Kapitel 5
Hallo, Steph, wie geht’s?«
Der Anruf kam, als Steph am nächsten Morgen gerade
den Palazzo verließ, um für das große Essen am Abend einzukaufen.
Gäste in letzter Minute bedeuteten Einkäufe in letzter Minute, und
Kim hatte sich bereits in der Küche verschanzt.
»Hallo?« Steph blieb kurz stehen und schob die
Sonnenbrille von ihrer Stirn vor die Augen. Die Stadt war
aufgeheizt wie ein Backofen, die Hitze flimmerte über den
Pflastersteinen auf der Piazza, der Verkehr toste an ihr vorbei.
Der Palazzo, der jetzt in ihrem Rücken stand, war ein eleganter
Renaissancebau. Die verblichene terracottafarbene Fassade blätterte
bereits, hier und da waren Sprünge und Risse zu sehen, über die
klassischen symmetrischen Fenster schwangen sich Girlanden und
Wirbel in erlesenster Steinmetzarbeit. Die gewaltige Tür, genau
mittig im Gebäude eingesetzt, war mit metallenen Beschlagnägeln und
Bändern verstärkt, die kleine eingelassene Durchgangstür war in dem
alten Holz kaum zu sehen. Kims Mann Adriano war in der
riesengroßen, etwas vernachlässigten Wohnung mit den hohen Decken
in diesem alten Palazzo zur Welt gekommen; sein Vater hatte die
Wohnung eigens gekauft, damit seine Familie in diesem Künstler- und
Bohemeviertel Roms leben konnte.
Steph drehte sich um und schaute an den Mauern
hinauf, während die Stimme ihr ins Ohr drang. »Hier ist William.
Steph, bitte leg nicht auf. Ich muss mit dir reden.«
»Warum?«, fragte sie überrascht. Sie ging weiter
und bog in eine Gasse ab. Hier war es weniger laut, so dass sie ihn
besser verstehen konnte.
»Ich versuche ständig, Jess zu erreichen. Du weißt,
dass sie nicht mehr an der Schule ist? Sie hat gekündigt, ohne
irgendjemandem einen triftigen Grund zu nennen. Ans Handy geht sie
nicht, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht mehr in
ihrer Wohnung ist. Ich mache mir Sorgen um sie.«
»Wieso gehst du davon aus, dass ich weiß, wo sie
ist?« Steph bog in die Via dei Capellari ein, sie war auf dem Weg
zum Markt auf dem Campo deʹ Fiori.
»Sei nicht albern. Natürlich weißt du, wo sie ist.
Ihr zwei wisst immer alles voneinander. Ist sie bei dir?«
»Nein, das ist sie nicht. Ich bin in Rom, William.
Ich weiß nicht, wo sie ist.« Sie blieb stehen und schaute, ohne
etwas wahrzunehmen, ins Fenster einer kleinen Rahmenhandlung. In
dieser schattigen, engen Straße war es etwas kühler. Zwei Männer
hatten vor dem Haus Stühle zwischen zwei große, mit Kamelien
bepflanzte Tontöpfe gestellt. Jetzt saßen sie da und tranken
eiskaltes Bier, das Kondenswasser lief zwischen ihren Fingern herab
und tropfte auf ihre T-Shirts. »Daniel meinte, vielleicht sei sie
zu dir gefahren.« William seufzte. »Na ja. Weißt du wenigstens,
warum sie gekündigt hat?«
»Nein.« Steph ging langsam weiter. Sie mochte
William gern und fand es schade, dass die beiden sich getrennt
hatten. Aber wenn Jess niemandem sagen wollte, wo sie war, dann
hatte sie ihre Gründe. »William, es ist zwecklos, mich weiter zu
bedrängen. Wenn Jess dich wissen lassen will, wo
sie ist, dann meldet sie sich bei dir. Ich habe sie seit
Ewigkeiten nicht mehr gesehen.« Das zumindest war nicht gelogen.
»Ich bleibe den ganzen Sommer hier, also werde ich sie auch so bald
nicht sehen.«
Darauf folgte ein längeres Schweigen. »Glaubst du,
dass sie vielleicht zu eurer Mutter nach Frankreich gefahren ist?«
Er klang zutiefst bekümmert.
Steph machte eine abwehrende Geste. Sie wusste
nicht, ob Jess ihrer Mutter gesagt hatte, wo sie war, und ebenso
wenig wusste sie, ob es lange ein Geheimnis bleiben würde, wenn
ihre Mutter es wüsste. Aurelia hatte eine große Schwäche für
William. »William, bist du noch dran? Ich glaube nicht, dass sie in
Frankreich ist«, sagte sie entschlossen. »Das hätte Mummy mir
gesagt. Ich habe vor ein oder zwei Tagen mit ihr gesprochen, sie
bereitet sich gerade auf eine Indienreise vor.« Sie kreuzte die
Finger. Noch eine Lüge, aber eine kleine. Aurelia war gerade von
der Reise zurückgekehrt. Als Steph ihr Handy wieder wegsteckte,
verzog sie das Gesicht. Warum tat Jess so geheimnisvoll? Da war
doch was im Busch. Sie nahm sich vor, ihre Schwester am Abend
anzurufen und zu fragen, was da eigentlich vor sich ging.
Daniel rief in Ty Bran an, als Jess gerade eine
Schüssel Müsli aß. »Ich bin in Hay. Hast du Lust, mich hier zum
Mittagessen zu treffen?«
Sie fing die Toastscheibe auf, die gerade aus dem
Toaster sprang. Die Haustür stand weit offen, die Amsel hatte ihr
die nächtliche Störung so weit verziehen, dass sie oben auf dem
Dach des Ateliers im Sonnenschein saß und ihr Lied schmetterte. Die
tiefe Niedergeschlagenheit war fort, der Frieden von Ty Bran tat
endlich seine Wirkung. Nach dem Lärm und dem Dreck von London war
es Balsam für ihre Seele.
»Du bist in Hay?« Jess runzelte die Stirn. »Was
machst du denn da?«
»Nach Büchern stöbern. Was sonst?«
»Du hast mir gar nicht gesagt, dass du in diese
Gegend kommen würdest.«
»Nein?« Er lachte.
