Kapitel 16
Jess öffnete die Augen, reckte sich und blieb dann still liegen, während sie sich ihren Traum vergegenwärtigte. Angestrengt versuchte sie, die vagen Bilder festzuhalten. Ein Soldat. Ein Pferd. Ein Becher Wein. Die Sonne, die auf die gefegte Erde eines Exerzierplatzes herunterbrannte, das Gefühl von drohendem Unheil. Das war alles. Seufzend setzte sie sich auf, hievte sich aus dem Bett und ging die Fensterläden öffnen. Die Sonne war gewandert, jetzt lagen ihre Fenster im Schatten. Sie beugte sich weit vor und sah in den Garten hinunter. Dann kam ihr ein Gedanke. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und lief hinaus.
Kim saß im Wohnzimmer. Als Jess hereinkam, legte sie gerade das Telefon fort. »Hallo! Gut geschlafen?«
Jess lächelte. »Wie kommt man hier in den Garten? Kannst du hinein?«
Kim nickte. »Wir haben alle einen Schlüssel.«
»Aber da ist nirgends eine Tür.«
»Doch. Da ist eine kleine Gasse, sie verläuft parallel zum Haus. Die Wohnungen im Erdgeschoss haben jeweils eine Tür, die direkt hinausführt, aber wir anderen benützen den öffentlichen Zugang.«
»Das heißt, jeder kann hinein?«
»Jeder, der einen Schlüssel hat, ja.«
»Hast du einen?«
Kim nickte. »Er hängt in der Küche an einem Haken. Ich bin selten unten. Mir gehen zu viele Fenster auf den Hof hinaus, da kriege ich das Gefühl, unter ständiger Beobachtung zu stehen.«
»Das ist man vermutlich auch. Meinst du, ich könnte mal hinuntergehen?«
»Klar. Es ist der große alte Schlüssel, der an der Wand neben der Kommode hängt. Du kannst ihn nicht übersehen. Geh zur Haustür hinaus und nach links, dann die erste Abbiegung wieder links, das ist eine enge Gasse zwischen zwei Häusern.« Sie gähnte. »Wenn du nichts dagegen hast, bleibe ich hier. Bis später!«
Es war ein schmiedeeiserner Schlüssel. Jess nahm ihn vom Haken und folgte Kims Beschreibung, bog von der geschäftigen Straße in die Gasse ab, die ihr bislang noch gar nicht aufgefallen war. Das Pflaster war noch etwas feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Und nicht nur vom Regen, wie sie mit einem gewissen Ekel feststellte. Dem Geruch nach zu urteilen wurde die Gasse seit Jahrhunderten auch als Abort benutzt. Jess blieb stehen und schaute die mehrere Stockwerke hohen, von keinem Fenster unterbrochenen Mauern zum Himmel hinauf. Am Ende der Gasse war ein hohes Tor mit einem schweren Schloss, das selbst antiquarischen Wert haben konnte. Vorsichtig steckte sie den Schlüssel hinein. Er ließ sich mühelos drehen, dann schob sie das Tor auf, das hörbar über die unebenen Pflastersteine schabte. Nachdem sie es wieder geschlossen hatte, fand sie sich in der geheimen Oase im Herzen des Palazzo wieder.
Zu dieser Tageszeit lag der Garten im tiefen Schatten, nach der gleißenden Sonne der Straße wirkte es hier regelrecht kühl. Jess trat auf den gerechten Kiesweg und ging zu den Blumenbeeten rund um den zentralen Brunnen. Kein Unkraut wuchs hier, die Beete wurden unverkennbar regelmäßig von kundiger Hand gepflegt, die niedrigen Buchsbaumhecken waren ordentlich gestutzt, Heliotrop, Salbei und Geranien zu kunstvollen Mustern gepflanzt. Jess schaute die hoch aufragenden Mauern des Hauses hinauf und versuchte, ihr Schlafzimmer auszumachen. Kims Wohnung war leicht zu finden, denn alle Fenster standen offen, obwohl die Läden vor den Fenstern bis auf eines angelehnt waren. Die Ausnahme war Jessʹ Zimmer. Hinter ihr fiel die Wasserfontäne plätschernd über die in Stufen angeordneten Brunnenschalen hinab, in denen hier und dort grüne Pflanzen wucherten, bis das Wasser gurgelnd im untersten Steinbecken verschwand. Jess schlenderte zu der Mauer, auf die sie von ihrem Fenster blickte, atmete den süßen Duft der Blumen ein und betrachtete das Beet unter ihrem Fenster. In der sorgsam gerechten Erde war kein Fußabdruck zu sehen. Kein Anzeichen dafür, dass irgendjemand hier gewesen wäre. Sie trat einen Schritt näher, und dann sah sie es. Im Beet, tief im Schatten der Buchsbaumhecke verborgen, lagen ein Wasserschlauch und eine Leiter, unsichtbar für jeden, der nicht so genau hinschaute wie Jess.
»Das Schwein!« Mehrere Sekunden starrte sie die Gegenstände an, dann machte sie kehrt und marschierte zum Ausgang. Vielleicht würden die anderen ihr jetzt glauben! Sie war nur noch wenige Schritte vom Tor entfernt, als sie merkte, dass jemand sie von hinter dem Gitter aus beobachtete. Abrupt blieb sie stehen.
»Daniel?«
Sie konnte sein Gesicht in der dunklen Gasse nicht erkennen, nur die Silhouette und die Tatsache, dass er zu ihr herüberstarrte.
