Kapitel 20
Titus Marcus Olivinus saß neben seinem
Onkel, Senator Caius Marcus Pomponius, auf den Stufen des Dampfbads
und führte ein angeregtes Gespräch mit ihm.
»Es war Teil meiner Aufgabe, den Männern zu folgen.
Sie stehen im Verdacht, einen Verrat zu planen«, sagte Titus leise.
Mit einer Handbewegung grüßte er einen Kollegen, der an ihnen
vorbei zu den Bänken auf der anderen Seite des Raums ging. »Wie du
weißt, hegt der Kaiser immer größere Bedenken wegen dieser
Christen. Sie breiten sich wie Schimmelpilze in den Gassen der
Stadt aus.«
Sein Onkel runzelte die Stirn. »Nicht nur dort,
Titus. Sogar im Senat und im Heer gibt es Männer, die diesem
Glauben folgen. Früher dachten wir, es wären nur Sklaven und
Frauen, die zu den Christen gehen, aber jetzt …« Er zuckte mit den
Achseln.
»Petrus der Fischer war mit einer großen Gruppe von
Leuten bei Pomponia Graecina im Haus«, flüsterte Titus. »Er hat sie
getauft.« Er schaute angelegentlich auf seine Zehen, als
interessierte ihn die Reaktion seines Onkels gar nicht. »Es waren
auch ein paar Leute aus dem Haushalt von Caratacus dem Britannier
dort, mit dem Pomponia Graecina sich ja angefreundet hat. Ich habe
gehört, dass er seine Krankheit überwunden hat. Petrus hat ihn mit
seinen Gebeten
zu diesem Jesus geheilt, und jetzt hat er nichts Besseres zu tun,
als Umsturzpläne zu schmieden.«
Caius stieß einen lautlosen Pfiff aus.
»Caratacus’ Tochter ist ein stilles Wasser«, fuhr
Titus fort. »Ein unscheinbares Mäuschen, wie meine Informanten
sagen.« Insgeheim lächelte er. Unscheinbares Mäuschen waren nicht
ganz die Worte, mit denen sie ihm beschrieben worden war. Ganz im
Gegenteil, sie galt als klug, temperamentvoll und sehr schön. Und
offenbar wurde sie immer sorgsam bewacht, wie er grimmig dachte.
Trotz mehrerer Versuche, sie zu entführen, hatte sie sich seinem
Zugriff bislang entzogen, was ihren Reiz nur noch steigerte. Aus
Ärger darüber und wegen seiner Sorge vor Entdeckung beschäftigte er
sich innerlich mehr mit ihr, als ihm guttat. Der Gedanke, ihre
Freunde und Familie wegen Umsturzversuchen anzuschwärzen, war ihm
erst kürzlich gekommen, und zwar an einem Saufabend mit seinem
Freund Marius, der sich länger als üblich hingezogen hatte. »Sie
hat sich mit ihren großen, schönen Augen und ihrem lieben,
unschuldigen Lächeln in mehrere Haushalte eingeschlichen und zu
Unruhe und Aufruhr aufgestachelt.« Er verstummte abrupt, als ihm
bewusst wurde, dass sein Onkel ihn aus zusammengekniffenen Augen
beobachtete und dabei amüsiert lächelte.
»Ich dachte, du hättest gesagt, sie sei ein
unscheinbares Mäuschen«, bemerkte Caius süffisant.
Titus lachte. »Die sind immer die gefährlichsten!«,
sagte er im Ton des lebenserfahrenen Mannes.
Caius nickte. »Du meinst also, wir sollten gegen
diese verräterische kleine Dame und ihren Vater ermitteln?«
Titus machte eine ausweichende Geste. »Vielleicht
nicht direkt ermitteln. Ich würde mit Pomponias Haushalt anfangen.
Ihr Gemahl sollte von ihren Umtrieben erfahren.«
»Er weiß Bescheid.« Caius tupfte sich das Gesicht
mit der Ecke seines Handtuchs ab.
»Vielleicht sollte er dann etwas dagegen
unternehmen und sich die Freunde seiner Gemahlin ein bisschen
genauer anschauen. Es wäre seinem Ruf nicht gerade zuträglich, wenn
herauskäme, dass sie nicht nur eine Christin ist, sondern sich noch
dazu mit Verschwörern gemein macht. Es könnte eine gute Idee sein,
die Leute in ihrem Umkreis zu überwachen.«
Reglos saß Eigon da und starrte Melinus
entgeistert an. »Was meinst du damit, dass Pomponia Graecina
festgenommen worden ist? Wer hat sie festgenommen?«
»Der Senat wirft ihr vor, einem fremden Aberglauben
zu folgen und damit die Sicherheit von Staat und Kaiser zu
gefährden.«
Eigon blieb der Mund offen stehen. »Fremder
Aberglaube!«, wiederholte sie fassungslos. »Sie ist eine Christin!
Wir waren bei ihrer Taufe dabei.«
Melinus nickte düster. »Genau.«
»Aber warum? Und warum jetzt plötzlich? Ich weiß,
viele Leute misstrauen den Christen, aber sie werden wegen ihres
Glaubens nicht verfolgt, solange sie die Göttlichkeit des Kaisers
nicht anzweifeln. Und zu der Frage schweigen sich die meisten
einfach aus, genau wie wir anderen auch!«
»Meiner Erinnerung nach war die Herrin Pomponia
nicht unbedingt zurückhaltend mit ihren Bemerkungen über den
jetzigen Kaiser, ebenso wenig wie über Claudius. Wie du weißt, hat
sie ihm vorgeworfen, am Tod ihres Sohnes mitverantwortlich gewesen
zu sein.«
»Das war unvernünftig von ihr«, räumte Eigon nach
einer kurzen Pause ein. »Selbst wenn sie Beweise dafür hat,
hätte sie ihren Verdacht für sich behalten sollen. So etwas wagt
doch niemand über den Kaiser zu sagen.« Sie seufzte. »Aber wie auch
immer - wer sollte sie verraten haben?«
Melinus machte eine hilflose Geste. »Und wen hat
derjenige noch verraten?«, fragte er besorgt.
Eigon wusste sofort, dass er an seinen Freund
Felicius und an Julius dachte. Sie spürte, wie ihr das Blut aus den
Wangen wich.
»Und was passiert jetzt mit ihr?«
»Sie wird vor ihrem Gemahl und seiner Familie
erscheinen müssen, um sich zu der Anklage zu äußern.«
»Und was werden sie mit ihr machen?«
Melinus zögerte kurz und sagte dann: »Ich weiß es
nicht.« Warum so plötzlich, und warum jetzt? Und warum wurden die
Mitglieder von Caradocs Haushalt auf einmal ganz offenkundig
beobachtet? Alle, selbst die Sklaven. Besorgt musterte er Eigons
Gesicht. »Sei vorsichtig, wenn du das Haus verlässt. Ich weiß, das
ist nur selten der Fall, und wenn, dann immer in Begleitung. Aber
trotzdem, irgendetwas stimmt hier nicht.«
Einen Moment sah Eigon ihm in die Augen und
schauderte. »Weißt du etwas Bestimmtes?«
Melinus schüttelte den Kopf. »Mit dem Alter werden
meine Sinne taub!« Jetzt lag zornige Resignation in seiner Stimme.
