Kapitel 30
Catherine wartete, bis Brian unter
der Dusche stand, denn schlich sie nach unten ins Wohnzimmer und
schloss leise die Tür hinter sich. Sie schaltete nur ein kleines
Licht an und griff zum Telefon. Im Raum war es sehr dämmrig, es war
behaglich und fast so voll wie das Arbeitszimmer ihres Mannes mit
den Büchern und Zeitungen überall und den Stapeln abgegriffener
Notenblätter auf dem alten Klavier, das an der Wand stand.
»Nat, wie geht’s dir?« Sie hatte ihre Telefonnummer
in einem älteren Adressbuch gefunden. »Hast du schöne Ferien?« Ein
paar Minuten plauderten sie über Belangloses, bis Catherine sagte:
»Ich muss mit dir über etwas reden, Nat. Ist der Zeitpunkt günstig?
Sind die Kinder schon im Bett?« Sie machte es sich in dem großen
Sessel bequem, hatte den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt
und redete sehr leise. »Erinnerst du dich, du hast mir mal erzählt,
dass du manchmal ein bisschen Angst vor Daniel hast«, begann sie
etwas unbeholfen. »Dass er dich ein- oder zweimal geschlagen hat.
Ist das je wieder passiert?«
Die Stimme am anderen Ende klang misstrauisch und
verstört. Catherine hörte geduldig zu, während Nat alles in Abrede
stellte und Ausflüchte machte, dann sagte sie freundlich: »Nein,
hör zu, ich hab es niemandem erzählt. Das hatte ich dir ja
versprochen, und daran halte ich mich
auch. Es ist bloß so, ich habe heute Abend etwas gehört, was mich
ziemlich erschreckt hat. Nat, er hat jemand anderen
angegriffen.«
Ein paar Sekunden verschlug es Nat vor Schreck die
Sprache. »Wen?«, flüsterte sie schließlich.
»Das kann ich dir nicht sagen. Das habe ich
versprochen. Aber bitte glaub mir, es war schlimm. Hast du von ihm
gehört?«
»Nicht heute. Er ist immer noch auf dieser
Konferenz in Italien.«
»Also, er ist auf jeden Fall in Italien gewesen«,
sagte Catherine zurückhaltend. »Ich glaube, du solltest aufpassen.
Vielleicht ist er schon zurück. Und es klingt, als würde er sich
sehr merkwürdig verhalten. Kannst du bei deinen Eltern bleiben?
Halt dich von ihm fern.«
»Verdammt!« Nat klang, als wäre sie den Tränen
nahe. »Wenn ich das Dad sage, bringt er ihn um. Er hat Daniel nie
getraut. Nie.«
»Klingt, als besäße dein Vater eine gute
Menschenkenntnis«, antwortete Catherine. »Hör, ich muss jetzt
Schluss machen. Aber pass auf dich auf, ja?« Sie hörte Schritte auf
der Treppe. Schuldbewusst stellte sie das Telefon in die
Ladestation zurück. Als Brian die Tür öffnete, blätterte sie
unschuldig eine Zeitschrift durch. »Bist du fertig im Bad?« Sie
schaute auf. »Ich suche nach einem Artikel, den ich vor ein paar
Tagen gelesen habe. Ich wollte ihn ausreißen und aufheben.« Sie
warf die Zeitschrift auf den Tisch. »Na, macht nichts, ich such
morgen weiter. Wenn mein Mann gerade blitzsauber aus der Dusche
kommt, bin wohl ich an der Reihe.« Lächelnd stand sie auf und legte
ihm die Arme um den Hals. »Wir haben wirklich großes Glück, dass
wir einander haben, Brian.« Sie küsste ihn zärtlich auf die
Lippen.
Brian zog sie an sich und gab ihr einen liebevollen
Kuss, dann drehte er sich um und zog sie mit sich zur Tür hinaus.
»Bad und Bett«, flüsterte er. »Nicht unbedingt in der Reihenfolge!«
Er wusste, dass sie telefoniert hatte. Er hatte gehört, wie sie den
Hörer zurücklegte.
In jeder anderen Jahreszeit wäre es unmöglich
gewesen, in der Nähe von Williams Wohnung einen Parkplatz zu
finden. So spät am Abend hätten zu beiden Seiten jeder Straße Autos
Stoßstange an Stoßstange gestanden. In den Sommerferien allerdings
fuhren viele weg, um der Hektik und der Hitze der Großstadt zu
entkommen, und so ließ sich bisweilen der eine oder andere Platz
finden. Trotzdem suchte Jess mehrere Minuten, bis sie ihren kleinen
Ford schließlich zwei Straßen weiter abstellen konnte. Sie stieg
aus, verschloss die Tür und ging dann durch die Sommernacht die mit
Kirschbäumen gesäumten Bürgersteige entlang, wich dabei
Schuttcontainern und Mülltonnen und heimkehrenden Kneipenbesuchern
aus. Die Luft war lau und erfüllt vom Duft des Sommers, irgendwo in
der Nähe blühten Lindenbäume, es roch sogar nach frisch gemähtem
Gras, sehr ungewöhnlich in dieser ausgesprochen urbanen Umgebung.
Jess bog um die Ecke, folgte dem früher so vertrauten Weg zu
Williams Wohnung und schaute dann mit einem sehnsüchtigen Stich,
der sie selbst überraschte, zu seinen Fenstern. Es brannte kein
Licht. Sie sah auf ihre Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Ob er
wohl etwas dagegen hätte, wenn sie ihn weckte? Er war bestimmt
genauso müde wie sie. Sie nahm all ihren Mut zusammen, lief die
Treppe zu seiner Haustür hinauf und drückte auf die Klingel. Keine
Antwort. Zum ersten Mal tat es ihr bitter leid, dass sie ihm die
Schlüssel hingeschleudert hatte, als sie endgültig akzeptiert
hatte, dass ihre Beziehung zu Ende war. Sie läutete
noch einmal, dann machte sie mit einem enttäuschten Seufzen kehrt
und ging zum Auto zurück. Vielleicht war er doch gleich nach
Cornwall gefahren.
Da sie schon einmal einen Parkplatz gefunden hatte,
beschloss sie, die Nacht dort zu verbringen. Sie machte es sich auf
dem Beifahrersitz so bequem wie möglich, spielte leise ihre CDs,
während der Verkehrslärm, der von der Hauptstraße herüberdrang,
allmählich nachließ. In den frühen Morgenstunden kam er fast völlig
zum Erliegen, bis auf das eine oder andere Auto oder Motorrad, das
es offenbar darauf anlegte, die halbe Stadt zu wecken. Zweimal
spielte Jess Caractacus, lächelte leise, wann immer Rhodris
Bariton durch den Wagen schallte, wenn auch der Anwohner wegen sehr
leise. Jess gestand sich kaum ein, wie tröstlich sie es fand, seine
Stimme zu hören. Dann legte sie eine ruhigere Musik auf. Irgendwann
in der Dämmerung, als eine Amsel in dem Garten, vor dem sie parkte,
ihr Morgenlied anstimmte, schaltete Jess den CD-Spieler aus und
fiel zum Gezwitscher des Vogels in einen unruhigen Schlaf.