Zwei Hände umfassten die Gitter. »Buonasera signora. Vorrei entrare.« Zu ihrer Erleichterung war die Stimme heiser, alt. Es war nicht Daniel. »Vorrei entrare per visitare il bel giardino.«
»Verschwinden Sie!«, rief Jess. »Das ist ein privater Garten! Privato!« Ihr Herz klopfte beängstigend, als der Mann am Gitter rüttelte. Sie hatte zwar abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte im Schloss, nur wenige Zentimeter unterhalb seiner Hände.
»Verschwinden Sie! Basta!« Er musste ihr in die Gasse gefolgt sein. Jetzt, da ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie ihn auch deutlicher. Sein Gesicht war hager und von längeren Bartstoppeln verunziert, und sein Körpergeruch trieb bis zu ihr herüber. Er lachte heiser auf, dann drehte er sich um, schlurfte ein paar Schritte Richtung Straße und blieb wieder stehen. Jess ging zum Tor und zog hastig den Schlüssel aus dem Schloss, und dabei wurde ihr klar, was er dort tat. Nachdem er sich ausgiebig gegen die Wand erleichtert hatte, lachte er noch einmal heiser auf und ging dann weiter. »Arrivederci signora!«, rief er, als er die Straße erreichte und außer Sichtweite verschwand.
Kim kämpfte in der Küche mit einem Korkenzieher. »Ja, wir bitten seit Ewigkeiten darum, dass ein Tor am Straßenende der Gasse angebracht wird«, sagte sie lachend. »Da hast du Pech gehabt. Aber alle Städte haben neben den schönen eben auch hässliche Ecken!«
Jess nahm die Gläser, die Kim auf den Tisch gestellt hatte. »Wusstest du, dass da unten im Garten eine Leiter liegt?«
Kim zuckte mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, habe ich mich nie sonderlich für den Garten interessiert.«
Jess trug die Gläser ins Wohnzimmer, wo sie sie auf den Couchtisch stellte, dann öffnete sie die Fensterläden und schaute hinaus. »Von hier oben kann man sie nicht sehen, sie ist sehr gut versteckt.«
»Was ist denn daran so interessant?« Als William ins Wohnzimmer trat, gestikulierte Kim mit der Flasche in seine Richtung. »Aperitivo? Und wo ist Steph?«
»Interessant ist das deshalb, weil ich jetzt weiß, wie Daniel bei mir eingestiegen ist. Ich hab’s mir nicht eingebildet. Entweder hat er einen anderen Schlüssel gefunden oder er hat eine Kopie von Kims Schlüssel anfertigen lassen.« Jess drehte sich vom Fenster zu den beiden um.
»Willst du damit sagen, dass er in deinem Zimmer war, seitdem er sich hier verabschiedet hat?« Kim sah sie ungläubig an.
Jess nickte. »Ich bin aufgewacht, weil ich am Fenster ein Geräusch gehört habe, und dann habe ich jemanden gesehen. Das war in der Nacht des Gewitters. Als ich das Licht angemacht habe, war er schon weg, aber es hat heftig geregnet, und auf dem Boden vor dem Fenster war ein nasser Fußabdruck.«
Sie bemerkte den Blick, den William und Kim sich zuwarfen. »Vergesst es!«, fuhr sie empört auf. »Alles nur Einbildung, ich weiß schon.« Stöhnend ließ sie sich aufs Sofa fallen. Kim schenkte Wein in die Gläser und reichte ihr eines. »Vielleicht solltest du nachts das Fenster schließen.«
»Warum fragst du nicht den Hausmeister wegen der Leiter, Kim?«, schlug William vor. Er setzte sich neben Jess. »Gibt es hier so jemanden? Oder den Gärtner. Irgendjemand muss den wunderschönen Garten doch jäten und gießen.«
»Wir haben einen portiere«, sagte Kim langsam. »Wer sich um den Garten kümmert, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aber Jacopo wird’s wissen. Ich rufe ihn an.«
Nach mehreren Minuten kam sie kopfschüttelnd ins Wohnzimmer zurück. »Es geht keiner ran. Er ist sicher in der Bar auf der anderen Straßenseite, da treibt er sich fast den ganzen Tag herum. Sinnlos, ihn jetzt dort anzurufen, wir müssen bis morgen früh warten, dann ist er wieder nüchtern. Aber mir ist etwas anderes eingefallen. Hat jemand daran gedacht, bei Natalie anzurufen und zu fragen, ob Daniel bei ihr ist?«
Beide schauten zu Jess, die mit den Achseln zuckte. »Ich habe ihre Nummer nicht.«
»Und Daniels?«
Jess nickte.
»Ich rufe ihn an.« William stellte sein Glas ab. »Ich habe seine Nummer gespeichert.« Er stand auf und holte sein Handy aus der Tasche.
Daniel antwortete beim dritten Klingeln. »Daniel? Ich will nur wissen, ob du gut wieder zu Hause gelandet bist.« Die beiden Frauen schauten fragend zu William, der zur Antwort die Augenbrauen hob. Er lachte leise. »So ungefähr, ja.« Er ging zum Fenster und schaute in den Garten hinaus. »Shrewsbury? Tja, das klingt wie eigentlich überall, aber ich glaube dir.« Wieder eine kurze Pause. »Okay, ja. Gut.« Wieder Stille. William ging zum Tisch und griff nach seinem Glas. Jess merkte, dass sie ihre Hände zur Faust geballt hatte. »Ach ja? Gut, kein Problem«, sagte William schließlich. »Grüß sie schön von mir, ja? Ciao!«
Er klappte das Handy zu und steckte es kopfschüttelnd wieder in die Hüfttasche. »Er sagt, er sei mit Nat beim Einkaufen in Shrewsbury. Ihm war gleich klar, dass wir ihn überprüfen wollen, und er hat vorgeschlagen, dass ich kurz mit Nat rede, aber dann hat er gemerkt, dass sie und die Kids in einem Laden verschwunden sind und er sie nirgends sehen konnte.«
»Das heißt, womöglich waren sie überhaupt nicht in der Nähe«, sagte Jess leise.
