Kapitel 30
Catherine wartete, bis Brian unter der Dusche stand, denn schlich sie nach unten ins Wohnzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Sie schaltete nur ein kleines Licht an und griff zum Telefon. Im Raum war es sehr dämmrig, es war behaglich und fast so voll wie das Arbeitszimmer ihres Mannes mit den Büchern und Zeitungen überall und den Stapeln abgegriffener Notenblätter auf dem alten Klavier, das an der Wand stand.
»Nat, wie geht’s dir?« Sie hatte ihre Telefonnummer in einem älteren Adressbuch gefunden. »Hast du schöne Ferien?« Ein paar Minuten plauderten sie über Belangloses, bis Catherine sagte: »Ich muss mit dir über etwas reden, Nat. Ist der Zeitpunkt günstig? Sind die Kinder schon im Bett?« Sie machte es sich in dem großen Sessel bequem, hatte den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und redete sehr leise. »Erinnerst du dich, du hast mir mal erzählt, dass du manchmal ein bisschen Angst vor Daniel hast«, begann sie etwas unbeholfen. »Dass er dich ein- oder zweimal geschlagen hat. Ist das je wieder passiert?«
Die Stimme am anderen Ende klang misstrauisch und verstört. Catherine hörte geduldig zu, während Nat alles in Abrede stellte und Ausflüchte machte, dann sagte sie freundlich: »Nein, hör zu, ich hab es niemandem erzählt. Das hatte ich dir ja versprochen, und daran halte ich mich auch. Es ist bloß so, ich habe heute Abend etwas gehört, was mich ziemlich erschreckt hat. Nat, er hat jemand anderen angegriffen.«
Ein paar Sekunden verschlug es Nat vor Schreck die Sprache. »Wen?«, flüsterte sie schließlich.
»Das kann ich dir nicht sagen. Das habe ich versprochen. Aber bitte glaub mir, es war schlimm. Hast du von ihm gehört?«
»Nicht heute. Er ist immer noch auf dieser Konferenz in Italien.«
»Also, er ist auf jeden Fall in Italien gewesen«, sagte Catherine zurückhaltend. »Ich glaube, du solltest aufpassen. Vielleicht ist er schon zurück. Und es klingt, als würde er sich sehr merkwürdig verhalten. Kannst du bei deinen Eltern bleiben? Halt dich von ihm fern.«
»Verdammt!« Nat klang, als wäre sie den Tränen nahe. »Wenn ich das Dad sage, bringt er ihn um. Er hat Daniel nie getraut. Nie.«
»Klingt, als besäße dein Vater eine gute Menschenkenntnis«, antwortete Catherine. »Hör, ich muss jetzt Schluss machen. Aber pass auf dich auf, ja?« Sie hörte Schritte auf der Treppe. Schuldbewusst stellte sie das Telefon in die Ladestation zurück. Als Brian die Tür öffnete, blätterte sie unschuldig eine Zeitschrift durch. »Bist du fertig im Bad?« Sie schaute auf. »Ich suche nach einem Artikel, den ich vor ein paar Tagen gelesen habe. Ich wollte ihn ausreißen und aufheben.« Sie warf die Zeitschrift auf den Tisch. »Na, macht nichts, ich such morgen weiter. Wenn mein Mann gerade blitzsauber aus der Dusche kommt, bin wohl ich an der Reihe.« Lächelnd stand sie auf und legte ihm die Arme um den Hals. »Wir haben wirklich großes Glück, dass wir einander haben, Brian.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Lippen.
Brian zog sie an sich und gab ihr einen liebevollen Kuss, dann drehte er sich um und zog sie mit sich zur Tür hinaus. »Bad und Bett«, flüsterte er. »Nicht unbedingt in der Reihenfolge!« Er wusste, dass sie telefoniert hatte. Er hatte gehört, wie sie den Hörer zurücklegte.