Als sie Lugdunum erreichten, verließen Eigon,
Drusilla und Commios den Flussfrachter und folgten einer geraden,
gut gepflasterten Straße, die quer durch Gallien nach Nordwesten
führte. Sie hatten einen Maulesel gekauft, der bereitwillig ihre
Habseligkeiten trug und dazu abwechselnd eine der beiden Frauen.
Jeden Abend fanden sie eine taberna oder zumindest ein
mansio, wo sie zu essen und ein mehr oder weniger sauberes
Bett bekamen. Wie das Gesetz es ihnen erlaubte, baten sie ein
paarmal um Quartier in einem Bauernhaus oder einer Villa, die an
der Straße lagen. Bisweilen wurden sie großzügig und freundlich
empfangen, bisweilen aber auch sehr schroff.
Zweimal überholte sie auf der Straße eine
Reiterschwadron, die im schnellen Trab an ihnen vorbeiritt und sie
in einer Staubwolke zurückließ. Beim zweiten Mal blieb Commios
stehen, rieb dem Maulesel die Nüstern, um ihn zu beruhigen, und
drehte sich zu Eigon um, die unbeirrt, eine Hand auf der Flanke des
Maulesels, hinter ihm hergegangen war. Drusilla schien im Sattel zu
schlafen. »Weißt du, vielleicht sollten wir die Straße verlassen,
wenn wir sie kommen hören. Nur für den Fall. Wir wissen ja nicht,
welchen Einfluss dein Freund Titus hat, oder? Könnte er
Kundschafter vorausschicken, die nach uns Ausschau halten?«
Mit hängenden Schultern blieb Eigon stehen. Sie war
erschöpft. »Ich würde ihm alles zutrauen.«
»Aber du spürst nicht, dass er in der Nähe ist?« Er
sah sie prüfend an. Er hatte großen Respekt vor Eigons
geheimnisvoller Wahrnehmung, doch in den letzten vier Tagen war sie
ihm zunehmend deprimiert und in sich gekehrt erschienen. Sanft
berührte er ihre Hand.
Sie trat einen kleinen Schritt zurück und
schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Gelegenheit dazu gehabt. Die
vergangene Nacht war schrecklich.« Sie und Drusilla hatten sich in
einem mansio zwei Betten genommen, waren aber vor dem
Schmutz und den Flöhen geflohen. Der unflätige Wirt, der einzige
Mensch, der die Verantwortung für das Gasthaus zu haben schien,
hatte ihre Münzen eingesteckt und sich geweigert, ihnen etwas
zurückzugeben; ganz im Gegenteil, als sie sich beschwerten, hatte
er sie wüst beschimpft. Commios hatte es sich beim Maulesel im
Stall bequem gemacht und weit besser geschlafen. Die Nächte davor
waren nicht wesentlich besser gewesen. Zudem waren hier die Straßen
holprig und überwuchert. Wer immer die Aufgabe hatte, das Gebüsch
regelmäßig zu stutzen und die Straße instand zu halten, war ihr
schon lange nicht mehr
nachgekommen. Ein- oder zweimal glaubten sie zu spüren, dass sie
von den Bäumen aus beobachtet wurden. Der Maulesel, sonst ein sehr
friedliches Tier, war schreckhaft geworden und scheute beim
leisesten Geräusch aus den Wäldern, die von den umgebenden Bergen
bis dicht an die Straße heranwuchsen. Nachts hörten sie Wölfe
heulen.
»Ich würde vorschlagen, dass wir bald Rast machen.
Wenn wir einen hübschen Ort finden«, sagte Commios munter. »Dort
bleiben wir ein paar Tage, damit sich der Esel ausruhen kann. Und
unsere Füße.« Grinsend schaute er auf seine Füße, sie waren mit
Blasen und Schürfwunden übersät. »Hat eine von euch darauf
geachtet, was auf dem letzten Meilenstein stand? Gestern Abend
sagte ein Kerl in den Stallungen, Lutetia sei nicht schlecht.
Vielleicht könnten wir ein bisschen tiefer in die Tasche greifen
und uns eine anständige Unterkunft suchen.« Er schaute zu Drusilla.
Sie hatte die Augen geöffnet und sah sich um. Selbst ihre scheinbar
grenzenlose Munterkeit hatte sich offenbar erschöpft. Sie lächelte
matt. »Das klingt gut. Haben wir noch genügend Geld?« Commios war
für die Geldbörse verantwortlich.
Er nickte. »Wenn wir nicht dem Wunsch nachgeben,
dem Luxus zu frönen!«, meinte er fröhlich. »Ich schätze, in
vierzehn Tagen haben wir die Küste erreicht. Ein paar mehr, wenn
wir unterwegs haltmachen. Vielleicht kann ich in Lutetia ja etwas
Geld verdienen.«
»Verdienen?« Eigon schaute ihn fragend an. »Was
kannst du denn?«
Er lachte. »Ah so. Du schätzt mein
Verdienstpotenzial also nicht allzu hoch ein! Das zeige ich dir,
wenn wir dort sind.«
Er hielt Wort. Zu ihrer Freude erreichten sie an
dem Abend eine relativ große Stadt, die am Ufer eines breiten,
langsam dahinströmenden Flusses lag. Ihnen wurde der Weg zu einer
hübschen Herberge gewiesen, wo es saubere Laken und, noch besser,
sauberes Wasser gab. Während Drusilla und Eigon sich mit der Wirtin
unterhielten und ihr Angebot einer Mahlzeit annahmen, schlüpfte
Commios hinaus. Als er zurückkam, leerte er triumphierend einen
Beutel Münzen auf den Tisch.
Eigon starrte ihn an. »Wie in aller Welt hast du
das bekommen?« Sie betrachteten die Münzen, eine Mischung römischer
Asse und Sesterzen, ein paar Denare sowie eine Handvoll gallischer
Bronze- und Silbermünzen.
Ihre Wirtin lächelte. »Euer Ruhm ist Euch nach
Hause vorausgeeilt, Herr. Ihr wusstet nicht, was er treibt?« Sie
lachte über Eigons verblüfftes Gesicht.