»Denkbar wäre es.«
»Und er könnte überall gewesen sein.«
William nickte. »Im Hintergrund habe ich nur Verkehrslärm gehört.«
»Und können wir überprüfen, wo er das Gespräch angenommen hat?«
»Die Polizei könnte das wahrscheinlich, aber ich nicht, nein.«
»Das heißt, er könnte noch in Rom sein?«
Eine ganze Weile herrschte Stille. »Wahrscheinlich schon.« William nickte wieder.
Jess machte eine hilflose Geste. »Also, nichts bewiesen.« William schüttelte den Kopf. »Es sei denn, wir finden Nats Nummer heraus und rufen bei ihr an. Hör mal, Jess, mir brauchst du nichts mehr zu beweisen.« Er warf einen Blick zu Kim. »Nehmen wir an, dass du Recht hast. Er oder jemand in seinem Auftrag verfolgt dich. Also geben wir ihm einfach keine Gelegenheit, in deine Nähe zu kommen. Du gehst nicht mehr allein auf die Straße, und du schließt immer die Fenster. Oder noch besser - warum tauschen du und ich nicht die Zimmer? Meins geht zur Straße raus, das ist zwar nicht so ruhig wie deins, aber da kann dir nichts passieren. Die vordere Fassade kann niemand hinaufsteigen, und wenn er nochmal in dein jetziges Zimmer einsteigt, kriegt er einen grausamen Schock, wenn er ans Bett schleicht, um dir einen Schmatzer auf den Scheitel zu drücken, und mich da liegen sieht.«
Jess grinste. »Das möchte ich sehen.«
»Du darfst natürlich auch gern mit mir im Zimmer bleiben.« Er hob die Augenbrauen. »Das wäre sogar noch besser.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre etwas rückschrittlich, fürchte ich. Tut mir leid.«
»Das Angebot steht.«
Kim räusperte sich. »Soll ich euch zwei für dieses Gespräch allein lassen?«
»Nein!«, sagten beide unisono und lachten.
Kim warf einen Blick zu William. »Ich will’s ja nur wissen«, meinte sie.
Als Steph ein paar Minuten später heimkam, saßen sie schweigend da. Kim spielte mit ihrem Tarotdeck. »Endlich!« Sie schob die Karten über den Tisch zu ihr. »Setz dich und trink einen Schluck. Wir müssen das Orakel befragen.«
»Kim!« Steph schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe dir gesagt, das mache ich nicht.«
»Nicht einmal für deine Schwester?«
»Komm schon, Steph«, bat William. »Ich habe dich nie mit einer Karte in der Hand gesehen.«
»Und das wirst du auch jetzt nicht.« Steph nahm das Glas Wein, das Kim ihr reichte, und schob die Karten fort.
»Jess braucht Rat«, sagte er leise. »Wegen Daniel.«
»Schluss mit Daniel!« Steph ließ sich vom Sessel auf den Boden gleiten und saß dann mit verschränkten Beinen an das Polster gelehnt da. Sie trug eine Caprihose und neue Sandalen, die sie gerade in einer Boutique in einer Seitenstraße des Campo de’ Fiori gekauft hatte. »Je mehr wir an ihn denken, desto mehr ruiniert er Jess den Urlaub, ob er nun hier ist oder nicht.« Langsam griff sie nach den Karten. »Einmal abheben, okay?« Fast geistesabwesend mischte sie das Deck und hob ab, dann trank sie einen Schluck Wein. William beugte sich vor, nahm die oberste Karte und warf sie mit dem Gesicht nach oben auf den Tisch.
Der König der Kelche.
 
Daniel schob ein weiteres Glas Grappa über den Tisch. Zwei leere standen bereits vor dem portiere des Palazzo, dessen Augen schon verdächtig glänzten. »Also, hast du die Schlüssel? Le chiavi?«
»Sì, sì.« Jacopo nickte und streckte die Hand nach dem Grappa aus.
»Zuerst die Schlüssel.« Daniel zog das Glas zurück, so dass es gerade außer Jacopos Reichweite war.
Mit einem keuchenden Seufzen wühlte Jacopo in seiner Hosentasche und zog einen Bund nagelneuer, metallisch glänzender Schlüssel hervor.
Lächelnd schob Daniel das Glas zu ihm.
»Soldi!« Plötzlich blickten die wässrigen Augen sehr klar, Jacopo schnalzte unter Daniels Nase laut mit den Fingern.
Der holte aus seiner Tasche einen Umschlag, den er über den Tisch schob, wobei er Alkohollachen verwischte. »Schön, mit dir ins Geschäft zu kommen, Jacopo.« Daniel stand auf. »Und vergiss nicht, silenzio. Capisce?«
Jacopo nickte. Er öffnete den Umschlag und blätterte den Stoß Banknoten durch, dann hob er im wortlosen Trinkspruch das Glas, aber Daniel war bereits gegangen. In der Tür blieb er kurz stehen und schaute zur anderen Straßenseite hinüber. Von hier aus konnte er die Ecke des Palazzo sehen, dessen klassische Konturen sich streng von den verspielteren Nachbargebäuden abhoben. Mit einem zufriedenen Nicken ließ er die Schlüssel in seiner Hosentasche klimpern.