 
In jeder anderen Jahreszeit wäre es unmöglich gewesen, in der Nähe von Williams Wohnung einen Parkplatz zu finden. So spät am Abend hätten zu beiden Seiten jeder Straße Autos Stoßstange an Stoßstange gestanden. In den Sommerferien allerdings fuhren viele weg, um der Hektik und der Hitze der Großstadt zu entkommen, und so ließ sich bisweilen der eine oder andere Platz finden. Trotzdem suchte Jess mehrere Minuten, bis sie ihren kleinen Ford schließlich zwei Straßen weiter abstellen konnte. Sie stieg aus, verschloss die Tür und ging dann durch die Sommernacht die mit Kirschbäumen gesäumten Bürgersteige entlang, wich dabei Schuttcontainern und Mülltonnen und heimkehrenden Kneipenbesuchern aus. Die Luft war lau und erfüllt vom Duft des Sommers, irgendwo in der Nähe blühten Lindenbäume, es roch sogar nach frisch gemähtem Gras, sehr ungewöhnlich in dieser ausgesprochen urbanen Umgebung. Jess bog um die Ecke, folgte dem früher so vertrauten Weg zu Williams Wohnung und schaute dann mit einem sehnsüchtigen Stich, der sie selbst überraschte, zu seinen Fenstern. Es brannte kein Licht. Sie sah auf ihre Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Ob er wohl etwas dagegen hätte, wenn sie ihn weckte? Er war bestimmt genauso müde wie sie. Sie nahm all ihren Mut zusammen, lief die Treppe zu seiner Haustür hinauf und drückte auf die Klingel. Keine Antwort. Zum ersten Mal tat es ihr bitter leid, dass sie ihm die Schlüssel hingeschleudert hatte, als sie endgültig akzeptiert hatte, dass ihre Beziehung zu Ende war. Sie läutete noch einmal, dann machte sie mit einem enttäuschten Seufzen kehrt und ging zum Auto zurück. Vielleicht war er doch gleich nach Cornwall gefahren.
Da sie schon einmal einen Parkplatz gefunden hatte, beschloss sie, die Nacht dort zu verbringen. Sie machte es sich auf dem Beifahrersitz so bequem wie möglich, spielte leise ihre CDs, während der Verkehrslärm, der von der Hauptstraße herüberdrang, allmählich nachließ. In den frühen Morgenstunden kam er fast völlig zum Erliegen, bis auf das eine oder andere Auto oder Motorrad, das es offenbar darauf anlegte, die halbe Stadt zu wecken. Zweimal spielte Jess Caractacus, lächelte leise, wann immer Rhodris Bariton durch den Wagen schallte, wenn auch der Anwohner wegen sehr leise. Jess gestand sich kaum ein, wie tröstlich sie es fand, seine Stimme zu hören. Dann legte sie eine ruhigere Musik auf. Irgendwann in der Dämmerung, als eine Amsel in dem Garten, vor dem sie parkte, ihr Morgenlied anstimmte, schaltete Jess den CD-Spieler aus und fiel zum Gezwitscher des Vogels in einen unruhigen Schlaf.
 
Als sie Lugdunum erreichten, verließen Eigon, Drusilla und Commios den Flussfrachter und folgten einer geraden, gut gepflasterten Straße, die quer durch Gallien nach Nordwesten führte. Sie hatten einen Maulesel gekauft, der bereitwillig ihre Habseligkeiten trug und dazu abwechselnd eine der beiden Frauen. Jeden Abend fanden sie eine taberna oder zumindest ein mansio, wo sie zu essen und ein mehr oder weniger sauberes Bett bekamen. Wie das Gesetz es ihnen erlaubte, baten sie ein paarmal um Quartier in einem Bauernhaus oder einer Villa, die an der Straße lagen. Bisweilen wurden sie großzügig und freundlich empfangen, bisweilen aber auch sehr schroff.
Zweimal überholte sie auf der Straße eine Reiterschwadron, die im schnellen Trab an ihnen vorbeiritt und sie in einer Staubwolke zurückließ. Beim zweiten Mal blieb Commios stehen, rieb dem Maulesel die Nüstern, um ihn zu beruhigen, und drehte sich zu Eigon um, die unbeirrt, eine Hand auf der Flanke des Maulesels, hinter ihm hergegangen war. Drusilla schien im Sattel zu schlafen. »Weißt du, vielleicht sollten wir die Straße verlassen, wenn wir sie kommen hören. Nur für den Fall. Wir wissen ja nicht, welchen Einfluss dein Freund Titus hat, oder? Könnte er Kundschafter vorausschicken, die nach uns Ausschau halten?«
Mit hängenden Schultern blieb Eigon stehen. Sie war erschöpft. »Ich würde ihm alles zutrauen.«
»Aber du spürst nicht, dass er in der Nähe ist?« Er sah sie prüfend an. Er hatte großen Respekt vor Eigons geheimnisvoller Wahrnehmung, doch in den letzten vier Tagen war sie ihm zunehmend deprimiert und in sich gekehrt erschienen. Sanft berührte er ihre Hand.
