Kapitel 15
Sie waren erst spät von der Villa Borghese
nach Hause gekommen und hatten dann mit einem Teller Spaghetti auf
den Knien vor dem Fernseher gesessen und sich eine DVD angesehen,
bis Jess sich, erschöpft vom anstrengenden Tag, als Erste
zurückgezogen hatte. Kaum war sie gegangen, hatte Kim das
Fernsehgerät ausgestellt. »Was meinst du, wie es ihr geht?«, fragte
sie.
»Bestens«, antwortete Steph, ohne
nachzudenken.
»Sie hat nichts davon gesagt, dass Daniel uns folgt
oder etwas in der Art?«
Steph schüttelte den Kopf.
»Und sie hat auch nicht von Eigon und den Römern
gesprochen?«
Als Steph zögerte, sah Kim sie skeptisch an. »Das
habe ich mir doch gedacht. Als ihr beide auf dem Rückweg
zurückgeblieben seid, sah sie ziemlich mitgenommen aus. Als hätte
sie ein Gespenst gesehen.«
»Sie hat von der historischen Geschichte
gesprochen«, verteidigte Steph ihre Schwester. »Es interessiert sie
eben, was passiert ist. Das kann man ihr schlecht zum Vorwurf
machen. Mich interessiert’s ja auch. Schließlich hat das Ganze in
meinem Haus angefangen. Ich will auch wissen, wer Eigon ist und was
mit ihr passiert ist. Es gibt viele ganz rationale Menschen, die an
Geister glauben.«
»Das leugne ich auch nicht.« William runzelte die
Stirn. »Ich weiß bloß nicht, ob ich selbst an sie glaube. Ich
versuche, das alles zu verstehen. Menschen wie Carmella haben eine
intuitive Gabe, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen. Man kann
sich natürlich lustig über sie machen, weil sie sich mit diesem
ganzen esoterischen Schnickschnack umgibt - die Tarotkarten, dieser
ferne, schläfrige Gesichtsausdruck.« Grinsend schüttelte er den
Kopf. »Kim, Carmella ist doch deine Freundin, du hast sie in die
Sache reingezogen - glaubst du ihr?«
»Aber ja!«
»Bist du dir sicher?«
Kim zuckte mit den Schultern. »Sagen wir so, ich
möchte ihr glauben, und es gefällt mir, wie sie die Karten
liest.«
»Du solltest dich über das Tarot nicht lustig
machen, William«, unterbrach Steph ruhig und wickelte nachdenklich
die letzten Spaghetti auf ihre Gabel. »Soll ich dir mal ein
bisschen darüber erzählen? Die Karten sind ein altes System von
Archetypen und stecken voller Symbole, die die meisten sogenannten
Kartendeuter selbst nicht ganz verstehen. Einige Kartendecks sind
wirklich wunderschön. Die ersten Tarotkarten, die in Europa bekannt
wurden, kamen offenbar aus Italien. Das Geheimnis beim Lesen ist,
mit Hilfe der Abbildungen den Kopf so zu leeren, dass er
außersinnliche Eindrücke aufnimmt. Natürlich können manche Leute
das besser als andere. Die standardmäßigen Bedeutungen der Karten,
die in den gängigen Anleitungen stehen, sind das Papier nicht wert,
auf das sie gedruckt sind.«
William und Kim starrten sie sprachlos an. »Seit
wann kennst du dich denn so gut mit Tarot aus?«, fragte Kim.
Steph lächelte. »Vor vielen Jahren, noch an der Uni
in London, habe ich mir aus Neugier mal ein Deck gekauft. Dann noch
eins und ein drittes. Die Karten haben mich fasziniert,
ich habe sie überall in meinem Zimmer aufgehängt. Dann kam mich
ein Freund besuchen, der fand sie grauenhaft. Sie haben ihm
panische Angst gemacht. Er hat rumgeschrien, sie seien das Böse
schlechthin und reiner Aberglaube, brächten Tod und Verderben. Er
sagte, ich sei ein Bote des Teufels und würde in der Hölle landen.
