Kapitel 19
Pomponia Graecina ließ die Mädchen in ihrer
Sänfte abholen. »Da kann dir nichts passieren, Eigon.« Sie hatte
die Einladung mit einem Lächeln ausgesprochen. »Niemand wird
wissen, dass du darin sitzt. Aber deiner Mutter erzählen wir nichts
davon. Sie hat schon genug Sorgen.«
Caradoc hütete das Bett, ihm fehlte die Kraft,
aufzustehen. Immer wieder wurde sein Körper von Krämpfen
geschüttelt, die ihm fast das Bewusstsein raubten, und er war bis
zur Unkenntlichkeit abgemagert.
»Und Aelius erzähl auch nichts davon«, fügte
Pomponia Graecina hinzu. »Weihe einige der Bediensteten in deinen
Plan ein, damit sie dir helfen.« Sie lachte. Beim Gedanken an ihr
Vorhaben strahlte ihr sonst so strenges Gesicht.
Julia und Eigon bestiegen die Sänfte, den Kopf
unter ihrer Stola verborgen, und schlossen die Vorhänge. Das
Beförderungsmittel wurde von insgesamt zwölf Sklaven getragen,
sechs vorne und sechs hinten, und bewegte sich rasch und ohne
Erschütterungen den staubigen Weg hinunter zur Straße, die zur Via
Flaminia führte, über die sie in die Stadt gelangen würden.
»Was, meinst du, steht hinter der Einladung?« Julia
nahm die Stola vom Kopf und richtete sich die kunstvoll
festgesteckten Locken.
Eigon zuckte ausweichend mit den Schultern. Melinus
hatte Andeutungen gemacht, ihr aber Stillschweigen auferlegt. Damit
Julia nichts davon mitbekam, sollte sie zu einem aufregenden
Einkaufsbummel entführt werden, der ihre ganze Aufmerksamkeit in
Anspruch nahm.
Draußen war es heiß, kein Lüftchen regte sich, die
großen Pinien, die die Straße säumten, waren das einzige Grün in
der ausgedorrten Landschaft. Alle Leute, die unterwegs waren, ob
nun zu Fuß oder zu Pferd, schleppten sich nur mühsam voran.
Der Überfall kam aus heiterem Himmel. Als die
Sklaven donnerndes Hufgetrappel hörten, wichen sie zur Seite, damit
die Soldaten sie passieren konnten. Doch diese umzingelten die
Sänfte und zwangen die Träger, stehen zu bleiben. Die Truppen
trugen die scharlachrote Uniform der Prätorianer.
»Halt im Namen des Kaisers!« Die Vorhänge wurden
von einer Schwertspitze beiseitegeschoben, während die Sklaven die
Sänfte absetzten und zurücktraten. Eigon und Julia drückten sich
verängstigt aneinander, als einer der Männer absaß. »Raus!« Er
verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten. Die beiden Mädchen
stiegen aus und starrten ihn verschreckt an.
»Was soll das bedeuten?« Eigon fand ihre Stimme als
Erste wieder. »Wie könnt Ihr es wagen!«
Der Offizier musterte zuerst sie und dann Julia von
Kopf bis Fuß, als wüsste er nicht, an welche der jungen Damen er
seine Worte richten sollte. »Und wie ich es wage, Schätzchen, glaub
mir! Welche von euch ist Julia Pomponia Graecina?«
Julia fuhr zusammen. »Weshalb wollt Ihr das
wissen?«
»Antworte!« Der Tonfall des Mannes war
barsch.
»Das ist doch offensichtlich, Marius!«, warf einer
der anderen Soldaten ein. »Schau dir doch ihre Hautfarbe an.
Das ist die, die wir wollen.« Er deutete mit dem Kopf auf
Eigon.
Eigon straffte die Schultern. »Das ist eine
Ungeheuerlichkeit!« Sie tat ihr Bestes, die Fassung zu
wahren.
»Du.« Der erste Mann deutete auf Julia. »Ab in die
Sänfte mit dir.«
Julia starrte ihn empört an. »Ganz sicher nicht.«
Sie nahm allen Mut zusammen. »Untersteht Euch! Wisst Ihr, wer mein
Onkel ist? Dafür werdet Ihr büßen!«
»Dir wird nichts passieren«, warf der Zweite ein.
»Bitte steig wieder in die Sänfte.«
»Eigon, du zuerst!« Julias Stimme zitterte.
Das ließ Eigon sich nicht zweimal sagen. Hastig
kletterte sie in die Sänfte, gefolgt von Julia. Keiner der beiden
Männer hatte Anstalten gemacht, sie daran zu hindern. Marius
seufzte. »Na gut, wenn ihr beide mitkommen wollt, das lässt sich
sicher einrichten. Ihr«, sagte er dann an die Sklaven gerichtet.
»Hebt sie auf und folgt uns.« Die vier bewaffneten Wachen hatten an
den Ecken der Sänfte Aufstellung genommen.
»Nein!« Julias Protest war kaum zu hören.
»Herrin, da kommen Leute«, flüsterte Marcello, der
dienstälteste Sklave. »Sie werden uns helfen.« Er warf einen Blick
zu einem der Sänftenträger, die vorne standen, und nickte leicht
mit dem Kopf. Eine Staubwolke, die in der Ferne aufstieg, kündete
einen Reitertrupp an, der sich aus der Stadt näherte.
»Bewegt euch!« Marius’ Stimme wurde schärfer.
Die Sklaven bückten sich nach den Tragestangen.
Dabei stolperte der vorderste Mann, die Sänfte kam ins Schlingern,
panisch klammerten sich die Mädchen aneinander. Bis die Träger ihr
Gleichgewicht wiedergefunden hatten und abmarschbereit waren, war
der andere Trupp Reiter bereits
herangekommen und blieb inmitten einer Staubwolke stehen. Auch
diese Männer trugen die Insignien der Prätorianer. Der Reiter an
der Spitze trabte zu Marius. »Ist etwas passiert? Ist jemand
verletzt?«
Marius schüttelte den Kopf.
Der andere Mann nickte. »Dann kommt, Freunde - wer
von uns erreicht die Castra Praetoria als Erster?« Sein Pferd
zerrte ungeduldig an den kurzen Zügeln.
Marius bändigte sein Pferd, das zu bocken drohte,
und zog das Schwert. »Aus dem Weg! Wir haben den Befehl, diese
Sänfte zur Villa von Titus Marcus Olivinus zu begleiten.«
»Nein! Wir wollen zum Haus meiner Tante. Bitte,
Marcello, sag’s ihnen.« Julia beugte sich zum Fenster hinaus.
