Kapitel 19
Pomponia Graecina ließ die Mädchen in ihrer Sänfte abholen. »Da kann dir nichts passieren, Eigon.« Sie hatte die Einladung mit einem Lächeln ausgesprochen. »Niemand wird wissen, dass du darin sitzt. Aber deiner Mutter erzählen wir nichts davon. Sie hat schon genug Sorgen.«
Caradoc hütete das Bett, ihm fehlte die Kraft, aufzustehen. Immer wieder wurde sein Körper von Krämpfen geschüttelt, die ihm fast das Bewusstsein raubten, und er war bis zur Unkenntlichkeit abgemagert.
»Und Aelius erzähl auch nichts davon«, fügte Pomponia Graecina hinzu. »Weihe einige der Bediensteten in deinen Plan ein, damit sie dir helfen.« Sie lachte. Beim Gedanken an ihr Vorhaben strahlte ihr sonst so strenges Gesicht.
Julia und Eigon bestiegen die Sänfte, den Kopf unter ihrer Stola verborgen, und schlossen die Vorhänge. Das Beförderungsmittel wurde von insgesamt zwölf Sklaven getragen, sechs vorne und sechs hinten, und bewegte sich rasch und ohne Erschütterungen den staubigen Weg hinunter zur Straße, die zur Via Flaminia führte, über die sie in die Stadt gelangen würden.
»Was, meinst du, steht hinter der Einladung?« Julia nahm die Stola vom Kopf und richtete sich die kunstvoll festgesteckten Locken.
Eigon zuckte ausweichend mit den Schultern. Melinus hatte Andeutungen gemacht, ihr aber Stillschweigen auferlegt. Damit Julia nichts davon mitbekam, sollte sie zu einem aufregenden Einkaufsbummel entführt werden, der ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Draußen war es heiß, kein Lüftchen regte sich, die großen Pinien, die die Straße säumten, waren das einzige Grün in der ausgedorrten Landschaft. Alle Leute, die unterwegs waren, ob nun zu Fuß oder zu Pferd, schleppten sich nur mühsam voran.
Der Überfall kam aus heiterem Himmel. Als die Sklaven donnerndes Hufgetrappel hörten, wichen sie zur Seite, damit die Soldaten sie passieren konnten. Doch diese umzingelten die Sänfte und zwangen die Träger, stehen zu bleiben. Die Truppen trugen die scharlachrote Uniform der Prätorianer.
»Halt im Namen des Kaisers!« Die Vorhänge wurden von einer Schwertspitze beiseitegeschoben, während die Sklaven die Sänfte absetzten und zurücktraten. Eigon und Julia drückten sich verängstigt aneinander, als einer der Männer absaß. »Raus!« Er verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten. Die beiden Mädchen stiegen aus und starrten ihn verschreckt an.
»Was soll das bedeuten?« Eigon fand ihre Stimme als Erste wieder. »Wie könnt Ihr es wagen!«
Der Offizier musterte zuerst sie und dann Julia von Kopf bis Fuß, als wüsste er nicht, an welche der jungen Damen er seine Worte richten sollte. »Und wie ich es wage, Schätzchen, glaub mir! Welche von euch ist Julia Pomponia Graecina?«
Julia fuhr zusammen. »Weshalb wollt Ihr das wissen?«
»Antworte!« Der Tonfall des Mannes war barsch.
»Das ist doch offensichtlich, Marius!«, warf einer der anderen Soldaten ein. »Schau dir doch ihre Hautfarbe an. Das ist die, die wir wollen.« Er deutete mit dem Kopf auf Eigon.
Eigon straffte die Schultern. »Das ist eine Ungeheuerlichkeit!« Sie tat ihr Bestes, die Fassung zu wahren.
»Du.« Der erste Mann deutete auf Julia. »Ab in die Sänfte mit dir.«
Julia starrte ihn empört an. »Ganz sicher nicht.« Sie nahm allen Mut zusammen. »Untersteht Euch! Wisst Ihr, wer mein Onkel ist? Dafür werdet Ihr büßen!«
»Dir wird nichts passieren«, warf der Zweite ein. »Bitte steig wieder in die Sänfte.«
»Eigon, du zuerst!« Julias Stimme zitterte.
Das ließ Eigon sich nicht zweimal sagen. Hastig kletterte sie in die Sänfte, gefolgt von Julia. Keiner der beiden Männer hatte Anstalten gemacht, sie daran zu hindern. Marius seufzte. »Na gut, wenn ihr beide mitkommen wollt, das lässt sich sicher einrichten. Ihr«, sagte er dann an die Sklaven gerichtet. »Hebt sie auf und folgt uns.« Die vier bewaffneten Wachen hatten an den Ecken der Sänfte Aufstellung genommen.
»Nein!« Julias Protest war kaum zu hören.
»Herrin, da kommen Leute«, flüsterte Marcello, der dienstälteste Sklave. »Sie werden uns helfen.« Er warf einen Blick zu einem der Sänftenträger, die vorne standen, und nickte leicht mit dem Kopf. Eine Staubwolke, die in der Ferne aufstieg, kündete einen Reitertrupp an, der sich aus der Stadt näherte.
»Bewegt euch!« Marius’ Stimme wurde schärfer.
Die Sklaven bückten sich nach den Tragestangen. Dabei stolperte der vorderste Mann, die Sänfte kam ins Schlingern, panisch klammerten sich die Mädchen aneinander. Bis die Träger ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatten und abmarschbereit waren, war der andere Trupp Reiter bereits herangekommen und blieb inmitten einer Staubwolke stehen. Auch diese Männer trugen die Insignien der Prätorianer. Der Reiter an der Spitze trabte zu Marius. »Ist etwas passiert? Ist jemand verletzt?«
Marius schüttelte den Kopf.
Der andere Mann nickte. »Dann kommt, Freunde - wer von uns erreicht die Castra Praetoria als Erster?« Sein Pferd zerrte ungeduldig an den kurzen Zügeln.
Marius bändigte sein Pferd, das zu bocken drohte, und zog das Schwert. »Aus dem Weg! Wir haben den Befehl, diese Sänfte zur Villa von Titus Marcus Olivinus zu begleiten.«
»Nein! Wir wollen zum Haus meiner Tante. Bitte, Marcello, sag’s ihnen.« Julia beugte sich zum Fenster hinaus. »Dieser Mann hat versucht, uns zu verschleppen!« Ihr Gesicht war leichenblass.
