Kapitel 24
Jess atmete tief durch. Sie verhielt
sich wirklich völlig verantwortungslos. Sie musste Carmellas
Anweisungen befolgen und sich psychisch vor Titus schützen. Den
widerlichen Kerl durfte sie nie wieder in dieses Zimmer lassen.
Nachdenklich hob sie den Rucksack auf. Darin lag neben ihren Sachen
eine kleine psychische Schutzausrüstung, die Carmella für sie
zusammengestellt hatte: eine Kerze, eine Knoblauchzehe - obwohl
Titus ja kein Vampir war, dachte sie belustigt -, eine Schale für
Wasser, ein sauberes Staubtuch. »Es darf nirgendwo Dreck oder Staub
sein. Mach die Fenster auf, schalt alle Lampen an, lass die Sonne
herein«, hatte Carmella ihr beim Abschied noch nachgerufen. Jess
warf einen Blick zum Fenster. Am Himmel standen dunkle Wolken.
»Wenn du das Gefühl hast, dass er in der Nähe ist, stell dir vor,
dass du ein Schwert in der Hand hältst, Jess. Ein starkes Schwert,
das aus Flammen besteht.« Und was hatte Rhodri gesagt? Jetzt könnte
das eine oder andere Gebet nützlich sein.
Jess seufzte. Das alles hatte sie gar nicht
gebraucht. Letztlich nicht. Nur ihren geliebten alten Hugo.
Sie setzte sich wieder aufs Bett.
»Eigon, was ist dann passiert?«
Langsam ging Titus zu dem Strohbett, auf dem
Antonia lag, und zog einen Dolch. Sie stöhnte vor Angst, als er ihr
damit
leicht über die Wange fuhr. Ein roter Strich erschien, aber der
Schnitt blutete kaum. Wie Eigon jetzt erst sah, war sie an Händen
und Füßen gefesselt. Titus drehte sich zu Eigon. »Also, Prinzessin,
jetzt lernen wir uns endlich richtig kennen. Ich habe so lange auf
diesen Moment gewartet. Du weißt natürlich, wer ich bin? Und dass
wir uns schon einmal begegnet sind, vor sehr langer Zeit?«
»Titus Marcus Olivinus.« Sie sprach die Worte leise
aus, ihre Stimme war ruhig.
Einen Moment wirkte er verblüfft. »Das heißt, du
hast die ganze Zeit gewusst, wer ich bin?«
»Das weiß ich seit vielen Jahren.«
»Und hast es niemandem gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war nie eine Gefahr
für dich.«
»Warum nicht?« Er verschränkte die Arme.
»Meine Mutter wollte meinen Vater nicht mit einer
solchen Lappalie belästigen.«
Das Blut stieg ihm in die Wangen. »Eine
Lappalie!«
»Für uns ist es das, ja.« Eigon bemühte sich,
weiterhin ruhig zu klingen. Es war wichtig, dass sie ihn nicht
reizte. Sie kaltblütig umzubringen, dachte sie, würde ihm nicht so
leichtfallen.
Er lächelte, als hätte er ihren Gedanken erraten.
»Es war so einfach, Julia zu töten. Sie war eine Hure, sie hätte
alles gemacht, um ihre Haut zu retten, und sie fand das, was ich
tat, keine Lappalie.«
»Davon bin ich überzeugt. War sie auch gefesselt
und hilflos wie ein Opferlamm?« Eigon warf einen Blick zu Antonia,
die wieder aufstöhnte. »Das hat dich bestimmt nicht viel Mut
gekostet.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu und freute sich zu
sehen, dass er ein wenig zurückwich. »Wenn du wirklich Mut hast,
dann lässt du Antonia gehen. Dann
hast du mich allein und kannst mit mir machen, was du willst. Ist
das dein Plan?« Sie sah ihm entschlossen in die Augen. »Frauen
umzubringen, die an Händen und Füßen gefesselt sind, ist die Tat
eines Feiglings.«
Er lachte schallend. »Du nennst mich einen
Feigling?«
Sie lächelte. »Ja. Nur ein Feigling würde einem
Kind Gewalt antun.«
»Du und deine Mutter und die anderen Sklavinnen
wart Freiwild. Unsere Feinde. Besiegt. Für die Arena bestimmt. Ihr
wart in unserer Hand, und wir konnten mit euch machen, wonach uns
der Sinn stand.«
»Auf die Schändung einer Königin und einer Tochter
des königlichen Haushalts steht der Tod!«, funkelte sie ihn an.
»Warum lebst du seitdem sonst in ständiger Angst? Wir waren nicht
für die Arena bestimmt! Uns war bestimmt, als Gäste des Kaisers von
Rom ein fürstliches Leben zu führen.« Sie lächelte kalt. »Was immer
du jetzt tust, dein Tod ist dir sicher. Ich habe schriftlich
niederlegt, was zu tun und wer zu befragen ist, sollte mir etwas
zustoßen. Das habe ich schon vor vielen Jahren niedergeschrieben,
als mir bewusst wurde, dass du mich beobachtest.« Ihre Angst war
völlig verschwunden, furchtlos trat sie einen weiteren Schritt auf
ihn zu und sah ihm unablässig in die Augen.
Dieses Mal wich er nicht zurück. »Dein Tod,
Prinzessin, wird der Tod deines Vaters sein«, sagte er ruhig.
»Macht dir das keine Sorge?«
»Meine Feigheit würde ihm mehr Sorge bereiten«,
erwiderte sie.
Spöttisch sah er sie an. »Und weiß er, dass du eine
Christin bist?« Dass er so unvermittelt das Thema wechselte,
überrumpelte sie ein wenig.