»Nein, hast du nicht. Sind Natalie und die Kinder
dabei?«
»Diesmal nicht. Buchläden langweilen sie leider zu
Tode. Sie sind schon bei Natalies Eltern in Shropshire. Ich bleibe
noch ein oder zwei Tage hier und fahre dann nach. Jetzt komm schon,
Jess, in einer guten Stunde bist du doch hier.«
Jess schaute über die Schulter zur offenen Tür. Sie
merkte, dass sie schon jetzt wenig Lust verspürte, diesen
friedlichen Ort zu verlassen, trotz der manchmal beklemmenden
Echos. Andererseits musste sie ein paar Sachen besorgen, und
vielleicht würde ihr ein Tapetenwechsel guttun.
Sie trafen sich um halb eins in der Bar des
Kilvert. Draußen waren keine Tische mehr frei, also setzten sie
sich innen an einen Tisch, der am Fenster stand.
»Und? Geht’s dir jetzt mit allem etwas besser?« Er
stellte ein Glas Wein vor sie, nahm ihr gegenüber Platz und
musterte sie kurz. »Du siehst müde aus.«
Sie lächelte gequält. »Ich habe ein paar ziemlich
abenteuerliche Alpträume gehabt.« Es tat ihr gut, sich jemandem
anvertrauen zu können, allerdings hatte sie nicht vorgehabt, es so
schnell und so unmittelbar zu tun.
»Und wovon handeln sie?« Er schaute zur Seite und
trank einen Schluck Bier.
»Von einem kleinen Mädchen.« Sie zögerte und
überlegte, ob sie ihm Einzelheiten erzählen sollte. »Zwei kleinen
Mädchen. Offenbar gehen sie in Stephs Haus um.« Sie warf einen
Blick zu ihm, um seine Reaktion abzuschätzen.
»Sie gehen um? Wirklich?« Eindeutig belustigt
schaute er in sein Glas. Dann schob er die Speisekarte zu ihr über
den Tisch, immer noch ohne sie anzusehen. »Willst du dir nicht was
aussuchen? Wie sieht das mit dem Umgehen denn aus?«
Jess zuckte mit den Schultern. »Wie schon gesagt,
Alpträume, und ich glaube, ich habe sie auch schon gesehen.«
»Irre.« Er studierte immer noch die Speisekarte.
»Hat Steph sie auch gesehen?«
»Sie sagt, sie habe den Verdacht, dass es ein
Gespenst gibt.«
»Und was passiert in deinem Albtraum?« Seine
braunen Augen blitzten, als er schließlich zu ihr sah.
»Eines der Mädchen wird vergewaltigt.«
Sie sah den Schreck in seinem Gesicht. Er legte die
Speisekarte beiseite und drehte sich um, so dass er zur Tür hinaus
nach draußen sah. Die Sonne brannte auf die Schirme, unter denen
Menschen dicht gedrängt an den Tischen saßen.
»Vergewaltigt?«, wiederholte er.
Sie nickte. »Von römischen Soldaten.«
»Das muss ja ein ziemlich scheußlicher Traum sein.«
Jetzt wich er ihrem Blick wieder aus.
»Das war es auch.« Auf einmal bereute sie es, ihm
davon erzählt zu haben.
Darauf setzte ein längeres Schweigen ein, während
sie beide wieder die Speisekarte studierten. Abrupt stand Daniel
auf. »Ich gehe mal bestellen. Was möchtest du denn?«
Als er zurückkehrte, brachte er ihr ein zweites
Glas Wein mit. »Hat William sich bei dir gemeldet?«
»Er hat mich ein paarmal auf dem Handy
angerufen.«
»Und?«
»Und nichts.«
Wieder entstand eine Pause. Als Jess sich zum Thema
William ausschwieg, fragte Daniel: »Und Ashley? Hat der sich
gemeldet?«
Sie seufzte. »Ash ist in meine Wohnung
eingebrochen, kurz bevor ich weggefahren bin. Er hat mir einen
Blumenstrauß hingelegt als Dankeschön, dass ich ihn unterrichtet
habe.«
»Eingebrochen?«, fragte Daniel. »Was meinst du mit
eingebrochen?«
»Die Blumen lagen einfach auf dem Couchtisch.
Vielleicht hatte ich ja die Tür offen gelassen, aber das glaube ich
eigentlich nicht.«
»Und du warst nicht da?«
»Nein.«
»Und als du wiederkamst, war er schon weg?«
Sie nickte. »Ich war nur zehn Minuten weg, Daniel.
Er muss mich beobachtet haben. Das hat mir wirklich Angst
gemacht.«
»Aber jetzt kann dir nichts passieren.«
Sie nickte wieder. »Weißt du, was er den Sommer
über machen will, bis er die Prüfungsergebnisse bekommt?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Er glaubt felsenfest,
dass sie gut sein werden. Ash ist ziemlich von sich selbst
überzeugt. Er glaubt, die Schauspielschulen werden sich um ihn
reißen.«
»Und um die zu besuchen, braucht er nicht einmal
das Fachabitur.«
»Nein.«
Als das Essen serviert wurde, schauten sie beide
auf. »Es wäre schade, seine Chancen zu ruinieren. Eine Vorstrafe
wäre sein Ende«, sagte Daniel leise und griff nach dem Besteck.
Schließlich sah er Jess direkt an. »Denk nicht mehr an ihn, Jess.
Oder an William. Vergiss sie einfach. Mach dir hier einen schönen
Sommer.« Er steckte sich einen Bissen
in den Mund. »Was willst du denn in dem alten Bauernhaus
machen?«
»Malen.« Jess sah auf ihren Teller.
»Ganz allein?«
Sie nickte.
»Und bist du glücklich darüber?«
»Mir geht’s gut damit, Daniel. Ich bin gern
allein.«
»Mit einem Gespenst?«
Sie lächelte gezwungen. »Es sind keine Gespenster,
die mir Angst einjagen. Nur zwei kleine Mädchen.«
Es entstand eine Pause. Daniel zupfte ein Brötchen
auseinander. »Ich habe eine Idee, Jess. Du kannst natürlich Nein
sagen. Eigentlich hatte ich geplant, mir hier eine Pension zu
suchen und morgen nach Shrewsbury zu fahren, aber ich könnte doch
bei dir übernachten, oder? Für mich liegt es auf dem Weg. Als ich
vorhin in die Stadt fuhr, habe ich ein edles Feinkostgeschäft
gesehen, da könnten wir uns etwas zum Abendessen besorgen. Um meine
Sucht zu befriedigen, könnten wir heute Nachmittag noch in einem
oder zwei Buchläden stöbern, und dann könntest du mir den Weg nach
Ty Bran weisen und mich deinen Gespensterkindern vorstellen. Was
hältst du davon? Platz solltest du ja genug haben.«
»Ich weiß nicht, Daniel …«
Es war verlockend. So gern sie allein war, der
Gedanke an den nach Sonnenuntergang dunklen Weg zum Wald, die
leeren Zimmer, die merkwürdigen Geräusche im Atelier waren
beklemmend. Außerdem wäre es unhöflich, ihm den Wunsch
abzuschlagen.