Unvermittelt zuckte Marius mit den Schultern und zog sein Pferd ein Stück von der Sänfte zurück. »Unsinn! Reines Lügenmärchen. Aber wenn ihr die Einladung meines Herrn nicht annehmen wollt, ist das Euer Schaden.« Alles war schiefgelaufen. Jetzt gab es Zeugen, außerdem war ihm aufgetragen worden, keine Gewalt anzuwenden. »Keine Toten«, hatte Titus grinsend gesagt, als sie den Plan schmiedeten, nachdem einer seiner Spione ihm vom bevorstehenden Ausflug berichtet hatte. »Um der Götter willen, beschwör nicht den ganzen Zorn des Senats auf mein Haupt herab. Schnapp dir nur das Mädchen und mach dich aus dem Staub.« Vor Vergnügen hatte er geprustet.
»Vorwärts!« Marius sprang in den Sattel und hob dann den Arm als Befehl für seine Truppen. Mit einem kurzen Salut zur Sänfte hin machte er an der Spitze seiner Männer kehrt und galoppierte die Straße hinunter, dicht gefolgt von der zweiten Gruppe. Binnen kürzester Zeit war nur noch die Staubwolke zu sehen, die sie aufwirbelten.
Eigon zitterte wie Espenlaub. »Das war kein Raubüberfall.«
»Ganz bestimmt nicht.« Marcello wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Fehlt Euch auch nichts, Prinzessin?« Dann wandte er sich an die anderen Träger. »Gehen wir schnell, es ist nicht mehr weit zu den Toren Roms.« Prüfend sah er sich um, dann setzten sie ihren Weg fort.
»Was ist passiert?« Pomponia Graecina empfing die Mädchen mit ernstem Gesicht in ihrem Gemach.
»Es waren Prätorianer«, sagte Julia empört. »Sie waren eindeutig auf Eigon aus.«
Besorgt schaute Pomponia zu Eigon. »Weißt du, warum?«
Eigon, blass und mitgenommen, schüttelte den Kopf. »Ob es etwas mit Papa zu tun hat?« Sie schauderte.
Pomponia zuckte mit den Schultern. »Irgendwie bezweifle ich das. Aber man kann nie wissen, was Nero sich einfallen lässt. Wenn es denn etwas mit Nero zu tun hat.« Sie seufzte. Einen Moment standen sie zu dritt schweigend da, dann zwang sich Pomponia zu einem munteren Lächeln. »Wie auch immer, ich habe nicht vor, mir meine Pläne von ein paar dummen Wachposten durchkreuzen zu lassen. Julia, ich möchte dich bitten, für mich ein paar ganz besondere Erledigungen zu machen, zuerst im Vicus Unguentarius, wo du einen Flakon mit meinem Duft abholen möchtest. Dort darfst du auch etwas für dich selbst kaufen. Dann möchte ich, dass du zu meiner Schneiderin gehst. Ich habe mein Lieblingsgewand zerrissen, und du kannst es zum Flicken zu ihr bringen und gleichzeitig ihre neuen Stoffe anschauen. Und da ich weiß, dass ein solcher Ausflug Eigon nur langweilen würde, werden sie und ich uns hier mit einem neuen Heiler unterhalten, den ich vor kurzem kennengelernt habe. Heute Abend treffen wir uns dann alle wieder hier, und ihr bleibt die Nacht bei mir. Ich schicke einen Boten zur Villa mit der Nachricht, dass ihr beide bei mir in Sicherheit seid. Nein« - sie hob abwehrend die Hand, als Eigon protestierend den Mund öffnete -, »ich sorge dafür, dass deine Eltern sich keine Sorgen machen.«
Die aufgeregte Julia wurde mit einer prallgefüllten Geldbörse ausgestattet, außerdem wurden zwei junge Damen zu ihrer Begleitung abgestellt sowie vier Sklaven, die mit schweren Keulen bewaffnet waren. Halb belustigt verfolgte Eigon die Vorbereitungen, doch in ihrem Magen spürte sie einen Knoten der Angst. Sie wusste genau, wer hinter dem Plan stand, sie zu entführen. Und jetzt kannte sie auch seinen Namen. Titus Marcus Olivinus.
Als Julia fort war, wandte Pomponia sich an Eigon. »Ist alles in Ordnung, mein Herz?«
Eigon nickte. Sosehr sie diese Frau auch ins Herz geschlossen hatte, die ihr ebenso sehr eine Tante war wie ihrer leiblichen Nichte Julia, konnte sie ihr doch nicht von dem schrecklichen Geheimnis erzählen, das sie nur mit ihrer Mutter teilte.
Nachdenklich betrachtete Pomponia sie und nickte dann betrübt. Vermutlich hätte Eigon weit mehr zu dem merkwürdigen Überfall zu sagen, als sie erzählte, aber wenn sie das für sich behalten wollte, würde sie ihr Schweigen respektieren. Sie steckte Eigons Hand in ihre Armbeuge. »Heute ist für mich ein ganz besonderer Tag, und ich möchte, dass du ihn mit mir feierst. Ein paar deiner Freunde sind schon hier. Komm.«
Sie führte sie in den großen Empfangssaal. Als Erstes sah Eigon dort Melinus, der feierlich lächelte. Neben ihm stand Julius. Pomponia trat zu ihm. »Das ist mein ganz besonderer Gast. Julius, solange ich noch beschäftigt bin, erzähl ihr doch bitte, was heute stattfindet.« Lächelnd nahm sie Eigons Hand und legte sie in Julius’.
Einen Moment stockte Eigon der Atem. Die Berührung dieses jungen Mannes durchfuhr sie wie ein Blitzschlag. Das Gefühl erschreckte sie. Einen Moment starrten die beiden sich an, unfähig, den Blick abzuwenden, bis Eigon verlegen als Erste fortschaute. Sanft entzog sie Julius ihre Hand und sah zu Melinus, der sie beide leicht belustigt beobachtet hatte. »Was passiert denn heute?«
»Petrus kommt.«
»Pomponia möchte, dass du ihn bittest, für deinen Vater zu beten«, erklärte Julius freundlich.