»Ich schaue in den heiligen Teich und sehe nichts als die
gekräuselte Oberfläche, ich lausche dem Wind in den Bäumen, und er
spricht eine fremde Sprache, die ich nicht mehr verstehe. Ich fühle
mich umgeben von Botschaften, die ich nicht lesen, und von
Gefahren, die ich nicht vorhersehen kann. Da ist keine Zukunft
mehr.«
Eigon schauderte wieder. »Was soll ich tun?«
»Ich weiß es nicht.« Seine Hilflosigkeit machte ihr
Angst. »Befrage die Götter, Eigon. Hör ihnen zu. Vielleicht
sprechen
sie zu dir ja deutlicher. Sprich mit deinem Vater. Er ist jetzt
mehr bei Kräften, und er ist ein weiser Mann.« Fröstelnd hüllte er
sich fester in seinen Umhang, verschwand im Haus und ging mit
mutlos hängenden Schultern in sein Zimmer.
Eigon sah ihm nach, und Einsamkeit überwältigte
sie. Melinus war ihr Mentor, ihr Lehrer und ihr Freund. In letzter
Zeit hatte er sich immer mehr von ihr zurückgezogen, und sie hatte
seine Unsicherheit und seinen Kummer mit wachsender Hilflosigkeit
beobachtet. Er war derjenige, an den sie sich immer um Rat gewendet
hatte, und sie war noch nicht bereit, die Bürde zu schultern, die
er an sie übergeben wollte.
Nachdenklich ging sie in den Raum, in dem sie die
Kranken und Verletzten empfing, die sie um Hilfe aufsuchten. Sie
spürte, wie der Raum sie mit seinem Frieden erfüllte. So erging es
ihr immer, und das war einer der Gründe, weshalb sie sich hier so
gern aufhielt. Ihre eigene kleine Zuflucht, in der es immer nach
getrockneten Kräutern roch. Vor dem kleinen Altar der Göttin Brigid
brannte eine Öllampe, deren süßer Duft sich unter die anderen
Aromen mischte. Gedankenvoll betrachtete Eigon den Altar. In diesem
Haus wurden viele Götter verehrt, die Götter des Haushalts, die
Götter des Heilens, die Göttin des Fiebers, die Götter Britanniens
und die Götter Roms, und jetzt, seit Petrus gekommen war, um mit
ihrem Vater zu sprechen, ihm die Hand auf die Stirn zu legen und
für ihn zu beten, auch der Christengott Jesus. Eigon betrachtete
den kleinen geschnitzten Fisch, den sie auf den Altar gestellt
hatte. Das geheime Symbol, das die Christen untereinander als
Erkennungsmerkmal verwendeten. Eigon lächelte. Wie viele andere
gebildete Römer sprach auch sie Griechisch, Melinus hatte es ihr im
Lauf der Jahre beigebracht, und Griechisch war auch
der Ursprung dieses Symbols: Icthus, der Fisch. Die
Buchstaben standen für Iesous Christos Theou Huios Soter,
Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser.
Der Christengott war voller Liebe und Güte. Petrus
beteuerte, dass Er sich um die Menschen kümmerte, und in der Tat,
seitdem Petrus mit Caratacus gesprochen hatte, kam ihr Vater
allmählich wieder zu Kräften, obwohl er nicht in eine Taufe
eingewilligt hatte. Zumindest nicht damals. Eigon überlegte. Wie
ging das Gebet, das sie sprachen? »Vater unser«, so sagten sie. Und
er war ein gütiger, fürsorglicher Vater. Ein Schäfer, der sich um
seine Schafe sorgte. Ein Gastgeber, der seinen Gästen zu essen gab
und sicherstellte, dass ihnen der Wein nicht ausging. Eigon
erinnerte sich an das Gesicht ihres Vaters, als er diese Geschichte
hörte. Das Zucken um seine Lippen, das anerkennende Blitzen in
seinen Augen. Das hatte ihn nicht minder auf den Weg der Genesung
gebracht als Petrus’ Berührung. Eigons Miene verfinsterte sich.
Noch wagte sie nicht zu glauben, dass er wieder ganz gesund war.
Allzu oft war im Lauf der Jahre eine Besserung eingetreten, die
einige Wochen oder Monate andauerte, und wenn dann die Sommerhitze
einsetzte und die Luft verpestet wurde, war er binnen Tagen so
schwach wie zuvor. Aber jetzt war er kräftiger, als Eigon sich je
erinnern konnte, die alten Wunden plagten ihn weit weniger.
Vielleicht hatte Jesus ihn geheilt.
Sie sah sich in dem kleinen Raum um, betrachtete
die aufgereihten Gefäße mit ihren Wachssiegeln, die zu Sträußen
gebundenen Trockenkräuter, die an einem Deckenbalken von Haken in
der Form von Vogelklauen hingen. Die waren ein Geschenk Julias, das
einer von Flavius’ Freunden angefertigt hatte. Eigon ging zu ihrer
Arbeitsbank hinüber. Sie war sauber gefegt, keine Kräuterbrösel
lagen herum, wie sonst oft. Auf einer Seite stand ein Stapel
kleiner leerer
Gefäße, auf der anderen Wachstäfelchen und ein Stilus. Daneben
lagen zwei Schriftrollen mit sorgsam kopierten Rezepturen für
Kräutermischungen gegen die diversen Gebrechen, unter denen die
Mitglieder des Haushalts am häufigsten litten; sie alle kamen
mittlerweile, wenn sie krank wurden, ganz selbstverständlich zu
Eigon.
Hinter ihr ging die Tür auf, erschreckt drehte sie
sich um. Aelius stand vor ihr. Sein Gesicht war weiß. »Herrin
Eigon, im Hof sind Soldaten. Sie verlangen, Euch zu sehen.«
»Soldaten?« Angst durchfuhr sie wie ein
Dolchstoß.
»Prätorianer.«
»Haben sie gesagt, was sie wollen?«
Aelius schüttelte den Kopf. »Ich dachte, sie
wollten mit dem König sprechen, aber sie bestehen darauf, Euch zu
sehen.«
Sie atmete tief durch. »Ich bin bereit, den
befehlshabenden Offizier im Atrium zu empfangen, Aelius. Seine
Männer sollen draußen bleiben. Und ich möchte, dass du während der
Unterredung dabei bist.« Sie wappnete sich innerlich und tat ihr
Bestes, ruhig zu klingen.
Es war nicht er. Im ersten Moment hatte sie
befürchtet, er sei es leid geworden, darauf zu warten, dass sie
einmal nicht auf der Hut war, und wolle sie selbst holen kommen.
