. »Eigon, vergiss nicht, du bist ich.
Du gehst gebeugt, meine Liebe, alle Glieder tun dir weh. Und du
bist in tiefer Trauer. Aber wenn sie dich ansprechen, musst du
antworten«, lachte sie. »Wenn Julius auch nur ein Wort sagt, seid
ihr verloren.«
Gehüllt in Junillas Umhang und Schleier, ging Eigon
langsam und gebeugt als Erste zur Tür. Ihr folgte Julius mit
leichten Schritten, er versuchte, Eigons Haltung nachzuahmen, ihren
unbekümmerten, aufrechten, anmutigen Gang. Die zwei Sklaven, die
ihnen folgten, hielten die Keulen locker in der Hand, und als die
Haustür geöffnet wurde, traten sie alle in die Sonne hinaus. Es
fiel ihnen sehr schwer, langsam auszuschreiten, links abzubiegen,
auf der Schattenseite zu bleiben und, ein wenig aneinander
gestützt, die Straße hinaufzugehen. An der Ecke, immer noch in
Sichtweite der Wachposten, blieben sie kurz stehen, ehe sie die
Straße überquerten. »Geh einfach weiter«, wisperte Julius. »Sag und
tu noch nichts. Sobald wir auf dem Platz sind, bitte einen der
Sklaven, eine Sänfte für uns zu beschaffen. Dann sind wir
allein.«
Mittlerweile gingen sie Arm in Arm, was aber nicht
weiter Aufmerksamkeit erregen würde. So gingen Frauen oft
miteinander.
Auf dem Platz heuerte ein Sklave eine der vielen
Sänften an, die aufgereiht vor dem öffentlichen Bad standen. Eigon
und Julius stiegen hinein und schlossen die Vorhänge, während die
Sänfte sich schlingernd in Bewegung setzte. Die Sklaven würden
ihnen im Laufschritt folgen.
Eigon lehnte sich zurück. Sie zitterte am ganzen
Leib. Julius warf den Schleier zurück. Beim Anblick seines
unverkennbar männlichen Gesichts mit dem Schatten eines Barts auf
Wangen und Kinn, seiner kantigen, attraktiven Züge und seiner
kräftigen Augenbrauen, die auf seiner blassen Haut noch dunkler
wirkten, musste sie wieder laut lachen. Er beugte sich vor und
küsste sie auf die Wange, hob aber wieder den Finger an die Lippen,
um ihr zu bedeuten, leise zu sein. Selbst Sänftenträger konnten
Spione sein. Einen langen Moment sahen sie sich nur an, dann beugte
er sich wieder vor. Dieses Mal küsste er sie auf die Lippen. In der
dämmrigen Einsamkeit der Sänfte befanden sie sich in ihrer eigenen
Welt. Eigon rutschte auf dem Sitz vor, so dass sie halb kniete, als
seine Arme sie umfingen und er sie immer und immer wieder küsste,
bis ihr vor Verlangen und Aufregung ganz schwindlig wurde. Sie
durften nicht sprechen, konnten sich in dem engen Raum kaum
bewegen. Einer der Träger stolperte, und die Sänfte geriet ins
Schlingern. Eigon und Julius fielen zur Seite und brachen in Lachen
aus. »Psst!« Julius legte wieder seinen Finger an die Lippen.
Dann wurde die Sänfte abgesetzt, und Eigon rutschte
rasch wieder auf ihren Platz zurück. Die Reise war schon zu Ende.
Sie stiegen aus, wobei sie die Schleier in der Brise festhielten,
während einer der Sklaven die Träger bezahlte, die sich daraufhin
wieder in Bewegung setzten. Dann gingen sie zu dem mansio,
wo ihr Wagen wartete. Der würde sie aufs Land hinausbringen. Erst
dort würde Julius seine
Verkleidung ablegen können. Noch zwei Stationen, ehe sie endlich
in Junillas Villa ankommen würden.
Rasch gingen sie in den Gasthof, tauschten einen
Blick und lächelten wieder. Sie waren in Sicherheit. Julius raffte
seinen ungewohnt langen Rock zusammen und sprang, zwei Stufen auf
einmal nehmend, ins Haus.
In der Nähe lehnte an der Mauer ein Mann. Er
bemerkte die kräftigen, etwas behaarten Waden unter dem Rock, den
starken Arm, der den Schleier hielt, den männlichen Schritt, und
lachte in sich hinein. Im Moment dachte er sich nicht allzu viel
dabei, doch wenn er gefragt würde, würde er sich daran erinnern.
Und er würde sich auch sehr genau an den Wagen erinnern, in den die
beiden eine Weile später im Hof des Gasthauses stiegen.