»Petrus, der Christ?« Stirnrunzelnd blickte Eigon zu Melinus.
Julius nickte. »Weißt du nicht, dass mein Großvater und Melinus gute Freunde geworden sind?« Amüsiert schaute er aus seinen warmen braunen Augen zu ihr.
Dazu war es gleich bei ihrer ersten Begegnung gekommen, wenige Tage nach der schrecklichen Nacht, in der Julius sie und Julia vor der wütenden Menge gerettet hatte. Julius hatte seinen Großvater zur Villa begleitet, damit Caratacus und seine Frau ihm persönlich danken konnten, dass er ihrer Tochter in der Nacht Zuflucht gewährt hatte. Später am Nachmittag waren dann Melinus und der ältere Mann unversehens allein zurückgeblieben und ins Gespräch gekommen. Obwohl Melinus nach wie vor ein Druide war und Felicius sich zum Christen hatte taufen lassen, hatten sie sehr bald im jeweils anderen die vielen Eigenschaften erkannt, die ihnen gemein waren. Ihre Interessen, ihr Blick auf das Leben, ihre Philosophie waren der Stoff für viele stundenlange Diskussionen. Melinus hatte von seinem Respekt für Petrus erzählt, der in Rom der Christengemeinde vorstand, und hatte Felicius begleitet, als Paulus, ebenfalls einer der Apostel Jesu, von Tarsus nach Rom gekommen war.
Mittlerweile gab es in Rom, wo die Menschen aus aller Herren Länder stammten und Dutzenden von Religionen und Aberglauben anhingen, eine größere Anzahl von Christen. Im Großen und Ganzen duldeten die römischen Behörden nahezu jede Denkungsart, doch zum christlichen Glauben bekannte sich niemand öffentlich. Nero und seine Berater misstrauten den Christen ebenso wie die einfachen Bürger, weil sie Gerüchte gehört hatten, Christen äßen und tränken das Fleisch und das Blut des Sohnes ihres Gottes, und sie deshalb des Kannibalismus bezichtigten - eine der wenigen Perversionen, die in Rom nicht toleriert wurde. Bisweilen wurden Christen fast willkürlich wegen Verrats oder Schlimmerem verhaftet, und sie erwartete ein grausames Schicksal. Also war es besser, über seinen Glauben Stillschweigen zu bewahren.
»Manchmal ist es doch bestimmt beängstigend, zu wissen, dass euch nachspioniert wird. Merken die Leute denn nicht, dass ihr nicht zum Tempel geht und Opfer darbringt?«, fragte Eigon nachdenklich.
Julius lächelte. »Die Leute sind toleranter, als du glaubst. Und unsere Familie ist so einflussreich, dass sie uns unsere exzentrischen Launen nachsehen.« Er lächelte wieder. »Ich hoffe, du hast keine Angst, hier unter so vielen Christen zu sein?«
Sie schüttelte den Kopf. Wie immer konnte sie nur schlecht den Blick von seinem lächelnden Gesicht losreißen. Sie schaute sich um. »Weiß Pomponia, dass ihr Christen seid?«
»Natürlich. Sie hat Petrus heute zu sich eingeladen. Zum einen, damit du ihn kennenlernen kannst, und zum anderen, damit er sie tauft.«
Eigon machte große Augen. »Sie will Christin werden? Weiß Aulus Plautius das?« Pomponias Gemahl war als überzeugter Vertreter des traditionellen römischen Lebens bekannt.
Julius zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht. Er ist momentan nicht in Rom und hat den Großteil seiner Dienerschaft mitgenommen.« Er zwinkerte. »Die Herrin Pomponia hatte schon immer ihre ganz eigene Art, Dinge in die Hand zu nehmen.«
»Unter anderem, Julia loszuwerden.« Eigon schaute zu ihm auf und erwartete, seine Miene würde bei der Erwähnung von Julias Namen weicher werden, doch seine Augen blieben unverwandt auf sie gerichtet, und sie glaubte zu sehen, dass ein leises Zucken um seine Mundwinkel spielte.
»Julia ist keine Frau, die ein besonderes Interesse an Religion oder an Philosophie an den Tag legt«, sagte er leise. Eigon hatte den Eindruck, dass er das nicht unbedingt als Kompliment meinte.
Aufgeregtes Stimmengewirr vor der Tür ließ sie beide aufschauen. Petrus war eingetroffen. Als der alte Mann die Stufen hinaufstieg und den Raum betrat, stützte er sich schwer auf seinen Stock. Rechts und links begrüßten Gäste ihn freudig. Eigon sah, dass Julius’ Großvater ihn begleitete und dass die beiden auf sie zukamen.
Petrus hatte warme, dunkelbraune Augen, die sie kurz betrachteten, ehe er ihr mit einem ernsten Lächeln die Hände entgegenstreckte. »Du bist also Eigon. Ich habe viel über dich gehört, mein Kind.« Sie spürte die Wärme und Liebe, die er verströmte. »Wie ich höre, bist du eine Heilerin.«
Mit einem bescheidenen Achselzucken senkte sie den Blick. »Ich tue mein Bestes, Herr.«
Er lachte. »Kind, nenn mich doch nicht Herr! Meine Freunde nennen mich Bruder. Dein Vater ist krank?«
Eigon nickte. »Er ist schon sehr lange krank. Aber es ist mehr als eine Krankheit. Er ist sehr unglücklich. Ihm fehlt unsere Heimat.«
Petrus nickte. »Und eure Heimat ist das ferne Britannien?«
Eigon nickte wieder. Dann schaute sie auf. Melinus stand hinter Petrus. Jetzt bemerkte er ihren Blick, lächelte und nickte ermutigend. »Kannst du für meinen Vater beten?«, fragte Eigon.
»Natürlich. Und ich bete auch für dich, Eigon. Jesus wird euch beide segnen.«
»Und meine Mutter und meinen kleinen Bruder und meine Schwester, die wir verloren haben«, brach es aus ihr heraus. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. So lange hatte sie schon nicht mehr von Togo und Gwladys gesprochen. Erstaunt merkte sie, wie leicht es ihr fiel, sich mit diesem Mann zu unterhalten, und sie hatte das Gefühl, als würde eine große Last von ihr genommen, wenn sie ihm ihre Sorgen und Ängste offenbarte.