Wider Willen warf sie einen kurzen Blick zu
Antonia. »Ich bin keine Christin.«
»Ach nein?« Er lachte. »Aber so gut wie. Wie es den
Anschein hat, brauche ich dich, Eigon von den Silurern, gar nicht
selbst umzubringen, das erledigt mein Kaiser für mich.« Er grinste.
»Er will, dass an den Christen, die seine Stadt in Brand gesetzt
haben, ein Exempel statuiert wird. Es geht doch nicht an, dass
Menschen herumlaufen und derlei Dinge machen, nicht wahr? Man muss
ein Exempel statuieren, und zwar so nachdrücklich, dass die
restliche Bevölkerung vor Angst willfährig wird. Weißt du, was er
mit Christen macht, mit Männern, Frauen und«, er lächelte, »auch
mit Kindern?«
»Ich bin überzeugt, dass du es mir gleich sagen
wirst«, meinte sie trocken.
»Gestern Abend haben sie sich das erste Grüppchen
vorgenommen. Nach allem, was ich gehört habe, war es ein famoser
Anblick.« Er trat einige Schritte zurück und lehnte sich lässig an
die Wand. »Heute Abend wollen sie die Vorstellung wiederholen. Sie
errichten Pfosten entlang der Wege in den kaiserlichen Gärten. Die
Pfosten sind mit Teer getränkt. Sie leuchten im Dunkeln.« Er machte
eine kurze Pause. »Gestern Abend war an jeden Pfosten ein Christ
festgebunden. Sie haben den Himmel über Rom wie Kerzen zum Leuchten
gebracht, und das war ja auch nur recht und billig. Denk an die
vielen unschuldigen römischen Bürger, die in dem Brand umgekommen
sind, den die Christen gelegt haben.«
Antonia ächzte. Eigon spürte, wie sie sich vor
Angst anspannte.
Titus lächelte. Dann schob er sich von der Wand
fort und trat auf sie zu, streckte eine Hand aus und berührte ihr
Gesicht. Sie zuckte nicht zurück. »Es ist eine Schande. Du bist so
hübsch. Schwer vorstellbar, dass deine Haut in schwarzen Falten um
deinen Schädel hängt, während die Flammen dich umlodern.«
Irgendwie schaffte sie es, aufrecht stehen zu
bleiben und seinem Blick standzuhalten, ohne sich seiner Berührung
zu entziehen. »Die Christen glauben an das ewige Leben, Titus
Marcus Olivinus. Sie gehen in das Land der ewigen Jugend ein, um zu
Füßen ihres Gottes und des Herrn Jesus zu sitzen, und sie wissen,
dass Gott diejenigen, die ihnen Leid zufügen, bestraft.«
»Irgendwie macht der Gedanke mir überhaupt keine
Angst.« Er grinste wieder. »Außerdem hast du doch eben noch gesagt,
dass du keine Christin bist.« Seine Hand lag immer noch auf ihrer
Wange. Sanft, fast liebevoll, fuhr er mit den Fingern über ihre
Wangen und den Hals. Sie fühlte sich stark versucht, ihm ins
Gesicht zu spucken, doch unter Aufbietung all ihrer Willenskraft
gelang es ihr, sich nicht vom Fleck zu rühren. Wenn sie ihn reizte,
würde sie seine Wut nur anstacheln. Sie musste dafür sorgen, dass
er immer weiter redete, dann gewann sie Zeit. Zeit wofür, das
wusste sie in diesem Augenblick nicht, aber Zeit war momentan die
einzige Waffe, die ihr zur Verfügung stand.
Seine Hand wanderte nach unten zum Ausschnitt ihrer
Tunika. Vorsichtig, neckend, zupfte er am Stoff. Dann hob er die
andere Hand, die, in der er den Dolch hielt. Eigon hielt die Luft
an. Sie war überzeugt, dass er ihren wilden Herzschlag hörte, als
er mit der Spitze des Dolches unter ihr Kinn fuhr und leicht nach
oben drückte. Der Druck war nicht sehr stark, nicht stark genug,
als dass die Wunde geblutet hätte. Unvermittelt zog er die Waffe
zwischen ihre Brüste nach unten, zerriss das Leinen ihrer Tunika
bis zur Taille, wo die Klinge auf den geflochtenen Ledergürtel
stieß. Dann schob er die beiden Stoffhälften auseinander, so dass
Eigon halbnackt vor ihm stand. Dieses Mal spuckte sie doch. Sie
traf ihn direkt ins Auge. Ohne zu zögern, hob er die Hand und
schlug ihr hart ins Gesicht. Vor Schmerz schrie
sie auf, taumelte gegen die Wand, aber schon hatte er sie am Arm
gepackt, warf sie zu Boden und schnitt ihr mit dem Dolch die
restlichen Kleider vom Leib. Sie war fast erstarrt vor Panik, als
Hufgetrappel auf den Pflastersteinen draußen im Hof ihn innehalten
ließ und er keuchend aufschaute. Dem Geräusch nach zu urteilen, war
ein großer Reitertrupp eingetroffen. Ein gebrüllter Befehl hallte
durch den Raum, dann ein zweiter. Fluchend ging Titus zum Fenster,
dabei steckte er seinen Dolch in den Gürtel. Eine Gruppe Legionäre
war in den Hof geritten, die Männer waren abgesessen und führten
ihre Pferde zur Tränke, während sie sich dabei lautstark
unterhielten.