 
»Und? Keine unwillkommenen nächtlichen Besucher?« Mit diesen Worten begrüßte Kim am nächsten Morgen William, als er, angelockt vom Duft des Kaffees, in die Küche kam.
»Gar nichts, nein.« William grinste. »Die arme Jess. Deine Gästezimmer sind ja alle sehr schön, aber in diesem Fall habe ich den besseren Tausch gemacht. Der Blick auf den Garten ist großartig, und das Zimmer ist viel ruhiger als das zur Straße.«
»Ich mache englischen Toast«, sagte Kim und griff nach einem Laib Kastenweißbrot. »Magst du Jess und Steph holen?«
Das war gar nicht nötig. Wenige Sekunden später erschien Jess in der Tür. Sie trug einen Morgenmantel, ihr Haar war durcheinander. »Er ist nachts hier gewesen!«, sagte sie heiser. »Schaut euch das an.« Sie warf ihren Skizzenblock auf den Tisch. Mit einem Blick auf ihr Gesicht griff William danach, öffnete ihn und blätterte die Seiten durch. Jede war verschmiert.
»Guten Morgen allerseits.« Steph kam herein und schaute William über die Schulter. »Was ist passiert?«, fragte sie aufgeschreckt.
William legte den Block auf den Tisch und blätterte weiter, damit alle Jess’ zarte Feder- und Tuschzeichnungen, Bleistiftskizzen und Aquarelle sehen konnten. Jedes einzelne Blatt war vollgekritzelt worden.
»Jess.« Steph legte ihrer Schwester einen Arm um die Schultern. »Ich verstehe das nicht. Wie kann jemand so etwas tun?«
William und Kim schauten auf das letzte Bild. Es zeigte eine junge Frau in einem langen Gewand mit Umhang, ihr Haar war mit blassrosa Schleifen zusammengebunden. Sie hatte schräg stehende, traurige Augen, ihr Haar hatte die Farbe von poliertem Gagat. Der Strich quer über die ganze Seite war so heftig, dass er das Papier aufgeschlitzt hatte.
»Das kann nicht Daniel gewesen sein«, sagte Kim langsam. »Ich habe gestern Abend die Wohnungstür zweimal abgeschlossen.«
»Dann muss er durchs Fenster gekommen sein.« Jess schaute zu William. »Er hat gesehen, dass ich nicht da war, und hat die ganze Wohnung durchsucht, bis er mich gefunden hat.«
William schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Faden quer vors Fenster gespannt. Der war heute Morgen noch da. Und die Tür war noch von innen verschlossen.«
»Aber … glaubt ihr denn nicht, dass er es war?« Jess schaute die anderen der Reihe nach an.
»Ist es möglich, dass du es im Schlaf gemacht hast, Jess?«, fragte Kim sanft. »Du bist verständlicherweise sehr angespannt.«
»Das ist nicht dein Ernst! Das würde ich nie im Leben!« Panisch sah Jess wieder in die Runde, dann wurde ihr Blick härter. »Ich konnte meine Tür nicht verschließen. Es gibt keinen Schlüssel.«
»Das stimmt«, sagte William.
»Also könnte jeder es getan haben.«
»Heißt das, dass du uns verdächtigst?« Kims Lippen wurden schmal.
»Nein, natürlich nicht. Aber ich war’s auch nicht.«
»Komm, du Arme, setz dich, du zitterst ja.« Steph führte ihre Schwester zu einem Stuhl. »Leute, Jess braucht einen Kaffee, keine Vorwürfe. Ihre wunderschönen Zeichnungen sind ruiniert.«
»Das war nicht Daniel, das war Eigon.« Auch Jessʹ Stimme zitterte. »Sie hat das schon einmal gemacht. In Ty Bran.«
Alle starrten sie wortlos an.
»Daniel war dabei, aber Rhodri auch. Sie hat meine Zeichnungen ruiniert und ein paar Gläser und Weinflaschen zerbrochen. Und als ich dann am nächsten Tag alles aufräumen wollte«, sie machte eine Pause und schüttelte hilflos den Kopf, »war alles wieder wie vorher. Kein Schaden, nichts.«
Steph zog einen Stuhl zu ihr. »Und du sagst, Daniel hat das gesehen?«
Jess nickte. »Und Rhodri auch. Das habe ich mir nicht eingebildet.«
William stieß einen Pfiff aus, zog den Skizzenblock zu sich und blätterte die Seiten noch einmal durch. »Also, das wird sich nicht von Zauberhand richten.«
»Ich ziehe mich an.« Jess schob den Stuhl zurück und stand auf. Sie nahm William den Block aus der Hand, griff mit der anderen nach ihrem Becher und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.
Schweigend sahen sie ihr nach. »Gespenst oder Daniel?«, fragte Kim schließlich.
»Sie könnte es selbst gemacht haben«, meinte William leise. »Ich glaube nicht, dass sie lügt. Wenn sie es wirklich getan hat, dann unbewusst. Du hast Recht, Kim, sie könnte es im Schlaf getan haben.« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Daniel macht sie völlig verrückt. Wenn sie ihn wegen Vergewaltigung anzeigt, kann er seine Karriere abhaken«, sagte er langsam. »Also versucht er, ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören. Sein Wort steht gegen ihres. Aber wenn auch nur der leiseste Zweifel besteht oder die Sache vor Gericht kommt, oder wenn in der Schule eine Anhörung stattfindet, dann ist seine Karriere vorbei, gleichgültig, was dabei herauskommt. Ihr wisst ja, wie das in solchen Fällen geht. Wenn er den Ehrgeiz hat, eines Tages selbst Rektor zu werden, könnte er das vergessen. Wenn Jess aber völlig diskreditiert wäre und niemand ihr ein Wort glaubt, würde das seinen Hals retten.«
»Du glaubst also, dass er vergangene Nacht reingekommen sein könnte«, sagte Steph.