Das war natürlich das Ende der Beziehung, aber es hat mir doch zu
denken gegeben. Mir ist klargeworden, dass ich die Karten rein als
Kunstobjekt betrachtet hatte, als spannenden historischen
Anachronismus und nicht als Mittel, die Zukunft vorherzusagen. Ich
hatte auch überhaupt nicht gewusst, dass sie manchen Menschen
wirklich eine Heidenangst einjagen. Also habe ich ein Seminar
besucht. Ich hatte großes Glück, es hätte genauso gut ein Seminar
sein können, bei dem man genau die Art des Kartenlegens lernt, die
der Typ sich vorgestellt hat. Ich hätte mir ein paillettenbesetztes
Kopftuch umbinden und eine der drei Hexen geben können, die von
Verhängnis und dunklen Fremden wispert und kräftig dafür
abkassiert. Aber so ist es nicht gekommen. Unser Dozent hat uns von
der Geschichte und der Philosophie der Karten erzählt und von ihrer
mystischen Herkunft in Ägypten oder irgendwo im Nahen Osten nach
der Sintflut oder im alten Rom zur Zeit von Hermes Trismegistos -
das weiß niemand so genau. Und er hat uns die Symbolik erklärt und
beigebracht, wie wir den Kopf leeren und die Karten nach unserer
inneren Weisheit deuten.«
»Dann weißt du ja mehr darüber als Carmella!« Kim
sah sie von der Seite an. »Warum hast du das nicht schon früher
gesagt?«
Steph schüttelte den Kopf. »Ich lege sie für mich,
nie für andere. Manchmal benütze ich sie zum Meditieren. Dafür
wählt man eine Karte und betrachtet sie unter allen möglichen
Aspekten, und hinterher fragt man sich oft, warum
man ausgerechnet diese Karte gewählt hat. Manchmal hilft mir das
erstaunlich gut. Eine Art Therapiesitzung ohne Therapeuten. Ich
mach’s nicht besser als Carmella, sie macht es nur anders. Ihr
liegt es im Blut. Das meine ich positiv. Sie deutet nicht nach
einem bestimmten Muster. Ich vermute, dass sie immer schon Karten
gelesen und es von ihrer Mutter oder Großmutter oder so jemandem
gelernt hat.«
Kim lächelte. »Von ihrer Großmutter. Die, nebenbei
bemerkt, eine gläubige Katholikin war.«
Steph nickte. »Es ist nicht böse.«
»Nein, aber ich bezweifle, dass die Kirche es gut
findet.«
»Wie auch immer. Aber Carmella stimmt sich auf
denjenigen ein, dem sie die Karten legt. Sie hört auf eine innere
Stimme.«
»Das heißt, der gefährliche Mann war echt und nicht
ihre Reaktion auf uns andere?« William schob seinen Teller von
sich.
»Ja, davon bin ich überzeugt.«
»Womit wir wieder bei Daniel wären.«
»Vielleicht war es ja gar nicht Daniel, von dem sie
gesprochen hat. Das ist ja das Strittige: die Interpretation
dessen, was sie gesagt hat, nicht das Gesagte an sich.«
»Ich glaube, du drehst dich jetzt im Kreis, Steph.«
Gähnend stand William auf. »Entschuldigt ihr mich, wenn ich Jess’
Beispiel folge und ins Bett gehe? Die Hitze macht mir etwas zu
schaffen.«
Als er gegangen war, schenkte Kim Steph noch ein
Glas Wein nach. »Hast du deine Karten dabei?«
Steph schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mal, wo
sie sind. Wahrscheinlich liegen sie in Ty Bran in irgendeiner
Schublade.«
Kim stand auf, ging zum Sideboard und holte das
Deck, das Carmella am ersten Abend verwendet hatte. Das legte
sie vor Steph auf den Tisch. »Schau doch mal, was bei dir
rauskommt.«
Wieder schüttelte Steph den Kopf. »Ich hab dir doch
gesagt, für andere Leute mache ich das nicht.«
»Das meine ich auch nicht. Nimm dir eine Karte und
meditiere darüber. Über Jess.«
Steph griff nach dem Deck, mischte es und hob ab,
dann nahm sie die oberste Karte und drehte sie um. Es war der König
der Kelche.
Von Angst gepackt, setzte Jess sich auf und
starrte in die Dunkelheit. Aus der Ferne hörte sie das Grollen
eines Gewitters. War es das Unwetter, das sie geweckt hatte? Jetzt
hörte sie durchs offene Fenster auch die Regentropfen, die in den
Innenhof fielen. Im Zimmer war es stickig heiß. Stöhnend warf sie
das Laken zurück. Ein Blitz erhellte das Fenster, und in dem
Sekundenbruchteil sah sie eine Gestalt, die sich davor abhob. Sie
stieß einen spitzen Schrei aus.
Ein leises Klicken, ein schabendes Geräusch, dann
herrschte Stille bis auf das Prasseln des Regens. Zitternd tastete
sie nach dem Lichtschalter und knipste ihn an. Im Zimmer war
nichts. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus. Ein weiterer Blitz
erhellte die Wolken über ihr, und in dem fahlen Licht konnte sie
erkennen, dass der Innenhof leer war. Sie stützte sich auf das
niedrige Fensterbrett und betrachtete ihre Hände. Sie waren nass.
Sie sah auf den Fußboden. War das ein Fußabdruck oder nur Regen,
der zum Fenster hereinfiel? Sie selbst war barfuß, der schwache
Abdruck auf den Eichendielen stammte hingegen von einer
strukturierten Sohle, die rund fünf Zentimeter länger war als
ihre.