»Dieser Mann hat versucht, uns zu verschleppen!« Ihr Gesicht war
leichenblass.
Unvermittelt zuckte Marius mit den Schultern und
zog sein Pferd ein Stück von der Sänfte zurück. »Unsinn! Reines
Lügenmärchen. Aber wenn ihr die Einladung meines Herrn nicht
annehmen wollt, ist das Euer Schaden.« Alles war schiefgelaufen.
Jetzt gab es Zeugen, außerdem war ihm aufgetragen worden, keine
Gewalt anzuwenden. »Keine Toten«, hatte Titus grinsend gesagt, als
sie den Plan schmiedeten, nachdem einer seiner Spione ihm vom
bevorstehenden Ausflug berichtet hatte. »Um der Götter willen,
beschwör nicht den ganzen Zorn des Senats auf mein Haupt herab.
Schnapp dir nur das Mädchen und mach dich aus dem Staub.« Vor
Vergnügen hatte er geprustet.
»Vorwärts!« Marius sprang in den Sattel und hob
dann den Arm als Befehl für seine Truppen. Mit einem kurzen Salut
zur Sänfte hin machte er an der Spitze seiner Männer kehrt und
galoppierte die Straße hinunter, dicht gefolgt von der zweiten
Gruppe. Binnen kürzester Zeit war nur noch die Staubwolke zu sehen,
die sie aufwirbelten.
Eigon zitterte wie Espenlaub. »Das war kein
Raubüberfall.«
»Ganz bestimmt nicht.« Marcello wischte sich den
Schweiß von der Stirn. »Fehlt Euch auch nichts, Prinzessin?« Dann
wandte er sich an die anderen Träger. »Gehen wir schnell, es ist
nicht mehr weit zu den Toren Roms.« Prüfend sah er sich um, dann
setzten sie ihren Weg fort.
»Was ist passiert?« Pomponia Graecina empfing die
Mädchen mit ernstem Gesicht in ihrem Gemach.
»Es waren Prätorianer«, sagte Julia empört. »Sie
waren eindeutig auf Eigon aus.«
Besorgt schaute Pomponia zu Eigon. »Weißt du,
warum?«
Eigon, blass und mitgenommen, schüttelte den Kopf.
»Ob es etwas mit Papa zu tun hat?« Sie schauderte.
Pomponia zuckte mit den Schultern. »Irgendwie
bezweifle ich das. Aber man kann nie wissen, was Nero sich
einfallen lässt. Wenn es denn etwas mit Nero zu tun hat.« Sie
seufzte. Einen Moment standen sie zu dritt schweigend da, dann
zwang sich Pomponia zu einem munteren Lächeln. »Wie auch immer, ich
habe nicht vor, mir meine Pläne von ein paar dummen Wachposten
durchkreuzen zu lassen. Julia, ich möchte dich bitten, für mich ein
paar ganz besondere Erledigungen zu machen, zuerst im Vicus
Unguentarius, wo du einen Flakon mit meinem Duft abholen möchtest.
Dort darfst du auch etwas für dich selbst kaufen. Dann möchte ich,
dass du zu meiner Schneiderin gehst. Ich habe mein Lieblingsgewand
zerrissen, und du kannst es zum Flicken zu ihr bringen und
gleichzeitig ihre neuen Stoffe anschauen. Und da ich weiß, dass ein
solcher Ausflug Eigon nur langweilen würde, werden sie und ich uns
hier mit einem neuen Heiler unterhalten, den ich vor kurzem
kennengelernt habe. Heute Abend treffen wir uns dann alle wieder
hier, und ihr bleibt die Nacht bei mir. Ich schicke
einen Boten zur Villa mit der Nachricht, dass ihr beide bei mir in
Sicherheit seid. Nein« - sie hob abwehrend die Hand, als Eigon
protestierend den Mund öffnete -, »ich sorge dafür, dass deine
Eltern sich keine Sorgen machen.«
Die aufgeregte Julia wurde mit einer prallgefüllten
Geldbörse ausgestattet, außerdem wurden zwei junge Damen zu ihrer
Begleitung abgestellt sowie vier Sklaven, die mit schweren Keulen
bewaffnet waren. Halb belustigt verfolgte Eigon die Vorbereitungen,
doch in ihrem Magen spürte sie einen Knoten der Angst. Sie wusste
genau, wer hinter dem Plan stand, sie zu entführen. Und jetzt
kannte sie auch seinen Namen. Titus Marcus Olivinus.
Als Julia fort war, wandte Pomponia sich an Eigon.
»Ist alles in Ordnung, mein Herz?«
Eigon nickte. Sosehr sie diese Frau auch ins Herz
geschlossen hatte, die ihr ebenso sehr eine Tante war wie ihrer
leiblichen Nichte Julia, konnte sie ihr doch nicht von dem
schrecklichen Geheimnis erzählen, das sie nur mit ihrer Mutter
teilte.
Nachdenklich betrachtete Pomponia sie und nickte
dann betrübt. Vermutlich hätte Eigon weit mehr zu dem merkwürdigen
Überfall zu sagen, als sie erzählte, aber wenn sie das für sich
behalten wollte, würde sie ihr Schweigen respektieren. Sie steckte
Eigons Hand in ihre Armbeuge. »Heute ist für mich ein ganz
besonderer Tag, und ich möchte, dass du ihn mit mir feierst. Ein
paar deiner Freunde sind schon hier. Komm.«
Sie führte sie in den großen Empfangssaal. Als
Erstes sah Eigon dort Melinus, der feierlich lächelte. Neben ihm
stand Julius. Pomponia trat zu ihm. »Das ist mein ganz besonderer
Gast. Julius, solange ich noch beschäftigt bin, erzähl ihr doch
bitte, was heute stattfindet.« Lächelnd nahm sie Eigons Hand und
legte sie in Julius’.
Einen Moment stockte Eigon der Atem. Die Berührung
dieses jungen Mannes durchfuhr sie wie ein Blitzschlag. Das Gefühl
erschreckte sie. Einen Moment starrten die beiden sich an, unfähig,
den Blick abzuwenden, bis Eigon verlegen als Erste fortschaute.
Sanft entzog sie Julius ihre Hand und sah zu Melinus, der sie beide
leicht belustigt beobachtet hatte. »Was passiert denn heute?«
»Petrus kommt.«
»Pomponia möchte, dass du ihn bittest, für deinen
Vater zu beten«, erklärte Julius freundlich.