»Wenn, dann nicht durch mein Zimmer.« William warf einen Blick zu ihr. »Wäre es denkbar, dass er über die Leiter in dein Zimmer gekommen ist? Das liegt nebenan. Könnte er durch dein Zimmer geschlichen sein, ohne dich zu wecken, und hat nach Jess gesucht? Oder durch dein Zimmer, Kim?«
»Woher sollte er wissen, dass sie nicht mehr im selben Zimmer ist?«, fragte Steph.
»Die Tür war verschlossen. Vielleicht hat er sich dann in der Wohnung umgeguckt, um zu sehen, was er noch anstellen könnte, und hat sie durch Zufall gefunden.«
Sie schauten sich an. Kim schauderte. »Die Vorstellung gefällt mir ganz und gar nicht.«
Steph lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schaute William nachdenklich an. »Du willst ihr glauben, oder?«
Er nickte. »Ich habe immer schon gefunden, dass Daniel verschlagen ist. Und ich kenne … ich kannte Jess sehr gut. Sie ist nicht neurotisch, und sie lügt auch nicht.«
In der Tiefe der Wohnung fiel eine Tür ins Schloss. Kim verzog das Gesicht. »Das war die Wohnungstür.«
»Sie ist doch nicht allein rausgegangen!« William sprang auf. Die beiden Frauen hörten seine Schritte im Gang. Gleich darauf kam er wieder zurück. »Doch, sie ist weg.«
»Und was, wenn er sie unten abfängt?« Steph sah ihn besorgt an. »William, lauf ihr nach!«
Dieses Mal dauerte es volle zehn Minuten, bis er wieder kam. »Nichts von ihr zu sehen. Sie kann in jede Richtung gegangen sein. Es war sinnlos, zu versuchen, ihr zu folgen.« Bekümmert ließ er sich in den Stuhl fallen. »Ich habe ihr doch gesagt, dass sie nicht allein rausgehen soll. Ich habe ihr doch gesagt, dass ich sie begleite.«
 
Jess überquerte den Corso Vittorio Emanuele und schlug nach einem kurzen Blick über die Schulter den Weg zum Pantheon ein. Von dort ging sie Richtung Via del Corso und bog in die Via dei Condotti ein, auf die Piazza di Spagna zu. Sie glaubte nicht, dass Daniel ihr folgte. Sie hatte jede Straße mehrfach überquert und war immer wieder in der Menge untergetaucht. Als sie die Spanische Treppe hinaufstieg, widerstand sie dem Drang, sich umzudrehen und den Platz unter ihr abzusuchen. Wenn Daniel dort war, würde er sie hier oben allzu leicht erkennen. Vor dem Doppelturm der Trinità dei Monti bog sie links ab. Sie wollte noch einmal zur Villa Borghese. In dieser Straße war es ruhiger, und sie war gesäumt von schattenspendenden Bäumen. Bougainvilleen wucherten über die Mauern, Oleander in bunten Farben brachten dunkle Ecken zum Leuchten. In der Luft hingen der Duft der Blüten und der würzige Geruch der großen Schirmpinien. Schließlich ging Jess an der Villa Medici vorbei und überquerte die Brücke in die Gärten der Villa Borghese.
Sie konnte die Stelle, an der sie Eigon das letzte Mal zu sehen geglaubt hatte, nicht wiederfinden. Sie schlenderte in den Schatten der Bäume und sah sich um, verbot sich aber, sich umzudrehen. Daniel konnte nicht wissen, wo sie war. Dieses Mal konnte er ihr unmöglich gefolgt sein, dafür war sie viel zu vorsichtig gewesen. Endlich einmal war sie allein und konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Es war dumm von ihr gewesen, den anderen ihren Skizzenblock zu zeigen. Wenn sie auch nur einen Moment nachgedacht hätte, wäre ihr gleich klargeworden, dass es Eigon gewesen war, wie damals in Ty Bran. Daniel konnte sich unmöglich Zugang zur Wohnung verschafft haben, und jetzt hatte sie sich vor den anderen lächerlich gemacht.
Unter einer alten Pinie blieb sie stehen und sah sich wieder um. Es war noch früh am Tag, sie hatte den Park fast für sich. Zu dieser Zeit waren noch keine Gruppen ausländischer Schüler unterwegs, und für Führungen war es auch noch zu früh. Nur ein oder zwei Reiter, die ihre Pferde die schattigen Wege entlangführten.
Jess starrte in die Ferne zwischen die Bäume und versuchte, den Ort zu finden, an dem sie das merkwürdige Gefühl gehabt hatte, in der Nähe von Eigons Zuhause zu sein. Diesige Hitze hing über dem Park, allzu weit konnte ihr Blick nicht schweifen. Die Luft war staubig und erfüllt von einem seltsamen Gefühl der Erwartung. Langsam drehte Jess sich im Kreis, versuchte die kleine Verschiebung in der Wahrnehmung der Realität zu finden, wo sie durch den unsichtbaren Vorhang schlüpfen konnte, der die Gegenwart von der Vergangenheit trennte. Zaghaft streckte sie eine Hand aus. »Eigon?«, flüsterte sie. »Bist du da?«
 
Der Raum war bereits voller Menschen, als Pomponia Graecina und Melinus ankamen. Rund um sie umarmten und küssten sich die Leute zur Begrüßung, alle schienen einander zu kennen. Es war nicht schwer gewesen, das Haus zu finden, sie waren einfach dem kleinen Menschenstrom gefolgt.