Der Mann, der vor ihr salutierte, war ihr nicht bekannt.
»Lucius Flavius Corbidum, Herrin.«
Eigon begrüßte ihn gefasst und wartete schweigend,
was er zu sagen hatte.
Er zögerte ein wenig, ehe er begann: »Ich habe
einen Haftbefehl für Euren Sklaven, der als Melinus bekannt ist.
Mir wurde nahegelegt, mit Euch persönlich und nicht mit dem König
zu sprechen, der krank ist. Ihr möchtet
sicher nicht, dass ihm eine Beteiligung am Verrat zur Last gelegt
werden könnte.«
Eigon starrte den Offizier verständnislos an. »Ihr
werft Melinus Verrat vor?«
Der junge Mann nickte. »Es wäre wohl besser, wenn
Ihr ihn rufen lasst, als wenn ich meine Männer beauftrage, die
Villa nach ihm zu durchsuchen, Prinzessin.«
»Melinus kann keinen Verrat begangen haben«,
brachte Eigon stockend hervor. Sie warf einen Blick zu Aelius, der
mit unbewegter Miene neben der Tür stand. »Dazu ist er gar nicht
fähig. Er ist ein gütiger, sanfter Mann, Politik interessiert ihn
nicht …«
»Darüber müssen die Richter befinden, Prinzessin.«
Lucius musterte sie unverhohlen. Titus hatte Recht, sie war zu
einer Schönheit herangewachsen, dieses Mädchen, das er vor all den
Jahren in einem regennassen Wald in einem abgelegenen Winkel des
Reichs aufgestöbert hatte. Und ihre Reaktion bewies, dass Titus
auch mit seiner Vermutung richtig lag: Sie war mit Melinus
befreundet. Jetzt würden ihre Freunde nacheinander verschwinden.
Wenn sie tatsächlich glaubte, ein Sklave würde vor Gericht gestellt
werden und einen richtigen Prozess bekommen, war sie noch naiver,
als es den Anschein hatte. Er wollte den Mann bloß möglichst
schnell und unauffällig aus dem Haus schaffen.
Eine Gestalt war in die Tür getreten. Melinus. Er
stand dort und beobachtete sie. Mit einem nachdenklichen Blick auf
Aelius trat er vor. »Ihr seid meinetwegen gekommen?« Sein Gesicht
war ernst.
»Wenn du Melinus bist.«
Melinus nickte. Lucius schauderte. Dieser Mann war
ein Druide, hatte man ihm gesagt. Ein gefürchteter und verbotener
Priester der grausamen keltischen Religion, der diese
junge Frau und ihr Vater angehörten, und wie ein
furchteinflößender Priester sah er auch aus mit seinem langen
silbernen Bart und dem geschnitzten Stab. Lucius musste sich
zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Ich habe einen Haftbefehl gegen dich. Ich soll
dich zum Mamertinischen Kerker bringen, wo du den Prozess
abwartest.« Melinus wusste vermutlich, dass er nicht vor Gericht
gestellt würde, da war sich Lucius ziemlich sicher. Wahrscheinlich
hörte der Alte schon das Brüllen der hungrigen Löwen, die nach
seinem Blut trachteten. Er straffte die Schultern, bereit, nach
seinen Männern zu rufen, aber Melinus zuckte nur mit den Achseln.
Als hätte er mit dieser Verhaftung gerechnet. Lucius schauderte
wieder. Druiden waren in vieler Hinsicht einschüchternd, unter
anderem auch deswegen, weil sie die Zukunft vorhersagen
konnten.
Mit einem Lächeln wandte Melinus sich zu Eigon.
»Hab keine Angst, Prinzessin. Mir wird es an nichts fehlen.«
»Aber, Melinus…«
»Komm mir nicht nach.« Er sah sie streng an.
»Unternimm nichts. Was aus mir wird, ist in den Sternen
geschrieben. Bleib bei deinem Vater.« Ohne auf Aelius zu achten,
wandte er sich dann an Lucius, seine Stimme klang gefasst, fast
freundlich. »Kommt, mein Freund, wir sollten gehen, bevor das
Unwetter losbricht.«
»Welches Unwetter denn?« Lucius sah in den
wolkenlos blauen Himmel.
Melinus lächelte geheimnisvoll. »Das Unwetter, das
meine Götter schicken, um ihr Missfallen über meine Festnahme
auszudrücken.« Er schritt zur Tür.
Lucius eilte ihm nach, besann sich dann aber und
verneigte sich noch kurz vor Eigon, ehe er verschwand. Eigon
starrte den beiden Männern nach. Sie hatte einen trockenen
Mund, und ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Ganz leise
tönte aus der Ferne das erste Donnergrollen herüber, das zwischen
den Hügeln widerhallte.
»Hast du den Donner gehört?«, flüsterte Jess. »Die
Götter der Berge sind zornig. Das wird das schlimmste Gewitter, das
Rom je erlebt hat.«
Langsam wandte sie ihre Aufmerksamkeit von den
Sonnenstrahlen, die durch die Blätter der Pflanzen am Rand der
Terrasse fielen, wieder auf ihre unmittelbare Umgebung. Rhodri
beobachtete sie gebannt. »Willkommen.«
Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du
damit?«
»Du warst irgendwo zweitausend Jahre entfernt.« Er
lächelte fragend. »Erzählst du mir, was passiert ist?«
Sie zögerte, noch etwas benommen, dann fiel ihr
Blick auf die Uhr, und vor Verlegenheit wurde sie rot. »Wie lange
habe ich denn geträumt?«
Er machte eine wegwerfende Geste. »Nicht lange.
Aber du hast nicht geschlafen. Du warst in einer Art Trance, dein
Blick war in die Ferne gerichtet. Du hast einen Namen gerufen.
Melinus.«
»Melinus ist verhaftet worden. Er war ein Druide.«
Ihre Verlegenheit verflog ebenso rasch, wie sie gekommen war. Jess
stellte fest, dass es ihr überhaupt nicht peinlich war, mit Rhodri
darüber zu reden.
Rhodri hob die Augenbrauen. »Ein Waliser?«
Sie nickte. »Das vermute ich mal. Er war mit Eigon
befreundet.« Unvermittelt stiegen ihr Tränen in die Augen. »Er
sollte umgebracht werden. Sie wollten ihn den Löwen zum Fraß
vorwerfen.«
»Warum?«
»Weil er ein Druide war. Die waren verboten. Die
Römer hatten panische Angst vor ihnen. Dabei war er so sanft und
gütig. Ein Gelehrter.« Sie fuhr sich mit der Hand über das
Gesicht. »Entschuldige. Jetzt weißt du, dass ich wirklich verrückt
geworden bin!«
»›Ich bin nur toll bei Nordnordost‹«, zitierte er.