Kurz nach halb sieben bog sie in den Hof von Ty
Bran ein und parkte vor dem Atelier. Daniel stellte seinen Wagen
neben ihren und schaltete den Motor ab.
Einen Moment verschlug es ihm die Sprache. »Mein
Gott, was für ein Glücksfall, dieses Haus zu finden! Hast du
gesagt, eure Mutter hätte hier in der Nähe gelebt?« Er stieg aus
und sah sich um. »Es ist sehr abgelegen, aber wunderschön.«
»Ja, das stimmt.« Jess beugte sich in den Wagen und
holte ihre Einkäufe heraus: Brot, Wurst, Leberpastete, Käse und
Salat sowie eine frühe Ausgabe von Omar Khayyams Rubaiyat
illustriert mit Edmund Dulacs zauberhaften Farbtafeln. Sie ging die
Haustür öffnen, während Daniel seine Trophäen auspackte: mehrere
Bücher, vier Flaschen Wein, einen Viererpack Bier, Apfelwein und
eine Schachtel exquisiter Pralinen. Er folgte Jess in die Küche und
ließ den schweren Karton mit Getränken stöhnend auf den Tisch
fallen.
»Wir können ja sehen, worauf wir Lust haben - oder
wir trinken alle auf einen Sitz und fallen sternhagelvoll um. Irre,
Jess, es ist wunderschön hier.« Daniel ging durch die offene Tür
ins Esszimmer und schaute über den Garten zur Hecke und die
dahinter liegenden Berge im Norden. Dann drehte er sich um und warf
einen Blick auf die Skizzenbücher, die auf dem Tisch lagen. »Sind
die von dir? Ich hatte keine Ahnung, dass du so gut bist!« Er
blätterte mehrere Seiten um.
»Mit Komplimenten bekommst du auch nicht mehr als
das Recht, den Korkenzieher zu bedienen«, rief sie vom Flur. »Hier,
mach eine Flasche auf.«
Sie ging ihm voraus in die Küche und blieb wie
angewurzelt stehen. Der Inhalt ihres Korbs lag auf dem Boden, zwei
Weinflaschen waren zerbrochen.
Einen Moment starrten sie beide schweigend auf die
Scherben.
»O Daniel, nein!«, rief sie. »Wie ist das
passiert?«
Daniel schaute sich um. »Ich habe keine Ahnung. Ich
habe den Karton mitten auf den Tisch gestellt. Sie können doch
nicht einfach runtergefallen sein. Wie merkwürdig! Hier gibt es
doch keine Katze, oder?«
Jess schüttelte den Kopf. »Seit wann können Katzen
Weinflaschen heben?«
Er zuckte mit den Schultern. »Stimmt, eine Katze
kann’s nicht gewesen sein. Aber keine Sorge. Zwei Flaschen sind
noch da, und die Lebensmittel waren ja eingepackt. Kein großer
Schaden. Setz dich hin, ich räum alles weg.«
»Nein, nein, ich mach das schon.« Jess ging zum
Spülbecken und suchte im Unterschrank nach Schaufel, Besen und ein
paar Wischtüchern. »Wie konnte das denn passieren, Daniel? Ich
versteh das nicht.« Plötzlich befiel sie Panik. »Es stand doch
alles mitten auf dem Tisch und nicht am Rand oder so. O mein Gott!«
Hektisch sah sie sich um. »Ist noch jemand anderes hier?«
»Nein, hier ist niemand. Solche Sachen passieren
einfach manchmal. Warte.« Er nahm eine der beiden verbliebenen
Weinflaschen und holte den Korkenzieher, den Jess auf der
Abtropffläche liegengelassen hatte. »Trinken wir doch erst ein
Glas, dann räumen wir auf. Und danach lassen wir uns unser
Abendessen schmecken. Denk dir nichts dabei, Jess. Es ist nichts
Schlimmes passiert.«
Nach dem Essen schlenderten sie mit einem Becher
Kaffee durch den Garten hinter dem Haus, als Jess aus dem Hof ein
Motorengeräusch hörte. »Wer in aller Welt ist denn das?« Sie ging
zum Haus zurück.
Aber Rhodri hatte, als niemand auf sein Klopfen
reagierte, das Haus betreten und sie durchs Fenster gesehen. Er kam
schon zu ihnen hinaus. Er schien verwundert, Jess in Gesellschaft
eines Mannes zu sehen.
»Tut mir leid, wenn ich störe. Seit meine Mutter
weiß, dass Sie ganz allein hier sind, lässt sie mir keine Ruhe.
Jetzt hat sie mir aufgetragen, Ihnen aus der Tiefkühltruhe ein paar
Vorräte zu bringen.« Er hielt einen Korb in der Hand. »Hätte ich
gewusst, dass Sie Besuch haben, hätte ich Sie nicht gestört.« Er
klang leicht verärgert.
Widerwillig machte Jess die beiden Männer
miteinander bekannt. Rhodris Erscheinen hatte die Stimmung des
Abends verdorben. »Das ist sehr nett von Ihrer Mutter, Rhodri.
Richten Sie ihr doch bitte meinen Dank aus.« Entschlossen nahm sie
ihm den Korb ab. »Möchten Sie ein Glas Wein?«
Zu ihrer Überraschung nickte er. Während Daniel ein
Glas holen ging, lächelte sie ihn kühl an. »Hat Megan das alles
selbst gekocht?«, fragte sie höflichkeitshalber. »Es ist wirklich
sehr nett von ihr, an …« Ein Scheppern aus der Küche unterbrach
sie.
Dann trat Daniel in die Tür, eine Hand in ein
Geschirrtuch gewickelt. »Tut mir leid, Leute, das Glas ist mir
ausgerutscht. Hier geht momentan offenbar alles daneben!« Er
reichte Rhodri das Glas und ging langsam zur Hecke. Die beiden
anderen folgten ihm. »Seht euch nur die Aussicht an«, sagte er nach
einer Weile. »Famos, oder?« Jenseits der Hecke fiel der Berghang
ins Tal ab. Die Sonne ging langsam in einem perlweißen Dunst unter,
der die Gipfel golden erglühen ließ.