»Nichts Schlechtes!«, warf er rasch ein. »Ich habe
für mein Abendessen gesungen.«
»Gesungen?« Drusilla schaute zu ihm. »Ich habe gar
nicht gewusst, dass du singen kannst!«
Verlegen schaute er zu Boden. »Für Geld habe ich es
noch nie gemacht. Es kommt mir zu sehr vor wie Betteln.«
»Aber uns hast du auch nichts vorgesungen. Und
unseren Brüdern und Schwestern zu Hause auch nicht.« Sie klang
vorwurfsvoll.
Wieder zuckte er mit den Schultern, sah aber
betreten drein. »Ich wollte mich nicht in den Vordergrund drängen.
Ich kenne nur die Lieder meiner Heimat, die meine Mutter mir
beigebracht hat. In Rom hätten sie niemandem gefallen, aber ich
dachte, vielleicht würden sie Anklang finden, wenn wir erst wieder
in Gallien sind. Ich dachte, einen Versuch ist es wert.«
»Das war mehr als einen Versuch wert.« Eigon legte
eine Hand auf seine. »Ein stilles Wasser, so hätte mein Vater dich
genannt.« Sie sagte nicht, dass sie selbst leidlich sang und
dass sie sich auch bereits gefragt hatte, ob sie nicht letztlich
um Geld singen würde, um ihre Reise zu finanzieren.
Als nachts alle schliefen, stand Eigon leise auf
und schlich in den Garten. Der Herbst hatte die sorgsam gepflegten
Blumenbeete schon verunstaltet, aber über die modrige Feuchtigkeit
des Laubs und den Geruch der regennassen Stoppelfelder jenseits der
Stadtmauer roch sie den Duft der Kräuter. Holzrauch trieb zu ihr
herüber. Als sie zum Himmel schaute, sah sie die Kassiopeia, die
Melinus Llys Don genannt hatte. Sie versuchte, sich einiger anderer
Sterne aus ihrer Kindheit zu entsinnen. Der Morgenstern, den die
Römer Venus nannten, hatte bei ihrer Mutter Berlewen geheißen, das
gesegnete Licht des Gottes Lugh. Der Himmel wurde diesig, langsam
legte sich der Rauch wie ein Schleier vor ihn.
Am Ende des Gartens stand eine alte Holzbank. Dort
setzte sie sich und zog fröstelnd den Umhang fester um sich. Je
weiter sie nach Norden gelangten, desto kälter wurde der Wind, bald
würden sie in die ersten Winterstürme geraten. Eigon seufzte. Sie
wusste nicht mehr, wie viele Tage sie schon unterwegs waren, aber
beim Essen hatte die Wirtin erwähnt, dass bald das Fest Samhain
beginnen würde. Offenbar war sie seit Wochen am Backen und
Einkochen. Eigon hatte einen Blick zu Drusilla geworfen, die
verständnislos dreinschaute. »Das Fest findet zur selben Zeit statt
wie die Spiele Sullas in Rom«, erklärte sie. »Aber es ist ein sehr
wichtiges Fest, bei dem man sich vom alten Jahr verabschiedet und
das neue begrüßt. Es ist eine Zeit, wenn die Götter und die
Vorfahren zu uns sprechen.«
»Dürfen wir das feiern?«, hatte Drusilla mit einem
Blick zu Commios gefragt. Es gab so vieles, an das man bei Christi
Lehre denken musste. Sie hatten Petrus’ Predigten immer wieder
gehört und in sich aufgenommen, sie hatten
seine Briefe vielfach gelesen, wie auch die Briefe des Paulus, die
sich in der christlichen Gemeinde großer Beliebtheit erfreuten,
aber manchmal wussten sie trotzdem keine Antwort auf eine Frage.
Und jetzt gab es niemanden mehr, an den sie sich wenden konnten.
Ihnen blieben nur ihre Gebete.
Ihre Botschaft mit sich zu tragen, war eine
Verantwortung, die sie nicht vergessen konnten, aber sie waren
übereingekommen, dass es töricht wäre, allzu bald Aufmerksamkeit
auf sich zu lenken. Es war besser, erst einmal möglichst schnell
und unauffällig ihr Ziel zu erreichen. Dann blieb ihnen immer noch
Zeit, den Menschen von ihrer aufregenden Botschaft zu
erzählen.
Ihre Wirtin betrachtete sie neugierig. »Warum
solltet Ihr nicht feiern?«, fragte sie erstaunt.
Eigon schüttelte den Kopf. »Natürlich werden wir
feiern«, sagte sie lächelnd. »Und Commios wird uns allen etwas
vorsingen.«
Drusilla und Commios hatten zustimmend genickt,
beide erleichtert, dass Eigon die Entscheidung für sie getroffen
hatte.
Während sie jetzt in den Himmel schaute, fiel aus
dem Taurus eine Sternschnuppe. Sie lächelte über das Zeichen, dann
wurde ihre Miene wieder ernst. Sie durfte jetzt nicht mehr davon
ausgehen, dass derlei Ereignisse Nachrichten von den Göttern waren.
Ihr Gott, Jesus Christus, hatte nichts von Sternschnuppen erzählt,
oder? Traurig schüttelte sie den Kopf. Noch eine Gewissheit, die
sie hatte aufgeben müssen. Wieder einmal fragte sie sich, ob sie
wirklich die Richtige für diese Mission war. Sie hatte nicht das
Gefühl, genügend darauf vorbereitet zu sein, genügend zu wissen.
Kind, wenn du zweifelst, dann bete. Bete. Bitte Jesus, dir
beizustehen. Er wird dir sagen, was du tun sollst. Petrus’
Stimme hallte ihr in den Ohren.
»Vater unser, der du bist im Himmel.« Sie machte
eine Pause, schaute immer noch verwundert zum Firmament, aber Nebel
und Rauch verdeckten es, sie konnte die Sterne nicht mehr sehen.
»Bin ich auf dem richtigen Weg? Und bitte, sag mir, ob Titus noch
eine Gefahr für uns ist. Lieber Gott, ich weiß nicht, ob ich das
Richtige mache. Hilf mir. Sprich zu mir. Amen.«
Sie schloss die Augen und wartete. Sie fröstelte.
Plötzlich war die Nachtluft kühler geworden. Ihr Glücksgefühl war
fort.
Und dann war er da, hinter ihren Augen, wartete
forschend, suchend, in ihrem Kopf. Vor Angst verspannte sie sich.