»Petrus, der Christ?« Stirnrunzelnd blickte Eigon
zu Melinus.
Julius nickte. »Weißt du nicht, dass mein Großvater
und Melinus gute Freunde geworden sind?« Amüsiert schaute er aus
seinen warmen braunen Augen zu ihr.
Dazu war es gleich bei ihrer ersten Begegnung
gekommen, wenige Tage nach der schrecklichen Nacht, in der Julius
sie und Julia vor der wütenden Menge gerettet hatte. Julius hatte
seinen Großvater zur Villa begleitet, damit Caratacus und seine
Frau ihm persönlich danken konnten, dass er ihrer Tochter in der
Nacht Zuflucht gewährt hatte. Später am Nachmittag waren dann
Melinus und der ältere Mann unversehens allein zurückgeblieben und
ins Gespräch gekommen. Obwohl Melinus nach wie vor ein Druide war
und Felicius sich zum Christen hatte taufen lassen, hatten sie sehr
bald im jeweils anderen die vielen Eigenschaften erkannt, die ihnen
gemein waren. Ihre Interessen, ihr Blick auf das Leben, ihre
Philosophie waren der Stoff für viele stundenlange Diskussionen.
Melinus hatte von seinem Respekt für Petrus erzählt, der in Rom der
Christengemeinde vorstand, und hatte Felicius begleitet, als
Paulus, ebenfalls einer der Apostel Jesu, von Tarsus nach Rom
gekommen war.
Mittlerweile gab es in Rom, wo die Menschen aus
aller Herren Länder stammten und Dutzenden von Religionen und
Aberglauben anhingen, eine größere Anzahl von Christen. Im Großen
und Ganzen duldeten die römischen Behörden nahezu jede Denkungsart,
doch zum christlichen Glauben bekannte sich niemand öffentlich.
Nero und seine Berater misstrauten den Christen ebenso wie die
einfachen Bürger, weil sie Gerüchte gehört hatten, Christen äßen
und tränken das Fleisch und das Blut des Sohnes ihres Gottes, und
sie deshalb des Kannibalismus bezichtigten - eine der wenigen
Perversionen, die in Rom nicht toleriert wurde. Bisweilen wurden
Christen fast willkürlich wegen Verrats oder Schlimmerem verhaftet,
und sie erwartete ein grausames Schicksal. Also war es besser, über
seinen Glauben Stillschweigen zu bewahren.
»Manchmal ist es doch bestimmt beängstigend, zu
wissen, dass euch nachspioniert wird. Merken die Leute denn nicht,
dass ihr nicht zum Tempel geht und Opfer darbringt?«, fragte Eigon
nachdenklich.
Julius lächelte. »Die Leute sind toleranter, als du
glaubst. Und unsere Familie ist so einflussreich, dass sie uns
unsere exzentrischen Launen nachsehen.« Er lächelte wieder. »Ich
hoffe, du hast keine Angst, hier unter so vielen Christen zu
sein?«
Sie schüttelte den Kopf. Wie immer konnte sie nur
schlecht den Blick von seinem lächelnden Gesicht losreißen. Sie
schaute sich um. »Weiß Pomponia, dass ihr Christen seid?«
»Natürlich. Sie hat Petrus heute zu sich
eingeladen. Zum einen, damit du ihn kennenlernen kannst, und zum
anderen, damit er sie tauft.«
Eigon machte große Augen. »Sie will Christin
werden? Weiß Aulus Plautius das?« Pomponias Gemahl war als
überzeugter Vertreter des traditionellen römischen Lebens bekannt.
Julius zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht.
Er ist momentan nicht in Rom und hat den Großteil seiner
Dienerschaft mitgenommen.« Er zwinkerte. »Die Herrin Pomponia hatte
schon immer ihre ganz eigene Art, Dinge in die Hand zu
nehmen.«
»Unter anderem, Julia loszuwerden.« Eigon schaute
zu ihm auf und erwartete, seine Miene würde bei der Erwähnung von
Julias Namen weicher werden, doch seine Augen blieben unverwandt
auf sie gerichtet, und sie glaubte zu sehen, dass ein leises Zucken
um seine Mundwinkel spielte.
»Julia ist keine Frau, die ein besonderes Interesse
an Religion oder an Philosophie an den Tag legt«, sagte er leise.
Eigon hatte den Eindruck, dass er das nicht unbedingt als
Kompliment meinte.
Aufgeregtes Stimmengewirr vor der Tür ließ sie
beide aufschauen. Petrus war eingetroffen. Als der alte Mann die
Stufen hinaufstieg und den Raum betrat, stützte er sich schwer auf
seinen Stock. Rechts und links begrüßten Gäste ihn freudig. Eigon
sah, dass Julius’ Großvater ihn begleitete und dass die beiden auf
sie zukamen.
Petrus hatte warme, dunkelbraune Augen, die sie
kurz betrachteten, ehe er ihr mit einem ernsten Lächeln die Hände
entgegenstreckte. »Du bist also Eigon. Ich habe viel über dich
gehört, mein Kind.« Sie spürte die Wärme und Liebe, die er
verströmte. »Wie ich höre, bist du eine Heilerin.«
Mit einem bescheidenen Achselzucken senkte sie den
Blick. »Ich tue mein Bestes, Herr.«
Er lachte. »Kind, nenn mich doch nicht Herr! Meine
Freunde nennen mich Bruder. Dein Vater ist krank?«
Eigon nickte. »Er ist schon sehr lange krank. Aber
es ist mehr als eine Krankheit. Er ist sehr unglücklich. Ihm fehlt
unsere Heimat.«
Petrus nickte. »Und eure Heimat ist das ferne
Britannien?«
Eigon nickte wieder. Dann schaute sie auf. Melinus
stand hinter Petrus. Jetzt bemerkte er ihren Blick, lächelte und
nickte ermutigend. »Kannst du für meinen Vater beten?«, fragte
Eigon.
»Natürlich. Und ich bete auch für dich, Eigon.
Jesus wird euch beide segnen.«
»Und meine Mutter und meinen kleinen Bruder und
meine Schwester, die wir verloren haben«, brach es aus ihr heraus.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. So lange hatte sie schon nicht
mehr von Togo und Gwladys gesprochen. Erstaunt merkte sie, wie
leicht es ihr fiel, sich mit diesem Mann zu unterhalten, und sie
hatte das Gefühl, als würde eine große Last von ihr genommen, wenn
sie ihm ihre Sorgen und Ängste offenbarte.