»Willkommen, Fremde.« Ein Mann trat vor, um sie zu begrüßen, und nahm sie genau in Augenschein, doch ohne Feindseligkeit. »Ihr seid noch nicht bei uns gewesen, nicht wahr?« Unvermittelt lächelte er.
Pomponia schüttelte den Kopf. »Dürfen wir dabei sein?«
»Aber natürlich. Jeder ist willkommen. Petrus ist hier. Er wird bald zu uns sprechen.« Der Mann war etwa vierzig Jahre alt und trug die Toga eines wohlhabenden Bürgers, obwohl die anderen Besucher unterschiedlichster Herkunft waren. Bei einigen handelte es sich unverkennbar um Sklaven, andere waren Handwerker, etwa die Hälfte waren Frauen. Pomponia nahm neben einer Frau Platz, die in einen warmen Umhang gehüllt war. Sie rutschte ein Stück beiseite und begrüßte sie mit einem matten Lächeln.
»Ich bin hier, um geheilt zu werden.« Keuchend holte sie Luft und schaute über Pomponia hinweg zu Melinus, der sich neben sie gesetzt hatte. Seine Miene war ausdruckslos. »Seid Ihr Christen?«
Pomponia Graecina zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. Sie hatte den Eindruck, dass man an diesem Ort aufrichtig sein sollte. »Ich habe ihn noch nie predigen hören. Aber wir sind hier in der Hoffnung, Heilung für einen guten Freund zu bekommen.«
»Ist er bei Euch?« Die Frau warf wieder einen Blick zu Melinus.
Pomponia schüttelte den Kopf. »Er ist zurzeit zu schwach, um zu gehen.«
Ihre Nachbarin nickte. »Das war ich auch. Als ich das letzte Mal hier war, mussten meine Freunde mich hertragen. Ich möchte mich taufen lassen.«
»Was ist das?« Pomponia runzelte fragend die Stirn. Ein erwartungsvolles Raunen kündigte das Nahen eines älteren Mannes an, der sich einen Weg durch die Menge nach vorn bahnte. »Ist er das?«
Die Frau nickte, ihr Lächeln wurde strahlend. »Wartet, bis Ihr seine Botschaft hört. Er ist erstaunlich, und der Herr, dem er dient, ist noch erstaunlicher.«
Die Dunkelheit war schon lange hereingebrochen, als sich die Menge schließlich auflöste und Pomponia Graecina und Melinus zum Haus auf dem Palatin zurückkehrten. Melinus hatte dort nach wie vor ein Zimmer, obwohl er im Grunde in der Villa lebte. Die Sklaven trugen Wein und Speisen auf und ließen sie dann am Brunnen im Innenhof allein sitzen.
»Und? Was meinst du?« Pomponia sah fragend zu dem alten Druiden.
»Ein erstaunlicher Mann. Großes Charisma. Eine packende Geschichte, und überzeugend erzählt.« Er nickte.
»Bist du überzeugt?«
»Dass der Sohn Gottes als Mensch geboren und als Mensch gestorben ist und dann selbst als Gott auferstand? Die Geschichte habe ich schon häufig gehört. Unsere Götter kamen oft als Menschen auf die Welt. Wie auch die der Römer und der Griechen.« Er wollte sich nicht festlegen.
Pomponia zog die Stirn kraus. »Der Unterschied ist, dass Petrus sagt, es gebe nur den einen Gott. Die anderen seien nicht echt gewesen.«
Melinus schüttelte den Kopf. »Davon lasse ich mich nicht so leicht überzeugen.«
»Und das Heilen?«
»Oh, Petrus ist ein mächtiger Heiler, das möchte ich nicht bezweifeln. Und sein Jesus Christus ist ein mächtiger Gott. Das würde ich ebenso wenig bezweifeln.« Nachdenklich griff er nach seinem Weinkelch. »Die Gallier kennen einen Gott, der Esus heißt.«
»Ist das derselbe Gott?«
Melinus schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Dieser Jesus stammt aus Judäa. Sein Land ist das der heißen Wüste, sein Volk sind die Juden. Ich bezweifle, dass er unsere Berge und Flüsse und Wälder zu Hause segnen würde.«
»Aber er ist ein universaler Gott. Nach allem, was Petrus sagt, ist er ebenso der Gott deiner wie meiner Heimat.«
»Und als solchen ehre ich ihn mit unseren eigenen Göttern. Ich möchte diesen Petrus noch einmal hören. Er ist ein erstaunlicher Mann. Reizbar«, Melinus lachte, »aber bezwingend. Es ist unverkennbar, dass er Dummköpfe nicht leiden kann, und doch verströmt er sehr viel Wärme und Mitgefühl. Mein Nachbar erzählte mir, dass er ursprünglich ein einfacher Fischer war, der in seiner Heimat mit seinen Brüdern für seinen Vater arbeitete. Andererseits ist er eindeutig gebildet. Er spricht klug und mit Autorität, und ich muss sagen, auch mit einer Überzeugung, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gehört habe.« Melinus nickte wieder nachdenklich. »Genau diese Überzeugung hat ihn in fremde Länder geführt, um das Wort Jesu zu verbreiten.«
In der Nacht beteten beide zum Herren Jesus, Pomponia inbrünstig, Melinus mit einer gewissen Zurückhaltung. Beide erwähnten in ihren Gebeten Caradoc.