Sie trat einen kleinen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Gelegenheit dazu gehabt. Die vergangene Nacht war schrecklich.« Sie und Drusilla hatten sich in einem mansio zwei Betten genommen, waren aber vor dem Schmutz und den Flöhen geflohen. Der unflätige Wirt, der einzige Mensch, der die Verantwortung für das Gasthaus zu haben schien, hatte ihre Münzen eingesteckt und sich geweigert, ihnen etwas zurückzugeben; ganz im Gegenteil, als sie sich beschwerten, hatte er sie wüst beschimpft. Commios hatte es sich beim Maulesel im Stall bequem gemacht und weit besser geschlafen. Die Nächte davor waren nicht wesentlich besser gewesen. Zudem waren hier die Straßen holprig und überwuchert. Wer immer die Aufgabe hatte, das Gebüsch regelmäßig zu stutzen und die Straße instand zu halten, war ihr schon lange nicht mehr nachgekommen. Ein- oder zweimal glaubten sie zu spüren, dass sie von den Bäumen aus beobachtet wurden. Der Maulesel, sonst ein sehr friedliches Tier, war schreckhaft geworden und scheute beim leisesten Geräusch aus den Wäldern, die von den umgebenden Bergen bis dicht an die Straße heranwuchsen. Nachts hörten sie Wölfe heulen.
»Ich würde vorschlagen, dass wir bald Rast machen. Wenn wir einen hübschen Ort finden«, sagte Commios munter. »Dort bleiben wir ein paar Tage, damit sich der Esel ausruhen kann. Und unsere Füße.« Grinsend schaute er auf seine Füße, sie waren mit Blasen und Schürfwunden übersät. »Hat eine von euch darauf geachtet, was auf dem letzten Meilenstein stand? Gestern Abend sagte ein Kerl in den Stallungen, Lutetia sei nicht schlecht. Vielleicht könnten wir ein bisschen tiefer in die Tasche greifen und uns eine anständige Unterkunft suchen.« Er schaute zu Drusilla. Sie hatte die Augen geöffnet und sah sich um. Selbst ihre scheinbar grenzenlose Munterkeit hatte sich offenbar erschöpft. Sie lächelte matt. »Das klingt gut. Haben wir noch genügend Geld?« Commios war für die Geldbörse verantwortlich.
Er nickte. »Wenn wir nicht dem Wunsch nachgeben, dem Luxus zu frönen!«, meinte er fröhlich. »Ich schätze, in vierzehn Tagen haben wir die Küste erreicht. Ein paar mehr, wenn wir unterwegs haltmachen. Vielleicht kann ich in Lutetia ja etwas Geld verdienen.«
»Verdienen?« Eigon schaute ihn fragend an. »Was kannst du denn?«
Er lachte. »Ah so. Du schätzt mein Verdienstpotenzial also nicht allzu hoch ein! Das zeige ich dir, wenn wir dort sind.«
Er hielt Wort. Zu ihrer Freude erreichten sie an dem Abend eine relativ große Stadt, die am Ufer eines breiten, langsam dahinströmenden Flusses lag. Ihnen wurde der Weg zu einer hübschen Herberge gewiesen, wo es saubere Laken und, noch besser, sauberes Wasser gab. Während Drusilla und Eigon sich mit der Wirtin unterhielten und ihr Angebot einer Mahlzeit annahmen, schlüpfte Commios hinaus. Als er zurückkam, leerte er triumphierend einen Beutel Münzen auf den Tisch.
Eigon starrte ihn an. »Wie in aller Welt hast du das bekommen?« Sie betrachteten die Münzen, eine Mischung römischer Asse und Sesterzen, ein paar Denare sowie eine Handvoll gallischer Bronze- und Silbermünzen.
Ihre Wirtin lächelte. »Euer Ruhm ist Euch nach Hause vorausgeeilt, Herr. Ihr wusstet nicht, was er treibt?« Sie lachte über Eigons verblüfftes Gesicht.