»Morgen regnet es.« Rhodri schaute immer noch über
die Hecke hinweg. »Mum sagt, dass Sie malen.« Jetzt warf er einen
Blick zu Jess.
»Nur als Amateurin.« Ihr Ton war immer noch
unterkühlt. Er klang herablassend und desinteressiert, und allein
schon die Tatsache, dass er einen Kopf größer war als sie und somit
auf sie herabschaute, missfiel ihr sehr.
»Aber eine verdammt gute Amateurin«, widersprach
Daniel freundlich. »Dieses Haus ist die reinste Inspiration. Ich
glaube, wenn ich hier lebte, würde ich schließlich und endlich auch
meinen Roman schreiben.«
»Welchen Roman denn?«, fragte Jess belustigt. »Und
bevor du Rektor wirst, oder erst danach?«
Er grinste. »Vermutlich erst danach. Aber bevor ich
Bildungsminister werde!«
Rhodri lachte leicht abschätzig. »Tja, mein Freund,
auch wenn Sie Ihre Zukunft planen, ich muss mich leider
verabschieden. Vielen Dank für das Glas Wein, Jess.«
Er ging zum Haus und wollte es gerade betreten, als
er stehen blieb. »Sind Sie sicher, dass nur ein Weinglas kaputt
gegangen ist?«, rief er über die Schulter.
Der Boden des Esszimmers war mit Glassplittern
übersät. Erschüttert starrten die drei den Scherbenhaufen an.
Daniel schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Ich habe alles
aufgeräumt. Dabei habe ich mich ja geschnitten. Außerdem war das in
der Küche. O mein Gott!« Er brach ab, als sein Blick auf den Tisch
fiel. »Jess …«
Über ihr Skizzenbuch war rote Flüssigkeit
verschüttet, die Seiten waren zerknittert, eine der Zeichnungen war
überkritzelt. Jess schaltete das Licht an. »Wer würde denn so etwas
tun?«, flüsterte sie. »Daniel …?«
»Nein! Ich war’s nicht, das schwöre ich! Wie kannst
du mir so was überhaupt unterstellen?«
»Ist das Wein?« Rhodri fuhr mit der Fingerspitze
über die aufgeschlagene Seite. »Es ist klebrig. O mein Gott, das
ist Blut!« Entsetzt trat er ein paar Schritte zurück. »Das waren
Sie!«, sagte er zu Daniel. »Sie bluten hier doch alles voll!«
»Ich war’s nicht, das habe ich doch schon gesagt!«,
verteidigte Daniel sich wütend. »Warum sollte ich’s nicht zugeben,
wenn ich’s tatsächlich gewesen wäre? Ich bin gar
nicht in die Nähe des Tischs gekommen.« Er ging zur Tür. »Das war
jemand anderes. Die Haustür ist offen.«
»Das war ich«, sagte Rhodri. »Steph lässt sie immer
offen. Es tut mir leid, ich habe mir nichts dabei gedacht.« Er trat
in den Flur hinaus und sah sich um. »Aber wer würde so etwas tun?«
Der Zorn in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Und warum?« Er
marschierte in den Hof hinaus. »Hier draußen ist niemand!«
Betroffen schüttelte Jess den Kopf. »Na ja, so toll
waren die Zeichnungen auch wieder nicht. Nichts, was ich nicht noch
einmal machen könnte.«
»Darum geht’s doch gar nicht!«, sagte Daniel
aufgebracht. »Sollen wir die Polizei holen?«
»Nein.« Jess schüttelte den Kopf. »Wer immer es
war, sie sind schon längst über alle Berge. Es sei denn …« Sie
brach ab und warf einen Blick zur Treppe.
»Ich gehe nachschauen.« Rhodri kam zum Fuß der
Treppe, blieb mit die Hand auf dem Pfosten kurz stehen und sah
hinauf. Alle lauschten. Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er
dann nach oben und verschwand um den Treppenabsatz. Sie hörten, wie
Türen geöffnet und geschlossen wurden, seine schweren Schritte auf
den Dielen. »Hier oben ist niemand«, hörten sie ihn sagen, dann kam
er auch schon wieder die Treppe herunter. »Ich glaube nicht, dass
irgendjemand dort oben war. Jess, Sie haben auf der Kommode ein
paar Goldreifen liegen lassen. Die wären bestimmt nicht mehr da,
wenn wirklich jemand dort oben gewesen wäre. Es muss wohl ein
gestörter Jugendlicher gewesen sein, der ein bisschen Randale
machen wollte. Das klingt zwar eher unwahrscheinlich, aber eine
bessere Erklärung fällt mir nicht ein. Euch vielleicht?« Er zuckte
mit den Schultern. »Manchmal sind hier in der Gegend Wanderer oder
Mountainbiker unterwegs.«
Jess betrachtete Rhodri nachdenklich. Irgendwie
berührte es sie merkwürdig, dass er sich in ihrem Schlafzimmer
umgesehen hatte. Sie schob den Gedanken fort. »Aber warum? Warum
sollte jemand meine Zeichnungen ruinieren wollen?« Sie merkte, dass
sie am ganzen Körper zitterte. Sie ging ins Esszimmer zurück und
schaute auf den Tisch. Draußen überzog das leuchtende Rot des
Sonnenuntergangs den Himmel und füllte den Raum mit einem warmen
Glühen. Nur der Strahl des elektrischen Lichts, der auf den Tisch
fiel, war kalt. Vorsichtig steckte sie einen Finger in das Blut. Es
war bereits getrocknet.
»Ich muss jetzt wirklich gehen«, rief Rhodri vom
Flur. »Tut mir sehr leid, was passiert ist. Wenn ich irgendetwas
tun kann …«
»Sie haben schon genug getan, indem Sie die Tür
offen gelassen haben«, gab Daniel bissig zurück.
»Daniel!« Jess war empört.
»Er hat Recht. Es tut mir wirklich leid.« Rhodri
ging zur Haustür. »Ich fahre jetzt, aber wenn Sie irgendetwas von
der Farm brauchen - Sie wissen, wo Sie mich finden.«
Als die Tür ins Schloss fiel, verzog Daniel das
Gesicht. »Idiot.«
»Es war nicht seine Schuld«, fuhr Jess auf.
Daniel seufzte. »Das stimmt.« Er deutete auf das
Skizzenbuch. »Was willst du damit machen? Soll ich’s
wegwerfen?«
»Nein!« Schützend legte sie die Hände darauf.