Als sie am nächsten Morgen in die Villa kamen, war der Kranke aufgestanden und schlenderte mit ungewohnter Tatkraft durch den Garten. Pomponia Graecina und Melinus tauschten einen Blick, sagten aber nichts. Beide waren von Natur aus skeptisch und warteten ab, wie viel der neue Gott tatsächlich bewirken würde.
 
»Eigon?« Abrupt nahm Jess ihre Umgebung wieder deutlich wahr. »Was ist passiert? Wo warst du?«
Aber die Vision war fort. Jess saß allein im tiefen Schatten kurz hinter dem Viale del Muro. Sie verließ den Park über die Brücke, die die Schnellstraße rund um die alte Stadtmauer überspannte, ging durch den Pincio-Park an der berühmten Wasseruhr vorbei auf den Belvedere zu, von dessen Höhe sich ein Panoramablick über Rom zum Petersdom bot. Jess erstarrte vor Schreck. Das war doch genau der Blick von der Mauer der Villa! Eigons Zuhause war irgendwo hier gewesen, auf einer Erhebung über der Stadt mit Blick nach Westen. Der Pincio. Jetzt fiel ihr auch der Name wieder ein. Eigon hatte ihn selbst genannt. Zu Eigons Zeiten würde es völlig anders ausgesehen haben, doch die Konturen würden dieselben gewesen sein, und wo jetzt Kirchen und Kuppeln zu sehen waren, würden Marmortempel gestanden haben. Lange Zeit verharrte Jess an dieser Stelle und schaute über die Piazza del Popolo hinweg in die Ferne, versuchte, den Wald von Antennen auszublenden, der auf jedem Hausdach wucherte, versuchte, die dazwischen liegenden zweitausend Jahre auszulöschen. Schließlich gab sie auf und suchte sich unter den Platanen und Steineichen, Zedern und Palmen eine Bank, auf der sie sich im Schatten ausruhen konnte. Es war sehr friedlich hier, trotz des unablässigen Dröhnens des Verkehrs in der Ferne. Sie holte ihren Skizzenblock heraus und schlug ihn auf. Wenn sie gehofft hatte, dass die Zeichnungen und Aquarelle wie durch Zauberhand wiederhergestellt sein würden, so wurde sie enttäuscht. Traurig betrachtete sie das Porträt von Eigon, das so wütend durchgestrichen war. Was wollte sie ihr damit sagen?
Der Nachmittag war sehr heiß.
Jess, wo bist du?
Die Stimme kam aus großer Ferne. Eine Männerstimme. Daniel. Erschreckt schaute Jess sich um. Er konnte unmöglich hier sein.
Du weißt doch, dass ich dich finde.
Der spöttische Ton trieb auf der warmen Brise zu ihr. Langsam stand Jess auf, panisch suchte sie die Schatten ab, die nach dem grellen Sonnenlicht pechschwarz wirkten.
»Daniel?« Ihre eigene Stimme klang im Vergleich dazu tonlos, wurde von der schwülen Luft absorbiert und verklang ohne Widerhall.
Jess! Er war noch weiter entfernt.
»Er ist nicht hier«, flüsterte sie sich selbst zu. »Ich brauche ihn nur zu ignorieren. Er denkt an mich aus der Ferne. Er spielt mit mir. Greift in meinen Kopf ein! Das beweist, dass er nicht weiß, wo ich bin.«
Sie ließ sich unter einem Baum auf das vertrocknete Gras sinken und lehnte sich an den Stamm, die Arme um die Beine geschlungen. »Lass mich in Ruhe, du Schuft!« Sie murmelte die Worte fast lautlos vor sich hin und schloss die Augen. »Eigon? Was ist passiert? Wo bist du?«
Keine Antwort.
Seufzend machte sie die Augen wieder auf, verlagerte ihr Gewicht, so dass ihr Rücken fester gegen den Baumstamm drückte, und spürte etwas in ihrer Hosentasche. Sie holte es heraus. Carmellas Visitenkarte. Die hatte sie ganz vergessen.
 
Carmella wohnte in einem Dachgeschoss-Appartement in einer kleinen Straße ganz in der Nähe der Piazza di Spagna. Jess schaute in ihren Führer, dann lief sie die lange, in der Hitze glühende Spanische Treppe hinunter und vorbei an der Fontana della Barcaccia Richtung Via delle Carrozze. Bars und Cafés passierend, bog sie in den Schatten einer engen Straße, schlängelte sich an Motorrollern und geparkten Autos vorbei und fand sich in der Straße wieder, in der Carmella wohnte. Bald hatte sie zwischen den ganzen verblassten ocker- und terracottafarbenen Gebäuden auch das richtige Haus entdeckt. Über die Gegensprechanlage an einer uralten Tür gelangte Jess ins Haus, um am Ende von vier ermüdenden Etagen von Carmella empfangen zu werden. Sie bat sie in eine helle, nicht sehr hohe Wohnung mit unbehandelten Holzdielen und geschlossenen Fenstern, unter denen die Straße verlief.
Carmellas Wohnung war eklektisch, aber behaglich eingerichtet, mit vielen Fransen, Perlen und bunten Farben, die Wände waren mit Gemälden praktisch tapeziert, die ihr zumeist befreundete Künstler aus dem Viertel geschenkt hatten, einige gut, einige ausgesprochen schlecht, wie Carmella freimütig zugab. Sie führte Jess an exotischen Farbtupfern vorbei zu einer Tür, die auf eine kleine Dachterrasse führte, und dort erwarteten sie eine weitere Farbenpracht aus Blumen und Pflanzen in bunten Töpfen und ein Blick über die Dächer zu den Türmen der Trinità dei Monti und weiter zum Pincio.