»Nichts Schlechtes!«, warf er rasch ein. »Ich habe für mein Abendessen gesungen.«
»Gesungen?« Drusilla schaute zu ihm. »Ich habe gar nicht gewusst, dass du singen kannst!«
Verlegen schaute er zu Boden. »Für Geld habe ich es noch nie gemacht. Es kommt mir zu sehr vor wie Betteln.«
»Aber uns hast du auch nichts vorgesungen. Und unseren Brüdern und Schwestern zu Hause auch nicht.« Sie klang vorwurfsvoll.
Wieder zuckte er mit den Schultern, sah aber betreten drein. »Ich wollte mich nicht in den Vordergrund drängen. Ich kenne nur die Lieder meiner Heimat, die meine Mutter mir beigebracht hat. In Rom hätten sie niemandem gefallen, aber ich dachte, vielleicht würden sie Anklang finden, wenn wir erst wieder in Gallien sind. Ich dachte, einen Versuch ist es wert.«
»Das war mehr als einen Versuch wert.« Eigon legte eine Hand auf seine. »Ein stilles Wasser, so hätte mein Vater dich genannt.« Sie sagte nicht, dass sie selbst leidlich sang und dass sie sich auch bereits gefragt hatte, ob sie nicht letztlich um Geld singen würde, um ihre Reise zu finanzieren.
Als nachts alle schliefen, stand Eigon leise auf und schlich in den Garten. Der Herbst hatte die sorgsam gepflegten Blumenbeete schon verunstaltet, aber über die modrige Feuchtigkeit des Laubs und den Geruch der regennassen Stoppelfelder jenseits der Stadtmauer roch sie den Duft der Kräuter. Holzrauch trieb zu ihr herüber. Als sie zum Himmel schaute, sah sie die Kassiopeia, die Melinus Llys Don genannt hatte. Sie versuchte, sich einiger anderer Sterne aus ihrer Kindheit zu entsinnen. Der Morgenstern, den die Römer Venus nannten, hatte bei ihrer Mutter Berlewen geheißen, das gesegnete Licht des Gottes Lugh. Der Himmel wurde diesig, langsam legte sich der Rauch wie ein Schleier vor ihn.
Am Ende des Gartens stand eine alte Holzbank. Dort setzte sie sich und zog fröstelnd den Umhang fester um sich. Je weiter sie nach Norden gelangten, desto kälter wurde der Wind, bald würden sie in die ersten Winterstürme geraten. Eigon seufzte. Sie wusste nicht mehr, wie viele Tage sie schon unterwegs waren, aber beim Essen hatte die Wirtin erwähnt, dass bald das Fest Samhain beginnen würde. Offenbar war sie seit Wochen am Backen und Einkochen. Eigon hatte einen Blick zu Drusilla geworfen, die verständnislos dreinschaute. »Das Fest findet zur selben Zeit statt wie die Spiele Sullas in Rom«, erklärte sie. »Aber es ist ein sehr wichtiges Fest, bei dem man sich vom alten Jahr verabschiedet und das neue begrüßt. Es ist eine Zeit, wenn die Götter und die Vorfahren zu uns sprechen.«
»Dürfen wir das feiern?«, hatte Drusilla mit einem Blick zu Commios gefragt. Es gab so vieles, an das man bei Christi Lehre denken musste. Sie hatten Petrus’ Predigten immer wieder gehört und in sich aufgenommen, sie hatten seine Briefe vielfach gelesen, wie auch die Briefe des Paulus, die sich in der christlichen Gemeinde großer Beliebtheit erfreuten, aber manchmal wussten sie trotzdem keine Antwort auf eine Frage. Und jetzt gab es niemanden mehr, an den sie sich wenden konnten. Ihnen blieben nur ihre Gebete.
Ihre Botschaft mit sich zu tragen, war eine Verantwortung, die sie nicht vergessen konnten, aber sie waren übereingekommen, dass es töricht wäre, allzu bald Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war besser, erst einmal möglichst schnell und unauffällig ihr Ziel zu erreichen. Dann blieb ihnen immer noch Zeit, den Menschen von ihrer aufregenden Botschaft zu erzählen.
Ihre Wirtin betrachtete sie neugierig. »Warum solltet Ihr nicht feiern?«, fragte sie erstaunt.