Schnell bückte Titus sich nach einem Fetzen von
Eigons zerrissener Tunika, stopfte ihn ihr in den Mund und
befestigte ihn mit einem Stück ihres Gürtels. Dann wickelte er sie
in seinen Umhang, band ihn mit dem Rest des Gürtels fest, hob sie
auf und warf sie neben Antonia auf das Stroh. Grinsend sah er dann
zu den beiden Frauen hinab. »Offenbar habe ich Verstärkung
bekommen. Früher, als ich gehofft hatte, aber schließlich gibt es
noch viele von euch, die wir zusammentreiben müssen!« Damit trat er
zur Tür, warf sie auf und ging in den Sonnenschein hinaus.
Jess öffnete die Augen. Sie saß am Boden, den
Rücken an die Wand gelehnt. Draußen war es dunkel geworden. Ihr war
übel, und sie hatte Angst. Ihre Handflächen waren schweißnass.
Lange Zeit blieb sie still sitzen und starrte in den Raum vor sich,
während Schatten und Stimmen durch ihren Kopf wirbelten.
Der diensthabende Offizier marschierte direkt ins
Haus und blieb dann stehen, um auf die beiden Frauen
hinabzuschauen. »Wer sind die?«, fragte er barsch.
Titus war ihm ins Haus gefolgt. Er machte eine
wegwerfende Geste. »Noch zwei Christinnen, Herr. Hier wimmelt es
vor ihnen. Wir wollten sie gerade nach Rom bringen.«
»Das ist nicht nötig. Werft sie zu den anderen in
den Wagen.« Auf seinen bellenden Befehl hin erschienen zwei
Legionäre.
Ohne auf Titus’ Einwände zu achten, gab er seinen
Männern ein paar kurze Anweisungen. Titus salutierte, seine Augen
blitzten vor Zorn, als er zusehen musste, wie die beiden Frauen aus
dem Stroh geschleppt und durch die Lederklappen auf den
geschlossenen Wagen geworfen wurden. Dort landeten sie unsanft
zwischen den anderen, die bereits dort lagen. Die zwei kleinen
Kinder waren derart verängstigt, dass sie nicht einmal mehr zu
weinen wagten. Eine Frau, vielleicht ihre Mutter, lag mit offenen
Augen auf dem Rücken. Sie war tot. Zwei Männer waren
aneinandergebunden und mit den Handgelenken an das Gerüst des
Wagendaches gefesselt. Sie saßen ruhig da und beteten und machten
keinerlei Anstalten, die beiden jungen Frauen anzusprechen, die zu
ihnen hereingeworfen worden waren. Doch als sich der Wagen
schlingernd in Bewegung setzte, krabbelte der kleine Junge, eines
der beiden Kinder, zu ihnen und versuchte mit blutenden Händen,
Eigons Knebel zu entfernen. Endlich gelang es ihm. Dann machte er
sich an die Knoten des Ledergürtels, mit dem sie gefesselt war.
Trotz ihrer wunden Lippen zwang Eigon sich zu einem Lächeln und
flüsterte dem Jungen ein paar ermutigende Worte zu. Als er sie
schließlich befreit hatte, bewegte sie mühsam ihre steifen Arme und
drückte den Jungen an sich, um ihm einen Kuss auf den Scheitel zu
geben. Dann kroch sie zu Antonia hinüber. Den Knebel konnte sie
rasch entfernen, doch bis sie auch die Fesseln gelöst hatte,
dauerte es sehr lange. Mittlerweile schauten die beiden Männer zu
ihnen.
Sie legte einen Finger auf die Lippen, damit sie schwiegen, dann
konzentrierte sie sich wieder auf Antonia. »In meiner Tasche. Dort
drüben.« Unvermittelt hörte sie die heisere Flüsterstimme des einen
in ihrem Ohr. »Da ist ein Messer.«
Nach einigem Suchen hatte sie es schließlich
gefunden, löste den beiden Männern die Fesseln und horchte
angestrengt, ob nicht einer der Soldaten vorne auf dem Wagen auf
die Idee kam, nach seiner menschlichen Fracht zu schauen. Sie hörte
die Männer mit den Wachposten scherzen, sie sprachen laut, um das
Hufgetrappel zu übertönen.
Einer der Männer kauerte sich zu der toten Frau und
gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Möge unser Herr Jesus Christus
dich segnen, mein Herz.« Er nahm ihr den Umhang von den Schultern
und reichte ihn Eigon. »Du brauchst ihn mehr«, sagte er leise.
Eigon errötete. Sie hatte versucht, ihre Blöße mit Titus’ Umhang zu
bedecken, aber sie war dankbar für seine Geste. Der andere Mann
robbte vorsichtig zur Lederklappe, hob sie an und spähte hinaus.
Niemand war zu sehen, offenbar folgten keine Soldaten dem Wagen. In
diesem Moment fuhren sie durch ein bewaldetes Gebiet, es war
relativ dunkel. Der Mann schaute zu Eigon und hob fragend die
Augenbrauen. Dann flüsterte er ihr direkt ins Ohr: »Sollen wir
rausspringen? Das ist vielleicht unsere einzige Chance.« Sie
nickte. Der Wagen war zwar hoch und fuhr mit raschem Tempo dahin,
jeder, der heruntersprang, lief Gefahr, sich zu verletzen, aber
alles war besser, als tatenlos das weitere Schicksal abzuwarten.