»Das ist ja unglaublich schön hier!«, rief Jess entzückt, während ihre Gastgeberin sie mit sanftem Druck nötigte, sich auf das Kissen eines schmiedeeisernen Stuhls im Schatten von Farnen sinken zu lassen. Irgendwo in der Nähe ließ in der kaum wahrnehmbaren Brise ein Windspiel eine ätherische Abfolge von Tönen erklingen.
Carmella lächelte. »Es ist besser, dass du allein gekommen bist. Es gibt Dinge, über die wir uns unter vier Augen unterhalten müssen, nicht wahr?« Sie brachte zwei Gläser mit Weißwein und ein Schüsselchen mit Oliven und stellte alles auf den Glastisch. Dann ging sie ins Wohnzimmer und kehrte mit einer Webtasche zurück, die sie zwischen die Stühle auf den Boden legte. »Meine Ausrüstung für chiaroveggente. Kim nennt es Hellsehen. Ihr habt im Englischen kein Wort dafür, was ich merkwürdig finde.«
»Wahrsagerei, in die Zukunft blicken, Weissagung, zweites Gesicht?«, schlug Jess vor. »Ich glaube, im Englischen gibt es viele Wörter dafür, wie für alles.«
Carmella zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer. Zu meiner Ausrüstung gehören meine Karten, meine sfera di cristallo, das I Ging - eben alles, was ich für die predizione del futuro brauche.«
Jess lächelte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich sicher. Sie lehnte sich entspannt in ihren Stuhl zurück und war froh, sich und ihre Zukunft in Carmellas Hände legen zu können.
»Vor den anderen könnte ich das nie tun. Sie würden sich über mich lustig machen. Für sie ist das ein netter Zeitvertreib.« Carmella beugte sich vor und streckte die Hände nach Jessʹ Händen aus. »Zeig mir deine palmi. Wir nennen das la chiromanzia
»Chiromantie. Handlesekunst.« Jess grinste.
Carmella nahm ihre Hände und betrachtete sie lange Zeit, fuhr mit dem kleinen Finger ihrer Rechten sacht die Linien nach. Jess wartete schweigend. Plötzlich war sie nervös.
Schließlich ließ Carmella ihre Hände sinken und lehnte sich lächelnd zurück. »Deine Hände erzählen mir von dir. Für deine Freundin Eigon brauche ich la sfera.« Sie holte aus ihrer Tasche einen in schwarzen Samt gehüllten, offenbar schwereren Gegenstand, den sie ehrfürchtig auswickelte - eine Kristallkugel. Sie hatte einen Durchmesser von etwa zwölf Zentimetern, und als Carmella sie auf einen Polsterring vor sich auf den Tisch stellte, schillerten ungewöhnliche Einschlüsse und Regenbogen darin.
Jess sah sie gebannt an. »Sie bewegt sich ja, als wäre sie lebendig.«
»Das ist sie auch. Sie ist Hunderte von Jahren alt und seit Generationen in meiner Familie. Und meine Großmutter hat sie mir vererbt.« Mit einem Lächeln schaute Carmella auf. »Bitte erzähl Kim nichts davon. Sie würde mich damit nur aufziehen. Wenn sie zu Besuch kommt, verschwindet diese Tasche« - sie deutete auf den Beutel zu ihren Füßen - »hinters Sofa. Sie weiß nur von den Karten.«
Bedächtig bewegte sie ihre Hände, leicht gewölbt zum Schutz vor dem Sonnenlicht, über die Oberfläche der Kugel. »Normalerweise lese ich die Kugel bei Kerzenschein im Dunkeln, aber heute brauchen wir die Sonne.«
Jess saß am Rand ihres Stuhls und verfolgte gebannt, was ihre Gastgeberin tat. »Warum?«
»Ich will Licht auf die Vergangenheit werfen, nicht die Schatten ergründen. Deine Eigon will dir ihre Geschichte erzählen. Wir brauchen ihr nicht nachzuspionieren.«
»Und Daniel?« Die Frage stellte Jess im Flüsterton.
»Daniel ist in deinen Karten und auch in deiner Handfläche. Und er ist in deinem Kopf.« Unvermittelt schaute Carmella auf. »Das stimmt doch, oder?«
Jess schaute sie erstaunt an. Sie hatte ihr nichts von der Stimme im Park erzählt. »Du weißt, dass ich ihn gehört habe?«
»Du bist ein Medium. Es wäre schwer, ihn nicht zu hören. Seine Stimme füllt den Raum um dich.« Carmella schauderte. »Also. Als Erstes bringe ich dir bei, wie du ihn auslöschst. Puff! Einfach so.« Sie schnalzte mit den Fingern. »Er hat große Angst, und ein ängstliches Tier ist immer gefährlich, Jess. Du hast die Macht, sein Leben zu zerstören, deshalb reagiert er nicht rational. Er ist in Panik.«
Die beiden Weingläser standen unberührt auf dem Tisch, in der Nachmittagshitze lief Kondenswasser an ihrem Stiel herunter und bildete auf dem Tisch eine Lache. Eine Wespe flog auf die Oliven zu, schwebte einen Moment darüber und flog dann weiter.
Jess schauderte.
»Eigon ist hier. Ihr habt beide Angst. Ihr lauft beide vor einem Mann davon«, sagte Carmella leise. »Hör zuerst ihr zu. Lass dir ihre Geschichte erzählen. Dann machen wir weiter.«
Die Tochter des Königs
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