Eigon schüttelte den Kopf. »Natürlich werden wir feiern«, sagte sie lächelnd. »Und Commios wird uns allen etwas vorsingen.«
Drusilla und Commios hatten zustimmend genickt, beide erleichtert, dass Eigon die Entscheidung für sie getroffen hatte.
Während sie jetzt in den Himmel schaute, fiel aus dem Taurus eine Sternschnuppe. Sie lächelte über das Zeichen, dann wurde ihre Miene wieder ernst. Sie durfte jetzt nicht mehr davon ausgehen, dass derlei Ereignisse Nachrichten von den Göttern waren. Ihr Gott, Jesus Christus, hatte nichts von Sternschnuppen erzählt, oder? Traurig schüttelte sie den Kopf. Noch eine Gewissheit, die sie hatte aufgeben müssen. Wieder einmal fragte sie sich, ob sie wirklich die Richtige für diese Mission war. Sie hatte nicht das Gefühl, genügend darauf vorbereitet zu sein, genügend zu wissen. Kind, wenn du zweifelst, dann bete. Bete. Bitte Jesus, dir beizustehen. Er wird dir sagen, was du tun sollst. Petrus’ Stimme hallte ihr in den Ohren.
»Vater unser, der du bist im Himmel.« Sie machte eine Pause, schaute immer noch verwundert zum Firmament, aber Nebel und Rauch verdeckten es, sie konnte die Sterne nicht mehr sehen. »Bin ich auf dem richtigen Weg? Und bitte, sag mir, ob Titus noch eine Gefahr für uns ist. Lieber Gott, ich weiß nicht, ob ich das Richtige mache. Hilf mir. Sprich zu mir. Amen.«
Sie schloss die Augen und wartete. Sie fröstelte. Plötzlich war die Nachtluft kühler geworden. Ihr Glücksgefühl war fort.
Und dann war er da, hinter ihren Augen, wartete forschend, suchend, in ihrem Kopf. Vor Angst verspannte sie sich. Er war bei Marcia Maximilla, der besten Seherin in ganz Rom. Er hatte Gold in ihre gierigen Hände gehäuft, und sie suchte überall nach ihr. Eigon konnte ihr Gesicht sehen, die kalten Augen, mit denen sie in ihre Schale schaute. Unter Eigons Blick wurde sie noch angespannter. Sie schaute auf, sah direkt in Eigons verblüfftes Gesicht und lächelte. »Ah, da bist du, kleine Prinzessin. Ich suche nach dir. Hier ist jemand, der wissen will, wo du bist. Offenbar ist eine Angelegenheit zwischen euch beiden noch nicht abgeschlossen.« Ihre Augen funkelten böse.
Eigon war starr vor Schreck. »Soll ich es ihm sagen?« Der Blick wurde noch härter und kälter. »Du hast ja solche Angst, kleine Prinzessin. Warum nur? Beschützt dein Jesus dich nicht mehr? Reicht sein Einfluss nicht bis nach Gallien?«
»Woher weißt du, wo ich bin?«, flüsterte Eigon tonlos.
Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem eisigen Lächeln. »Ich weiß alles. Meine Sehergabe ist unendlich. Ich sehe in die unbegrenzte Ferne.«
»Und du verkaufst deine Gabe gegen Gold?« Wie so oft verschwand Eigons Angst, sobald sie zornig wurde. »An Männer wie Titus Marcus Olivinus! Hast du gar keinen Stolz, Marcia Maximilla?«
Überraschung blitzte in ihren Augen auf. »Du weißt, wer ich bin?«
»Natürlich.«
»Das heißt, du siehst selbst die anderen Wege der Zeit.«
Eigon lächelte. »Wenn ich will, ja.«
»Und dein Gott erlaubt dir das? Bist du als Priesterin seines Kults initiiert worden?«
Eigon schwieg. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, während sie darum kämpfte, die Verbindung zu halten. Ein kühler Wind streichelte ihr übers Gesicht, und sie spürte, wie ein sanfter Friede sie umfing. »Wenn du meinst, ob ich getauft worden bin, ja«, antwortete sie leise. »Und du hast Recht, es gibt keinen Grund, mich zu fürchten. Jetzt kann Titus mich nicht erreichen.«
Marcia lächelte. »Das kann er durchaus, wenn ich ihm sage, wo du bist.«
»Du hast es ihm nicht gesagt?« Eigon war überrascht. Sie gestattete sich nicht, Erleichterung zu empfinden. Sie vermutete, dass die Frau sie jederzeit verkaufen würde, wenn ihr der Sinn danach stand. »Du solltest aufpassen. Wenn er feststellt, dass du ihm Informationen vorenthältst, wird er wütend.«
»Auch ich kann wütend werden.«
Eigon hob die Augenbrauen. »Tja, und ist er jetzt bei dir?«
Marcias Augen verengten sich. »Er ist hier.«
»Und er kann nichts sehen?«
»Nichts! Der Narr sitzt da und lechzt wie ein Hund nach einem Knochen, der ihm versprochen wurde.«
Eigon verzog das Gesicht. Der Knochen war sie. »Lieber Herr Jesus, gesegneter Herr, beschütze mich. Verhülle meine Anwesenheit vor ihnen. Schütze mich, damit ich dein Werk tun kann. Und schütze auch Drusilla und Commios. Lass nicht zu, dass sie leiden müssen, weil sie meine Freunde sind, ich flehe dich an.« Während sie murmelnd das Gebet sprach, bemerkte sie, dass Marcias Gesicht sich verflüchtigte. Rauch vom Feuer trieb herüber und verhüllte die Bank.