»Jess?« Es klopfte leise an ihrer Tür. »Jess, darf
ich rein?«
Steph schlich ins Zimmer. Auch sie war barfuß, ihr
Haar zerzaust. Sie trug einen Baumwollpyjama. »Ich dachte, ich
hätte dich schreien hören.«
Jess senkte den Blick. »Das habe ich auch. Tut mir
leid. Ich habe mich selbst geweckt.« Sie zögerte. Gerade hatte sie
noch sagen wollen, dass sie jemanden bei sich im Zimmer gehört
hatte, aber dann schwieg sie doch. Der Abdruck war fast schon
getrocknet. Gleich würde er ganz verschwunden sein. Vielleicht war
es überhaupt kein Fußabdruck gewesen. »Der Donner muss mich geweckt
hat. Und vom Regen ist der Boden ganz nass geworden.« Sie beugte
sich hinaus und zog die Läden zu. Dabei sah sie unten auf dem
Kiesweg eine Gestalt, im flackernden Blitz war sein Gesicht genau
zu erkennen. »Daniel!«, hauchte sie.
»Was?« Steph hatte sie gehört. »Jess, also
wirklich! Daniel ist nicht mehr hier.« Sie trat neben sie ans
Fenster. »Wo? Da ist doch niemand!«
Jess schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Es war
ein Schatten.«
»Du bist wirklich ziemlich durch den Wind!«
Liebevoll legte Steph einen Arm um sie. »Möchtest du was zu
trinken?«
»Nein, danke«, sagte Jess. »Ich habe doch nicht
alle aufgeweckt, oder?«
»Natürlich nicht. Mein Zimmer liegt direkt neben
deinem, außerdem war ich sowieso wach.« Steph ging zur Tür, auf
halbem Weg blieb sie stehen. »Du musst aufhören, dir alle möglichen
Sachen einzubilden, Jess. Entspann dich. Freu dich, in Rom zu sein.
Daniel ist längst zu Hause.«
Am nächsten Morgen schlief Jess sehr lange. Als
Steph auf der Suche nach einem Becher Kaffee in die Küche wanderte,
war weder von ihr noch von William oder Kim etwas zu
sehen. Wahrscheinlich waren auch sie vom Gewitter aufgewacht, das
sich mittlerweile längst über den Bergen in der Ferne ausgetobt
hatte. Jetzt war der Himmel wieder strahlend blau. Steph machte
eine Kanne Kaffee, schenkte sich einen Becher ein, setzte sich an
den Küchentisch und holte ihr Handy aus der Tasche. »Megan? Wie
geht’s dir? Darf ich dich um einen Gefallen bitten? Meine
Zimmerpflanzen haben ihren Babysitter verloren.«
In ihrem Waliser Farmhaus verdrehte Megan entnervt
die Augen, doch ihre Stimme verriet nichts von ihrem Unmut.
»Natürlich, ich fahre rüber und gieße sie. Wie geht’s Jess? Rhodri
hat gestern angerufen. Er meinte, er mache sich Sorgen um
sie.«
Steph trank einen Schluck Kaffee. »Wirklich?«,
fragte sie vorsichtig. »Hat er gesagt, warum?«
Nach kurzem Zögern antwortete Megan mit einer
Gegenfrage. »Ist Jess jetzt bei dir in Rom?«
»Ja.«
»Hat sie dir erzählt, was passiert ist?«
Jetzt war es Steph, die ihre Worte sorgsam erwog.
»Sie hat nichts Bestimmtes erzählt. Ich glaube, es hat ihr nicht
gefallen, ganz allein dort zu sein. Sie sagte, es sei ein bisschen
gespenstisch.«
»Und dann erwartest du von mir, dass ich allein
rüberfahre und deine Pflanzen gieße!«, sagte Megan.
»Meg, du würdest jedes Gespenst vertreiben!« Steph
lachte.
»Ja, vermutlich schon«, stimmte Megan trocken zu.
»Und jeden anderen, der sich dort herumtreibt, auch.«
Steph setzte ihren Becher ab. »Ist noch jemand
anderes dort gewesen?«
»Ich glaube, sie hatte ein- oder zweimal Besuch.
Aber ich war ja nicht hier. Als wir heimkamen, war sie schon wieder
weg.«
»Aber hat Rhodri etwas gesagt?«
»Nicht so richtig.«
»Megan!«
»Er sagte, es ginge ihn nichts an.«
»Was ginge ihn nichts an?«
»Na, das hat er doch nicht gesagt!«
Die Küchentür ging auf, und Jess erschien, noch
ganz verschlafen. »Guten Morgen!«
»Megan, ich muss jetzt Schluss machen.« Steph
grinste Jess freundlich zu und deutete auf die Kaffeekanne.
»Rhodri sagte, er werde sich vielleicht bei dir
melden. Er hat noch einen Auftritt, dann ist er in Mailand fertig.
Auf dem Rückweg fährt er über Rom.«
Steph zog die Nase kraus. »Hast du ihm meine Nummer
gegeben?«
»Ja.« Steph hörte das Lachen in Megans Stimme. »Ich
weiß doch, dass du dich freust, ihn zu sehen!«
»Worum ging’s da?«, fragte Jess, als Steph ihr
Handy auf den Tisch legte.