»Jesus wird deine ganze Familie in seinen Armen wiegen, Eigon. Bete zu ihm, mein Kind. Er hört dich.« Einen Moment legte er ihr die Hand auf den Kopf, dann verlangte ein anderer Gast seine Aufmerksamkeit, und er wandte sich ab.
Eigon blieb unbewegt stehen. Julius warf ihr ein Lächeln zu. »Verstehst du, warum wir ihn lieben?«, fragte er leise.
Sie nickte. »Wird mein Vater jetzt gesund werden?«
Julius machte eine ausweichende Geste. »Manchmal werden Leute auf der Stelle gesund. Für andere ist es einfach an der Zeit, zu sterben, und dann sterben sie, aber sie ruhen in Jesu Armen. Er nimmt sie mit sich in den Himmel, wo sie an seiner Seite leben. Sie haben keine Angst mehr, Eigon, sie sind getröstet.«
Eigon verzog das Gesicht. »Mein Vater hat keine Angst. Er ist ein Krieger. Seine Götter erwarten von ihm, dass er tapfer stirbt. Dann kommt er ins Land der ewigen Jugend.«
Julius lächelte ein wenig. »Das klingt für mich wie der Himmel«, sagte er. »Nicht der Hades. Es gibt keinen Styx, den man überqueren muss. Im Himmel gibt es Sonnenschein und Blumen und Engel.«
Eigon nickte zufrieden. »Die Inseln der Seligen«, flüsterte sie.
»Schau«, sagte Julius unvermittelt. »Gleich wird Petrus einige der Leute hier taufen. Manchmal macht er das im Freien an einem Fluss, aber das wäre hier in Rom zu öffentlich.«
Pomponia Graecina war die Erste. Petrus segnete ein Gefäß mit Wasser, malte damit das Zeichen des Kreuzes auf ihre Stirn und taufte sie auf den Namen Lucina. Als die frisch Getauften einen nach dem anderen tropfend und lachend von ihm zurücktraten, breitete sich eine Stimmung von Fröhlichkeit und Glück im Raum aus.
Angesteckt von der Freude rund um sie her, griff Eigon nach Julius’ Hand, ohne überhaupt zu merken, dass sie es tat. Die Momente des Schreckens in der Sänfte waren vergessen. »Es ist wunderbar, in diesem Haus zu sein«, sagte sie. »Hier fühle ich mich vollkommen sicher.«
 
Jess drehte sich im Schlaf um und lächelte. In der Wohnung herrschte absolute Stille. Draußen auf dem steinernen Treppenabsatz stand Daniel und presste das Ohr an die Tür. Dann holte er einen Bund Schlüssel aus der Tasche und steckte den passenden ins Schloss. Er ließ sich mühelos drehen, aber die Tür ging trotzdem nicht auf. Daniel verzog die Lippen zu einem bitteren Grinsen. Der Riegel war vorgeschoben.
 
In Jess’ Traum war Eigon unvermittelt älter geworden, größer, eleganter, ihr Haar war so schwarz wie der Flügel eines Raben. Sie saß in der Sonne neben ihrer Freundin Antonia.
»Julius hofft, dass ihr zu seiner Geburtstagsfeier kommt.« Lächelnd schaute Antonia auf. Sie machte gerade mit einem Stilus Notizen auf eine Tafel und strich immer wieder Sachen von einer langen Liste.
»Um wen geht es ihm da vor allem? Um mich oder Julia?« Eigon lächelte wehmütig.
»Um dich natürlich!« Antonia lachte. »Du weißt doch, dass er dich bei seinem Geburtstag dabeihaben möchte. Wirst du dich des armen Mannes denn nie erbarmen?«
Eigon errötete. »Du weißt doch, dass es sinnlos ist.« Sie würde lieber sterben als zugeben, dass sie von Julius geträumt hatte, dass sie sich fast jeden Tag, wenn sie eigentlich Rezepturen für Heilmittel studieren sollte, bei Tagträumen ertappte, in denen sie sein schönes Gesicht, seine warmen, lachenden Augen vor sich sah. »Mama hat mir verboten, das Haus zu verlassen. Sie hat Aelius beauftragt, mich zu bewachen, damit ich mich nicht heimlich davonstehle.«
»Und du folgst ihr immer noch wie ein Kleinkind!«, erwiderte Antonia empört. »Willst du dich auf immer und ewig wie eine Gefangene hier einsperren lassen, Eigon? Das Leben geht an dir vorbei. Von morgens bis abends wirst du von Melinus unterrichtet, und wenn du nicht gerade lernst, kümmerst du dich um die Kranken oder pflegst deinen Vater. Nie gehst du mit Julia Einkaufen oder ins Theater oder zu den Spielen. Ständig arbeitest du mit Melinus an neuen Heilmethoden, und ich weiß, dass fast jeden Morgen Menschenschlangen bei euch vor der Tür stehen, die dich konsultieren wollen. Das ist wirklich wunderbar, das ist genau das, was Gott sich von dir wünscht, aber du meine Güte, steckt wirklich überhaupt kein rebellischer Funke in dir? Ist es Melinus, der dich daran hindert, uns zu besuchen? Hat er dich irgendwie in seiner Gewalt? Oder stehst du unter einem Bann? Oder ist es wegen unseres Glaubens?« Sie funkelte ihre Freundin an.
»Du weißt genau, dass es nichts dergleichen ist!«, fuhr Eigon auf. »Melinus achtet euren Glauben sehr. Gerade erst gestern hat er wieder deinen Großvater besucht.«
»Und?« So leicht ließ Antonia sich nicht besänftigen. »Meinst du nicht, dass mein Bruder auch einen Besuch verdient hat? Gefällt er dir denn gar nicht?«
Eigon lächelte und blickte verschämt zu ihrer Freundin auf. »Doch, und das weißt du auch.« Sie seufzte schwer. »Es würde einfach nie etwas daraus werden, Antonia. Es geht nicht, das weißt du genauso gut wie ich. Ich werde nie heiraten. Meine Eltern sind nicht in der Lage, mir eine Mitgift zu geben. Sie haben kein Geld. Außerdem sind wir hier Gefangene, in gewisser Hinsicht nicht besser gestellt als Sklaven. Wir müssten den Kaiser um Erlaubnis fragen, und er würde mir nie gestatten zu heiraten.«
Sie schloss die Augen und spürte die warme Sonne auf ihren Lidern. Über dieses Thema zu sprechen fiel ihr sehr schwer. Sie war ein Mensch wie jeder andere auch, sie kannte Sehnsüchte und Träume, und alle hatten mit Julius zu tun. In der dunklen Einsamkeit ihres Schlafzimmers gab sie sich von Zeit zu Zeit ihren Tränen hin, nachdem sie in ihrer Fantasie ihrem Verlangen nachgegeben hatte, ihm in der Dunkelheit in den Garten zu folgen und das Gesicht zu heben, damit er sie küsste.