»Vergiss deinen Hamlet nicht.« Er warf ihr einen Seitenblick
zu. »Und was ist mit Eigon? Was ist mit ihr passiert?« Jess
bemerkte, dass in seinem Lächeln nichts Spöttisches lag.
»Ich weiß es nicht. Sie haben ihn abgeführt …«
Abrupt unterbrach sie sich. »Rhodri! Daniel ist noch hier!«
Rhodri setzte sich auf. »Wo?«
»Dreh dich nicht um«, flüsterte sie. »Er steht
unten auf der Piazza an der Mauer und wartet offenbar.«
Rhodri lehnte sich im Stuhl zurück und schlug
lässig die Beine übereinander, als wollte er sich bequemer
hinsetzen. In der Position hatte er die ganze Piazza im Blick. »Ich
glaube, wir sollten uns jetzt wirklich einen Plan zurechtlegen«,
sagte er ruhig. »Wenn er mag, kann er den ganzen Tag dort sitzen,
das ist nicht verboten. Aber ich muss gestehen, mir behagt der
Gedanke gar nicht, ständig von ihm verfolgt zu werden.« Dann
lächelte er unvermittelt. »Aber wir können das Hotel ja auch auf
anderem Weg verlassen!« Er gab dem Kellner ein Zeichen. »Dieser
Herr wird dich zum Hintereingang begleiten. Ich bleibe hier sitzen,
bis du draußen angekommen bist, und dann gehe ich mal zu Daniel und
plaudere ein bisschen mit ihm.« Er setzte seine Sonnenbrille wieder
auf und verschränkte die Arme, ein Bild größter Nonchalance, dabei
war er sich nur allzu bewusst, dass Daniel ihn und Jess nicht aus
den Augen ließ und jede ihrer Bewegungen registrierte. »Jess, ich
habe meine Meinung geändert. Ich glaube, du solltest jetzt sofort
zum Flughafen fahren und verschwinden.«
»Aber was ist mit Eigon?« Jess war selbst
überrascht, wie sehr die Vorstellung abzureisen sie bestürzte. »Ich
kann
nicht weg, ohne zu wissen, was aus ihr und Melinus geworden
ist.«
»Das kannst du erfahren, wenn du wieder in Wales
bist.«
»Nein, das verstehst du nicht. Das geht einfach
nicht. In Wales war sie nur als Kind. Muss sie gewesen sein, sonst
wäre sie mir ja als Erwachsene erschienen. Wenn ich in Ty Bran bin,
ist sie wieder ein kleines Kind, das im Wald Verstecken spielt. Ich
muss hierbleiben!«
»Jess!« Rhodri beugte sich vor, die Hände auf dem
Tisch zu Fäusten geballt. »Nimm endlich Vernunft an! Jetzt habe ich
dem Mann selbst in die Augen geschaut, und es gefällt mir gar
nicht, was ich dort sehe. Er ist ein Psychopath. Er findet dich
überall, ganz egal, wo du bist. Er will deinen Tod! Du darfst nicht
in Rom bleiben.«
Einen Moment herrschte angespanntes Schweigen. »Ich
weiß, dass er das gesagt hat, aber er meint es nicht so, er will
nur sicherstellen, dass ich …« Sie brach ab.
»Er will nur sicherstellen, dass du ihm nicht
schaden kannst, Jess.« Rhodri beugte sich noch weiter vor, bis sein
Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. »Er hat
panische Angst, was du tun könntest.«
»Aber er hat alles, was ich sagen könnte, von
vornherein in Misskredit gezogen, indem er überall herumerzählt
hat, dass ich verrückt geworden sei. Also bin ich keine
Gefahr!«
Rhodri seufzte. »Hoffen wir, dass du Recht hast.«
Er überlegte kurz. »Weißt du noch, worüber wir uns unterhalten
haben, bevor wir so rüde unterbrochen wurden? Über Religion. Ich
glaube, jetzt ist der richtige Moment, es mal mit Beten zu
versuchen. Es kann nicht schaden, und du weißt nie, ob’s nicht
nützt. Und jetzt geh, Jess, bevor ihm klarwird, was wir vorhaben.
Ich melde mich wieder, in Ordnung?«
»Du bist also in Rom gefangen, genau wie Eigon!«
Carmella schaute Jess mit einem fragenden Lächeln an, als sie sie
in die Wohnung bat.
Jess nickte. Carmella hängte die Sicherheitskette
ein und ging ihr in das kleine Wohnzimmer voraus.
»Bitte, lies die Karten für mich. Es ist dringend.«
Jess setzte sich. »Die Karten bringen immer Klarheit. Ich muss
wissen, was mit ihr passiert ist. Und ich muss wissen, was aus mir
wird.« Ihr Gesicht war blass. »Ich kann Daniel einfach nicht
entkommen. Er folgt mir überallhin. Es ist, als wüsste er immer
genau, was ich mache. Er will mich umbringen, aber ich kann nicht
aus Rom weg, bevor ich nicht weiß, was aus Eigon geworden
ist.«
Carmella nahm ihr gegenüber Platz. Sie trug einen
Morgenmantel aus schwarzer Seide, die Haare hatte sie sich zu einem
nachlässigen Knoten gebunden, sie kam gerade aus der Dusche und sah
sehr zart aus, fast ätherisch. Erst nach mehreren Sekunden wurde
Jess klar, dass Carmella wohl gerade dabei war, sich zum Ausgehen
herzurichten. »Es tut mir leid, ich bleibe nicht lange. Aber ich
muss es wissen.«
Carmella nickte, griff nach ihrem Kartendeck und
wickelte es aus dem Tuch. Jess beobachtete, wie sie es mit einer
rhythmischen, fast hypnotischen Bewegung zu mischen begann.
Schließlich legte sie den Stapel auf den Tisch. »Bitte heb
ab!«
Jess nahm ein Häufchen Karten auf und legte es
ordentlich neben die anderen. Dann wartete sie mit angehaltenem
Atem. Carmella drückte den kleinen Stapel mit geschlossenen Augen
einen Moment an ihre Brust, dann legte sie die Karten mit dem
Gesicht nach oben auf dem Tisch aus.
»Ancora il re di coppe al negativo.« Ihr
Finger blieb eine Sekunde auf der Karte liegen. »Mit dem haben wir
ja gerechnet, oder nicht? Er ist immer noch da. Immer noch
wütend. Und er ist mit einem anderen verbunden. Spade.
Schwerter. Molto combattivo. In dieser Auslage sind viele
Schwerter.« Carmella verstummte und betrachtete die Karten. Die
andere Frau, die immer zuhörte, war auch da. Einen Moment glaubte
sie, ein Gesicht zu sehen, intelligent, belustigt, aufmerksam, dann
war es verschwunden. Sie zwang sich, sich wieder auf die Karten zu
konzentrieren. »Schwerter können Gefahr und Anspannung bedeuten,
sogar Tod.« Sie zögerte, ihre Hand schwebte immer noch über dem
König.