»Rhodri. Megan sagte, er werde auf dem Rückweg von
der Scala vielleicht bei uns vorbeischauen. Dieses plötzliche
Interesse habe ich wohl dir zu verdanken, was?«
»Ich wüsste nicht, warum. Eigentlich glaube ich
nicht, dass er mich nochmal sehen will.« Jess machte ein finsteres
Gesicht. »Wo sind denn die anderen?« Sie hatte sich ans Tischende
gesetzt und trank einen Becher schwarzen Kaffee.
»Hier sind wir!« Kim erschien in der Tür, lauter
braune Papiertüten im Arm. »Wir haben warme Brötchen fürs Frühstück
besorgt. Habt ihr alle gut geschlafen? Habt ihr das Unwetter
gehört?«
William setzte sich neben Jess. »Alles in
Ordnung?«
Sie hob die Augenbrauen. »Warum?«
»Du bist sehr blass.«
»Danke für deine Fürsorge.« Sie lächelte
angestrengt und schaute wieder auf ihren Kaffee. »Nach dem Gewitter
konnte ich lange nicht mehr einschlafen.«
Kim schob einen Teller zu ihr hinüber. »Komm, nimm
dir ein Brötchen. Und Butter und Marmelade. Hast du gewusst, dass
deine Schwester das Tarot legt?« Sie ließ sich auf den Stuhl Jess
gegenüber fallen. »Das ist doch irre, oder? Sie kann’s besser als
Carmella!«
Jess schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du vor
Ewigkeiten mal einen Kurs besucht hast. Aber du hast mir nie
erzählt, dass du es immer noch machst, Steph! Irgendwie kann ich
mir das nicht so richtig vorstellen.«
»Sollst du auch nicht.« Steph warf Kim einen
finsteren Blick zu.
»Es stimmt aber«, ergänzte Kim, ohne auf den Tritt
zu achten, den Steph ihr unter dem Tisch versetzte. »Sie hat’s mir
gestern Abend gezeigt.«
»Und was haben die Karten gestern Abend gesagt?«,
fragte Jess etwas schnippisch. »Dass ich verrückt bin?«
»Jess!«, rief Steph. »Natürlich nicht!«
»Aber die Karte, die sie aufdeckte, war dieselbe
wie die letzten beiden Male. Der König der Kelche!«, sagte Kim.
»Das ist doch wirklich irre, oder?«
Jess wurde blass. »Ich will das alles gar nicht
wissen.« Sie stand auf. »Ich habe keinen Hunger. Der Kaffee reicht.
Ich gehe jetzt. Wenn wir für heute nichts geplant haben, kann ich
ja wieder ein bisschen malen. Mich meinen Hirngespinsten hingeben
und mir ein Gespenst suchen, mit dem ich mich unterhalten kann.«
Sie ging zur Tür. »Bis heute Abend!«
Vor der Haustür holte William sie ein. Nach dem
nächtlichen Gewitter war die Straße sauber, die Luft viel frischer.
»Komm, Jess, bitte, lauf nicht einfach davon. Das ist doch dumm.
Niemand will dir an den Karren fahren, und niemand macht dir einen
Vorwurf, dass du dich für Eigon interessierst. Darf ich
mitkommen?«
Jess blieb abrupt stehen. »Wieso?«
»Weil ich den Vormittag gern mit dir verbringen
würde.«
Sie sah ihn misstrauisch an. »Bist du
sicher?«
»Ganz sicher. Ich steh zu deinen Diensten. Ich habe
auch die Kamera dabei für den Fall, dass du Bilder von der
Topographie brauchst.«
Sie machte ein spöttisches Gesicht. »Ah ja, jetzt
lernst du schon die Fachausdrücke?«
»Ich tue mein Bestes. Um ehrlich zu sein, mir ist
egal, wo ich hingehe. Es macht mir Spaß herumzulaufen, und ich bin
gern in deiner Gesellschaft. Das war ich immer schon, Jess. Das
weißt du doch.« Betreten sah er beiseite. »Entschuldigung, das
hätte ich nicht sagen sollen. Bitte streich die letzte
Bemerkung.«
»Schon gestrichen.« Jess ging langsam weiter. »Also
gut, dann komm. Ich möchte wieder Richtung Forum gehen. Ich suche
nach dem Haus eines Goldschmieds.«
Das zu finden war allerdings unmöglich. Wo immer
die Straße der Juweliere gewesen sein mochte, sicher nicht im
Forum, wie Jess sofort klarwurde. Vor den Säulen des gewaltigen
Saturn-Tempels blieben sie stehen. »Ich glaube, das ist eines der
Gebäude, das es zu Eigons Zeit schon gab«, sagte Jess langsam.