»Wir müssen sehr leise sein. Springt und versteckt euch so schnell
wie möglich zwischen den Bäumen. Schaut zu, dass ihr außer
Sichtweite kommt.« Er warf einen Blick zu dem anderen Mann und dann
zu Antonia. »Ihr zwei Frauen zuerst, wir nehmen jeder ein Kind und
folgen euch. Jetzt!«
Es blieb keine Zeit, zu überlegen. Eigon griff nach
Antonias Hand, einen Moment kauerten die beiden hinten auf dem
Wagen, dann ließen sie sich fallen. Durch den heftigen Aufprall
blieb Eigon kurz die Luft weg, aber schon im nächsten Moment war
sie aufgesprungen und lief zwischen die Bäume. Von dort sah sie,
wie die beiden Männer ebenfalls heraussprangen, jeder mit einem
Kind im Arm. Einer der Männer landete auf den Füßen und taumelte,
fing sich aber wieder und rannte in den Wald. Die Pferde trabten
schnell dahin, der Wagen schlingerte hinter ihnen her. Das Geräusch
der Hufe auf den Pflastersteinen übertönte jeden Lärm, den die
sechs gemacht haben konnten, und ehe sie wieder richtig zu Atem
gekommen waren, war der Wagen bereits in einer Staubwolke um eine
Kurve verschwunden.
»Ist alles in Ordnung? Wo sind die anderen?« Der
Mann, der den kleinen Jungen bei sich hatte, winkte Eigon aus dem
Schatten zu. Das Kind wirkte völlig benommen.
Eigon schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht
sehen. Sie müssen zwischen die Bäume geflüchtet sein. Ich schau
nach ihnen.« Der Knöchel tat ihr weh, offenbar hatte sie ihn sich
beim Aufprall verknackst, und sie hatte sich den Arm aufgerissen,
die Schürfstelle brannte wie Feuer. Vorsichtig schlich sie zum Rand
der Bäume und sah prüfend die Straße auf und ab.
»Eigon?« Antonia taumelte auf sie zu. Sie war über
und über mit Blättern bedeckt, und im Gesicht hatte sie dunkle
Flecken, aber sonst schien sie unverletzt. »Wo sind die
anderen?«
Sie fanden den zweiten Mann und das kleine Mädchen
im Straßengraben sitzen, beide zu benommen, um sich zu bewegen. Sie
mussten eine ganze Weile auf das Mädchen einreden, ehe es
schließlich seine Ärmchen vom Hals des Mannes löste, dann
schließlich gelang es ihm, aufzustehen.
»Kommt. Sie werden bald merken, dass wir nicht mehr
da sind, und nach uns suchen. Wir müssen weg von hier.« Der ältere
der beiden Männer übernahm die Führung. »Wir ziehen uns tiefer in
den Wald zurück. Wir dürfen von der Straße aus nicht zu sehen sein.
Weiß jemand von euch, wo wir sind?«
Eigon hatte von dem Umhang, den sie sich um die
Schultern gelegt hatte, einen Streifen abgerissen und verband damit
ihren Knöchel. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen
aufzuschreien. »Wir sollten nicht so weit von dem Bauernhof weg
sein, in dem Antonia und ich gefangengenommen wurden. Ich weiß, wo
der ist. Ich bin ja freiwillig dorthin geritten.« Sie verzog das
Gesicht, halb wegen der Schmerzen in ihrem Fuß, halb wegen ihrer
Dummheit. »Es war nicht weit entfernt von dort, wo ich
wohne.«
»Aber dahin wollen wir doch nicht zurück, Eigon«,
sagte Antonia leise. Sie zitterte am ganzen Leib. »Da wird er als
Erstes nach uns suchen.«
Eigon seufzte. »Da hast du Recht. Also, was sollen
wir tun?«
»Wir sollten beten.« Der jüngere Mann, der Vater
der beiden Kinder, hatte jetzt die Arme um sie gelegt. Er schaute
zu den Frauen auf. »Ich heiße Stephanus. Und die beiden sind Maria
und David.«
»Und ich bin Marcellus«, sagte der Ältere. Als sie
ein leises Donnern hörten, warf er durch die Bäume einen Blick zum
Himmel. »Eigon, kannst du auftreten? Dann marschieren wir jetzt
los. Mein Gefühl sagt mir, dass wir auf den Donner zugehen sollten.
Das Unwetter treibt schon den ganzen Nachmittag von den Bergen zu
uns herüber. Es führt uns von der Stadt und der Straße fort. Berge
sind immer ein gutes Versteck. Stephanus, wir beten beim Gehen.
Gott wird uns leiten.«
Eigon warf einen Blick zu Antonia. »Darf ich mich
auf deine Schulter stützen?«
Antonia nickte. »Das ist alles nur meine Schuld. Du
bist mir zu Hilfe gekommen.«
»Es ist nicht deine Schuld.« Eigon fuhr vor Schmerz
zusammen, als sie mit dem Fuß auftrat. »Es war meine Schuld, dass
ich so vertrauensselig war. Das war dumm von mir. Darüber reden wir
am besten nicht mehr. Außer …« Unvermittelt schaute sie wieder zu
Antonia. »Dein Großvater? Wo ist er? Julius ist zu uns gekommen, um
nach euch beiden zu suchen.«
»Er ist in Sicherheit. Oder das war er zumindest,
als ich die Villa verließ. Ich bin auch überlistet worden.« Sie
machte eine hilflose Geste. »Ich war wirklich dumm!«
»Hat er …?« Eigon zögerte. »Hat er dir
wehgetan?«
Antonia schüttelte den Kopf. »Er hat mir überhaupt
nichts getan. Nur meine Würde verletzt.«
»Gott sei Dank!«
Antonia lächelte. »Das klang, als käme es von
Herzen.«
»Das tut es auch.«
»Du hast Gott sei Dank gesagt, nicht den Göttern
sei Dank.«
Überrascht schaute Eigon sie an. »Du hast
Recht!«
Wie Marcellus vorgeschlagen hatte, gingen sie lange
Zeit auf die Gewitterwolken zu, die über den Bergen hingen. Als sie
schließlich die erste Erhebung erreichten und ein Haus sahen, das
inmitten eines Gemüsegartens vor dem Wald lag, war es schon spät
geworden.