»Nein, lass es einfach liegen.«
»Lass mich wenigstens die Scherben wegräumen.« Er
schaute kurz zu ihr. »Nein? Also gut, wie wär’s, wenn wir noch
einen Schluck trinken und dann ins Bett gehen?«
Jess erstarrte. Einen Moment war sie unfähig, sich
zu bewegen, dann schaute sie auf. »Daniel …«
Er schaute sie fragend an, und sie wandte beklommen
den Blick ab. So hatte er es ja nicht gemeint, natürlich nicht. Sie
lächelte verlegen. »Keinen Wein mehr für mich, danke. Ich glaube,
ich gehe jetzt nach oben. Ich bin ziemlich müde …« Sie wich seinem
Blick beharrlich aus, als er auf sie zutrat in der Absicht, ihr
einen Gutenachtkuss zu geben, und ging um den Tisch herum zur
Treppe. »Gute Nacht, Daniel. Machst du bitte überall das Licht
aus?« Verwundert sah er ihr nach.
Stunden später erwachte sie mit einem Ruck. Der
Schnappriegel an der Tür hatte geklickt. Mit wild klopfendem Herzen
starrte sie hinüber. Im Haus herrschte Totenstille.
»Daniel?«, wisperte sie. Das Geräusch kam nicht
wieder. Lautlos schlüpfte sie aus dem Bett, schlich auf
Zehenspitzen zur Tür und drückte das Ohr an das Eichenholz.
Dahinter war keine Bewegung wahrzunehmen. Sie tastete über den
kleinen Messingriegel, der die Tür von innen verschloss. Ohne sich
lange zu überlegen, weshalb Steph ihre Schlafzimmer mit Riegeln
ausgestattet hatte, war es ihr fast peinlich gewesen, als sie ihn
vorgeschoben hatte. Sie brauchte nicht lange nach dem Grund zu
suchen, weshalb sie diese heftige Abneigung übermannt hatte beim
Gedanken, jemand könnte ihr Schlafzimmer betreten, oder weshalb sie
auch nur für den Bruchteil einer Sekunde gedacht hatte, Daniel
könne sich plötzlich auf diese Art für sie interessieren. Immerhin
war er verheiratet und seit Jahren platonisch mit ihr befreundet.
Es hatte nie etwas zwischen ihnen gegeben. Es war ein Instinkt, der
reine Selbsterhaltungstrieb. Eine automatische Reaktion auf ihre
Angst und auf die Vergewaltigung.
Als vom Treppenabsatz ein leises Knarzen zu hören
war, verspannte sie sich, und fast unbewusst fuhr sie wieder über
den Riegel, als wollte sie sich vergewissern, dass er auch
wirklich vorgeschoben war.
Lange Zeit blieb sie so stehen, die Wange an das
warme Holz der Tür gepresst, und lauschte der Stille, die sich über
das Haus gelegt hatte. Am Himmel wurde das Sternenlicht langsam vom
aufkommenden Dunst verhüllt. In der Dunkelheit fielen die ersten
Regentropfen.
Sie zuckte zusammen, und da erst merkte sie, dass
sie im Stehen eingeschlafen war. Im Haus war es nach wie vor still.
Das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach des Ateliers vor ihrem
Fenster bildete eine beruhigende Geräuschkulisse. Stöhnend ging
Jess zum Bett und ließ sich darauffallen. Wenige Augenblicke später
war sie wieder eingeschlafen.
Im Wald war es dunkel, der Wind rauschte und
ächzte. Regen prasselte auf das Laub, in der Nähe stieß ein Fuchs
ein spitzes, wütendes Bellen aus. Gwladys schmiegte sich zitternd
an ihren kleinen Bruder.
»Togo?«
Er gab keine Antwort.
»Togo? Ich habe Angst.«
Sie konnte nichts sehen, der Boden war kalt und
hart, und die Baumwurzeln bohrten sich in ihre Haut. »Das ist ein
dummes Spiel. Ich will zu Mama.« Sie wiegte sich vor und zurück und
summte leise in sich hinein. »Wo ist Eigon? Warum kommt sie nicht?
Sie soll uns was vorsingen.« Gwladys war den Tränen nahe. »Ich habe
Hunger. Du auch, Togo?«
Er gab noch immer keine Antwort, also streckte sie
die Hand nach ihm aus. Er fühlte sich warm und fest an. Er schlief,
war in seiner kleinen Traumwelt verloren. Unvermittelt krabbelte
sie von ihm fort und stand auf. Ohne den
Schutz des Grabens und der Bäume war der Wind stürmisch, und die
Geräusche, die er machte, waren furchterregend. Niemand würde sie
hören, wenn sie rief. Unschlüssig drehte sie sich im Kreis. In
welche Richtung sollte sie gehen? Wo waren die anderen?
»Eigon? Mir gefällt dieses Spiel nicht. Können wir
jetzt damit aufhören?« Kurz entschlossen ging sie den Weg entlang,
den Wind im Rücken. Ihr blondes Haar wehte ihr ums Gesicht, sie
hatte die Augen auf die Büsche vor sich gerichtet. »Eigon? Mama? Wo
seid ihr?« Wenige Sekunden später wusste sie nicht mehr, wo sie
war.
Plötzlich wachte Togo auf. Um ihn her war es
dunkel. Er streckte die Hand nach seiner Schwester aus, doch sie
war nicht da. Er war allein. Vor Angst begann er zu weinen.
Jess erwachte zum Prasseln des Regens. Sie sprang
unter die Dusche, zog sich Jeans und Pullover über und lief nach
unten, wo sie als Erstes Daniels Reisetasche neben der Haustür
stehen sah. Sie warf einen Blick in die Küche. Der Tisch war für
zwei gedeckt, in der Mitte stand schon die dampfende Kaffeekanne,
aber von ihm war nichts zu sehen.
»Daniel?«
»Ich bin hier.« Seine Stimme kam vom Esszimmer.
»Jess, komm und schau dir das mal an.«
Widerwillig stellte sie sich in die Tür. Er starrte
gebannt auf den Tisch. »Es ist weg«, sagte er leise. »Es ist alles
weg.«
»Was alles?« Sie ging zu ihm.
»Das Durcheinander. Das Gekritzel. Das Blut.
Schau.«
Er trat einen Schritt vom Tisch fort und deutete
auf den Skizzenblock. Sein Gesicht war leichenblass.
Sie schaute darauf, und ihr stockte der Atem.