»Irgendwo hier muss sie mit ihrem Vater vor Claudius gestanden
haben.«
William holte seine Kamera heraus. »Dann ist der
Tempel also zweitausend Jahre alt?«
Ȁlter. Ich glaube, im Buch steht, dass es noch aus
der Zeit vor Christi Geburt stammt.« Sie nahm die Tasche von der
Schulter und holte den Führer heraus, schob die Sonnenbrille
hoch, während sie in den Seiten blätterte. »Es ist schwer, sich
das Alter dieser ganzen Ruinen vorzustellen.« Sie schaute kurz zu
William. »Es ist alles sehr verwirrend, die Überreste so vieler
verschiedener Epochen, die kunterbunt durcheinanderstehen. Ich
glaube, die meisten Gebäude hier sind zu neu, um für mich
interessant zu sein.« Sie lächelte. Mittlerweile war es schon
wieder heiß, die Luft staubig, das Gewitter war nur noch eine ferne
Erinnerung.
»Du meinst, nur neunzehnhundert Jahre alt?« William
machte ein paar Aufnahmen der hohen Säulen. Eine Nebelkrähe flog
herüber, ließ sich auf dem marmornen Architrav nieder und schaute
zu ihnen hinunter. William steckte die Kamera wieder fort. »Jess,
dieses ganze römische Zeug, Eigon.« Er zuckte mit den Schultern.
»Es ist alles ziemlich seltsam. Als wir … als du und ich zusammen
waren, hast du nie von Gespenstern geredet.«
»Da hatte ich auch noch keins gesehen«,
rechtfertigte sie sich. »Ich kann verstehen, dass du mir nicht
glaubst, William. Schließlich hast du ja nichts gesehen. Was ich
nicht verstehen kann, ist, dass du mir wegen Daniel nicht glaubst.
Und das tust du nicht, jedenfalls nicht ganz. Ich hätte wirklich
erwartet, dass du bei der Sache hinter mir stehst.« Sie drehte sich
fort, plötzlich fürchtete sie, gleich in Tränen auszubrechen, und
ging zwischen den vielen Touristen davon.
William lief ihr nach. »Jess! Warte!« Die Menge
teilte sich, um die beiden durchzulassen. Ein Streit zwischen
Liebenden war den Touristen im Moment völlig gleichgültig, sie
konzentrierten sich weiter auf die Sehenswürdigkeiten.
William holte Jess ein. »Ich möchte wissen, weshalb
er das getan hat.«
»Woher soll ich das wissen.« Wütend drehte sie sich
zu ihm. »Niemand kann das wissen.«
Er musterte sie eindringlich. »Wenn Daniel dich
vergewaltigt hat, Jess, dann muss ich ihn umbringen.«
Sie zögerte, im ersten Moment glaubte sie fast, was
er da sagte. Dann lachte sie kurz und hässlich auf. »Nein, bitte
nicht, William. So weit brauchst du nicht zu gehen. Ich komme schon
allein zurecht.«
»Aber allem Anschein nach nicht besonders gut.« Er
packte sie an den Armen und zwang sie, ihn anzusehen. »Jess, weißt
du, du bist mir immer noch wichtig. Eine Beziehung, wie wir sie
hatten, du und ich - die geht nicht einfach vorbei, ohne dass etwas
zurückbleibt.«
Sie schob ihn von sich. »Das weiß ich, aber ich
will nicht, dass du auf einem Streitross davongaloppierst, um meine
Ehre zu ver…« Mit einem kleinen Aufschrei brach sie ab.
»Was ist?« William wirbelte herum und folgte ihrem
Blick.
»Daniel!«, flüsterte sie. »Da. Er beobachtet
uns.«
»Wo?« William sah sich suchend um.
»Da!« Sie deutete auf eine Treppe ganz in der
Nähe.
William rannte die Stufen hinauf und drehte sich
um, um die Menschenmenge abzusuchen. Schwitzende Touristen in
Sommerkleidern und bunten Hemden, mit Sonnenhüten und dunklen
Brillen, Wasserverkäufer, Stadtführer. Die Menschenscharen strömten
als unentwegter Strudel zwischen den Säulen und Ruinen des Forums.
»Ich kann ihn nicht sehen. Wo war er?«
»Genau da, wo du stehst.«
»Bist du sicher, dass er es war?« William ließ
weiter den Blick schweifen.
Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern. »Ich habe
ihn nur flüchtig gesehen. Er hatte eine Sonnenbrille auf.
Vielleicht habe ich mich auch getäuscht.« Plötzlich war sie wütend
auf sich selbst, dass sie so jämmerlich und lächerlich
klang. »Ich bin sicher, dass er mir folgt, William. Ich glaube
nicht, dass er nach England zurück ist. Er hat mir gedroht. Er will
mich einschüchtern.«
William nickte. »Das glaube ich dir aufs Wort.« Er
seufzte schwer und sah sich dann wieder um. »Aber wer immer es war,
er ist weg. Ich schlage vor, dass wir uns irgendwo hinsetzen und
etwas Kaltes trinken. Es wird einfach zu heiß. Gibt es irgendwo
noch ein überdachtes Gebäude, das Eigon kannte, oder möchtest du
lieber zum Palazzo zurück und dich da ein bisschen ausruhen?«
Eigon stand im Atrium. In der vergangenen Nacht
hatte sie wieder die Stimme ihrer Schwester gehört, der leise,
klagende Ruf hatte über Meilen von Land und See und Zeit zu ihr
gehallt.