»Und er liegt umgekehrt«, murmelte Jess. »Das ist
nicht gut, oder?«
Carmella runzelte die Stirn. »Il re di
spade. Mächtig. Arrogant. Besessen davon, eine Situation zu
kontrollieren, die ihm zunehmend entgleitet.« Mit dem Finger tippte
sie auf den Turm. »La casa di Dio«, flüsterte sie, dann
verstummte sie wieder. Lange Zeit herrschte Stille, dann bewegte
sich ihr Finger weiter. »Daniel wird von einem anderen Mann
getrieben«, sagte sie leise. »Er ist ein Überschatten. Ein Mann mit
dunklerem Haar, gelben Augen, er ist etwas größer…«
»Titus«, wisperte Jess. »Titus Marcus Olivinus. Der
Mann, der Eigon vergewaltigt hat. Der Mann, der sie verfolgt.« Dann
herrschte wieder Stille. Von der Straße vier Stockwerke unter ihnen
trieben die Geräusche der Stadt durchs geöffnete Fenster zu ihnen
herein.
Unvermittelt beugte Carmella sich vor und presste
die Lippen zusammen. Rasch nahm sie drei weitere Karten vom Stapel
und deckte sie auf. »Zehn der Schwerter«, flüsterte sie
kopfschüttelnd und ging dann zur nächsten Karte weiter. »Also, hier
sehen wir, was sie tun werden, diese zwei Männer, die in einem
Körper stecken. Das bedeutet Gefahr für dich.« Sie schwieg kurz.
»Hier ist der Joker, der Narr. Er sagt dir eine Reise voraus. Hier
in den Karten steht so viel.
Du kannst dich dem, was passieren wird, nicht entziehen, Jess. Du
bist jetzt irgendwie mit Eigon verbunden, deshalb hast du auch das
Gefühl, dass du sie nicht alleinlassen darfst.« Carmella schaute
unverwandt auf die Karten. »Hier ist la luna. Sie warnt
dich, dass du dich allmählich allzu sehr auf dieses Innenleben
einlässt. Du bist aber nicht von ihr besessen, oder?« Bei dieser
Frage schaute Carmella schließlich auf.
Jess schauderte. »Nein, ich glaube nicht. Nein,
ganz bestimmt nicht.«
»Aber du kommst von ihr nicht los. Warum
nicht?«
»Wahrscheinlich, weil es mich gerührt hat, sie als
kleines Mädchen zu sehen, das so viel Angst hatte und so
unglücklich war. Und sich solche Vorwürfe gemacht hat, weil sie
ihre Geschwister verloren hat. Sie geht in Ty Bran als Kind um.
Hier in Rom ist sie eine erwachsene Frau. Ich will wissen, was mit
ihr passiert ist.« Jess fuhr mit dem Finger über eine der Karten.
Der Bube der Stäbe.
Carmella lächelte. »Du hast sie gefunden.«
»Eigon?«
»Natürlich.«
»Aber das ist doch ein Junge.«
»Auch bekannt als la principessa!« Carmella
legte den Kopf schief. »Du glaubst, sie kann nicht als Erwachsene
zu dir kommen, wenn du nach Wales zurückfährst? Warum nicht?«
Jess machte eine hilflose Geste. »Es ist nur ein
Gefühl. Ich möchte ihr helfen, aber das kann ich ja nicht. Es ist
alles in der Vergangenheit. Ich kann die Vergangenheit nicht
ändern!«
»Wirklich nicht?« Carmella stellte die Frage fast
beiläufig.
»Wie denn?«
»Manche Dinge hast du doch schon geändert. Indem du
an sie denkst. Indem du auf sie aufmerksam machst. Indem du den
Finger ins Wasser der Zeit tauchst, so dass sich die Oberfläche
kräuselt. Du hast Titus geweckt und ihn in die Gegenwart
geholt.«
Jess spürte eine Woge der Übelkeit in sich
aufsteigen. »Damit er von Daniel Besitz ergreift! Heißt das, dass
er Eigon in der Vergangenheit in Ruhe lässt und stattdessen mich
verfolgt?«
Carmella überlegte eine ganze Weile. »Es wäre nicht
passiert, wenn Daniel nicht offen für ihn wäre«, sagte sie dann
nachdenklich. »Daniel brauchte Titusʹ Wut und Angst. Die beiden
brauchen einander.« Sie schaute auf. »Deswegen ist es doppelt
gefährlich für dich.«
»Und wie schütze ich mich vor ihnen?« Jess
begegnete Carmellas Blick und zwang sich, ruhig durchzuatmen.
»Jess, du hast eine Eigenart mit Eigon gemein, und
die ist sehr ausgeprägt.« Carmella legte drei weitere Karten aus,
betrachtete sie kurz und schaute dann wieder auf. »Weder du noch
sie ist bereit, sich auf jemand anderen zu verlassen. Du bist nicht
bereit, dich einem Mann anzuvertrauen. Es gibt Männer, die dir gern
helfen möchten, genauso wie es Männer gibt, die ihr helfen möchten.
Aber ihr traut ihnen nicht. Ihr haltet sie nicht für stark
genug.«
»Welche Männer denn? William? Rhodri?«
Carmella nickte. »Zumindest weißt du, wer sie
sind.«
»Aber es wäre nicht fair, sie in die Sache
reinzuziehen. Das hat doch alles nichts mit ihnen zu tun.«
»Aber sie sind doch schon darin verstrickt, Jess.
William von Anfang an, er ist, wie wir tarocchi-Deuter
sagen, das Herz aller Dinge. Dann stößt Rhodri dazu, und zwar zur
gleichen Zeit, als Titus in der Geschichte auftaucht. Wird er der
deus ex machina sein, der die Lösung der Geschichte
bringt, oder ist er der Katalysator, der im Kessel umrührt? Oder«,
sie schaute auf, »wird er sich gar als der Bösewicht
erweisen?«
Wider Willen musste Jess lachen. »Das ist ja ein
buntes Durcheinander von Bildern! Aber das muss mir doch das Tarot
sagen können, oder nicht?«
Carmella schüttelte den Kopf. »Ich kann momentan
nichts anderes tun, als dir die Szene zu schildern. Ich sage dir,
dass du aufpassen musst. Ich rate dir, William zu vertrauen.« Sie
deutete auf den König der Münzen. »Zuverlässig. Loyal. Geduldig.«
Sie schaute wieder hoch. »Vielleicht nicht gerade spannend, aber
brauchst du momentan wirklich noch mehr Aufregung?«
»Und Rhodri ist aufregend?«
Carmella grinste spitzbübisch. »Ah, unser
cantante lirico, unser divo. Ein gewaltiger Charakter
auf der Bühne. Der Hauptdarsteller!«
»Taucht er in Eigons Leben auf?«
Carmella zog die Stirn kraus. »Da sehe ich ihn
nicht. Aber dich sehe ich dort genauso wenig, Jess. Ihr seid stille
Beobachter, keine Figuren in ihrem Drama. Auf deine Art bist du für
dich selbst die größte Gefahr, Jess. Um Daniel zu entkommen,
solltest du Rom verlassen, aber du willst nicht weg. Damit dir
nichts passiert, solltest du im Haus blieben, aber du gehst auf die
Straße. Du forderst die Gefahr heraus. Warum?« Sie blickte ihr
unablässig in die Augen.