»Warte …« Sie sah, wie Marcia mit gekrallten Fingern in die Luft griff, sich allmählich auflöste und dennoch verzweifelt versuchte, das Bild festzuhalten, dann war sie fort. Eigon blieb mit einem Gefühl von Frieden und Wärme zurück, das nichts mit der Temperatur der Nacht zu tun hatte.
»Danke«, flüsterte sie in die Dunkelheit.
 
Ein lautes Klopfen am Fenster riss Jess aus dem Schlaf. Mit pochendem Herzen sah sie sich um. Sie saß im Auto, und eine Politesse starrte zu ihr herein. »O Mist!« Sie setzte sich auf und kurbelte das Fenster herunter.
Die Frau beäugte sie misstrauisch. »Wie lange stehen Sie schon hier? Haben Sie getrunken?«
»Nein!« Verzweifelt versuchte Jess, ihre Gedanken zu sammeln. Gerade noch hatte sie vor zweitausend Jahren mit Eigon in einem dunklen Garten gesessen, jetzt schaute sie in das unfreundliche Gesicht einer dunkelhäutigen Frau, die trotz der Hitze in eine einschüchternde graue Uniform mit Dienstmütze gekleidet war. »Entschuldigen Sie, ich habe auf jemanden gewartet. Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es denn?«
»Es ist fast neun, und diese Straße ist ein Parklizenzbereich für Anwohner.« Die Frau begann, Tasten auf ihrem elektronischen Schreibblock zu betätigen.
»Ach, bitte nicht.« Beinahe wäre Jess auf der Stelle in Tränen ausgebrochen. »Warten Sie, ich fahre sofort. Ich habe hier nicht geparkt. Ich habe nur im Auto gesessen, ich habe es nicht verlassen.«
»Ich habe Sie doch beobachtet. Sie sind schon eine ganze Weile hier.« Die Frau trat vom Fenster zurück, vermutlich war sie zufrieden, weil sie in Jess’ Atem keinen Alkohol riechen konnte. Sie trat vor den Wagen und notierte das Kennzeichen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, flüsterte Jess fast lautlos. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
»Haben Sie was gesagt?« Die Frau stand wieder am Fenster. Aggressiv steckte sie den Strafzettel in eine Plastikhülle und klemmte ihn hinter Jess’ Scheibenwischer.
Jess schüttelte den Kopf. »Kein Wort«, sagte sie. Demütig wartete sie, bis die Frau gegangen war, dann öffnete sie die Fahrertür, nahm den Strafzettel und ließ den Motor an. Sie hatte vorgehabt, noch einmal bei William zu läuten, aber das ging jetzt nicht. Wenn sie den Wagen auch nur fünf Minuten allein hier stehen ließ, würde die Politesse zurückkommen. Nein, es war Zeit, London zu verlassen und wieder nach Wales zu fahren.