Können wir jetzt aufhören zu spielen? Eigon? Wo
bist du? Bitte komm zurück. Ich hab Angst.
Bei der Erinnerung fröstelte sie. Sie hatte schon
sehr lange nicht mehr von Gwladys und Togo geträumt. Diese Träume
waren erfüllt von rauschendem Wind und lodernden Fackeln in der
Dunkelheit des Bergs. Viel häufiger träumte sie von den sanften
Hügeln in der Heimat ihrer Mutter, bevor sie ihrem Vater aufs
Schlachtfeld gefolgt waren. Das waren Träume von Sonnenlicht und
Lachen und unschuldigem Glück. Mit einem Seufzen schob sie die
Stimme ihrer Schwester sacht beiseite. Sie hatte den offenen
Eingang zum Garten fast erreicht, hörte das leise Plätschern des
Wassers im Brunnen. In der Hitze ließen die Bäume ihr herbstlich
goldenes und rotbraunes Laub hängen. Melinus war nach draußen
gegangen, er stand mit Pomponia Graecina bei der Steinbank. Die
beiden waren im Gespräch vertieft und bemerkten Eigon nicht.
»Wie geht es ihm?« Melinus sah bekümmert drein. Im
ersten Moment glaubte Eigon, sie sprächen über ihren Vater.
Pomponia schüttelte den Kopf. »Mögen die Götter uns
alle beschützen. Angeblich wird er den Tag nicht überleben.« Sie
senkte die Stimme, und Eigon versuchte angestrengt zu lauschen. »Es
heißt, dass er giftige Pilze gegessen hat. Wie es aussieht, ist es
Agrippina schließlich doch gelungen, ihn zu beseitigen.«
»Und wer folgt ihm nach?«
»Agrippinas Sohn. Wer sonst? Ich vermute, Nero
setzt sich probehalber schon einmal den goldenen Kranz des Kaisers
auf. Sobald sein Stiefvater den letzten Atemzug getan hat, hat Rom
einen neuen Kaiser. Dann sitzt ein Kind auf dem Thron, und es ist
nicht einmal der rechtmäßige Erbe Britannicus.«
»Ein Kind, das einflussreiche Verbindungen hat. Und
ein Kind an der Schwelle zum Mannesalter.« Einen Moment herrschte
angespannte Stille. »Wird Nero die von Claudius zugesicherte
Freiheit für diese Familie ehren?«, fragte Melinus schließlich. Die
römische Politik interessierte ihn nur, sofern sie von
unmittelbarer Bedeutung für dieses Haus war.
Eigon trat einen Schritt näher, damit ihr kein Wort
entging.
Pomponia Graecina zuckte mit den Schultern. »Ich
denke, ihre Sicherheit ist durch Caradocs Krankheit gewährleistet.«
Sie hatte sich angewöhnt, den Namen zu verwenden, mit dem auch die
Familie ihn ansprach. »Ich bezweifle, dass irgendjemand ihn in
seinem jetzigen Zustand als Bedrohung betrachtet. Neros Berater
werden im Senat andere und dringendere Sorgen haben. Wenn Claudiusʹ
Anhänger nicht aufpassen, wird sie zweifellos das gleiche Schicksal
ereilen wie ihn. Es wird sich ein ganz neuer Klüngel bilden, der
über das Reich herrscht.«
Melinus nickte. Er stützte sich auf seinen Stab und
schaute in den quadratischen Teich zu seinen Füßen. Die Oberfläche
des Wassers war glatt wie Öl. »Ich sehe viele Schwierigkeiten
voraus, für Rom und für uns hier.«
Am Morgen hatte er mit Cerys gesprochen. Als ihr
die ganze Tragweite dessen, was er ihr erzählte, bewusst wurde, war
sie außer sich gewesen vor Sorge. Seine Miene verfinsterte sich.
Mit Gefühlen konnte er nicht gut umgehen, er hatte nicht gewusst,
wie er sie trösten sollte.
»Aber sicher wird der neue Kaiser Claudiusʹ
Versprechen nicht zurücknehmen?«, fragte er jetzt
nachdenklich.
»Wer weiß, was er tun wird?« Pomponia Graecina
rümpfte die Nase. »Glaubst du, dass Caradoc je wieder gesund
wird?«
Melinus schüttelte den Kopf. »Ich habe all mein
Wissen angewendet, aber es hilft nichts. Und jetzt bringe ich Eigon
alles bei, was ich weiß.« Er warf einen kurzen Blick zum Eingang,
und Eigon zog sich hastig in den Schatten zurück. »Sie lernt
schnell. Sie ist ein kluges Mädchen, und wichtiger noch, sie hat
den Segen Brigids. Sie ist eine geborene Heilerin und hat Hände,
die ihr wahre Heilkraft geben, aber offenbar kann selbst sie ihn
nicht von seinem Fieber befreien. Vielleicht ist es ihm bestimmt,
hier zu sterben und zu Hause in Britannien zu einem anderen Leben
wiedergeboren zu werden. Nur die Götter wissen, was die Zukunft
bereithält.« Er hielt kurz inne. »Wenn es Götter gibt, die ich noch
nicht angerufen habe, müsst Ihr mir von ihnen erzählen.«
Pomponia Graecina trat näher zu ihm. »Es gibt in
Rom einen Lehrer«, sie senkte die Stimme, »seit gut zehn Jahren ist
er hier, und sein Ruf breitet sich immer mehr aus. Er heißt Petrus.