Jess schüttelte hilflos den Kopf. »Ich kann einfach
nicht anders«, flüsterte sie.
In dem Moment klingelte die Türglocke und zerriss
mit ihrem schrillen Ton die stille Vertrautheit. Erschreckt sprang
Jess auf. »Ist das Daniel?«
Carmella schüttelte den Kopf. »Das ist meine
Verabredung. Es tut mir leid, Jess, aber ich muss weg.«
»Ich gehe.«
»Nein!« Carmella tänzelte an ihr vorbei zur
Wohnungstür. »Nein, bleib! Bleib, solange du willst.« Sie öffnete
die Tür und bat einen großen grauhaarigen Mann herein, den sie ins
Wohnzimmer führte. »Henrico, das ist meine Freundin Jess. Jess, das
ist meine Verabredung. Ich muss mich nur noch rasch anziehen,
carissimo. Cinque minuti.« Auf dem Weg zur
Schlafzimmertür zwinkerte sie ihm zu. »Jess, ich möchte, dass du
hierbleibst. Bitte geh nicht nach draußen. Denk dran, was ich dir
gesagt habe. Im Kühlschrank ist reichlich zu essen. Du weißt, wo
alles steht. Bleib hier und verhalte dich ruhig. Ruf niemanden an.
Ich werde Kim Bescheid sagen, damit sie weiß, dass du bei mir bist.
Bleib über Nacht. Wenn ich heute Abend nicht heimkomme«, sie warf
Henrico einen koketten Blick zu, »mach dir keine Sorgen. Ich komme
spätestens morgen Vormittag, und dann reden wir weiter. Aber bevor
ich gehe, muss ich dir noch etwas sagen. Komm mit.« Sie führte Jess
ins Schlafzimmer und schloss die Tür. »Ich muss dir beibringen,
dich psychisch zu schützen. Durch Eigon kommst du an Orte, die
gefährlich sind, aber du kannst dafür sorgen, dass dir nichts
passiert. Folge Eigon nicht in die Vergangenheit. Beobachte alles,
aber nimm nicht daran teil. Stell dir vor, dass du von einem
Flammenkreis umgeben bist. Bring Licht an die dunklen Stellen. Sei
dir der Gefahren bewusst. Schütz dich, Jess, das ist wichtig! Und
vergiss nicht, du darfst Titus’ Namen nicht aussprechen, nie! Pass
auf, dass du immer bei dir bleibst. Umgib dich mit Begleitern und
Engeln. Christliche Gebete helfen da nicht weiter, du musst ihm mit
seinen eigenen Göttern entgegentreten. Beschwör dein Krafttier. Wen
immer du als inneren Freund siehst, bitte ihn, dich zu beschützen.
Halt den Raum um dich psychisch rein. Komm, ich zeige dir, was du
tun musst.«
Nachdem Carmella und Henrico gegangen waren, war es
in der Wohnung sehr still. Jess schlenderte auf die Terrasse hinaus
und sah sich um. Hier fühlte sie sich sicher, fast wie in einer
anderen Welt. Sie setzte sich an den kleinen schmiedeeisernen Tisch
und dachte über Carmellas Worte nach. Sie, Jess, war in Eigons
Drama eine stille Beobachterin. Das stimmte. Sie war keine
handelnde Figur, sie war nicht vorhanden. Es gab nichts, das sie
tun konnte, um die Vergangenheit in irgendeiner Weise zu
beeinflussen. Aber geschützt durch Carmellas Rituale konnte sie sie
beobachten. Und vielleicht, wenn sie sie eingehend genug
beobachtete, konnte sie die Hand zum geöffneten Fenster ihres
Lebens hineinstrecken und die Figuren warnend berühren.
Julius widersetzte sich Cerys’ Verbot und
überbrachte Eigon die Nachricht selbst. »Es ging sehr schnell. Er
kann nicht gelitten haben.«
Sie zupfte nervös am Saum ihrer Stola und kämpfte
gegen die Tränen.
Julius schluckte schwer. Am Tag vor den
Hinrichtungen hatte er Melinus im Mamertinischen Kerker besucht.
Nero hatte dafür gesorgt, dass für das Spektakel reichlich Männer
und Frauen zur Verfügung standen. Einige von ihnen waren Christen,
denen die Römer insgesamt misstrauten, andere waren Mörder oder
Verräter, von denen Nero sich persönlich bedroht fühlte. Und sie
alle waren zur schlimmsten Form der Todesstrafe verurteilt. Julius
hatte sich gezwungen, in der Arena zu stehen und zuzusehen. »Ich
werde für dich dort sein, mein Freund«, hatte er Melinus zum
Abschied gesagt. »Großvater soll nicht kommen, er ist nicht genug
bei Kräften. Aber ich werde da sein und dich mit meinen Gebeten
stützen. Deine Götter und mein Gott werden dir zur Seite stehen. Du
hast auf den
Rängen einen Freund, der dafür Sorge trägt, das verspreche ich
dir.«
Melinus hatte matt gelächelt. »Ich bin felsenfest
überzeugt, dass ich ins Land der ewigen Jugend komme, Julius, in
das Land meiner Ahnen. Es wird ein glücklicher Tag für mich sein.
Ich segne das Tier, das es auf sich nimmt, mein Leiden zu beenden,
und ich vergebe ihm.«
»Alter Freund, das ist ein christlicher Glaube«,
spottete Julius liebevoll. »Jetzt verstehe ich, weshalb Eigon dich
immer ihren christlichen Druiden nennt.«
Melinus lachte wehmütig. »Vermutlich hat sie Recht,
wie mit so vielem anderen. Ich vertraue sie deiner Obhut an,
Julius.« Er holte tief Luft. »Gestern Abend kehrte die Kraft des
Hellsehens, die mich so lange verlassen hatte, wieder zurück. Ich
habe ihren Feind gesehen. Der, wie es scheint, auch der meine ist.