»Großvater könnte den Senat überreden, eure Hochzeit zu genehmigen, und er würde auch keine Mitgift verlangen!« Dieses Mal war Antonia entschlossen, sich nicht von ihrem Thema ablenken zu lassen. »Und es ist Unsinn, wenn du sagst, ihr wärt Sklaven. Dein Vater ist ein König! Niemand wird euch daran hindern, wenn ihr es beide wollt. Aber vielleicht wollen deine Eltern nicht, dass du einen Christen heiratest? Hast du ihnen erzählt, dass wir Christen sind?«
Eigon schüttelte den Kopf.
Antonia machte eine wegwerfende Geste. »Unser Nachbar auf der einen Seite hat sich letztes Jahr auch taufen lassen. Er kommt zu den Versammlungen bei uns im Haus. Der Senator auf der anderen Seite ist ein alter Freund meines Großvaters. Er wird bestimmt alle Gerüchte über uns ignorieren. Mittlerweile muss er aber eine Ahnung haben.« Sie lächelte, und der traurige Ausdruck verschwand aus ihren Augen. »Aber du magst Julius gut leiden, oder nicht?«, fragte sie.
Eigon nickte.
»Und sein Glaube wäre kein Problem für dich?«
Eigon schüttelte den Kopf. »Mir gefallen die Geschichten über euren Jesus und seine Wunder sehr gut. Und nach allem, was ich gehört habe, war er einer der größten Heiler aller Zeiten.« Sie grinste. »Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, ist Melinus fast schon davon überzeugt, dass euer Jesus im Grunde ein Druide war.«
Im ersten Moment sah Antonia schockiert drein, dann lachte sie. »Vielleicht war er das ja auch.«
»Weißt du, Julia mag Julius sehr gern.« Abrupt wechselte Eigon das Thema.
»Ich dachte, sie ist in den jungen Flavius verliebt. Du hast doch gesagt, dass die beiden schon seit Jahren ein Paar sind.« Antonia lächelte. »Sie steckt ständig mit ihm zusammen.«
Eigon nickte. »Sie waren schon als Kinder gut befreundet. Das Problem ist, dass Flavius ihr gesellschaftlich nicht ebenbürtig ist. Sein Vater ist bei uns Haushofmeister. Er ist ein Freigelassener, Julias Onkel war Statthalter in Britannien. Sie könnte Flavius nie heiraten. Das weiß er genauso gut wie sie. Seit dem Abend, an dem wir euch kennengelernt haben, hat sie ein Auge auf deinen Bruder geworfen.« Seufzend lehnte sie sich zurück. »Wie gefällt es dir, dass zwei Frauen in deinen Bruder verliebt sind?«
»Ah! Du bist also doch in ihn verliebt!«, rief Antonia.
Eigon lächelte. »Aber nur eine von uns hat echte Aussichten, und das ist Julia. Er könnte es sehr viel schlechter treffen. Ihre Familie ist reich und hat gute Verbindungen. Und ihre Tante ist Christin.«
Antonia schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Aulus Plautius weiß immer noch nichts davon! Ich denke, er würde Julia nicht mal in die Nähe von Julius lassen, wenn er wüsste, dass wir Christen sind.« Abrupt unterbrach sie sich und drehte sich zum Haus um. »Wer ist da?«
Niemand stand im Eingang.
Eigon zog die Stirn kraus. »Was ist?«
»Da war jemand und hat uns zugehört! Ich bin mir sicher! Wer immer es war, hat jedes Wort, das ich gesagt habe, verstanden.« Vor Schreck war Antonia alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Sie sprang auf, lief zum Eingang und schaute sich im Atrium um. Da war niemand, überall herrschte schläfrige Nachmittagsstille.
»Ich glaube nicht, dass jemand etwas gehört hat«, flüsterte sie, als sie zu Eigon zurückkam. »Aber wir müssen vorsichtig sein. Sogar hier gibt es Spione.«
Vor allem hier. Melinus hatte Eigon schon vor langer Zeit gewarnt, vor Aelius auf der Hut zu sein. Wenn er gelauscht hatte, wie viel von ihrer Unterhaltung hatte er dann verstanden? Ihr wurde bang.
Aber Antonia lachte schon wieder. »Ich rede Unsinn! So sicher wie hier ist es sonst nirgends!«
 
»… Sicher! So sicher wie hier …«
Die Worte hallten in Jess’ Kopf wider. Sie war erneut aufgewacht und sah sich im Zimmer um. Es war noch dunkel, aber die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die geschlossenen Fensterläden auf den Teppich.
Eigon hatte Petrus kennengelernt. Aufgeregt setzte Jess sich im Bett auf. Hatte sie das nur geträumt, oder war es wirklich passiert? Wieder schaute sie sich um und erwartete fast, schattenhafte Gestalten um sich zu sehen, Männer in Togen, Frauen in wunderschönen farbenfrohen Gewändern mit einer Stola um die Schultern, und in ihrer Mitte der weißhaarige alte Mann, der mit so viel Liebe und Wärme seinen Segen spendete, dass selbst sie, Jess, es zu spüren vermeinte. Und die beiden Mädchen, die in der Nachmittagssonne zusammensaßen und sich über die Liebe unterhielten.
Jess warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, unvermittelt kehrten die Ereignisse des vergangenen Tags zurück. Es war kurz nach sechs, die Schatten hatten sich aufgelöst. Müde stand sie auf und öffnete die Fensterläden. Die Straße lag im Licht der frühen Morgensonne, es herrschte bereits reger Verkehr. Leise klopfte es an der Tür.