Daniel hatte Recht: Der Skizzenblock war sauber und unbeschädigt.
Sie wagte kaum, ihn in die Hand zu nehmen und die Seiten
umzublättern. Ihre Zeichnungen und Aquarelle waren völlig
unversehrt.
»Das verstehe ich nicht.« Sie blätterte den ganzen
Block durch. »Wie kann das passieren?«
»Keine Ahnung.«
Sie schaute sich im Esszimmer um. Nichts war
berührt worden. Es war so sauber und ordentlich wie vor Rhodris
Ankunft.
»Wir haben das doch nicht geträumt, oder?« Jetzt
schließlich sah sie zu ihm.
Daniel zuckte mit den Achseln. »Wir alle drei?« Er
schauderte. »Gehen wir doch in die Küche. Ich habe schon Kaffee
gemacht.«
Sie folgte ihm. »Wir können uns das unmöglich alle
eingebildet haben, Daniel.«
»Nein?« Er griff nach der Kaffeekanne. »Schau mal
in den Mülleimer.«
Sie äugte kurz hinein. »Was soll ich da
sehen?«
»Nichts. Das ist ja der Punkt. Wo sind die
Glasscherben?«
»O Daniel!« Sie ließ den Mülleimerdeckel wieder
fallen und setzte sich an den Tisch, schob die Ärmel bis zum
Ellbogen hoch und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Auf der
Abtropffläche bemerkte sie zwei intakte Weinflaschen.
Er setzte ihr einen Becher Kaffee vor. »Es hat den
Anschein, als seien wir alle einer Halluzination erlegen«, sagte er
nachdenklich. »Ich verstehe zwar nicht, wie oder warum, aber eine
andere Erklärung gibt es nicht. Wenn wir alle dasselbe gegessen
hätten, würde ich ja sagen, dass es Magic Mushrooms oder so was
waren, aber Rhodri hat nicht mit uns gegessen.«
»Und was ist mit deiner Hand? Dem Schnitt? Ist der
noch da?« Sie fasste an sein rechtes Handgelenk.
Er streckte die Hand aus und drehte die Innenfläche
nach oben. Da war nichts.
»O mein Gott!« Unwillkürlich schauderte Jess. »Was
in aller Welt ist mit uns passiert?«
»Ich fürchte, ich kann leider nicht länger bleiben,
um das herauszufinden.« Er schaute zu ihr. »Ich muss gleich los.
Ich habe eine lange Fahrt vor mir. Soll ich deinen Freund Rhodri
anrufen und ihn bitten herzukommen? Du solltest dich nicht allein
um das Problem kümmern müssen, aber ich wüsste nicht, wie ich dir
helfen kann. Was immer es war, es ist vorbei.« Er lachte
gekünstelt. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, amüsieren wir uns
köstlich darüber!« Er leerte seinen Becher und stand auf.
Jess hatte die ganze Zeit auf seine Hand gestarrt.
Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Mach dir keine Sorgen um mich,
Daniel. Ich rufe Rhodri später an und erzähle ihm, was passiert
ist.«
Sie brachte ihn zum Wagen und sah ihm zu, wie er
seine Tasche und die Bücher verstaute. Wenige Minuten später winkte
sie ihm nach, während er holpernd den Feldweg hinunter verschwand.
Seltsamerweise empfand sie nichts als Erleichterung, dass er fort
war. War er mitten in der Nacht aufgestanden und hatte versucht, in
ihr Zimmer zu kommen? Vermutlich nicht. Dann runzelte sie die
Stirn. Er hatte nicht versucht, ihr einen Abschiedskuss zu
geben.
Langsam ging sie in die Küche und direkt zur Spüle.
Ohne zu wissen, warum, drehte sie das Wasser auf und wusch sich
Gesicht und Hände, dann griff sie nach dem Handtuch.
Sind die scheußlichen Männer jetzt
weg?
Die Stimme war direkt hinter ihr. Mit einem
ängstlichen Aufschrei wirbelte sie herum.
Können wir jetzt aufhören mit dem dummen
Spiel?
»Guter Gott!« Sie holte tief Luft. »Wo bist
du?«
Sie bekam keine Antwort.
»Eigon? Glads? Hat eine von euch das gemacht?«
Plötzlich war sie zornig. »Habt ihr auf meinen Zeichnungen
herumgekritzelt?« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen.
»Habt ihr die Gläser und Flaschen zerbrochen?«
Draußen begann die Amsel vom Dach des Ateliers zu
singen. Der Regen hatte aufgehört, ein einzelner Sonnenstrahl
spiegelte sich in den nassen Pflastersteinen. »Habt ihr mich
gehört?«, rief Jess. Plötzlich war sie ganz die strenge Lehrerin.
»Ich möchte euch sehen, und zwar auf der Stelle!« Sie hielt die
Luft an und schaute sich um. Nichts. »Mir ist es ernst
damit!«
War das ein leises Kichern? Sie lief zum Fenster
und schaute prüfend in den Hof. Das Haus war voller Geräusche.
Dachbalken ächzten, Blätter raschelten, Regen tropfte in der Rinne
herab, Vögel zwitscherten, Schafe blökten vom Berg jenseits des
Feldwegs. »Eigon, komm her. Ich will mit dir reden.«
Aber es kam keine Antwort, womit sie eigentlich
auch gerechnet hatte. Kopfschüttelnd ging sie ins Esszimmer zurück
und schaute auf den Tisch mit der bangen Befürchtung, der
Skizzenblock könnte wieder beschädigt sein. Doch das war er nicht.
Unberührt lag er da.
»Mist!« Sie griff zum Telefon und überwand ihre
Scheu, Rhodri noch einmal zu belästigen. Nach etwa zwanzigmal
Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Rhodri? Es tut
mir leid, Sie stören zu müssen, aber könnten Sie bitte sobald wie
möglich herkommen? Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Sie zögerte kurz.
»Daniel ist weg. Ich bin ganz allein.«
Am Ende des Feldwegs fuhr Daniel in eine
Feldeinfahrt, stellte den Motor ab und ließ die Stirn auf das
Lenkrad
sinken. Er schwitzte heftig, eine Woge der Übelkeit übermannte
ihn. Blind tastete er nach dem Türgriff und taumelte in das hohe,
mit Lichtnelken durchsetzte Gras, das die Einfahrt säumte, und
lehnte sich an das Gatter. Sobald er sich etwas besser fühlte,
drehte er sich um und betrachtete den Wagen.