»Jesus wird deine ganze Familie in seinen Armen
wiegen, Eigon. Bete zu ihm, mein Kind. Er hört dich.« Einen Moment
legte er ihr die Hand auf den Kopf, dann verlangte ein anderer Gast
seine Aufmerksamkeit, und er wandte sich ab.
Eigon blieb unbewegt stehen. Julius warf ihr ein
Lächeln zu. »Verstehst du, warum wir ihn lieben?«, fragte er
leise.
Sie nickte. »Wird mein Vater jetzt gesund
werden?«
Julius machte eine ausweichende Geste. »Manchmal
werden Leute auf der Stelle gesund. Für andere ist es einfach an
der Zeit, zu sterben, und dann sterben sie, aber sie ruhen in Jesu
Armen. Er nimmt sie mit sich in den Himmel, wo sie an seiner Seite
leben. Sie haben keine Angst mehr, Eigon, sie sind
getröstet.«
Eigon verzog das Gesicht. »Mein Vater hat keine
Angst. Er ist ein Krieger. Seine Götter erwarten von ihm, dass er
tapfer stirbt. Dann kommt er ins Land der ewigen Jugend.«
Julius lächelte ein wenig. »Das klingt für mich wie
der Himmel«, sagte er. »Nicht der Hades. Es gibt keinen Styx,
den man überqueren muss. Im Himmel gibt es Sonnenschein und Blumen
und Engel.«
Eigon nickte zufrieden. »Die Inseln der Seligen«,
flüsterte sie.
»Schau«, sagte Julius unvermittelt. »Gleich wird
Petrus einige der Leute hier taufen. Manchmal macht er das im
Freien an einem Fluss, aber das wäre hier in Rom zu
öffentlich.«
Pomponia Graecina war die Erste. Petrus segnete ein
Gefäß mit Wasser, malte damit das Zeichen des Kreuzes auf ihre
Stirn und taufte sie auf den Namen Lucina. Als die frisch Getauften
einen nach dem anderen tropfend und lachend von ihm zurücktraten,
breitete sich eine Stimmung von Fröhlichkeit und Glück im Raum
aus.
Angesteckt von der Freude rund um sie her, griff
Eigon nach Julius’ Hand, ohne überhaupt zu merken, dass sie es tat.
Die Momente des Schreckens in der Sänfte waren vergessen. »Es ist
wunderbar, in diesem Haus zu sein«, sagte sie. »Hier fühle ich mich
vollkommen sicher.«
Jess drehte sich im Schlaf um und lächelte. In der
Wohnung herrschte absolute Stille. Draußen auf dem steinernen
Treppenabsatz stand Daniel und presste das Ohr an die Tür. Dann
holte er einen Bund Schlüssel aus der Tasche und steckte den
passenden ins Schloss. Er ließ sich mühelos drehen, aber die Tür
ging trotzdem nicht auf. Daniel verzog die Lippen zu einem bitteren
Grinsen. Der Riegel war vorgeschoben.
In Jess’ Traum war Eigon unvermittelt älter
geworden, größer, eleganter, ihr Haar war so schwarz wie der Flügel
eines Raben. Sie saß in der Sonne neben ihrer Freundin
Antonia.
»Julius hofft, dass ihr zu seiner Geburtstagsfeier
kommt.« Lächelnd schaute Antonia auf. Sie machte gerade mit einem
Stilus Notizen auf eine Tafel und strich immer wieder Sachen von
einer langen Liste.
»Um wen geht es ihm da vor allem? Um mich oder
Julia?« Eigon lächelte wehmütig.
»Um dich natürlich!« Antonia lachte. »Du weißt
doch, dass er dich bei seinem Geburtstag dabeihaben möchte. Wirst
du dich des armen Mannes denn nie erbarmen?«
Eigon errötete. »Du weißt doch, dass es sinnlos
ist.« Sie würde lieber sterben als zugeben, dass sie von Julius
geträumt hatte, dass sie sich fast jeden Tag, wenn sie eigentlich
Rezepturen für Heilmittel studieren sollte, bei Tagträumen
ertappte, in denen sie sein schönes Gesicht, seine warmen,
lachenden Augen vor sich sah. »Mama hat mir verboten, das Haus zu
verlassen. Sie hat Aelius beauftragt, mich zu bewachen, damit ich
mich nicht heimlich davonstehle.«
»Und du folgst ihr immer noch wie ein Kleinkind!«,
erwiderte Antonia empört. »Willst du dich auf immer und ewig wie
eine Gefangene hier einsperren lassen, Eigon? Das Leben geht an dir
vorbei. Von morgens bis abends wirst du von Melinus unterrichtet,
und wenn du nicht gerade lernst, kümmerst du dich um die Kranken
oder pflegst deinen Vater. Nie gehst du mit Julia Einkaufen oder
ins Theater oder zu den Spielen. Ständig arbeitest du mit Melinus
an neuen Heilmethoden, und ich weiß, dass fast jeden Morgen
Menschenschlangen bei euch vor der Tür stehen, die dich
konsultieren wollen. Das ist wirklich wunderbar, das ist genau das,
was Gott sich von dir wünscht, aber du meine Güte, steckt wirklich
überhaupt kein rebellischer Funke in dir? Ist es Melinus, der dich
daran hindert, uns zu besuchen? Hat er dich irgendwie in seiner
Gewalt? Oder stehst du unter einem Bann? Oder ist es wegen unseres
Glaubens?« Sie funkelte ihre Freundin an.
»Du weißt genau, dass es nichts dergleichen ist!«,
fuhr Eigon auf. »Melinus achtet euren Glauben sehr. Gerade erst
gestern hat er wieder deinen Großvater besucht.«
»Und?« So leicht ließ Antonia sich nicht
besänftigen. »Meinst du nicht, dass mein Bruder auch einen Besuch
verdient hat? Gefällt er dir denn gar nicht?«
Eigon lächelte und blickte verschämt zu ihrer
Freundin auf. »Doch, und das weißt du auch.« Sie seufzte schwer.
»Es würde einfach nie etwas daraus werden, Antonia. Es geht nicht,
das weißt du genauso gut wie ich. Ich werde nie heiraten. Meine
Eltern sind nicht in der Lage, mir eine Mitgift zu geben. Sie haben
kein Geld. Außerdem sind wir hier Gefangene, in gewisser Hinsicht
nicht besser gestellt als Sklaven. Wir müssten den Kaiser um
Erlaubnis fragen, und er würde mir nie gestatten zu
heiraten.«
Sie schloss die Augen und spürte die warme Sonne
auf ihren Lidern. Über dieses Thema zu sprechen fiel ihr sehr
schwer. Sie war ein Mensch wie jeder andere auch, sie kannte
Sehnsüchte und Träume, und alle hatten mit Julius zu tun. In der
dunklen Einsamkeit ihres Schlafzimmers gab sie sich von Zeit zu
Zeit ihren Tränen hin, nachdem sie in ihrer Fantasie ihrem
Verlangen nachgegeben hatte, ihm in der Dunkelheit in den Garten zu
folgen und das Gesicht zu heben, damit er sie küsste.