»Jess, bist du wach?« Sie entriegelte die Tür und Steph trat ins Zimmer. »Kim hat Jacopo gebeten, ein Taxi zu bestellen. Wir helfen dir mit dem Gepäck.«
Jess drehte sich um. »Lass mich kurz duschen, dann bin ich fertig.«
»Ist da draußen was von Daniel zu sehen?«
Jess schüttelte den Kopf. »Es sind schon zu viele Leute unterwegs. Er könnte sich gut zwischen ihnen verstecken. Bist du sicher, dass es klappen wird?«
Steph zuckte hilflos mit den Schultern. »Was Besseres fällt mir nicht ein. Dir vielleicht?«
Kim hatte Jacopo gebeten, ein Taxi zum Flughafen zu bestellen. Dieses Fahrtziel sollte dem Taxifahrer auch laut und vernehmlich genannt werden. Wenn jemand lauschte oder den Hausmeister bestechen sollte, etwas auszuplaudern, würde er immer dieselbe Geschichte hören: Jess flog nach England zurück.
Rhodri erwartete sie bereits im Hotel. Binnen Sekunden waren ihr Gepäck von dienstbereiten Geistern in Empfang genommen und der enttäuschte Taxifahrer entlohnt worden, und Jess saß mit Rhodri in einer Ecke des Gartenrestaurants an einem kleinen Tisch, der hinter den vielen blühenden Pflanzen fast nicht zu sehen war. Die Luft war noch wunderbar frisch und kühl. Rhodri lächelte aufmunternd. »Alles in Ordnung?«
Jess nickte matt. »Was ist mit William?«
»Ich war vorhin bei ihm. Alles bestens. Sie werden ihn heute im Lauf des Tages entlassen, und ich habe ihm geraten, gleich nach Hause zu fahren.«
»Nach Hause?«
Rhodri nickte. »Nach London.«
»Das heißt, Daniel wird glauben, dass wir beide wieder in London sind.«
»William passiert nichts, Jess.« Für den Bruchteil einer Sekunde legte Rhodri seine Hand auf ihre. »Er wird vermutlich gleich zu seinen Eltern fahren. Er sagte, sie leben irgendwo auf dem platten Land.«
Jess lächelte. »Das stimmt. In Cornwall.«
»Da kann ihm nichts passieren. Mach dir nicht so viele Sorgen.«
»Und was ist mit mir? Wohin soll ich gehen? Hier kann ich ja schlecht bleiben.«
»Doch. Solange du magst. Ich habe dich bei mir aufs Zimmer eingebucht.« Er lachte. »Entschuldige. Habe ich jetzt deinen Ruf ruiniert? Du musst wissen, ich habe hier eine Suite. Ein unverzeihlicher Luxus, aber du musst dem Star ein paar extravagante Marotten nachsehen!« Er unterschrieb die Rechnung, die der Kellner ihnen zusammen mit zwei Tassen Cappuccino brachte. »Sobald wir wissen, dass Daniel dir nach England nachgeflogen ist, kannst du, wenn du nicht hierbleiben möchtest, zu Kim zurückgehen und weiter Urlaub machen.«
»Und wenn er nicht nach England fliegt?«
»Dann schmuggle ich dich nach Wales zurück.«
Einen Moment begegneten sich ihre Blicke, und er grinste. »Was Besseres kann ich dir momentan nicht anbieten!«
Jess machte eine hilflose Geste. »Du bist fantastisch, Rhodri. Ich bin dir so dankbar.« Sie lächelte ein wenig verlegen. »Entschuldige, das ist wohl ein bisschen dürftig, wenn man bedenkt, dass du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, um William zu helfen.«
Er überlegte einen Moment. »Das habe ich wohl, ja. Aber du auch. Hoffentlich ist ihm klar, was er uns schuldig ist! Zumindest hat er mich gebeten, ihn bei Carmella zu entschuldigen dafür, dass er an ihren Fähigkeiten gezweifelt hat. William ist kein schlechter Kerl.« Mit einem kurzen Blick zu ihr griff er nach seiner Tasse.
Jess saß weiter mit gerunzelter Stirn da. Rhodri lehnte sich in seinen Stuhl zurück und wartete, bis sie ihn in den Gedanken einweihte, der sie gerade beschäftigte. Als sie schließlich etwas sagte, verblüffte sie ihn völlig. »Bist du Christ, Rhodri?«
Perplex sah er sie an. »Das ist jetzt wirklich die letzte Frage, die ich erwartet hätte. Weshalb willst du das wissen?«
Sie zögerte kurz. »Ich hatte vergangene Nacht einen seltsamen Traum. Von Eigon. Dass sie hier in Rom Petrus begegnet ist.«
»Ah.« Er nickte. »Ich verstehe. Also, die Antwort auf deine Frage ist Ja und Nein. Offiziell ja. Ich bin getauft. Ich singe oft geistliche Musik, und sie bewegt mich. Aber ich gehe nicht in die Kirche.«
»Ich auch nicht, noch nie«, sagte sie nachdenklich. »Meine Eltern waren nicht gläubig, also kenne ich diese ganzen Familientraditionen nicht und habe auch nie recht verstanden, worum es geht. Meine Lebensphilosophie habe ich aus der Literatur bezogen, und sie ist ziemlich eklektisch. Aber ich spürte, dass Petrus eine unglaubliche Liebe verströmte. Wie eine magnetische Kraft. Sie war so real, dass ich sie immer noch spüre.«
Rhodri hob die Augenbrauen. »Dann bist du also gesegnet.« Er lachte. »Vielleicht buchstäblich.«
Jess lächelte. »Vielleicht. Es war ein Schock, aufzuwachen und an Daniel denken zu müssen.«
»Das wäre für jeden ein Schock.«
Ein Schatten fiel auf ihren Tisch, und beide schauten auf.
»Habe ich da meinen Namen gehört?« Daniel stand am Tisch, die Hände in die Taschen gesteckt, und blickte auf sie herab.
Vor Schreck stockte Jess der Atem, einen Moment war sie zu entsetzt, um zu sprechen. Sie hatte sich erlaubt, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen, hatte sich in Sicherheit gewiegt. Wie dumm von ihr!