Er war leer. Aber jemand war dort gewesen, hatte
hinter ihm gesessen. Unmittelbar nachdem er hinter Ty Bran auf den
Feldweg eingebogen war, hatte er eine Präsenz gespürt, eine
massive, bedrohliche Präsenz. Einen Mann. Einen wütenden,
hasserfüllten Mann.
Er war auf die Bremse getreten und hatte in den
Rückspiegel geschaut. Dann hatte er sich umgedreht und den Rücksitz
untersucht. Nichts. Natürlich saß da niemand. Er war wieder
angefahren, hatte auf der Schotterstraße rasch beschleunigt, war
über Schlaglöcher und Furchen geholpert, war bei den Stellen, wo
der Feldweg mit rotem Schlamm von der steilen Böschung verdreckt
war, ins Schleudern geraten und hatte es immer mehr mit der Angst
zu tun bekommen, bis er endlich die Feldeinfahrt gesehen hatte.
Eine Stelle, wo er anhalten und dem bösen Schatten entkommen
konnte, der mit ihm im Wagen saß.
Allmählich hörte sein Herz auf zu rasen. Er fuhr
sich mit dem Ärmel übers Gesicht und starrte auf sein Auto. Das
gleißende Sonnenlicht spiegelte sich in den Fenstern, die Fahrertür
war etwas geöffnet, so, wie er sie gelassen hatte, als er
ausgestiegen war. Daniel zwang sich, die hintere Tür zu öffnen und
ins Innere zu spähen. Nichts. Vorsichtig streckte er eine Hand
hinein, dann alle beide, fuhr mit gekrümmten Fingern durch die Luft
über dem Sitz, als wollte er sich vergewissern, dass dort wirklich
nichts war. Allmählich trocknete der Schweißfilm auf seinem
Gesicht. Daniel schauderte, plötzlich fröstelte ihn. Aus der Ferne
hörte er
das klagende Miauen eines Bussards, auf das zur Antwort das tiefe,
heisere Krächzen eines Raben erklang, aggressiv und urzeitlich.
Daniel schaute nach oben. Dort oben waren sie, er konnte die Vögel
genau sehen. Der Rabe, eine schwarze Silhouette vor dem Blau des
Himmels, wollte den Bussard offenbar vertreiben, stieß im schnellen
Angriffsflug auf den Raubvogel hinab, der größer war als er und
verängstigte Warnrufe ausstieß, zu denen der Schrei des Raben einen
gespenstischen, markanten Kontrapunkt bildete. Beide Vögel legten
die Flügel an und sausten über die Felder, eine Sekunde später
waren sie über einen Bergkamm aus seinem Blickfeld
verschwunden.
Daniel merkte, dass sein Atem sehr schnell ging,
als hätte er ein Wettrennen hinter sich. Er schluckte schwer und
knallte die Tür zu. Einbildung. Alles nur Einbildung. Das
verfluchte Haus, in dem es umging, und Jess mit ihren hysterischen
Geschichten. Die setzten ihm so zu. Prüfend drehte er den Kopf,
plötzlich hatte er einen steifen Hals. Einen Moment erfasste ihn
ein Schwindel. Er blinzelte. Etwas an der Tür fiel ihm ins Auge.
Ein roter Schmierer. Er streckte seine rechte Hand aus und starrte
sie an. Eine tiefe Narbe zog sich über seine Handfläche, genau
dort, wo er sich am Abend zuvor an der Glasscherbe geschnitten
hatte. Der Schnitt, der verschwunden gewesen war. Jetzt sickerte
Blut aus der Narbe. Er schüttelte den Kopf. Das konnte doch alles
gar nicht wahr sein! Er richtete sich auf und straffte die
Schultern, war wütend auf sich selbst und auf Jess. Je schneller er
diesen verfluchten Ort hinter sich ließ, desto besser.
»Und was wollten Sie mir zeigen?«
Kurz nach zwölf war Rhodri durchs Tor in den Hof
gefahren. Jetzt betrachtete er Jess fragend und reichte ihr mit
irritierter und zugleich belustigter Miene eine Flasche Weißwein.
Sie nahm sie entgegen und grinste zögerlich. »Die Versorgungslage
mit Wein ist nicht mehr so schlecht wie gestern. Schauen Sie
mal.«
Er folgte ihr ins Esszimmer und schaute auf den
Skizzenblock, dem sie ihm hinhielt. »Das verstehe ich nicht«, sagte
er.
»Ich auch nicht. Ich verstehe überhaupt nichts. Die
Zeichnungen sind nicht ruiniert, die Gläser sind nicht kaputt, die
Weinflaschen sind voll, Daniel hatte sich nicht an der Hand
geschnitten.« Jess schaute Rhodri von der Seite an. Er betrachtete
immer noch stirnrunzelnd den Skizzenblock. Fast ängstlich blätterte
er eine Seite um. »Das ist doch ein böser Streich, oder?«
»Nein!«
»Der Freund von Ihnen …«
»Nicht mein Freund. Ein Kollege.«
»Also gut, Ihr Kollege. Er hat doch versucht, Ihnen
einen Schrecken einzujagen, oder? Er dachte, wenn Sie nur richtig
Angst haben, gehen Sie mit ihm ins Bett.«
»Nein!« Wütend drehte Jess sich zu ihm. »Das ist
blanker Unsinn!«
»Sie wollen also behaupten, dass er nicht scharf
auf Sie ist?« Er schenkte ihr einen Blick, bei dem ihr zuerst heiß
und dann kalt wurde, während sie vor Empörung nach Luft
schnappte.
»Das ist er nicht. Zumindest …« Sie zögerte. »Nein,
natürlich nicht. Er ist verheiratet.«
»Seit wann ist das ein Hinderungsgrund? Sie beide
hier allein in tiefer Einsamkeit. Schönes Haus, reichlich Wein,
weit und breit keine Menschenseele, die Sie stören könnte, bis ich
hereintrample. Sie haben mir ziemlich deutlich zu verstehen
gegeben, dass Sie auf Gesellschaft keinen Wert legen.«
»Nein, Rhodri, das haben Sie völlig falsch
verstanden.« Jess schaute wieder auf ihren Skizzenblock. »Wie
könnte jemand das alles vortäuschen?«
»Kinderleicht. Ein zweiter Skizzenblock, so arg
ramponiert, dass Sie gar nicht bemerken, dass es nicht der Ihre
ist. Viele Glasscherben, viel verschütteter Wein, das kann in der
Nacht problemlos weggeräumt werden. Kein richtiger Schnitt an der
Hand, bloß Theaterblut.«
»Theaterblut?« Jess starrte ihn verständnislos
an.