»Ich schaue mal, ob ich für die Kinder Brot und
etwas Ziegenmilch kaufen und herausfinden kann, wo genau wir sind«,
sagte Marcellus leise. »Ihr bleibt so lange hier.« Sie hatten den
Rand einer felsigen Schlucht erreicht, unter ihnen rauschte ein
Wildbach, das steile Ufer mit den
verschlungenen Baumwurzeln bildete ein natürliches Versteck.
Alle sahen ihm nach, wie er auf das Haus
zumarschierte. »Er ist ein guter Mann«, sagte Stephanus
nachdenklich. »Lieber Gott, bitte schütze ihn.«
Maria und David hatten sich in dem Unterschlupf
sofort aneinandergeschmiegt, zu müde und verängstigt, um zu
jammern, und fielen in einen unruhigen Schlaf. Eigon setzte sich
neben sie und sang ihnen leise eins der Wiegenlieder vor, an das
sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte.
Später saßen Stephanus, Antonia und Eigon am Rand
des Baches und lauschten auf das Tosen des Wassers. »Glaubt ihr,
dass wir hier sicher sind?«, fragte Antonia schließlich. Sie
zitterte immer noch.
Stephanus zuckte mit den Schultern. »Vor den
Männern, die uns gefasst haben, vielleicht. Wer weiß? Dieser
plötzliche Hass gegen uns ist sehr merkwürdig. Als würden wir die
Stadt in Brand stecken wollen!«
»Irgendjemand muss als Sündenbock dienen.« Eigon
hatte die Knie angezogen. Mittlerweile zitterte auch sie. »Rom ist
eine sehr große Stadt. Ein Feuer oder ein Dutzend, wer weiß das
schon. Vielleicht war es wirklich nur ein Unglück.« Sie seufzte.
»Marcellus sagte, er wolle versuchen, etwas zu essen zu kaufen.
Heißt das, dass er Geld hat?«
Lange Zeit herrschte Stille. »Ich kenne ihn nicht«,
sagte Stephanus schließlich. »Als wir festgenommen wurden, lag er
schon im Wagen. Ich weiß nicht, woher er kommt.«
»War das deine Frau dort im Wagen, Stephanus?«,
fragte Antonia. »Es tut mir leid, dass sie gestorben ist.«
Er nickte. Einen Moment legte er den Kopf auf die
Arme, die auf den Knien lagen. Dann schaute er auf. »Zumindest ist
sie jetzt bei Jesus.«
»Und sie wacht über dich und eure Kinder«, ergänzte
Eigon. Einen Moment legte sie eine Hand auf seine. »Ich spüre, dass
sie sehr nah bei uns ist.«
Verwundert schaute er sie an. »Woher weißt du
das?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich
einfach.«
Als hinter ihnen Schritte knirschten, sahen alle
voll Angst auf, doch es war Marcellus, der vor ihnen stand. Über
seiner Schulter hing eine Tasche, in den Armen trug er einen
schweren Umhang. »Bruder und Schwestern, ich habe Essen und Wärme
mitgebracht. Schaut.« Er setzte sich neben sie, öffnete die Tasche
und zeigte ihnen zwei Brotlaibe, die noch ofenwarm waren, einen
Krug Milch, ein Stück Ziegenkäse und zwei Pasteten. Er segnete die
Speisen, dann weckten sie die Kinder und teilten das Essen unter
sich auf. Das Gewitter wurde immer lauter. Nachdem sie gegessen
hatten, machten sie es sich so gut wie möglich in der Höhle bequem,
die von den Baumwurzeln gebildet wurde, und wickelten sich in den
Umhang. So wollten sie das Ende der Nacht abwarten.
Die Kinder schliefen sofort wieder ein, Antonia
schmiegte sich an sie und fiel ebenfalls bald in einen unruhigen
Schlaf. Die anderen drei saßen mit dem Rücken an die Baumwurzeln
ihres Verstecks gelehnt und schauten in den strömenden Regen
hinaus.
»Glaubt ihr, dass der Flusspegel steigen wird? Dann
wäre das kein gutes Versteck«, sagte Stephanus nach einer ganzen
Weile. Das Wasser floss strudelnd und tosend direkt unter ihnen
vorbei.
Marcellus schüttelte den Kopf. »Das Ufer ist sehr
steil, und das Wasser fließt zu schnell. Uns wird nichts passieren.
Wir können beruhigt schlafen.«
Eine kurze Weile später war Stephanus eingeschlafen
und schnarchte. Marcellus schaute zu Eigon hinüber. »Du bist noch
wach?«
Sie nickte. »Ich habe nichts dagegen, mich einfach
nur auszuruhen.« Sie machte es sich ein wenig behaglicher. »Du bist
nicht aus Rom?«
»Nein.« Er lachte kehlig. »Und du auch nicht,
obwohl du unsere Sprache fließend sprichst.«
»Ich komme aus Britannien.« Sie grinste.
»Und ich aus Ephesos. Ich habe Paulus dort predigen
hören, ungefähr zehn Jahre ist das her. Er hat mich getauft, und
ich bin einer seiner Gehilfen geworden. Vor drei Jahren bin ich mit
ihm nach Rom gekommen. Als er nach dem Prozess freigesprochen
wurde, hat er mich gebeten, hierzubleiben und seine Arbeit
fortzusetzen, während er wieder auf Reisen ging.«
»Das heißt, dann bist du in größerer Gefahr als
wir«, sagte sie nachdenklich.