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Ich bin dir gefolgt. Dieses ganze laute Gerede vom Flughafen. Hast du wirklich geglaubt, ich lasse mich so leicht hinters Licht führen?« Er zog einen Stuhl vom Nachbartisch heran und gab dem Kellner ein Zeichen. »Ihr seid doch alle unglaubliche Jammerlappen! Und, Rhodri, hat sie dich wieder mit Lügen zugemüllt? Mit ihren Wahnvorstellungen?« Sein Gesicht verzog sich vor Abscheu.
Rhodri hatte sich nicht vom Fleck bewegt, lässig betrachtete er Daniel durch seine dunkle Sonnenbrille. »Das hat nichts mit Jess’ Wahnvorstellungen zu tun, dass William gestern benebelt in einem Haus auf dem Land eingesperrt war.«
»Aber natürlich! Jacopo hat mir ja erzählt, dass er als Häufchen Elend nach Hause gekommen ist. Jess hat ihm das Hirn mit ihrem ganzen Unsinn vernebelt, und er hat ihr geglaubt. Stand er vielleicht unter Drogen? Aber ganz bestimmt nicht, das könnt ihr untersuchen lassen. War er eingesperrt? Nein. Nach allem, was ich gehört habe«, er lächelte, »hat er sich in einer netten kleinen Pension in einer beliebten Touristengegend außerhalb von Rom einquartiert, um sich zu erholen und wahrscheinlich von Jess’ verrückten Geschichten wegzukommen. Mit dir hat sie vermutlich dasselbe Spiel getrieben und dich mit ihrem Gerede von Gespenstern und Heimsuchungen vollgelabert. Hat die schöne Eigon dir noch ein paar Zeichnungen zerkritzelt, Schätzchen?« Seine Stimme troff vor Sarkasmus.
Jess funkelte ihn wütend an. »Ich glaube nicht, dass es Eigon war. Das warst schon du. Du hast ja Wohnungsschlüssel.«
»Stimmt, das habe ich dir erzählt.« Er lachte herzlich, wirkte völlig unbefangen, als bereite ihm das Gespräch großes Vergnügen. »Also, Rhodri, was hat sie dir alles aufgetischt? Die neueste Episode aus ihrer großen Saga der Römerzeit?«
Jess erstarrte. Erst vor wenigen Minuten hatte sie Rhodri erzählt, dass sie von Petrus gesegnet worden sei. Beklommen sah sie zu ihm hinüber, aber seine Miene war ausdruckslos, seine Augen hinter der Brille verborgen.
Daniel merkte ihre Unsicherheit sofort. »Ah, ich sehe, das hat sie in der Tat. Worum ging’s diesmal? Scharenweise römische Damen, die schreiend vor Satyrn und Gladiatoren davonlaufen?« Wieder lachte er hämisch.
»Jacopo kann William gestern Abend gar nicht gesehen haben«, sagte Rhodri schließlich beiläufig, fast unbeteiligt. Er nahm seine Brille nicht ab. »Wir haben ihn ins Krankenhaus gebracht, und ich stand daneben, als sie ihm Blut für verschiedene Untersuchungen abgenommen haben, um sicherzustellen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.«
Einen Moment wirkte Daniel verstört, fasste sich aber schnell wieder. »Dann wird Jacopo etwas durcheinandergebracht haben. Er ist immer so besoffen, dass ich bezweifle, ob er überhaupt viel mitkriegt.«
Rhodri schwieg, ein leises spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. Er senkte den Kopf und wartete, was Daniel als Nächstes sagen würde.
»Und? Haben sie Spuren von Rauschmitteln gefunden? Ich habe schon lange den Verdacht, dass William heimlich was nimmt.«
Jess öffnete den Mund, um zu widersprechen, dann besann sie sich eines Besseren, folgte Rhodris Beispiel und lächelte ebenfalls.
Daniel schaute zwischen ihnen hin und her. »Ach, ich verstehe, man hat sich auf verschwörerisches Schweigen geeinigt. Lächerlich!« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Vielleicht solltet ihr wissen, dass ich nicht untätig gewesen bin. In weiser Voraussicht habe ich ein paar Leute aus Jess’ Bekanntenkreis wegen ihres Geisteszustands vorgewarnt. Ich fand es besser, wenn sie darauf gefasst sind, dass Jess aus heiterem Himmel Unsinn daherbrabbelt.« Er machte eine kurze Pause. »Als Erstes natürlich Nat. Sie war immer schon der Ansicht, dass du ein bisschen spinnst, Jess. Es hat sie überhaupt nicht überrascht, zu hören, dass du einen Nervenzusammenbruch hattest. Und es hat sie natürlich erst recht nicht überrascht, dass du glaubst, du hättest dich in mich verliebt!«
Jess wollte auffahren, doch Rhodri hielt sie mit einer Geste zurück. »Achte gar nicht drauf, Jess. Die Genugtuung darfst du ihm nicht geben. Daniel, ich glaube, es ist Zeit, dass du gehst. Die Stalking-Gesetze in Italien werden ziemlich streng gehandhabt.« Lässig schob Rhodri sich aus dem Stuhl hoch und schaute auf Daniel herab. Jess unterdrückte ein Lächeln. Rhodri war ein großer, kräftiger Mann. Daniel fühlte sich sofort genötigt, ebenfalls aufzustehen.
»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, erwiderte er selbstgerecht und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er inne. »Und mit den Stalking-Gesetzen, da hast du Recht«, sagte er über die Schulter. »Ich bin wegen Jess selbst schon bei der Polizei gewesen. Wenn du wirklich zum Flughafen gefahren wärst, wärst du von einem Polizisten in Empfang genommen worden, der dich zum Flugzeug gebracht und sichergestellt hätte, dass du nie mehr nach Italien einreisen darfst!«
Damit marschierte er davon.
»Nein, Jess, nicht!«, befahl Rhodri streng und packte sie wieder am Arm, um sie am Aufstehen zu hindern. »Wir wissen beide, dass das Quatsch ist. Jetzt ist er völlig übergeschnappt. Lass ihn gehen.«
»Der Schuft!« Jess kochte vor Zorn.