Er war bei Marcia Maximilla, der besten Seherin in ganz Rom. Er
hatte Gold in ihre gierigen Hände gehäuft, und sie suchte überall
nach ihr. Eigon konnte ihr Gesicht sehen, die kalten Augen, mit
denen sie in ihre Schale schaute. Unter Eigons Blick wurde sie noch
angespannter. Sie schaute auf, sah direkt in Eigons verblüfftes
Gesicht und lächelte. »Ah, da bist du, kleine Prinzessin. Ich suche
nach dir. Hier ist jemand, der wissen will, wo du bist. Offenbar
ist eine Angelegenheit zwischen euch beiden noch nicht
abgeschlossen.« Ihre Augen funkelten böse.
Eigon war starr vor Schreck. »Soll ich es ihm
sagen?« Der Blick wurde noch härter und kälter. »Du hast ja solche
Angst, kleine Prinzessin. Warum nur? Beschützt dein Jesus dich
nicht mehr? Reicht sein Einfluss nicht bis nach Gallien?«
»Woher weißt du, wo ich bin?«, flüsterte Eigon
tonlos.
Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem eisigen
Lächeln. »Ich weiß alles. Meine Sehergabe ist unendlich. Ich sehe
in die unbegrenzte Ferne.«
»Und du verkaufst deine Gabe gegen Gold?« Wie so
oft verschwand Eigons Angst, sobald sie zornig wurde. »An
Männer wie Titus Marcus Olivinus! Hast du gar keinen Stolz, Marcia
Maximilla?«
Überraschung blitzte in ihren Augen auf. »Du weißt,
wer ich bin?«
»Natürlich.«
»Das heißt, du siehst selbst die anderen Wege der
Zeit.«
Eigon lächelte. »Wenn ich will, ja.«
»Und dein Gott erlaubt dir das? Bist du als
Priesterin seines Kults initiiert worden?«
Eigon schwieg. Schweiß bildete sich auf ihrer
Stirn, während sie darum kämpfte, die Verbindung zu halten. Ein
kühler Wind streichelte ihr übers Gesicht, und sie spürte, wie ein
sanfter Friede sie umfing. »Wenn du meinst, ob ich getauft worden
bin, ja«, antwortete sie leise. »Und du hast Recht, es gibt keinen
Grund, mich zu fürchten. Jetzt kann Titus mich nicht
erreichen.«
Marcia lächelte. »Das kann er durchaus, wenn ich
ihm sage, wo du bist.«
»Du hast es ihm nicht gesagt?« Eigon war
überrascht. Sie gestattete sich nicht, Erleichterung zu empfinden.
Sie vermutete, dass die Frau sie jederzeit verkaufen würde, wenn
ihr der Sinn danach stand. »Du solltest aufpassen. Wenn er
feststellt, dass du ihm Informationen vorenthältst, wird er
wütend.«
»Auch ich kann wütend werden.«
Eigon hob die Augenbrauen. »Tja, und ist er jetzt
bei dir?«
Marcias Augen verengten sich. »Er ist hier.«
»Und er kann nichts sehen?«
»Nichts! Der Narr sitzt da und lechzt wie ein Hund
nach einem Knochen, der ihm versprochen wurde.«
Eigon verzog das Gesicht. Der Knochen war sie.
»Lieber Herr Jesus, gesegneter Herr, beschütze mich. Verhülle meine
Anwesenheit vor ihnen. Schütze mich, damit ich dein Werk
tun kann. Und schütze auch Drusilla und Commios. Lass nicht zu,
dass sie leiden müssen, weil sie meine Freunde sind, ich flehe dich
an.« Während sie murmelnd das Gebet sprach, bemerkte sie, dass
Marcias Gesicht sich verflüchtigte. Rauch vom Feuer trieb herüber
und verhüllte die Bank.
»Warte …« Sie sah, wie Marcia mit gekrallten
Fingern in die Luft griff, sich allmählich auflöste und dennoch
verzweifelt versuchte, das Bild festzuhalten, dann war sie fort.
Eigon blieb mit einem Gefühl von Frieden und Wärme zurück, das
nichts mit der Temperatur der Nacht zu tun hatte.
»Danke«, flüsterte sie in die Dunkelheit.
Ein lautes Klopfen am Fenster riss Jess aus dem
Schlaf. Mit pochendem Herzen sah sie sich um. Sie saß im Auto, und
eine Politesse starrte zu ihr herein. »O Mist!« Sie setzte sich auf
und kurbelte das Fenster herunter.
Die Frau beäugte sie misstrauisch. »Wie lange
stehen Sie schon hier? Haben Sie getrunken?«
»Nein!« Verzweifelt versuchte Jess, ihre Gedanken
zu sammeln. Gerade noch hatte sie vor zweitausend Jahren mit Eigon
in einem dunklen Garten gesessen, jetzt schaute sie in das
unfreundliche Gesicht einer dunkelhäutigen Frau, die trotz der
Hitze in eine einschüchternde graue Uniform mit Dienstmütze
gekleidet war. »Entschuldigen Sie, ich habe auf jemanden gewartet.
Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es denn?«
»Es ist fast neun, und diese Straße ist ein
Parklizenzbereich für Anwohner.« Die Frau begann, Tasten auf ihrem
elektronischen Schreibblock zu betätigen.
»Ach, bitte nicht.« Beinahe wäre Jess auf der
Stelle in Tränen ausgebrochen. »Warten Sie, ich fahre sofort. Ich
habe hier nicht geparkt. Ich habe nur im Auto gesessen, ich habe
es nicht verlassen.«
»Ich habe Sie doch beobachtet. Sie sind schon eine
ganze Weile hier.« Die Frau trat vom Fenster zurück, vermutlich war
sie zufrieden, weil sie in Jess’ Atem keinen Alkohol riechen
konnte. Sie trat vor den Wagen und notierte das Kennzeichen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, flüsterte Jess fast
lautlos. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Haben Sie was gesagt?« Die Frau stand wieder am
Fenster. Aggressiv steckte sie den Strafzettel in eine Plastikhülle
und klemmte ihn hinter Jess’ Scheibenwischer.
Jess schüttelte den Kopf. »Kein Wort«, sagte sie.
Demütig wartete sie, bis die Frau gegangen war, dann öffnete sie
die Fahrertür, nahm den Strafzettel und ließ den Motor an. Sie
hatte vorgehabt, noch einmal bei William zu läuten, aber das ging
jetzt nicht. Wenn sie den Wagen auch nur fünf Minuten allein hier
stehen ließ, würde die Politesse zurückkommen. Nein, es war Zeit,
London zu verlassen und wieder nach Wales zu fahren.
Zweimal machte sie halt, einmal, um bei der
Raststätte Reading an der M4 mit einer Tasse schwarzen Kaffees und
einem getoasteten Rosinenbrötchen zu frühstücken, und dann wieder
in Abergavenny, wo sie zum Mittagessen ein Café fand. Bevor sie es
betrat, fischte sie ihr Handy und ihre Kreditkarte aus der Tasche
und bezahlte den Strafzettel. Sie wollte London und die Politesse
hinter sich lassen und Daniel auch. Selbst wenn er wieder nach Ty
Bran kommen sollte, hier, in diesem Moment, war sie vor ihm in
Sicherheit. Er hatte keine Ahnung, wo sie war.