»Großvater könnte den Senat überreden, eure
Hochzeit zu genehmigen, und er würde auch keine Mitgift verlangen!«
Dieses Mal war Antonia entschlossen, sich nicht von ihrem Thema
ablenken zu lassen. »Und es ist Unsinn, wenn du sagst, ihr wärt
Sklaven. Dein Vater ist ein König! Niemand wird euch daran hindern,
wenn ihr es beide wollt. Aber vielleicht wollen deine Eltern nicht,
dass du einen Christen heiratest? Hast du ihnen erzählt, dass wir
Christen sind?«
Eigon schüttelte den Kopf.
Antonia machte eine wegwerfende Geste. »Unser
Nachbar auf der einen Seite hat sich letztes Jahr auch taufen
lassen. Er kommt zu den Versammlungen bei uns im Haus. Der Senator
auf der anderen Seite ist ein alter Freund meines Großvaters. Er
wird bestimmt alle Gerüchte über uns ignorieren. Mittlerweile muss
er aber eine Ahnung haben.« Sie lächelte, und der traurige Ausdruck
verschwand aus ihren Augen. »Aber du magst Julius gut leiden, oder
nicht?«, fragte sie.
Eigon nickte.
»Und sein Glaube wäre kein Problem für dich?«
Eigon schüttelte den Kopf. »Mir gefallen die
Geschichten über euren Jesus und seine Wunder sehr gut. Und nach
allem, was ich gehört habe, war er einer der größten Heiler aller
Zeiten.« Sie grinste. »Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, ist
Melinus fast schon davon überzeugt, dass euer Jesus im Grunde ein
Druide war.«
Im ersten Moment sah Antonia schockiert drein, dann
lachte sie. »Vielleicht war er das ja auch.«
»Weißt du, Julia mag Julius sehr gern.« Abrupt
wechselte Eigon das Thema.
»Ich dachte, sie ist in den jungen Flavius
verliebt. Du hast doch gesagt, dass die beiden schon seit Jahren
ein Paar sind.« Antonia lächelte. »Sie steckt ständig mit ihm
zusammen.«
Eigon nickte. »Sie waren schon als Kinder gut
befreundet. Das Problem ist, dass Flavius ihr gesellschaftlich
nicht ebenbürtig ist. Sein Vater ist bei uns Haushofmeister. Er ist
ein Freigelassener, Julias Onkel war Statthalter in Britannien. Sie
könnte Flavius nie heiraten. Das weiß er genauso gut wie sie. Seit
dem Abend, an dem wir euch kennengelernt haben, hat sie ein Auge
auf deinen Bruder geworfen.«
Seufzend lehnte sie sich zurück. »Wie gefällt es dir, dass zwei
Frauen in deinen Bruder verliebt sind?«
»Ah! Du bist also doch in ihn verliebt!«, rief
Antonia.
Eigon lächelte. »Aber nur eine von uns hat echte
Aussichten, und das ist Julia. Er könnte es sehr viel schlechter
treffen. Ihre Familie ist reich und hat gute Verbindungen. Und ihre
Tante ist Christin.«
Antonia schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Aulus
Plautius weiß immer noch nichts davon! Ich denke, er würde Julia
nicht mal in die Nähe von Julius lassen, wenn er wüsste, dass wir
Christen sind.« Abrupt unterbrach sie sich und drehte sich zum Haus
um. »Wer ist da?«
Niemand stand im Eingang.
Eigon zog die Stirn kraus. »Was ist?«
»Da war jemand und hat uns zugehört! Ich bin mir
sicher! Wer immer es war, hat jedes Wort, das ich gesagt habe,
verstanden.« Vor Schreck war Antonia alle Farbe aus dem Gesicht
gewichen. Sie sprang auf, lief zum Eingang und schaute sich im
Atrium um. Da war niemand, überall herrschte schläfrige
Nachmittagsstille.
»Ich glaube nicht, dass jemand etwas gehört hat«,
flüsterte sie, als sie zu Eigon zurückkam. »Aber wir müssen
vorsichtig sein. Sogar hier gibt es Spione.«
Vor allem hier. Melinus hatte Eigon schon vor
langer Zeit gewarnt, vor Aelius auf der Hut zu sein. Wenn er
gelauscht hatte, wie viel von ihrer Unterhaltung hatte er dann
verstanden? Ihr wurde bang.
Aber Antonia lachte schon wieder. »Ich rede Unsinn!
So sicher wie hier ist es sonst nirgends!«
»… Sicher! So sicher wie hier …«
Die Worte hallten in Jess’ Kopf wider. Sie war
erneut aufgewacht und sah sich im Zimmer um. Es war noch dunkel,
aber die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die geschlossenen
Fensterläden auf den Teppich.
Eigon hatte Petrus kennengelernt. Aufgeregt setzte
Jess sich im Bett auf. Hatte sie das nur geträumt, oder war es
wirklich passiert? Wieder schaute sie sich um und erwartete fast,
schattenhafte Gestalten um sich zu sehen, Männer in Togen, Frauen
in wunderschönen farbenfrohen Gewändern mit einer Stola um die
Schultern, und in ihrer Mitte der weißhaarige alte Mann, der mit so
viel Liebe und Wärme seinen Segen spendete, dass selbst sie, Jess,
es zu spüren vermeinte. Und die beiden Mädchen, die in der
Nachmittagssonne zusammensaßen und sich über die Liebe
unterhielten.
Jess warf einen Blick auf ihre Armbanduhr,
unvermittelt kehrten die Ereignisse des vergangenen Tags zurück. Es
war kurz nach sechs, die Schatten hatten sich aufgelöst. Müde stand
sie auf und öffnete die Fensterläden. Die Straße lag im Licht der
frühen Morgensonne, es herrschte bereits reger Verkehr. Leise
klopfte es an der Tür.