»Er will dich nur provozieren, und das ist ihm gelungen. Er ist eine falsche Schlange. Zumindest habe ich jetzt selbst einmal miterlebt, wie er sich aufführt.« Er ließ Jess los. »Trink deinen Kaffee. Jetzt müssen wir uns etwas einfallen lassen.«
»Du glaubst also nicht, dass er mich bei der Polizei angezeigt hat?«
»Nie im Leben. Außerdem, so leicht geht das nicht. Wenn jemand mit einer solchen Geschichte aufs Revier kommt, glauben sie die nicht so einfach. Das gilt für dich leider auch. Sie würden Beweise verlangen.«
»Ich kann gar nicht glauben, dass er mir hierher gefolgt ist. Ich war so zuversichtlich. Du hast mir das Gefühl gegeben, dass ich hier sicher bin.«
Er verzog das Gesicht. »Es tut mir leid. Ich habe ihn unterschätzt.«
Jess trank einen Schluck Kaffee. Er war kalt geworden. »Das war schlau von ihm, Nat davon zu erzählen. Was immer ich jetzt sage, sie wird mir nicht glauben. Keiner wird mir noch glauben, ganz egal, was ich sage. Und einen Job bekomme ich auch nie wieder.«
»Das glaube ich nicht. Aber jetzt sollten wir wirklich einen richtigen Schlachtplan entwerfen. Wir warten noch ein bisschen ab und schauen, was er macht. Solange du bei mir bist, bist du vor ihm sicher. Und ich glaube, William ist auch nicht mehr in Gefahr.«
»Aber hat er denn keine Angst davor, was William sagen könnte?«
Rhodri überlegte eine Weile. »Ehrlich gesagt, das bezweifle ich. William ist in dich verliebt.« Er hob abwehrend die Hand. »Doch, das ist er! Seine Aussage würde also nicht als unparteiisch gewertet werden. Kennt ihr beide Daniels Frau?«
»Nat? Ja, sicher. Wir sind alle seit Jahren Kollegen und befreundet. Natürlich kennen wir sie.«
»Hmm.« Rhodri lehnte sich nachdenklich zurück. Dann runzelte er die Stirn. »Jess, was ist?« Sie starrte mit aufgerissenen Augen über die Terrasse. »Ist er wieder da?« Er folgte ihrem Blick.
»Da ist Eigon«, flüsterte sie. »Schau.«
»Ich kann sie nicht sehen.« Rhodri ließ den Blick über die Terrasse schweifen. Dort gingen mehrere Leute umher, eine Kellnerin steuerte mit einem Tablett in den Händen auf den Nebentisch zu. Unbehaglich verzog Rhodri das Gesicht. »Sag mir, was du siehst.«
Abrupt drehte Jess sich zu ihm. »O Mist! Du denkst, ich bilde es mir nur ein. Vielleicht stimmt’s ja auch.« Sie seufzte. »Sie ist nicht mehr da. Natürlich ist sie nicht mehr da. Was sollte sie schon hier suchen, in Gottes Namen. In einem Hotel!«
»Dieses Hotel steht, wie wohl jedes Gebäude in Rom, auf uralten Ruinen, Jess«, sagte er sacht. »Eigon kann in ihrem Leben überall gewesen sein. Und wer sagt, dass sie damals überhaupt hier gewesen sein muss? Vielleicht sucht sie nach dir.«
Unglücklich sah Jess zu ihm. »Meinst du?«
Er lächelte. »Wenn du sie gesehen hast, muss es einen Grund dafür geben.«
»Wenn.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn das Wörtchen wenn nicht wär! Glaub nicht, ich hätte mich nicht gefragt, ob Daniel nicht vielleicht Recht hat. Wer sagt denn, dass ich nicht tatsächlich den Verstand verloren habe?«
»Dann trifft das auf deine Schwester aber auch zu. Sie hat Eigon genauso gesehen.«
»Das ist nicht so klar. Steph glaubt, dass es in Ty Bran spukt, mehr nicht. Es ist ein altes Haus, da gibt es immer komische Geräusche und dunkle Schatten …« Sie verstummte abrupt.
Rhodri folgte ihrem Blick. Sie schaute halb in die Ferne, wo zwei Frauen mit dem Rücken zu ihnen an einem kleinen Tisch saßen und den Inhalt einer Plastiktüte inspizierten, die von einer Boutique in der Via Condotti stammte. Während sie sich leise lachend unterhielten, brachte ein Kellner ihnen eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser. Rhodri schmunzelte. Die beiden machten also eine Diät. Aber welche Frau in Rom tat das nicht? Jenseits der beiden sah er in den Sonnenstrahlen, die sich durch die Blätter einiger Zitronenbäume stahlen, schemenhafte Umrisse. War das in der Ecke eine Schattengestalt? Konzentriert beugte Rhodri sich vor.
 
»Stimmt es?« Cerys starrte ihre Tochter aus kalten Augen an. »Triffst du dich mit dem jungen Römer?«
»So kann man das nicht sagen. Manchmal unterhalten wir uns, mehr nicht. Ich mag ihn, Mama, bitte …«
»Ich verbiete dir, ihn jemals wiederzusehen, Eigon. Hast du mich verstanden? Nie wieder!«
»Aber warum?«
»Wir dürfen nichts tun, das die Aufmerksamkeit des Kaisers auf uns lenkt. Verstehst du denn nicht, wie unsicher unsere Lage hier ist, du dummes Gör! Wir sind für ihn eine Bedrohung.«
»Aber Papa ist doch krank …«
»Vor allem, weil dein Vater krank ist. Verstehst du denn nicht, Eigon, wenn du ein Kind bekommst, ist es das Enkelkind Caradocs, und dann hoffen die Menschen zu Hause vielleicht, dass er zurückkommt und ihnen beisteht. Das würde Nero nie erlauben. Du weißt doch, was mit Leuten passiert, die er als Gefahr empfindet.« Cerys schauderte.
»Aber, Mama, die Menschen in Britannien haben uns vergessen.«
»Nein! Sie warten immer noch, dass dein Vater zurückkehrt.«
Eigon hielt dem unerbittlichen Blick ihrer Mutter einen Moment stand, dann wandte sie den Kopf ab. Es war sinnlos, ihr zu widersprechen. »Du brauchst dir sowieso keine Sorgen zu machen«, sagte sie unglücklich. »Ich treffe mich nicht mit ihm, wie du es nennst. Julia gefällt ihm viel besser.«
»Das freut mich zu hören.« Cerys erhob sich und zog den Umhang fester um die Schultern. »Wir wollen keine Römer in unserer Familie. Sie sind unsere Feinde, das darfst du nie vergessen!«
Die Tochter des Königs
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