Erst am späten Nachmittag fuhr sie schließlich
durchs Tor und stellte ihren Wagen neben Stephs uralten Allrad.
Mehrere Sekunden blieb sie sitzen, hörte das tickende Geräusch,
das der Motor beim Abkühlen von sich gab, und sah zum Haus, das im
Sonnenlicht vor sich hin döste. Die Haustür war offen, im
Fliederstrauch vor dem Atelier sang ein Rotkehlchen sein zartes
Lied, inmitten der hohen Gräser neben der Haustür blühte
Mädesüß.
Schließlich öffnete sie die Tür und stieg mit
steifen Beinen aus. »Steph? Bist du da?«
Als sie keine Antwort bekam, schaute sie in die
Küche. Auf dem Tisch standen die Überreste einer Mahlzeit, die
eindeutig zwei Menschen gegessen hatten. Jess bemerkte die
halbleere Salatschüssel, die angebissenen Brötchen, die halbleeren
Weingläser, und runzelte die Stirn. Es sah aus, als seien Steph und
ihr Gast mitten im Essen aufgestanden und fortgegangen. »Steph? Wo
bist du?«
Sie ging weiter ins Esszimmer. Die Terrassentür
stand offen, ihr fiel auf, dass die Glasscheibe ersetzt war. Dann
trat sie auf den Rasen hinaus. Das Gras war viel zu hoch, der
Garten war überwuchert. Noch immer sah sie kein Lebenszeichen von
ihrer Schwester. »Steph?« Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu
tun. Dann lief sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben.
Stephs Zimmer war ein einziges Chaos, aber das übliche Chaos, und
ihr Bett war so gut gemacht, wie sie es zu machen verstand. Jess
schaute in das Zimmer, in dem sie gewohnt hatte. Dort sah alles
genau so aus, wie sie es zurückgelassen hatte, nur ihr Gepäck stand
neben der Tür. Aber das dritte Schlafzimmer war jetzt bewohnt. Sie
erkannte die Kleider, den Koffer, den Kosmetikbeutel. Ihre Mutter
war gekommen. Jess ging zur Kommode und betrachtete die
aufgereihten Kämme und Bürsten, die Öle für Aromatherapie, die
Naturkosmetik, und lächelte. Wenn Aurelia hier war, würde alles gut
werden.
Sie lief wieder nach unten, ging zu ihrem Wagen und
begann, ihre Sachen auszupacken und in ihr Zimmer zu tragen. Als
sie damit fertig war, warf sie einen Blick auf die Uhr. Die beiden
waren schon sehr lange fort. Außerdem kam es ihr merkwürdig vor,
dass sie das Haus so überstürzt verlassen hatten. Sie weigerte
sich, an Daniel zu denken, ging zum Telefon und wählte die Nummer
von Cwm-nant. Megan hob ab.
»Hallo, Megan, sind zufällig Steph und meine Mutter
bei dir?« Sie sah zum Fenster hinaus.
»Jess? Bist du das?« Megan klang begeistert, ihre
Stimme zu hören. »Nein. Sie sind nicht hier. Ist Aurelia zu Besuch?
Wie wunderbar. Ich freue mich immer sehr, wenn sie hier ist. Aber
nein, ich habe von Steph nichts gehört, seit sie und Rhodri
zurückgekommen sind. Warte mal einen Moment, Rhodri ist gerade
hier.« Jess hörte Stimmen, dann war Rhodri am Apparat. »Jess? Wie
geht’s? Seit wann bist du hier?« Seine Stimme klang sehr herzlich.
»Ist alles in Ordnung? Ist William bei dir?«
»Hi, Rhodri. Nein, er ist in London geblieben.« Sie
merkte, dass sie lächelte, während sie den Grund für ihren Anruf
erläuterte. Es tat ihr sehr gut, seine Stimme wieder zu
hören.
»Nein, Jess, kein Lebenszeichen von den beiden.
Ehrlich gesagt habe ich von Steph überhaupt nichts gehört, seit wir
zurück sind.« Er lachte. »Beste Freunde sind sie und ich nicht
gerade geworden.«
Jess unterdrückte selbst ein Lachen. »Ach, Rhodri,
das tut mir leid. Hat sie dich genervt?«
»Das hat sie in der Tat.« Aber er klang nicht
wirklich verärgert. »Unsere Reise durch das ländliche Frankreich
wurde zu einem Wettlauf gegen die Zeit, bevor ich ihr den Hals
umdrehte.«
»O je.« Jess verzog das Gesicht. »Rhodri, hör mal,
ich mache mir ein bisschen Sorgen. Wie’s aussieht, haben sie das
Mittagessen einfach stehen lassen und sind weggegangen. Halbleere
Weingläser auf dem Tisch und so. Sehr gespenstisch.«
»Glaubst du, dass Daniel plötzlich aufgetaucht
ist?«, fragte er mit scharfer Stimme.
Jess seufzte schwer. »O mein Gott, Rhodri, das
hoffe ich wirklich nicht.« Sie schaute noch einmal auf den Hof
hinaus. »Ein anderes Auto steht nicht hier. Ich war einfach davon
überzeugt, dass er noch in Italien ist. Wunschdenken, vermute ich
mal.«
»Könnte er es irgendwo am Rand des Feldwegs
versteckt haben?«
Wieder seufzte sie. »Ich weiß es nicht.
Wahrscheinlich sollte ich mal nachschauen.«
»Nein, Jess, geh nicht allein los. Warte, ich bin
gleich bei dir.«
Er ließ ihr keine Chance zu widersprechen, sondern
hatte schon aufgelegt.
Jess öffnete die Tür zum Atelier. Es war ordentlich
aufgeräumt und erweckte nicht den Eindruck, als habe Steph seit
ihrer Rückkehr schon wieder gearbeitet. Vor dem Fenster bei der
Werkbank flatterte ein Schmetterling. Jess öffnete das Fenster,
scheuchte ihn behutsam nach draußen und sah dann zu, wie er auf die
Sonne zuflog.
Spielen wir das Spiel immer noch?
Die Kinderstimme klang, als käme sie aus nächster
Nähe. Jess gefror das Blut in den Adern. Langsam drehte sie sich
um. »Eigon? Glads?«
Ich mag nicht mehr spielen. Mir ist
kalt.
Die Stimme klang gereizt, aber Jess hörte auch die
Angst, die hinter dem Ärger lag.