»Künstliches Blut, meine Gute!«
Ihr blieb der Mund offen stehen. »Nein. Das stimmt
nicht«, sagte sie zornig. »Das sehen Sie völlig falsch!«
»Wirklich? Vielleicht.« Er lächelte. »Schieben
Sie’s auf meinen Beruf. Ich habe einen Hang fürs Melodramatische.
Aber ich verfüge auch über eine gute Menschenkenntnis. Dem Typen
traue ich nicht über den Weg.«
»Ich kenne ihn schon sehr lange.« Sie straffte
sich. »Sie haben nicht das Recht, so etwas zu sagen!«
»Okay, okay!« In gespielter Kapitulation hob er die
Hände. »Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Wichtig ist doch nur,
dass nichts Schlimmeres passiert ist. Und wenn Sie seinen
tröstenden Avancen nachgegeben haben, dann entschuldige ich
mich.«
»Er hat mir keine Avancen gemacht!« Jess brach
abrupt ab. Plötzlich dachte sie an Daniels zweideutiges »Gute
Nacht«, an die Art, wie er auf sie zutrat und sie küssen wollte, an
den Schnappriegel an ihrer Schlafzimmertür, das Knarzen oben im
Flur. Sie schauderte. Nein. Das war Unsinn. Daniel war nicht an ihr
interessiert. Hatte sich nie für sie interessiert.
Als sie Rhodris spöttischen Blick bemerkte, fuhr
sie fort: »Was immer er gemacht haben mag, das mit dem Skizzenblock
kann er nie im Leben vorgetäuscht haben. Der war
gestern Abend ruiniert, das haben Sie doch selbst gesehen. Es war
mit Blut verschmiert. Es ist derselbe Block.«
Rhodri zuckte mit den Achseln. »Dann kann ich auch
nicht erklären, wie er’s gemacht hat. Der Mann ist der reinste
Zauberer!«
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. »Es gibt eine
andere Möglichkeit«, sagte sie dann zögernd. »Wissen Sie, ob es
hier im Haus spukt?«
Rhodri brach in schallendes Gelächter aus. »Ach, es
ist also das Gespenst gewesen!«
»Vielleicht«, sagte sie, ohne zu lächeln.
Er wurde ebenfalls ernst und betrachtete sie
aufmerksam. »Ihre Schwester hat den Verdacht, dass es hier spukt.
Das hat sie jedenfalls meiner Mutter gesagt.«
»Was genau hat sie ihr erzählt?«
»Dass es ein Kind hier gibt. Ein ungezogenes Kind.
Ein Mädchen, das im Atelier Sachen kaputtmacht.«
Jess bekam ein mulmiges Gefühl, aber sie erwiderte
nichts.
Rhodri sah sie plötzlich amüsiert an. »Wenn das
kein Grund für ein Glas Wein ist!«
Er verschwand in der Küche und kehrte wenig später
mit zwei gefüllten Gläsern zurück, von denen er eines Jess reichte.
»Hier spukt es überall. Ich bin mit den Legenden dieser Berge
aufgewachsen. Dort unten im Tal«, er deutete zum Fenster hinaus,
»hat vor langer Zeit eine Schlacht stattgefunden. So heißt es auf
jeden Fall. Und auf dem Berg hinter uns stand in der Eisenzeit eine
Festung. Hier gehen jede Menge Geister von gefallenen Kriegern und
gepeinigten Göttern um. Derartige Geschichten werden über
Jahrhunderte hinweg weitererzählt und dabei natürlich
weitergesponnen, aber einen wahren Kern haben die meisten schon.
Angeblich war irgendwo hier in der Gegend der Ort, wo
Caratacus zum letzten Widerstand gegen die Römer aufrief. Er war
der Waliser Held, der die Stämme gegen die Römer in die Schlacht
führte.«
»Und das Kind hier in Ty Bran ist seine Tochter«,
sagte Jess mehr zu sich selbst als zu ihm.
Rhodri schaute sie zweifelnd an. »Das ist eine
gewagte Schlussfolgerung! Andererseits, möglich ist es schon.« Er
trank einen Schluck Wein. »Es wäre eher überraschend, wenn es hier
keine Geister gäbe. In der Grenzregion von Wales wimmelt es von
ihnen. Tausend Schlachten, zweitausend Jahre Konflikte, Mythen und
Magie allenthalben. Es ist ein gesegnetes Fleckchen Erde.« Er
grinste zufrieden.
Fast wider Willen lächelte Jess ebenfalls. Wenn
Rhodri gerade einmal nicht in Angriffslaune war, sah er
ausgesprochen nett aus. »Sofern man nicht zufällig direkt auf dem
Vulkan wohnt!«
»Gut gesagt. Sie wissen ja, wie dieses Haus heißt -
Ty Bran. Das bedeutet so viel wie Rabenhaus. Und das da unten ist
das Tal der Raben. Geschichtlich kommt das ganz gut hin. Raben
fliegen zu den Schlachtfeldern, um die Knochen der Toten
abzupicken. Die Göttin der Schlacht ist eine Raben-Göttin.«
Jess schauderte. »Eigentlich ist es nicht
verwunderlich, dass an einem solchen Ort Erinnerungen
umgehen.«
Er zögerte. »Aber lassen Sie sich davon nicht so
aus der Bahn werfen. Das ist alles längst Vergangenheit.«
»Wirklich?« Sie lächelte beklommen.
»Ja.« Er warf ihr einen strengen Blick zu. »Ja, das
ist alles längst vorbei.« Er leerte sein Glas und stellte es ab.
»Ich muss jetzt los. Ich erwarte meinen Agenten. Aber er wird nicht
lange bleiben. Bei Einbruch der Dunkelheit zieht es ihn in die
Großstadt zurück. Die Gespenster machen ihm zu schaffen. Rufen Sie
mich an, wenn’s Ihnen zu viel wird,
und später fahren wir in den Pub, ich spendiere Ihnen zur
Ablenkung ein Gläschen und was zu essen.« Er ging zur Tür. »Glauben
Sie mir, allein sind Sie hier oben viel besser aufgehoben. Der Typ
hat Ihnen nicht gutgetan.«
Sie wollte ihm widersprechen, aber er war schon
fast beim Wagen angekommen.
»Ganz schön dreist!«, murmelte sie, als er ins Auto
stieg. Aber irgendwie ging es ihr nach seinem Besuch besser.