»Jess, bist du wach?« Sie entriegelte die Tür und
Steph trat ins Zimmer. »Kim hat Jacopo gebeten, ein Taxi zu
bestellen. Wir helfen dir mit dem Gepäck.«
Jess drehte sich um. »Lass mich kurz duschen, dann
bin ich fertig.«
»Ist da draußen was von Daniel zu sehen?«
Jess schüttelte den Kopf. »Es sind schon zu viele
Leute unterwegs. Er könnte sich gut zwischen ihnen verstecken. Bist
du sicher, dass es klappen wird?«
Steph zuckte hilflos mit den Schultern. »Was
Besseres fällt mir nicht ein. Dir vielleicht?«
Kim hatte Jacopo gebeten, ein Taxi zum Flughafen zu
bestellen. Dieses Fahrtziel sollte dem Taxifahrer auch laut und
vernehmlich genannt werden. Wenn jemand lauschte
oder den Hausmeister bestechen sollte, etwas auszuplaudern, würde
er immer dieselbe Geschichte hören: Jess flog nach England
zurück.
Rhodri erwartete sie bereits im Hotel. Binnen
Sekunden waren ihr Gepäck von dienstbereiten Geistern in Empfang
genommen und der enttäuschte Taxifahrer entlohnt worden, und Jess
saß mit Rhodri in einer Ecke des Gartenrestaurants an einem kleinen
Tisch, der hinter den vielen blühenden Pflanzen fast nicht zu sehen
war. Die Luft war noch wunderbar frisch und kühl. Rhodri lächelte
aufmunternd. »Alles in Ordnung?«
Jess nickte matt. »Was ist mit William?«
»Ich war vorhin bei ihm. Alles bestens. Sie werden
ihn heute im Lauf des Tages entlassen, und ich habe ihm geraten,
gleich nach Hause zu fahren.«
»Nach Hause?«
Rhodri nickte. »Nach London.«
»Das heißt, Daniel wird glauben, dass wir beide
wieder in London sind.«
»William passiert nichts, Jess.« Für den Bruchteil
einer Sekunde legte Rhodri seine Hand auf ihre. »Er wird vermutlich
gleich zu seinen Eltern fahren. Er sagte, sie leben irgendwo auf
dem platten Land.«
Jess lächelte. »Das stimmt. In Cornwall.«
»Da kann ihm nichts passieren. Mach dir nicht so
viele Sorgen.«
»Und was ist mit mir? Wohin soll ich gehen? Hier
kann ich ja schlecht bleiben.«
»Doch. Solange du magst. Ich habe dich bei mir aufs
Zimmer eingebucht.« Er lachte. »Entschuldige. Habe ich jetzt deinen
Ruf ruiniert? Du musst wissen, ich habe hier eine Suite. Ein
unverzeihlicher Luxus, aber du musst dem Star ein paar extravagante
Marotten nachsehen!« Er unterschrieb
die Rechnung, die der Kellner ihnen zusammen mit zwei Tassen
Cappuccino brachte. »Sobald wir wissen, dass Daniel dir nach
England nachgeflogen ist, kannst du, wenn du nicht hierbleiben
möchtest, zu Kim zurückgehen und weiter Urlaub machen.«
»Und wenn er nicht nach England fliegt?«
»Dann schmuggle ich dich nach Wales zurück.«
Einen Moment begegneten sich ihre Blicke, und er
grinste. »Was Besseres kann ich dir momentan nicht anbieten!«
Jess machte eine hilflose Geste. »Du bist
fantastisch, Rhodri. Ich bin dir so dankbar.« Sie lächelte ein
wenig verlegen. »Entschuldige, das ist wohl ein bisschen dürftig,
wenn man bedenkt, dass du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, um
William zu helfen.«
Er überlegte einen Moment. »Das habe ich wohl, ja.
Aber du auch. Hoffentlich ist ihm klar, was er uns schuldig ist!
Zumindest hat er mich gebeten, ihn bei Carmella zu entschuldigen
dafür, dass er an ihren Fähigkeiten gezweifelt hat. William ist
kein schlechter Kerl.« Mit einem kurzen Blick zu ihr griff er nach
seiner Tasse.
Jess saß weiter mit gerunzelter Stirn da. Rhodri
lehnte sich in seinen Stuhl zurück und wartete, bis sie ihn in den
Gedanken einweihte, der sie gerade beschäftigte. Als sie
schließlich etwas sagte, verblüffte sie ihn völlig. »Bist du
Christ, Rhodri?«
Perplex sah er sie an. »Das ist jetzt wirklich die
letzte Frage, die ich erwartet hätte. Weshalb willst du das
wissen?«
Sie zögerte kurz. »Ich hatte vergangene Nacht einen
seltsamen Traum. Von Eigon. Dass sie hier in Rom Petrus begegnet
ist.«
»Ah.« Er nickte. »Ich verstehe. Also, die Antwort
auf deine Frage ist Ja und Nein. Offiziell ja. Ich bin getauft. Ich
singe oft geistliche Musik, und sie bewegt mich. Aber ich gehe
nicht in die Kirche.«
»Ich auch nicht, noch nie«, sagte sie nachdenklich.
»Meine Eltern waren nicht gläubig, also kenne ich diese ganzen
Familientraditionen nicht und habe auch nie recht verstanden, worum
es geht. Meine Lebensphilosophie habe ich aus der Literatur
bezogen, und sie ist ziemlich eklektisch. Aber ich spürte, dass
Petrus eine unglaubliche Liebe verströmte. Wie eine magnetische
Kraft. Sie war so real, dass ich sie immer noch spüre.«
Rhodri hob die Augenbrauen. »Dann bist du also
gesegnet.« Er lachte. »Vielleicht buchstäblich.«
Jess lächelte. »Vielleicht. Es war ein Schock,
aufzuwachen und an Daniel denken zu müssen.«
»Das wäre für jeden ein Schock.«
Ein Schatten fiel auf ihren Tisch, und beide
schauten auf.
»Habe ich da meinen Namen gehört?« Daniel stand am
Tisch, die Hände in die Taschen gesteckt, und blickte auf sie
herab.
Vor Schreck stockte Jess der Atem, einen Moment war
sie zu entsetzt, um zu sprechen. Sie hatte sich erlaubt, in ihrer
Wachsamkeit nachzulassen, hatte sich in Sicherheit gewiegt. Wie
dumm von ihr!
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Ich bin dir gefolgt. Dieses ganze laute Gerede vom
Flughafen. Hast du wirklich geglaubt, ich lasse mich so leicht
hinters Licht führen?« Er zog einen Stuhl vom Nachbartisch heran
und gab dem Kellner ein Zeichen. »Ihr seid doch alle unglaubliche
Jammerlappen! Und, Rhodri, hat sie dich wieder mit Lügen zugemüllt?