»Wo bist du denn, Herzchen?«, rief sie nach einem
Moment.
Eigon ist weg. Ich kann sie nicht mehr
finden!
Jetzt klang es, als würde Glads weinen.
Jess stockte der Atem. »Glads? Bist du das?«
Ich mag nicht mehr spielen! Das Spiel ist
blöd!
Jess schluckte ihre Angst hinunter. Das waren
kleine Kinder, verlassene, einsame kleine Kinder. Von ihnen hatte
sie nichts zu befürchten. Die Woge mütterlicher Liebe, die sie
überflutete, überraschte sie selbst. »Hört mal, ihr Kleinen. Eigon
ist weggegangen. Aber sie kommt zurück.«
Wie dumm von ihr, das zu sagen! Das wusste sie doch
gar nicht. Sie wusste überhaupt nichts. Sie wusste nicht einmal, in
welchem Jahrtausend sie war. Mit einem Seufzen ging sie in die
Küche zurück. »Steph? Mummy?« Plötzlich rief auch sie, überwältigt
von Einsamkeit und Angst.
Eine knappe halbe Stunde später war Rhodri da,
kündigte sich bereits von weitem mit einer Staubwolke an. »Hast du
mittlerweile eine Ahnung, wo sie stecken könnten?«
Während Jess auf ihn wartete, hatte sie auf dem
Mäuerchen in der Sonne gesessen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin
nicht in den Wald gegangen. Ich dachte, ich warte lieber auf dich.«
Sie war sich sehr bewusst, welche Erleichterung und welches
Glücksgefühl sie bei seinem Anblick empfand. Seine kräftige Statur,
gekleidet in ein altes kariertes Hemd und eine eindeutig von Motten
zerfressene Cordhose, war ungemein beruhigend, ebenso wie das
Lächeln, mit dem er sie betrachtete. Er gab ihr einen Kuss auf die
Wange. »Schön, dass du heil wieder hierhergekommen bist.«
»Das finde ich auch.« Sie glitt von der Mauer. »Du
glaubst doch eigentlich nicht, dass Daniel aufgetaucht ist,
oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Steph hätte ihn mit einem
Blick vernichtet. Und deine Mutter ist nicht minder
furchteinflößend. Wenn sie einen Nomadenstamm in Usbekistan mit
einer Kopfbewegung besänftigen kann, dann wird sie sich von diesem
Mistkerl auch nicht beeindrucken lassen.«
Jess lächelte. »Ich bin so froh, dass du hier
bist.«
»Ich auch, meine Liebe.« Er betrachtete sie gerade
eine Sekunde länger als notwendig, und sie spürte ein aufgeregtes
Flattern in der Magengrube.
Der Moment war sofort vorüber. »Komm.« Er
marschierte bereits zum Tor. »Schauen wir doch erst kurz in den
Wald, bevor wir uns überlegen, wie wir weiter vorgehen.«
Auf dem Weg waren keine frischen Autospuren zu
sehen. Vom Anstieg etwas außer Atem, erreichten sie das Gatter, das
in den Wald führte, und gelangten unter die Bäume. Dort war es sehr
still, die Vögel schwiegen, kein Lüftchen regte sich. Nur eine
Biene war zu hören, die ein blühendes Geißblatt umsummte.
Rhodri ging in die Hocke, um den Pfad genauer in
Augenschein zu nehmen. »Siehst du irgendwelche Fußabdrücke?«
Jess lächelte. »Warst du als Kind bei den
Pfadfindern?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber bei den Western, die
ich im Fernsehen gesehen habe, war ich immer auf Seiten der
Indianer. Es hat mich maßlos beeindruckt, wie sie jede Fährte
verfolgen konnten. Schau.« Er deutete auf einen Abdruck in der
weichen Erde am Rand des Wegs. »Hier ist vor kurzem jemand
gegangen, jemand mit ziemlich kleinen Füßen, aber ohne festes
Schuhwerk.«
Jess lachte laut. »Das könnte meine Mutter sein. In
welche Richtung ist sie gegangen?«
»Bergauf, glaube ich. Komm.« Er ging ihr voraus,
blieb aber nach wenigen Schritten wieder stehen. »Da, schau. Zwei
unterschiedliche Fußabdrücke, die nebeneinanderher gehen, und hier
…« Er runzelte die Stirn. »Hier sind sie plötzlich tiefer, aber
weniger genau. Jetzt laufen sie nebeneinanderher. Und hier, wo es
schlammig ist, ist jemand ausgerutscht.«
Jess folgte ihm, sie hatte plötzlich ein mulmiges
Gefühl. »Warum laufen sie denn?«
»Na ja, es scheint ihnen niemand zu folgen. Sonst
würden wir ja Abdrücke über den ihren sehen.« Er blieb stehen, sah
sich um, hob die Hand, damit Jess still blieb, und lauschte
angestrengt. »Ich hätte die Hunde mitbringen sollen. Sollen wir es
riskieren, zu rufen?«
Jess presste die Lippen zusammen und nickte. Als er
rief, fuhr sie dennoch zusammen und hielt sich die Ohren zu. Die
Stimme eines erstklassigen Waliser Baritons ist dafür ausgebildet,
weit zu tragen. Die Echos hallten mehrere Sekunden durch die Berge.
Mit einem erschreckten Aufschrei stoben überall Vögel auf. Fasane
rannten aus dem Gebüsch, Tauben flatterten aus den Baumwipfeln, ein
einsamer Rabe krächzte empört, als er von einer Eiche mitten im
Wald abhob. Zwei Eichelhäher flogen kreischend aus der alten Esche,
die weit unten im Tal über den Bach herabhing. Als der Lärm der
Vögel erstarb, lauschten sie wieder.
»Nichts?« Jess machte eine hilflose Geste.
Rhodri schüttelte den Kopf, dann schaute er wieder
auf den Pfad. »Der seltsame Fußabdruck ist immer noch da. Schauen
wir doch mal, wohin er führt.« Er ging ihr wieder voraus den
steilen Anstieg auf den Gipfel zu, wo jemand vor rund hundert
Jahren mehrere Redwoods gepflanzt hatte. Sie umstanden einen
uralten Erdwall und ragten wie Wachposten über dem Waldgebiet
auf.
Als sie sich dem Gipfel näherten, verlangsamte
Rhodri seine Schritte. »Schau, da ist jemand.«
Jess starrte durch das Gebüsch. Er hatte Recht. In
einiger Entfernung stand eine Gestalt mit dem Rücken zu ihnen und
betrachtete den Fuß der alten Steinmauer, die rund um den Berg
führte. »Das ist meine Mutter!«, sagte sie.