Er lachte leise. »Ich glaube nicht, dass es unter
diesen Umständen eine größere oder kleinere Gefahr gibt.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Würdest du etwas
für mich tun, Marcellus?«
Er hob die Augenbrauen. »Das kommt darauf
an.«
»Würdest du mich taufen?«
Lange Zeit herrschte Stille. »Es wäre mir eine
Ehre.«
»Du fragst mich nicht, ob ich weiß, was ich da
tue?«
»Ich glaube, die Frage ist überflüssig.« Mühsam
stand er auf. »Komm runter ans Wasser.«
Sie ließen die anderen schlafend zurück und traten
in den Regen hinaus. Innerhalb kürzester Zeit waren sie beide nass
bis auf die Haut. Marcellus lachte. »Gott tauft dich selbst mit
seinem eigenen heiligen Wasser!«
Eigon lachte. »Ich sollte Antonia holen. Das würde
sie miterleben wollen!«
»Das tut sie ja auch.« Er schaute über Eigons
Schulter. »Wir müssen sie geweckt haben. Sie soll deine Taufpatin
sein.
Stephanus soll bei seinen Kindern bleiben. Sie brauchen den
Schlaf, um Kraft zu schöpfen für das, was ihnen morgen bevorsteht.«
Halb kletterte, halb rutschte er das Ufer hinab zum tosenden Bach
und streckte die Hand zu Eigon aus, um ihr zu helfen. Oben am Ufer
stand Antonia, das Haar fiel ihr im Regen in nassen Strähnen über
den Rücken.
»Was ist los? Was habt ihr vor?«
»Marcellus wird mich taufen«, rief Eigon. »Komm,
sei meine Patin!«
Antonia schrie vor Entzücken auf. »Ach, Eigon,
endlich! Ach, meine Liebe, jetzt bist du meine Schwester in
Christus!« Sie rutschte das Ufer hinab zu ihnen, ihr Rock verfing
sich zwischen ihren Beinen. Ein Donnerschlag ließ die Schlucht
erzittern.
Die Zeremonie dauerte nur wenige Augenblicke, dann
umarmten sich die drei und sprachen ein Gebet. Vor Kälte zitternd
und erschöpft, kletterten sie schließlich wieder in ihr Versteck
zurück, schmiegten sich in ihren nassen Kleidern wärmesuchend
aneinander und versuchten zu schlafen.
Eigon blieb noch lange wach und schaute in den
Regen hinaus, auch als das Gewitter nachließ. Sie empfand einen
tiefen inneren Frieden. Was sie getan hatte, war kein Verrat an den
Göttern ihrer Familie, sondern ein Zeichen, dass sie in einen
größeren Kreis der Liebe, des Verständnisses und der Kraft
eingetreten war, der sie den Rest ihres Lebens stützen würde.
Flüsternd betete sie, dass ihre Mutter und ihr Vater wussten, dass
sie in Sicherheit war und sie alle bald wieder zusammensein
würden.
Als der Regen nicht mehr auf das Laub prasselte,
breitete sich Stille über die Wälder, gestört nur vom Rauschen des
Wildbachs. Langsam wurde es hell. Aus den hohen Bergen in der Ferne
hörte Eigon das einsame Heulen eines Wolfs. Sie lächelte. Hinter
ihr regte sich der kleine Junge, löste sich
aus der Umarmung seines Vaters und setzte sich wortlos neben sie.
Sie legte einen Arm um ihn und zog ihn an sich. Er musste ungefähr
im selben Alter sein wie ihr Bruder, als sie ihn das letzte Mal
gesehen hatte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie im Flüsterton.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass dieser kleine Junge seine Mutter
am Tag zuvor hatte sterben sehen.
Er nickte. »Ich habe Hunger.«
Sie lächelte. »Ich auch. Wenn es richtig hell ist,
geht Marcellus wieder zu dem Haus und versucht, noch mehr von dem
wunderbaren Brot und Käse zu bekommen.«
»Und wohin gehen wir dann?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Auf einmal stiegen
ihr Tränen in die Augen. Sie hatte nicht die geringste
Ahnung.
Jess fröstelte. Vom Sitzen am Boden war sie so
steif geworden, dass sie sich kaum rühren konnte. Sie warf einen
Blick zum Fenster. Auch hier wurde es langsam hell. Stöhnend stand
sie auf und ging in das kleine Bad. Nach einer Dusche fühlte sie
sich viel besser. Sie ließ sich ins Bett fallen und schlief sofort
ein. Als sie aufwachte, war es beinahe zehn Uhr. Ihre freundliche
Wirtin setzte ihr heiße panini und Kaffee vor, und derart
gestärkt ging sie sofort wieder in ihr Zimmer.
»Und was zum Hades willst du jetzt tun?« Lucius
stand neben Titus und sah dem Beschlagmeister zu, der fachkundig
das Bein seines Pferdes abtastete und sanft eine Schwellung an der
Fessel berührte. »Sie wird’s ihrem Vater sagen, und dann kriegst du
wirklich Ärger.«
»Sie wird ihrem Vater nichts sagen, das ist ja das
Großartige.« Titus griente. »Jetzt schließlich ist mir
klargeworden, dass ihre Mutter ihm die ganze Zeit verheimlichen
wollte, dass ich die Königin der Silurer in einem Viehstall auf
einem verregneten Berg im Land der Barbaren genommen habe! Warum
ist die Geschichte denn sonst nicht schon längst herausgekommen?
Außerdem hat sie mein Gesicht nie gesehen. Ehrlich gesagt glaube
ich, dass nie die geringste Gefahr für mich bestand! Was für eine
Ironie!«
»Das heißt, du willst sie vergessen?« Eine Woge der
Erleichterung erfasste Lucius. Bei der Vorstellung, noch weiter in
die Pläne seines Freundes verstrickt zu werden, wurde ihm
übel.