Mit ihren Wahnvorstellungen?« Sein Gesicht verzog sich vor
Abscheu.
Rhodri hatte sich nicht vom Fleck bewegt, lässig
betrachtete er Daniel durch seine dunkle Sonnenbrille. »Das hat
nichts mit Jess’ Wahnvorstellungen zu tun, dass William gestern
benebelt in einem Haus auf dem Land eingesperrt war.«
»Aber natürlich! Jacopo hat mir ja erzählt, dass er
als Häufchen Elend nach Hause gekommen ist. Jess hat ihm das Hirn
mit ihrem ganzen Unsinn vernebelt, und er hat ihr geglaubt. Stand
er vielleicht unter Drogen? Aber ganz bestimmt nicht, das könnt ihr
untersuchen lassen. War er eingesperrt? Nein. Nach allem, was ich
gehört habe«, er lächelte, »hat er sich in einer netten kleinen
Pension in einer beliebten Touristengegend außerhalb von Rom
einquartiert, um sich zu erholen und wahrscheinlich von Jess’
verrückten Geschichten wegzukommen. Mit dir hat sie vermutlich
dasselbe Spiel getrieben und dich mit ihrem Gerede von Gespenstern
und Heimsuchungen vollgelabert. Hat die schöne Eigon dir noch ein
paar Zeichnungen zerkritzelt, Schätzchen?« Seine Stimme troff vor
Sarkasmus.
Jess funkelte ihn wütend an. »Ich glaube nicht,
dass es Eigon war. Das warst schon du. Du hast ja
Wohnungsschlüssel.«
»Stimmt, das habe ich dir erzählt.« Er lachte
herzlich, wirkte völlig unbefangen, als bereite ihm das Gespräch
großes Vergnügen. »Also, Rhodri, was hat sie dir alles aufgetischt?
Die neueste Episode aus ihrer großen Saga der Römerzeit?«
Jess erstarrte. Erst vor wenigen Minuten hatte sie
Rhodri erzählt, dass sie von Petrus gesegnet worden sei. Beklommen
sah sie zu ihm hinüber, aber seine Miene war ausdruckslos, seine
Augen hinter der Brille verborgen.
Daniel merkte ihre Unsicherheit sofort. »Ah, ich
sehe, das hat sie in der Tat. Worum ging’s diesmal? Scharenweise
römische Damen, die schreiend vor Satyrn und Gladiatoren
davonlaufen?« Wieder lachte er hämisch.
»Jacopo kann William gestern Abend gar nicht
gesehen haben«, sagte Rhodri schließlich beiläufig, fast
unbeteiligt. Er nahm seine Brille nicht ab. »Wir haben ihn ins
Krankenhaus gebracht, und ich stand daneben, als sie ihm Blut für
verschiedene Untersuchungen abgenommen haben, um sicherzustellen,
dass alles mit rechten Dingen zugeht.«
Einen Moment wirkte Daniel verstört, fasste sich
aber schnell wieder. »Dann wird Jacopo etwas durcheinandergebracht
haben. Er ist immer so besoffen, dass ich bezweifle, ob er
überhaupt viel mitkriegt.«
Rhodri schwieg, ein leises spöttisches Lächeln
spielte um seine Lippen. Er senkte den Kopf und wartete, was Daniel
als Nächstes sagen würde.
»Und? Haben sie Spuren von Rauschmitteln gefunden?
Ich habe schon lange den Verdacht, dass William heimlich was
nimmt.«
Jess öffnete den Mund, um zu widersprechen, dann
besann sie sich eines Besseren, folgte Rhodris Beispiel und
lächelte ebenfalls.
Daniel schaute zwischen ihnen hin und her. »Ach,
ich verstehe, man hat sich auf verschwörerisches Schweigen
geeinigt. Lächerlich!« Er lehnte sich zurück und verschränkte die
Arme. »Vielleicht solltet ihr wissen, dass ich nicht untätig
gewesen bin. In weiser Voraussicht habe ich ein paar Leute aus
Jess’ Bekanntenkreis wegen ihres Geisteszustands vorgewarnt. Ich
fand es besser, wenn sie darauf gefasst sind, dass Jess aus
heiterem Himmel Unsinn daherbrabbelt.« Er machte eine kurze Pause.
»Als Erstes natürlich Nat. Sie war immer schon der Ansicht, dass du
ein bisschen spinnst, Jess. Es hat sie überhaupt nicht überrascht,
zu hören, dass du einen Nervenzusammenbruch hattest. Und es hat sie
natürlich erst recht nicht überrascht, dass du glaubst, du hättest
dich in mich verliebt!«
Jess wollte auffahren, doch Rhodri hielt sie mit
einer Geste zurück. »Achte gar nicht drauf, Jess. Die Genugtuung
darfst du ihm nicht geben. Daniel, ich glaube, es ist Zeit, dass du
gehst. Die Stalking-Gesetze in Italien werden ziemlich streng
gehandhabt.« Lässig schob Rhodri sich aus dem Stuhl hoch und
schaute auf Daniel herab. Jess unterdrückte ein Lächeln. Rhodri war
ein großer, kräftiger Mann. Daniel fühlte sich sofort genötigt,
ebenfalls aufzustehen.
»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«,
erwiderte er selbstgerecht und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er
inne. »Und mit den Stalking-Gesetzen, da hast du Recht«, sagte er
über die Schulter. »Ich bin wegen Jess selbst schon bei der Polizei
gewesen. Wenn du wirklich zum Flughafen gefahren wärst, wärst du
von einem Polizisten in Empfang genommen worden, der dich zum
Flugzeug gebracht und sichergestellt hätte, dass du nie mehr nach
Italien einreisen darfst!«
Damit marschierte er davon.
»Nein, Jess, nicht!«, befahl Rhodri streng und
packte sie wieder am Arm, um sie am Aufstehen zu hindern. »Wir
wissen beide, dass das Quatsch ist. Jetzt ist er völlig
übergeschnappt. Lass ihn gehen.«
»Der Schuft!« Jess kochte vor Zorn.
»Er will dich nur provozieren, und das ist ihm
gelungen. Er ist eine falsche Schlange. Zumindest habe ich jetzt
selbst einmal miterlebt, wie er sich aufführt.« Er ließ Jess los.
»Trink deinen Kaffee. Jetzt müssen wir uns etwas einfallen
lassen.«
»Du glaubst also nicht, dass er mich bei der
Polizei angezeigt hat?«
»Nie im Leben. Außerdem, so leicht geht das nicht.