»Gott sei Dank!« Rhodri reckte den Daumen in die
Luft. »Komm, Jess. Worauf wartest du noch?« Sie stiegen den
restlichen Weg hinauf, und als sie näher kamen, rief er
wieder.
Aurelia drehte sich um. Ihre Haare waren länger und
womöglich noch wilder geworden, als Jess sie in Erinnerung hatte,
ihre Haut war noch gebräunter. Sie trug einen Zigeunerrock und eine
silberblaue Bluse, die Ärmel hatte sie bis zu den Ellbogen
aufgekrempelt, die Bluse war so weit aufgeknöpft, dass eine Kette
aus Kristallen und Lapislazuli zu sehen war. Aurelia winkte. Als
die beiden näher kamen, begann sie zu lächeln. »Jess, mein Schatz!
Rhodri! Was in aller Welt macht ihr beide denn hier oben?« Sie ließ
ihnen gar keine Zeit zu antworten, umarmte Jess nur kurz und packte
sie dann an der Hand. »Schau mal da rein. Steph ist
hineingekrochen. Wir haben jemanden rufen hören. Wir dachten, da
unten sei ein Kind.«
Rhodri und Jess warfen sich einen Blick zu. Rhodri
ging in die Hocke. »Ist alles in Ordnung, Steph?«, rief er. »Hast
du eine Taschenlampe?«
Sie hörten ein schabendes Geräusch, dann war
zwischen den Steinen Stephs Gesicht zu sehen. Langsam kroch sie
ganz heraus. Als sie sich aufrichtete, sah Jess, dass sie völlig
verdreckt war. Und sie bemerkte, dass sie leichenblass war und am
ganzen Leib zitterte. Offenbar nahm sie Jess und Rhodri gar nicht
richtig wahr. »Da liegt ein Skelett. Von einem Kind.« Sie biss sich
auf die Unterlippe. »Es ist um die Steine gekrümmt. Es muss
begraben gewesen sein, und ein Fuchs oder so hat es ausgegraben.
Die Knochen liegen
verstreut herum.« Ihre Stimme zitterte. »O mein Gott, es ist
grauenvoll. Sie sind so klein!«
»Bist du dir sicher, dass sie von einem Menschen
sind?«, fragte Rhodri sanft.
»Natürlich bin ich mir sicher!«, fuhr sie ihn an.
»Was für eine blöde Frage. Natürlich ist es ein Kind!« Tränen
liefen ihr über die verdreckten Wangen.
»Wie in aller Welt hast du sie denn gefunden?«,
fragte Jess schließlich. »Was habt ihr hier oben überhaupt
gemacht?«
Mittlerweile hatte Aurelia Steph mit einem
Taschentuch die Tränen abgetrocknet. »Wir haben das Kind rufen
hören«, sagte sie. »Immer wieder, es war herzzerreißend. Es hatte
sich ganz offenbar verirrt. Steph dachte, es wäre dein Gespenst,
aber sicher waren wir uns nicht. Natürlich nicht! Wir haben es
beide gehört, und…«Kopfschüttelnd machte sie eine Pause. »Wir haben
unser Mittagessen stehen lassen und sind hergekommen, um sie zu
finden. Wir sind den Rufen gefolgt, immer weiter den Pfad hinauf.
Wir riefen zurück und sagten, dass wir unterwegs sind. Hier oben
hörte es dann auf. Die Stimme war völlig weg. Steph dachte, sie
würde sich da verstecken.« Aurelia deutete zu den Steinen. »Wir
haben immer wieder gesagt, dass wir hier sind und wir uns um sie
kümmern wollen. Aber wir haben einfach nichts mehr von ihr gehört.«
Zum ersten Mal stockte auch ihr die Stimme. »Nur diese entsetzliche
Stille.«
»Hat sie gefragt, ob sie mit dem Spiel aufhören
kann?«, fragte Jess nach einem Moment mit heiserer Stimme.
Steph nickte. Aurelia sah zwischen ihren Töchtern
hin und her. »Ist das euer Gespenst? Eigon?«
»Es ist nicht Eigon«, sagte Jess. »Ich glaube, es
ist ihre jüngere Schwester - oder ihr kleiner Bruder. Als die Römer
sie gefangen genommen haben, waren die beiden weg, wie vom
Erdboden verschluckt.«
»O mein Gott!« Aurelia sah bekümmert drein. Sie
warf einen Blick zu den Steinen. »Du meinst, sie oder er ist dort
hineingekrochen und gestorben? Oh, das ist zu schrecklich, um sich
das vorzustellen.«
»Sie haben die Gegend hier tagelang abgesucht, aber
sie haben die beiden nicht gefunden«, flüsterte Jess. »Irgendwann
haben sie die Suche eingestellt und Eigon und ihre Mutter nach
Süden gebracht. Ihre Mutter und ihr Vater sind in Rom
gestorben.«
»Und Eigon?« Aurelia schaute ihre jüngere Tochter
an, deren Gesicht sehr blass war.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was aus Eigon
geworden ist.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Rhodri nach
einer weiteren längeren Pause. »Wir können das Kind doch nicht
einfach da liegen lassen.«
»Wir können aber auch niemandem davon erzählen«,
warf Jess rasch ein. »Du weißt doch, was dann passieren würde. Die
Polizei würde kommen. Sie würden sichergehen wollen, dass es kein
Kind der heutigen Zeit ist. Sie würden die Knochen mitnehmen. Die
Zeitungen würden von der Geschichte Wind kriegen. Dann würde es
hier vor Menschen wimmeln! Wenn die Knochen wirklich alt sind,
würden sie sie einem Museum geben, und da würden sie dann in einem
Schaukasten liegen mit dem Etikett ›Kind der Eisenzeit‹ oder
›Römisch-britisches Kind‹. Dazu darf es nicht kommen!« Ihre Augen
glänzten vor Tränen. »Das wäre entsetzlich! Wir dürfen niemandem
davon erzählen. Wir müssen sie in Frieden ruhen lassen.«
»Aber sie ruht nicht in Frieden, Jess«, widersprach
ihre Mutter sanft.
»Nein, aber sie weiß, dass wir jetzt wissen, wo sie
ist.« Jess fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich kriech mal
rein, ich will sie sehen.«
»Bist du sicher?« Steph schüttelte abwehrend den
Kopf. »Es ist schrecklich.«
»Das glaube ich dir.« Jess nickte. Sie ging ein
paar Schritte zurück und pflückte ein paar Fingerhut, die im
Halbschatten unter einem der hohen Redwoods blühten. Sie warf einen
kurzen Blick zu Rhodri. Er nickte ermutigend. Dann ließ sie sich
auf alle viere nieder und robbte in die Dunkelheit.