»Auf keinen Fall! Ich will sie. Und ich kriege sie
auch.«
»Und wie? Sie sind geflohen.«
Titus machte eine finstere Miene. Die Tatsache,
dass die Gefangenen ihnen durch einen einfachen Sprung aus dem
Wagen entkommen waren, würde so schnell nicht vergessen werden.
Eine gesamte Kohorte der Prätorianer hatte sich damit lächerlich
gemacht. Die Flucht der Gefangenen war erst bei der Rückkehr ins
Lager bemerkt worden, als sie die Häftlinge zum Kerker auf dem
Esquilin bringen wollten. Das Gefängnis hatte man in aller Eile in
den Kellern von Häusern eingerichtet, die abgerissen worden waren
im Versuch, eine Brandschneise zu schaffen. Von dort sollten die
Christen entweder zum Zirkus oder zu den Lustgärten des Kaisers
gebracht werden, wo sie als römische Kerzen dienen sollten.
»Eigentlich ist es ein Glück, dass sie entkommen
ist«, sagte Titus mit einem rauen Lachen. »Es wäre wirklich ein
Jammer gewesen, wenn sie nur zur Unterhaltung des Kaisers gestorben
wäre. Dann wäre ich ja um mein Vergnügen gebracht worden.« Als der
Beschlagmeister sich aufrichtete, trat er vor. »Lohnt es sich, das
Pferd zu behalten?«
Der Mann nickte. »Ein paar Tage Ruhe, dann ist es
so gut wie neu. Ich behalte es hier und verbinde die Schwellung.«
Er warf einen misstrauischen Blick zu dem Offizier. Solche Männer
hatte er schon öfter erlebt. Der würde das Tier lieber zum
Schlachter geben, als Zeit auf eine Behandlung zu verschwenden.
Sacht beruhigte er das schwitzende Pferd und ließ Titus keine Zeit,
seine Meinung zu ändern, sondern führte es so schnell wie möglich
fort.
»Und wie willst du sie finden?«, fragte Lucius, als
sie auf das Quartier der Offiziere zusteuerten.
Titus machte eine vage Geste. »Ich habe so das
Gefühl, dass sie wiederkommen wird. In meinem Kopf ist da eine
Stimme.« Er lachte schallend. »Die sagt mir, wo sie ist.« Er tippte
sich an die Nase. »Vielleicht rieche ich sie auch.« Er blieb so
abrupt stehen, dass Lucius fast mit ihm zusammenprallte. »Ich gebe
dem kleinen Flavius noch ein paar Silbermünzen. Dann erfahre ich
alles, was in der Villa vor sich geht. Du hast Recht, Eigon wird
ihren Eltern sicher eine Nachricht zukommen lassen. Vielleicht ist
sie sogar dumm genug, zurückzugehen und zu warten, dass ich sie
nochmal hole. Ich sag dir was, Lucius, sie ist mutig. Sie hat mir
die Stirn geboten.« Er grinste. »Das hat mir gefallen. Die andere,
diese Antonia, die hat gewinselt wie ein geprügelter Hund.«
Daniel grinste. Am Abend zuvor hatte er bei einer
Raststätte gehalten, um etwas zu essen, und dann beschlossen, sich
in einer nahe gelegenen Pension ein Zimmer zu nehmen. Er war
erschöpft gewesen. Das Auto hatte er auf dem LKW-Parkplatz stehen
lassen. Es war eine gute Entscheidung gewesen. Jetzt fühlte er sich
wacher als seit langem, und er hatte von Titus geträumt. Es war
unglaublich. Wie in einem Film. Die Details waren einfach
unfassbar. Er grinste schief. Eigentlich hatte er sich darauf
gefreut, zu sehen, wie Eigon bekam, was sie verdiente, aber dazu
war es nicht gekommen. Sie war verschwunden. Genau wie Jess.
Er bezahlte seine Rechnung und ging in die Sonne
hinaus. Die Hitze war wie eine Wand. Es würde nicht lange dauern,
nach Rom zurückzufahren und den Wagen zurückzugeben, dann würde er
vielleicht zum Palazzo schlendern und seinem Freund Jacopo einen
Besuch abstatten. Die Kombination von Geld und Drohungen hatte sich
schon in der Vergangenheit gut bewährt. Wenn sich etwas
herausfinden ließ, dann war Jacopo der richtige Mann - es sei denn,
Titus war in der Zwischenzeit fündig geworden. Einen Moment blieb
Daniel bei laufendem Motor und geöffneter Tür auf dem Fahrersitz
sitzen, sein Fuß spielte mit dem Gaspedal. In dieser brütenden
Hitze widerstrebte es ihm, die Tür zu schließen. In dem Moment
klingelte sein Handy. Er fischte es aus der Tasche und drückte auf
die Annahmetaste. »Hallo, Nat?«
»Wo zum Teufel bist du die ganze Zeit gewesen,
Daniel?« Natalies Stimme schien durch den ganzen Wagen zu hallen.
»Ich versuche seit Ewigkeiten, dich zu erreichen.«
»Tut mir leid. Ich war außerhalb der Stadt und
hatte das Handy nicht eingeschaltet. Ist was nicht in
Ordnung?«
»Der Rektor hat schon ein paarmal versucht, dich zu
erreichen. Es hat etwas mit der Polizei zu tun.«
»Was?« Er stellte den Motor ab und stieg aus, blieb
neben dem Wagen stehen und schaute über den Parkplatz zu den Bergen
in der Ferne. Seine Hände zitterten ein wenig. »Warum?«
»Ich weiß es nicht. Mir hat er’s natürlich nicht
gesagt.«
»Ja, das ist klar.«
»Er sagt, du sollst ihn sobald wie möglich
anrufen.«
»Weiß er, dass ich hier bin?«
»Ja, natürlich. Ich hab’s ihm gesagt.«
»Mist!« Daniel war der Schweiß ausgebrochen. »Hör
mal, es ist sinnlos, wenn ich jemanden von hier aus anrufe.