Es ist ein Mann, der in der Stadt lebt, ein Mitglied der
Prätorianergarde, und er trachtet ihr nach dem Leben. Er hat Angst
vor ihr, und er ist wütend auf sie. Weshalb, das haben die Götter
mir verborgen. Sie verhüllten die Vergangenheit, in der die Gründe
dafür liegen, aber ich habe einen Verdacht. Dieser Mann steckt
hinter meiner Verhaftung, und auch hinter der Verhaftung Pomponia
Graecinas. Weil er Eigons Feind ist, ist er auch dein Feind. Er ist
der Feind aller, die sie lieben. Beherzige meine Worte, Julius. Sei
stark, mein Junge. Wenn es dir möglich ist, bring Eigon aus Rom
fort. Solange sie hierbleibt, ist sie in großer Gefahr.«
Julius’ Miene wurde düster. »Wer ist er? Hast du
sein Gesicht gesehen?«
Melinus schüttelte den Kopf. »Die Götter treiben
gern ihren Spaß mit uns. Sie warnen uns, aber sie offenbaren
nichts. Diese Aufgabe überlassen sie uns. Bitte deinen Jesus, sie
zu beschützen, Julius. Sie hat in ihrem Leben sehr wenig
Liebe erfahren. Ein Gott der Liebe wäre jetzt ein Segen für sie.«
Er verstummte kurz, und ein Lächeln ließ seine Augen aufleuchten.
»Ich denke, mein Junge, deine Aufmerksamkeiten wären auch sehr
willkommen!«
Julius errötete. »Ich glaube nicht, dass sie mich
je auf die Art bemerkt hat.«
»O doch, das glaube ich schon. Du weißt, dass ihre
Mutter ihr verboten hat, dich zu sehen? Warum sollte die Herrin
Cerys das tun, wenn sie keinen Grund dafür sähe? Eigon hat einen
eisernen Willen, Julius. Das liegt an ihrer Erziehung. Die hat sie
von mir erhalten.« Wieder lächelte er. »Sie ist klug und geistreich
und gebildet. Außerdem ist sie eine fähige und gesegnete Heilerin.
In unserer Heimat könnte sie eine Priesterin werden.« Wehmütig hob
er die Augenbrauen. »Es tut mir leid, nicht zu sehen, was aus ihr
wird, aber wer weiß, vielleicht wird mir eigens zu dem Zweck ein
neues Leben gewährt. Sie glaubt, dass sie nicht heiraten wird. Sie
glaubt, die Machthabenden in Rom hätten beschlossen, dass es in
Caratacus’ Blutlinie keine Nachkommen geben darf, die in Britannien
Unruhe stiften könnten. Der Rest ihrer Familie ist gestorben. Sie
ist die letzte.« Er legte seine knochigen Finger auf Julius’ Arm.
Die Eisenfessel um sein Handgelenk rasselte, und Julius spürte, wie
ihr Gewicht den alten Mann niederdrückte. »Jemand muss dafür
sorgen, dass sie in ihre Heimat zurückkehrt.«
Ängstlich sah Julius sich um. Die anderen
Gefangenen waren zu sehr mit ihrem Elend und ihrer Angst
beschäftigt, um auf sie zu achten. »Weißt du, was du da
sagst?«
Melinus nickte. »Und jetzt geh, mein Junge. Nimm
meinen Segen. Bete für meine Seele.«
Der Löwe durchtrennte seinen Hals mit einem
einzigen Biss. Er musste auf der Stelle tot gewesen sein. Als
Julius
inmitten der johlenden Menge stand und sah, wie das Blut der
Getöteten in die Sägespäne auf dem Boden der Arena sickerte, spürte
er eine leichte Berührung an der Wange, wie eine ganz leise Brise.
»Nut Mut, mein Junge. Es war leicht.« Wurden ihm die Worte wirklich
ins Ohr geflüstert? Er sah sich um. Die Umstehenden hatten nur
Augen für das Blutbad, für das Brüllen der Raubtiere, deren Beute
mit Haken vor ihnen hin und her geschleift wurde, um sie zu reizen
und ihre Blutlust noch weiter anzustacheln. Ohne etwas
wahrzunehmen, wandte Julius sich ab und kämpfte sich zum Ausgang
zurück. Er war nicht der Einzige, der sich draußen in den Büschen
übergab.
Sacht nahm er Eigons Hand in seine. »Ich habe
gestern Abend noch lange mit Melinus gesprochen, bevor …« Er
beendete den Satz nicht und schwieg einen Augenblick, ehe er
fortfuhr. »Er hat in die Zukunft geblickt und einen Mann gesehen,
von dem er sagte, er sei dein Feind.« Er beobachtete sie genau und
sah, dass sie bei seinen Worten blass wurde. Er wischte ihr die
Tränen von den Wangen. »Du weißt, wer es ist, stimmt’s?«
Sie nickte wortlos.
»Willst du es mir sagen?«
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Er ist ein
Schatten aus meiner Vergangenheit. Der am besten vergessen
ist.«
»Du darfst ihn nicht vergessen, wenn er deinen
Freunden nachstellt.«
Sie starrte ihn an. »Was meinst du damit?«
»Melinus sagte, das sei der Mann, der Pomponia
Graecina und ihn den Behörden genannt hat. Er sagte, er werde deine
Freunde nacheinander verschwinden lassen.«
Eigon wandte sich abrupt ab. »Dann musst du gehen.
Du darfst nie wieder hierherkommen.«
»Dafür ist es zu spät, Eigon. Jeder weiß, dass wir
befreundet sind.« Er lächelte. »Und dass auch meine Familie deine
Freunde sind. Antonia und Großvater sind genauso in Gefahr wie ich,
wenn wirklich Gefahr bestehen sollte - das wird sich erweisen. Aber
wenn es für mich gefährlich werden könnte, dann muss ich wissen,
woher die Gefahr kommt. Melinus sagte, er sei ein Mitglied der
Prätorianer.«
Eigon nickte langsam.
»Und offensichtlich ist er einflussreich.«
Sie nickte wieder.
»Warum konnte er dich dann nicht fassen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das habe ich mich
auch oft gefragt. Wahrscheinlich passt der Haushalt meines Vaters
zu gut auf mich auf.« Sie zögerte. »Aber manchmal habe ich auch den
Verdacht, dass er mit mir spielt.«
Julius hob die Augenbrauen. Das war eine kluge
Erklärung. Er nahm eine Bewegung in der Tür wahr und hob den Blick.
»Julia!«
»Julius!« Lachend lief sie zu ihm. »Warum hat mir
niemand gesagt, dass du gekommen bist?« Sie schlang ihm die Arme um
den Hals. »Eigon, du bist wirklich selbstsüchtig! Wolltest ihn ganz
für dich behalten.« Sie drückte Julius einen Kuss auf die Wange.
»Bist du gekommen, um mich zu den Spielen abzuholen?«
Eigon wandte sich ab und ging zum Brunnen, wo sie
ins Wasser schaute, das von den Rinnsalen, die über die
Brunnenfigur hinunterliefen, ständig leicht bewegt wurde.
»Ich bin bei den Spielen gewesen, Julia«, sagte
Julius scharf. »Und ich habe nicht vor, noch einmal hinzugehen. Ich
war dort, um Melinus sterben zu sehen.«
Entsetzt starrte Julia ihn an. Dann drehte sie sich
zu Eigon. »Hast du gewusst …« Kleinlaut brach sie ab. »Natürlich
hast du’s gewusst. Es tut mir leid. Das ist schrecklich.