»Kann sie da drin was sehen?«, fragte Rhodri leise.
»Du hattest gar keine Taschenlampe.«
Steph nickte. »Es ist ziemlich dunkel, aber durch
die Steine sickert ein bisschen Licht.« Sie fuhr sich mit zittrigen
Händen übers Gesicht. »Die Knochen sind bewegt worden, sie liegen
verstreut herum. Irgendjemand hat sie ausgegraben.« Ihre Stimme
ging in ein Schluchzen über.
Aurelia legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich
hoffe zu Gott, dass es wirklich ein archäologischer Fund ist«,
sagte sie ruhig. »Wenn es ein neuzeitliches Grab ist, kriegen wir
Ärger.«
»Wir müssen herausfinden, was genau es ist, bevor
wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen«, sagte Rhodri nach einer
langen Pause. Alle hatten die Augen auf den dunklen Spalt
gerichtet, in dem Jess verschwunden war. »Ich überlege gerade, ob
Jim Macrae bereit wäre, festzustellen, ob sie alt sind oder
nicht.«
»Doktor Macrae?« Entgeistert sah Steph ihn an. »Ihm
darfst du das bestimmt nicht sagen. Er müsste die Polizei
verständigen. Ich bin mir sicher, dass er Tote melden muss, ganz
egal, wie alt sie sind. Wenn ich mich recht erinnere, hat jemand
mir mal erzählt, dass man einen Arzt rufen
muss, der bestätigt, dass jemand wirklich tot ist, selbst wenn
der- oder diejenige ein Skelett ist! Muss man dann nicht auch einen
Gerichtsmediziner einschalten? Jess wäre außer sich! Nein.« Sie
schüttelte den Kopf. »Das müssen wir uns wirklich ganz genau
überlegen. Wir sind hierhergeführt worden. Das Kind hat uns
gerufen.«
Rhodri war zu den Steinen hinübergegangen. Jetzt
ging er in die Hocke und spähte hinein. »Ist alles in Ordnung?«,
rief er leise.
Innen kauerte Jess neben dem kleinen Skelett. Sie
hatte die Blumen danebengelegt und die winzigen Fingerknochen für
einen Moment sanft berührt. »Es tut mir so leid, dass niemand
gekommen ist«, flüsterte sie. »Eigon hat es wirklich versucht. Sie
hat alles getan, um euch zu finden. Das haben alle. Bist du vor
lauter Angst hier hineingekrochen? Ach, mein Herz, es tut mir so
leid.« Tränen strömten ihr über die Wangen. »Deine Mutter hat es
nie verwunden, dass sie dich verloren hatte. Du hast ihr so
gefehlt. Hast du sie in Tir n’an Og gefunden? Das hat sie sich so
gewünscht.« Sie schloss die Augen. »So weit weg sie auch sein
mochte, sie hat nie aufgehört, dich zu lieben.«
Welches Kind es wohl war? Das würde sie gern
wissen. Die Knochen waren so klein. Vorsichtig hob sie einen auf.
Er war federleicht und sehr zerbrechlich. Ehrfürchtig legte sie ihn
zurück. Sie küsste ihre Fingerspitze und legte sie eine Sekunde auf
die Stirn des kleinen Schädels, dann kroch sie wieder in die Sonne
hinaus.
Die anderen beobachteten sie schweigend, einen
Moment rührte sich niemand. Dann legte Rhodri einen Arm um sie.
»Alles in Ordnung?«
Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und
nickte. Einen Moment hielt sie sich an ihm fest, spürte seine Kraft
und nahm den männlichen Geruch seines Hemdes wahr.
Am liebsten wäre sie einfach so in der Sicherheit seiner Arme
stehen geblieben. Aber sie löste sich widerwillig von ihm und
grinste schief.
»Entschuldigung. Ich weiß nicht, was über mich
gekommen ist.« Sie holte tief Luft und versuchte, sich ein wenig zu
fassen. »Die Knochen sind eindeutig sehr alt, ganz leicht und
porös. Das sind bestimmt keine heutigen.«
»Und was meinst du, was wir tun sollen?«, fragte
Steph unsicher.
Einen Moment schwieg Jess. Sie war ein Bild des
Jammers. Sie ließ die Arme hilflos herabhängen, ihr Gesicht war
bekümmert und erschöpft. »Sollen wir sie erst einmal dort
belassen?«, schlug sie schließlich vor. »Wenn wir jemandem Bescheid
sagen, werden die Knochen entfernt.«
»Das haben wir uns auch gedacht.« Rhodri warf einen
Blick zu Steph. »Du hast Recht. Sie gehören nicht ins Museum. Ich
glaube, das wäre völlig falsch.«
»Vielleicht könntest du deine Freundin fragen?
Eigon, meine ich«, sagte Steph. »Redet sie so mit dir? Wird sie
wissen, was passiert ist?«
Jess zuckte mit den Schultern. »Ich kann’s
versuchen.«
»Gehen wir doch nach Hause«, sagte Aurelia
schließlich. »Das Kind hat so lange hier gelegen, da macht eine
Nacht mehr auch nichts aus. Wenn seine Seele durch den Wald hier
geistert, dann weiß es jetzt, dass wir es gefunden haben und dass
du ihm Blumen gebracht hast, Jess. Und morgen entscheiden wir, was
wir weiter tun.«
Jess erwachte aus einem merkwürdigen Traum. Im
Dunkeln sah sie sich um. Sie hatten den Rest des Tages gemeinsam
verbracht und zu viert in der Küche zu Abend gegessen, bis Rhodri
kurz vor Mitternacht schließlich nach Cwm-nant zurückgefahren war.
Beschlossen hatten sie lediglich, dass
die Knochen nicht in einem Museum ausgestellt werden sollten. Als
Jess zu Bett gegangen war, hatte sie ruhig dagelegen und leise zu
Eigon gesprochen, aber sie hatte keine Antwort bekommen. Und als
sie schließlich einschlief, träumte sie von William. Er stand
hinter der Tür in seiner Wohnung und rief immer wieder nach ihr.
»Jess, die Politesse ist weg. Du kannst jetzt reinkommen.« Als sie
aufwachte, war sie völlig aufgelöst. Sie schlich nach unten, um die
anderen nicht zu wecken, und ließ sich in der Küche ein Glas Wasser
einlaufen. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah in den vom
Mond erleuchteten Garten hinaus. Ein Wind war aufgekommen, die Äste
bogen sich und warfen tanzende Schatten über den Hof und das
Atelier. »Togo? Glads?«, flüsterte sie. »Seid ihr da?«
Sie bekam keine Antwort.
Als sie nach einer ganzen Weile wieder ins Bett
ging, schlief sie sofort ein.