Er heilt im Namen von Jesus aus Nazareth. Ich habe Petrus Menschen
heilen sehen, deren Zustand weit schlimmer war als der König
Caradocs. Er bewirkt Wunder im Namen dieses Gottes, von dem er
behauptet, er sei der Sohn des einzigen wahren Gottes.«
Melinus hob die Augenbrauen. »Ich habe von ihm
gehört. Ist er nicht ein Jude?«
Sie nickte. »Aber wenn ich es recht verstehe, ist
sein Gott ein anderer als der ihre. Er nennt ihn den Gott der
Liebe. Viele Juden aus Griechenland folgen ihm, aber auch viele
Leute hier. Und er hat eine ganze Reihe von ihnen bekehrt, vor
allem unter den Armen.« Nachdenklich sah sie zu ihm, dann fragte
sie: »Sollen wir zusammen hingehen und ihn predigen hören, damit du
weißt, was er zu sagen hat?«
Melinus überlegte kurz. »Ich denke, schaden kann es
nicht«, antwortete er vorsichtig.
»Meistens predigt er im Haus des einen oder anderen
Anhängers. Ich höre mich um, wo wir ihn treffen können, und gebe
dir Bescheid.« Sie lächelte. »Er ist ein großer Redner, Melinus.
Sehr überzeugend.« Sie machte eine kurze Pause. »Sag Cerys nichts
davon. Sie hängt an Brigid, ihrer Göttin des Heilens, und an Lenus
und Ocelos, Götter ihres Volkes. Sie will nicht einmal unserer
römischen Febris ein Opfer darbringen. Aber keines ihrer Gebete
wird erhört.« Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt, wie sehr ich
deine druidischen Lehren schätze, Melinus, seit mein Gemahl und ich
in Britannien waren und ich ihre Philosophen gehört habe. Warum
hätte ich sonst darauf bestanden, dass du mit mir zurückkommst?«
Sie lächelte ein wenig, peinlich berührt. Im Grunde war dieser Mann
nach wie vor ein Sklave, obwohl beide das längst vergessen hatten.
»Aber dieser Petrus interessiert mich auch, und ich würde gerne
hören, was du von ihm und seinem Gott hältst.«
Langsam schlenderten sie vom Haus fort, während sie
ihre Unterhaltung fortsetzten. Eigon trat aus dem Schatten und
stellte sich ans Wasserbecken, um in die Spiegelungen zu blicken.
Was hatte Melinus dort gesehen? Sie verzog das
Gesicht. Wer immer dieser Lehrer Petrus war, sie hoffte von ganzem
Herzen, dass sein Gott ihrem Vater würde helfen können.
Julia hüpfte hinter ihr aus dem Haus, so dass sie
vor Schreck zusammenfuhr. »Da bist du ja! Komm schon. Oder hast du
es vergessen? Flavius geht wieder mit uns auf den Markt!«
Eigon schaute ihre Freundin besorgt an. »Ist das
nicht zu gefährlich, Julia? Vergiss nicht, was beim letzten Mal
passiert ist.«
»Natürlich ist es nicht gefährlich. Und dieses Mal
sind Flavius und die anderen darauf vorbereitet, wenn jemand uns
nahe kommt. Begleite mich doch, ich mag nicht allein gehen.« Julia
errötete ein wenig. »Und ich möchte so gern eine zweite Fibel für
meine Stola kaufen, passend zu derjenigen, die ich schon
habe.«
Eigon warf einen Blick zum Haus. Ihre Mutter würde
bei ihrem schlafenden Vater im Haus sitzen. Zu tun gab es nichts
bis abends, wenn sie sich zum Essen trafen, bei dem ihr Vater vor
Schwäche meist nichts zu sich nahm. Warum sollte sie nicht in die
Stadt gehen, die offenbar ihre Heimat bleiben würde?
In weniger als zwei Meilen Entfernung ging die Tür
zum Speiseraum in der Kaserne der Prätorianergarde knarzend einen
Spalt auf, und ein Mann schaute herein. »Titus?«
Der Offizier, der am Tisch saß, blickte auf. Er
machte Aufzeichnungen auf eine Tafel, neben ihm stand ein Becher
Wein. Er war groß und auf derbe Art gut aussehend, hatte eine
Adlernase und bernsteinfarbene Augen. »Lucius?«
»Mein Posten hat eine Nachricht von der Villa
geschickt.« Der andere Mann kam herein und schloss die Tür hinter
sich. Nach einem kurzen Blick auf die anderen Männer im Raum
senkte er die Stimme. »Die Mädchen sind wieder in die Stadt
gegangen.«
Titusʹ Augen verengten sich. »Ah ja! In
Begleitung?«
»Nur zwei Sklaven und Aelius’ Junge,
Flavius.«
Titus schüttelte den Kopf in gespieltem Entsetzen.