« Sie setzte sich auf einen Stuhl unter dem Feigenbaum und strich
sich den Rock glatt. »Das kann ich verstehen, dass dir das die
Spiele ein bisschen verleiden würde.«
»Ein bisschen«, stimmte Julius trocken zu. Er ging
zu Eigon. »Ich sollte nach Hause. Kommst du zurecht?«
Sie nickte.
Wieder legte er ihr sacht eine Hand auf die
Schulter. »Pass auf sie auf«, sagte er zu Julia, als er an ihr
vorbeiging, dann war er fort.
Julia schaute auf, ihr Gesicht war leichenblass.
»Der arme Melinus.«
Eigon setzte sich neben sie. »Zumindest ist er
jetzt frei. Jetzt kann er heimkehren ins Land der ewigen Jugend.
Vielleicht sieht er von dort auch die Berge meiner Heimat.«
»Du klingst, als würde sie dir immer noch fehlen«,
sagte Julia verwundert. »Kannst du dich überhaupt noch richtig
daran erinnern?«
»Aber natürlich. Solange ist es auch noch nicht
her.« Eigon seufzte. »Ich mag ja ein Kind gewesen sein, aber ich
habe alles noch ganz genau in Erinnerung. Der Nebel und der Regen,
das weiche Sonnenlicht, das die Wolken auflöst und das Land golden
leuchten lässt. Die Apfelbäume, die sanfte Brise, die Hügel voll
geheimnisvoller Schatten und rauschender Bäche. Und die Adler, die
über den Bergen kreisen.«
Und die Raben. Ganz unvermittelt kamen sie ihr
wieder in den Sinn. Die Raben, Boten des Todes, die sich über dem
Schlachtfeld sammelten und Caradoc mit ihren Schreien davor
warnten, sich auf diesen Kampf mit dem Feind einzulassen. Er hatte
das Omen missachtet, und sein Volk hatte dafür mit seiner Freiheit
gebüßt. Und seine jüngeren Kinder - waren auch sie Opfer der
Kriegsgöttin gewesen? Eigon schauderte.
»Aber sie werden doch Tante Pomponia nicht den
Löwen zum Fraß vorwerfen, oder?« Allmählich wurde Julia die ganze
Tragweite dessen klar, was am Vormittag passiert war. Sie presste
die Lippen zusammen. »Eigon, wir müssen sie retten!«
Eigon lächelte. »Deiner Tante wird nichts
passieren«, sagte sie beruhigend. Julius hatte ihr bereits erzählt,
was geschehen war. Wie das Gesetz es verlangte, war Pomponia
Graecina einem Hausgericht vorgeführt worden, dem ihr Gemahl
vorsaß, und er hatte die Vorwürfe, die gegen sie erhoben wurden,
als kompletten Unsinn zurückgewiesen. Sie war bereits
freigelassen.
Eines von Titus’ Opfern war ihm also entschlüpft.
Eigon stand auf und ging wieder zum Brunnen, um ins Wasser zu
blicken. Allmählich wurde ihr klar, wie ihr Verfolger vorging.
Bekümmert fragte sie sich, wer wohl der Nächste sein würde.
Jess saß zurückgelehnt in dem Terrassenstuhl und
schaute in den Himmel hinauf. Mittlerweile war es Abend geworden.
Die vielen Gerüche aus den zahllosen Küchen, in denen für drei
Millionen Römer das Abendessen zubereitet wurde, hingen in der
Luft. Jess lächelte. Essen war das Letzte, nach dem ihr jetzt der
Sinn stand. Aber sie würde gern mit jemandem sprechen. Jemanden
anrufen. Steph. Kim. William. Wie es ihm wohl ging, und wo er war?
Aber Carmella hatte Recht. Das durfte sie nicht. Sie durfte nicht
einmal daran denken. Daniel und Titus streiften irgendwo dort
draußen durch die Straßen und lasen jeden ihrer Gedanken.
Titus hatte Daniel das Zuhören gelehrt. Das
Zuhören mit allen Sinnen. Das war für Daniel eine völlig neue
Erfahrung, und er war verblüfft über das viele »Zeug«, das da
draußen herumwirbelte und nur darauf wartete, gehört zu werden. Er
war nicht dumm, alles andere als dumm sogar. Er wusste genau, was
passiert war. Und wann. Als er unterhalb von Ty Bran am Feldrand
geparkt hatte. Voll Angst und Sorge war er allein ins Auto
gestiegen, hatte nicht gewusst, was er tun sollte, hatte nur
gewusst, dass er alles verspielt hatte - seine Karriere, seine Ehe,
seine Zukunft. Und dann hatte er, wie aus heiterem Himmel, direkt
neben sich diese andere Person gespürt. Er hatte Angst gehabt,
schreckliche Angst, aber er hatte sich nicht gegen sie gewehrt. Was
hatte er noch zu verlieren?
Jetzt saß er am Rand des Brunnens unterhalb der
Spanischen Treppe und sah die Welt an sich vorbeiziehen, während es
um ihn her allmählich dunkel wurde. Jess war in der Nähe, das
spürte er. Mittlerweile war es fast so, als brauchte er ihr gar
nicht mehr zu folgen, er wusste einfach, wo sie war und was sie
tat. Er lächelte. Ihm war nicht ganz klar, was Titus vorhatte, aber
das störte ihn nicht. Wenn die Zeit reif war, würde er wissen, was
er zu tun hatte. Er schloss die Augen. Ein Risiko gab es für ihn
eigentlich nicht mehr, da war er sich ziemlich sicher. Dafür hatte
er schon gesorgt. Von William hatte er nichts mehr zu befürchten.
Vielleicht hätte er ihn ganz ausschalten sollen, als er die
Möglichkeit dazu gehabt hatte. Aber vielleicht war es doch besser
so, denn wenn er ihn am Leben ließ, stiftete er noch mehr
Verwirrung. Nat, Jessʹ Freunde und Bekannte, der Direktor, selbst
der verrückte Opernsänger waren jetzt alle im Bild, alle wussten
von ihrem »Zusammenbruch«. Niemand würde mehr etwas darauf geben,
was sie sagte, niemand würde ihr noch helfen wollen. Wenn sie
früher oder später beschloss, ihrem Leben ein Ende zu setzen, wen
würde das noch wundern? Daniel lächelte in sich hinein. Wenn er
nicht so bequem hier säße und die Menschen so schön beobachten
konnte, würde er aufstehen und sich ein kleines Hotel suchen; er
wollte seine letzten Tage in Rom noch richtig auskosten.
Schließlich konnte es jetzt nicht mehr lange dauern. Er spürte, wie
Titus sich in seinem Kopf regte. Eine unbehagliche Präsenz, die von
ihm zehrte und ihm all seine Energie raubte, aber momentan war er
bereit, sich damit abzufinden. Momentan konnten sie einander
helfen.