Das mache ich, wenn ich zurück bin. Ich bleibe nicht mehr lange.
Morgen, allerspätestens übermorgen fahre ich nach Hause. Kannst du
Brian anrufen und ihm sagen, dass du mich nicht erreicht hast, ich
aber auf deinem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen habe,
dass ich auf dem Heimweg bin? Das gibt mir ein bisschen
Zeit.«
Einen Moment herrschte Stille. »Was ist denn los,
Daniel? Was ist passiert?«, fragte Natalie dann. Ihr Misstrauen war
nicht zu überhören.
»Nichts ist passiert. Wahrscheinlich hat es etwas
mit der Schule zu tun. Aber was immer es ist, hier sind mir ja wohl
die Hände gebunden. Und ich lass mir meinen Urlaub doch nicht von
irgendeiner Lappalie verderben. Ich bin bald wieder da.«
»Seit wann bist du im Urlaub, Daniel?« Natalies
Stimme wurde noch schärfer. »Dein Urlaub kommt doch erst noch! Du
wolltest mit uns wegfahren, hast du das vergessen? Mir hast du
gesagt, dass sie dich in letzter Minute gebeten haben, bei einer
Bildungskonferenz für jemanden einzuspringen.«
»Das stimmt ja auch.« Daniel fluchte im Stillen.
»Ich meine, ich will nicht vorzeitig von der Konferenz abreisen.«
Er wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Hör mal, Nat, ich muss
jetzt Schluss machen. Der nächste Redner kommt dran. Ich ruf dich
morgen wieder an, ja? Halt bitte alle hin, ich kümmere mich darum,
sobald ich zu Hause bin.« Er schaltete das Handy aus und warf es
auf den Rücksitz. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Er atmete tief durch
und blieb einen Moment still stehen. Neben ihm startete mit
kehligem Röhren der Motor eines gewaltigen Lastwagens. Dann fuhr
der LKW langsam aus dem engen Parkplatz und ließ Daniel in einer
Abgaswolke stehen. Sie war also bei der Polizei gewesen. Na, das
hätte er sich denken können. Deswegen
hatte er sich ja die Mühe gemacht, alle davon zu überzeugen, dass
sie verrückt war. Da hatte er nichts mehr zu befürchten. Sie war
verrückt, total durchgeknallt. Sie brauchte nur mit Eigon und Titus
und den ganzen anderen Gespenstern anzukommen, und die Polizisten
würden ihr kleines Notizbuch sofort zuklappen und sich höflich
empfehlen. Ärgerlich setzte er sich wieder in den Wagen und
startete den Motor ein zweites Mal. Also, was sollte er jetzt tun?
Es war ja schön und gut, wenn er sie finden sollte, aber es war ein
Fehler gewesen, zuzugeben, dass er noch in Italien war. Ein
taktischer Fehler. Er hätte behaupten sollen, er sei in England.
Oder auf dem Heimweg, in Frankreich. Er stutzte. Er war doch auf
dem Heimweg. Das würden Rhodri und Steph bestätigen. Sie waren ewig
weit von Rom entfernt gewesen, als er die beiden eingeholt hatte.
Und wohin er dann gefahren war - das wussten sie nicht mit
Gewissheit.
Aber er hatte Nat gesagt, dass er noch auf der
Konferenz war. Scheiße. Er würde es leugnen. Sie würde glauben,
dass sie ihn falsch verstanden hatte. Sie war sowieso völlig
paranoid, weil sie glaubte, er habe mit einer Kollegin eine Affäre.
Er würde sagen, dass sie das alles nur aus Eifersucht behauptete.
Nach einem Blick in den Rückspiegel fuhr er los. Er hatte noch
einen Tag, höchstens zwei Tage Zeit, um Jess zu finden und die
Sache mit ihr zu erledigen. Er würde Nat nochmal anrufen und
gestehen, dass er in der Schweiz war. Irgendeine Geschichte
erfinden, um sie zu beruhigen. Erschöpfung war eine gute Ausrede.
Und die stimmte sogar. Er würde gestehen, dass es die Konferenz gar
nicht gab - so etwas konnte die Polizei leicht überprüfen, also war
es sinnlos, bei dem Alibi zu bleiben. Vielleicht sollte er Nat
bitten, zu ihm zu kommen. Sich an ihrer Schulter ausweinen.
Vielleicht sollte sie sogar die Kinder mitbringen. Nein, nicht die
Kinder. Allein war sie leichter zu handhaben. Weniger eine Mutter,
die ihre Jungen verteidigen musste. Wenn sie allein war, konnte er
sie leichter rumkriegen. Dann würde sie ihm den Rücken
decken.
Jetzt brauchte er also nur noch mit Titus Kontakt
aufzunehmen. Titus würde ihm helfen. Titus war schlau, und er war
entschlossen. Er würde wissen, was zu tun war. Er würde wissen, wo
Jess zu finden war. Lächelnd trat Daniel das Gaspedal durch,
schloss die Fenster und schaltete die Klimaanlage an. Irgendjemand
in Rom würde schon wissen, wo sie steckte. Wenn sie bei Kim war,
würde Jacopo es herausfinden. Wenn Carmella es wusste, dann lag es
an ihm, Jess aufzuspüren. Und gerade war ihm die Idee gekommen, wie
er das anstellen musste. Mein Gott, das lag doch auf der Hand.
Warum war er nicht sofort darauf gekommen!