Wenn jemand mit einer solchen Geschichte aufs Revier kommt,
glauben sie die nicht so einfach. Das gilt für dich leider auch.
Sie würden Beweise verlangen.«
»Ich kann gar nicht glauben, dass er mir hierher
gefolgt ist. Ich war so zuversichtlich. Du hast mir das Gefühl
gegeben, dass ich hier sicher bin.«
Er verzog das Gesicht. »Es tut mir leid. Ich habe
ihn unterschätzt.«
Jess trank einen Schluck Kaffee. Er war kalt
geworden. »Das war schlau von ihm, Nat davon zu erzählen. Was immer
ich jetzt sage, sie wird mir nicht glauben. Keiner wird mir noch
glauben, ganz egal, was ich sage. Und einen Job bekomme ich auch
nie wieder.«
»Das glaube ich nicht. Aber jetzt sollten wir
wirklich einen richtigen Schlachtplan entwerfen. Wir warten noch
ein bisschen ab und schauen, was er macht. Solange du bei mir bist,
bist du vor ihm sicher. Und ich glaube, William ist auch nicht mehr
in Gefahr.«
»Aber hat er denn keine Angst davor, was William
sagen könnte?«
Rhodri überlegte eine Weile. »Ehrlich gesagt, das
bezweifle ich. William ist in dich verliebt.« Er hob abwehrend die
Hand. »Doch, das ist er! Seine Aussage würde also nicht als
unparteiisch gewertet werden. Kennt ihr beide Daniels Frau?«
»Nat? Ja, sicher. Wir sind alle seit Jahren
Kollegen und befreundet. Natürlich kennen wir sie.«
»Hmm.« Rhodri lehnte sich nachdenklich zurück. Dann
runzelte er die Stirn. »Jess, was ist?« Sie starrte mit
aufgerissenen Augen über die Terrasse. »Ist er wieder da?« Er
folgte ihrem Blick.
»Da ist Eigon«, flüsterte sie. »Schau.«
»Ich kann sie nicht sehen.« Rhodri ließ den Blick
über die Terrasse schweifen. Dort gingen mehrere Leute umher,
eine Kellnerin steuerte mit einem Tablett in den Händen auf den
Nebentisch zu. Unbehaglich verzog Rhodri das Gesicht. »Sag mir, was
du siehst.«
Abrupt drehte Jess sich zu ihm. »O Mist! Du denkst,
ich bilde es mir nur ein. Vielleicht stimmt’s ja auch.« Sie
seufzte. »Sie ist nicht mehr da. Natürlich ist sie nicht mehr da.
Was sollte sie schon hier suchen, in Gottes Namen. In einem
Hotel!«
»Dieses Hotel steht, wie wohl jedes Gebäude in Rom,
auf uralten Ruinen, Jess«, sagte er sacht. »Eigon kann in ihrem
Leben überall gewesen sein. Und wer sagt, dass sie damals überhaupt
hier gewesen sein muss? Vielleicht sucht sie nach dir.«
Unglücklich sah Jess zu ihm. »Meinst du?«
Er lächelte. »Wenn du sie gesehen hast, muss es
einen Grund dafür geben.«
»Wenn.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn das
Wörtchen wenn nicht wär! Glaub nicht, ich hätte mich nicht gefragt,
ob Daniel nicht vielleicht Recht hat. Wer sagt denn, dass ich nicht
tatsächlich den Verstand verloren habe?«
»Dann trifft das auf deine Schwester aber auch zu.
Sie hat Eigon genauso gesehen.«
»Das ist nicht so klar. Steph glaubt, dass es in Ty
Bran spukt, mehr nicht. Es ist ein altes Haus, da gibt es immer
komische Geräusche und dunkle Schatten …« Sie verstummte
abrupt.
Rhodri folgte ihrem Blick. Sie schaute halb in die
Ferne, wo zwei Frauen mit dem Rücken zu ihnen an einem kleinen
Tisch saßen und den Inhalt einer Plastiktüte inspizierten, die von
einer Boutique in der Via Condotti stammte. Während sie sich leise
lachend unterhielten, brachte ein Kellner ihnen eine Flasche
Mineralwasser und zwei Gläser. Rhodri schmunzelte. Die beiden
machten also eine Diät. Aber welche
Frau in Rom tat das nicht? Jenseits der beiden sah er in den
Sonnenstrahlen, die sich durch die Blätter einiger Zitronenbäume
stahlen, schemenhafte Umrisse. War das in der Ecke eine
Schattengestalt? Konzentriert beugte Rhodri sich vor.
»Stimmt es?« Cerys starrte ihre Tochter aus kalten
Augen an. »Triffst du dich mit dem jungen Römer?«
»So kann man das nicht sagen. Manchmal unterhalten
wir uns, mehr nicht. Ich mag ihn, Mama, bitte …«
»Ich verbiete dir, ihn jemals wiederzusehen, Eigon.
Hast du mich verstanden? Nie wieder!«
»Aber warum?«
»Wir dürfen nichts tun, das die Aufmerksamkeit des
Kaisers auf uns lenkt. Verstehst du denn nicht, wie unsicher unsere
Lage hier ist, du dummes Gör! Wir sind für ihn eine
Bedrohung.«
»Aber Papa ist doch krank …«
»Vor allem, weil dein Vater krank ist. Verstehst du
denn nicht, Eigon, wenn du ein Kind bekommst, ist es das Enkelkind
Caradocs, und dann hoffen die Menschen zu Hause vielleicht, dass er
zurückkommt und ihnen beisteht. Das würde Nero nie erlauben. Du
weißt doch, was mit Leuten passiert, die er als Gefahr empfindet.«
Cerys schauderte.
»Aber, Mama, die Menschen in Britannien haben uns
vergessen.«
»Nein! Sie warten immer noch, dass dein Vater
zurückkehrt.«
Eigon hielt dem unerbittlichen Blick ihrer Mutter
einen Moment stand, dann wandte sie den Kopf ab. Es war sinnlos,
ihr zu widersprechen. »Du brauchst dir sowieso keine Sorgen zu
machen«, sagte sie unglücklich. »Ich treffe
mich nicht mit ihm, wie du es nennst. Julia gefällt ihm viel
besser.«
»Das freut mich zu hören.« Cerys erhob sich und zog
den Umhang fester um die Schultern. »Wir wollen keine Römer in
unserer Familie. Sie sind unsere Feinde, das darfst du nie
vergessen!«