»Was denken sie sich nur? Ihnen könnte ja alles Mögliche zustoßen!
Vor allem bei der Unruhe, die momentan überall herrscht.
Neuigkeiten vom Kaiser?«
Lucius schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist
noch bewusstlos.«
»Dann ist es wohl Zeit, dass wir dem mutmaßlichen
Erben unsere Aufwartung machen.« Mit dem stumpfen Ende seines
Stifts löschte Titus die Aufzeichnungen auf der Tafel und stand
auf, sein Umhang schwang zurück, und das Schwert, das auf seinen
Arm tätowiert war, wurde sichtbar. »Kommst du mit, Lucius?«
Lucius grinste. »Natürlich! Und was ist mit deiner
keltischen Nemesis?«
Titus lächelte böse. »Die kann warten. Je länger,
desto besser. Je öfter sie sich aus der Villa herauswagt, desto
unvorsichtiger wird sie. Am liebsten wollen wir sie doch allein
erwischen. Das andere Mädchen hat einflussreiche Verwandtschaft.
Aulus Plautius und sein Gefolge möchte ich ungern auf dem Hals
haben. Heimlich, still und leise irgendwo im Dunkeln, das wäre das
Beste, wenn du mich fragst.« Er warf seinen Umhang über die
Schulter zurück und steckte die Schreibutensilien in den Beutel an
seinem Gürtel.
»Tja, dann beugen wir mal das Knie vor dem jungen
Nero!« Lucius ging zur Tür hinaus.
Titus lächelte finster. »Wenn dich nicht gerade die
große Todessehnsucht treibt, wirst du genau das tun, mein
Freund.«
»Und du glaubst, wir werden in seine persönliche
Leibwache aufgenommen, obwohl wir vorher Claudius gedient
haben?«
»Wenn wir ihn von unserer Loyalität überzeugen und
die richtigen Leute bestechen, dann schon!« Die beiden Männer
tauschten einen Blick, dann lachte Titus und versetzte seinem
Gefährten einen Klaps auf die Schulter. »Ich glaube nicht, dass wir
Probleme haben werden, mein Freund. Nicht die geringsten.«
Kurz zog Lucius die Stirn kraus. »Und wenn die
kleine Prinzessin dich verpfeift, bevor du sie erwischst? Wir
hätten sie schon längst kriegen können.«
»Dazu kommt sie gar nicht. Ihr wird ein Unfall
zustoßen, lang bevor sie mich noch einmal zu Gesicht bekommt.«
Titus schnitt eine Grimasse. »Eigentlich schade. Ich vermute mal,
dass sie mittlerweile ein hübsches kleines Ding geworden
ist.«
»Und du hast keine Angst, dass die Mutter dich
erkennt?« Lucius betrachtete seinen Freund neugierig. Halb gebannt,
halb schockiert hatte er dessen Geschichte von Vergewaltigung und
Mord auf einem einsamen Berg in einer fernen Provinz
zugehört.
Titus schüttelte den Kopf. »Die war halb tot, bevor
ich sie hatte, und nach mir kamen noch ein paar andere. Und was ich
jetzt so höre, flennt und heult sie nur die ganze Zeit, weil ihr
heldenhafter Gemahl stirbt, und kommt gar nicht dazu, einen
Gedanken an mich zu verschwenden und vermutlich auch nicht an ihre
Tochter.« Er schnaubte verächtlich. »Sorg nur dafür, dass dein
Informant mich auf dem Laufenden hält. Die haben keine Ahnung, dass
ich die Kleine im Auge habe. Es gefällt mir, mein Spielchen mit ihr
zu treiben.« Er grinste. »Sie ist für mich keine Gefahr. Wer würde
ihr nach der ganzen Zeit schon glauben? Nein, wenn
die Zeit gekommen ist, nehme ich mir unsere kleine Prinzessin
schon vor.«
Er ging seinem Freund voraus und schnalzte mit den
Fingern zum Zeichen, dass der Bursche, der Lucius’ Pferd hielt,
auch sein Pferd aus dem Stall holen solle. Er unterdrückte ein
Lächeln. Ihm war eine köstliche Idee gekommen. Es wäre eine
Schande, das Mädchen sofort umzubringen. Nicht, da sie jetzt mit
jedem Jahr schöner und verführerischer wurde. Allein der Gedanke
erregte ihn.
Als er hinter sich nach den Zügeln seines Pferds
griff und sich dann in den Sattel schwang, bemerkte Lucius den
Ausdruck auf Titus’ Gesicht und schauderte. Nicht zum ersten Mal
fragte er sich, warum er diesen Mann als seinen Freund
bezeichnete.