 
Zweimal machte sie halt, einmal, um bei der Raststätte Reading an der M4 mit einer Tasse schwarzen Kaffees und einem getoasteten Rosinenbrötchen zu frühstücken, und dann wieder in Abergavenny, wo sie zum Mittagessen ein Café fand. Bevor sie es betrat, fischte sie ihr Handy und ihre Kreditkarte aus der Tasche und bezahlte den Strafzettel. Sie wollte London und die Politesse hinter sich lassen und Daniel auch. Selbst wenn er wieder nach Ty Bran kommen sollte, hier, in diesem Moment, war sie vor ihm in Sicherheit. Er hatte keine Ahnung, wo sie war.
Erst am späten Nachmittag fuhr sie schließlich durchs Tor und stellte ihren Wagen neben Stephs uralten Allrad. Mehrere Sekunden blieb sie sitzen, hörte das tickende Geräusch, das der Motor beim Abkühlen von sich gab, und sah zum Haus, das im Sonnenlicht vor sich hin döste. Die Haustür war offen, im Fliederstrauch vor dem Atelier sang ein Rotkehlchen sein zartes Lied, inmitten der hohen Gräser neben der Haustür blühte Mädesüß.
Schließlich öffnete sie die Tür und stieg mit steifen Beinen aus. »Steph? Bist du da?«
Als sie keine Antwort bekam, schaute sie in die Küche. Auf dem Tisch standen die Überreste einer Mahlzeit, die eindeutig zwei Menschen gegessen hatten. Jess bemerkte die halbleere Salatschüssel, die angebissenen Brötchen, die halbleeren Weingläser, und runzelte die Stirn. Es sah aus, als seien Steph und ihr Gast mitten im Essen aufgestanden und fortgegangen. »Steph? Wo bist du?«
Sie ging weiter ins Esszimmer. Die Terrassentür stand offen, ihr fiel auf, dass die Glasscheibe ersetzt war. Dann trat sie auf den Rasen hinaus. Das Gras war viel zu hoch, der Garten war überwuchert. Noch immer sah sie kein Lebenszeichen von ihrer Schwester. »Steph?« Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Dann lief sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Stephs Zimmer war ein einziges Chaos, aber das übliche Chaos, und ihr Bett war so gut gemacht, wie sie es zu machen verstand. Jess schaute in das Zimmer, in dem sie gewohnt hatte. Dort sah alles genau so aus, wie sie es zurückgelassen hatte, nur ihr Gepäck stand neben der Tür. Aber das dritte Schlafzimmer war jetzt bewohnt. Sie erkannte die Kleider, den Koffer, den Kosmetikbeutel. Ihre Mutter war gekommen. Jess ging zur Kommode und betrachtete die aufgereihten Kämme und Bürsten, die Öle für Aromatherapie, die Naturkosmetik, und lächelte. Wenn Aurelia hier war, würde alles gut werden.
Sie lief wieder nach unten, ging zu ihrem Wagen und begann, ihre Sachen auszupacken und in ihr Zimmer zu tragen. Als sie damit fertig war, warf sie einen Blick auf die Uhr. Die beiden waren schon sehr lange fort. Außerdem kam es ihr merkwürdig vor, dass sie das Haus so überstürzt verlassen hatten. Sie weigerte sich, an Daniel zu denken, ging zum Telefon und wählte die Nummer von Cwm-nant. Megan hob ab.
»Hallo, Megan, sind zufällig Steph und meine Mutter bei dir?« Sie sah zum Fenster hinaus.
»Jess? Bist du das?« Megan klang begeistert, ihre Stimme zu hören. »Nein. Sie sind nicht hier. Ist Aurelia zu Besuch? Wie wunderbar. Ich freue mich immer sehr, wenn sie hier ist. Aber nein, ich habe von Steph nichts gehört, seit sie und Rhodri zurückgekommen sind. Warte mal einen Moment, Rhodri ist gerade hier.« Jess hörte Stimmen, dann war Rhodri am Apparat. »Jess? Wie geht’s? Seit wann bist du hier?« Seine Stimme klang sehr herzlich. »Ist alles in Ordnung? Ist William bei dir?«
»Hi, Rhodri. Nein, er ist in London geblieben.« Sie merkte, dass sie lächelte, während sie den Grund für ihren Anruf erläuterte. Es tat ihr sehr gut, seine Stimme wieder zu hören.
»Nein, Jess, kein Lebenszeichen von den beiden. Ehrlich gesagt habe ich von Steph überhaupt nichts gehört, seit wir zurück sind.« Er lachte. »Beste Freunde sind sie und ich nicht gerade geworden.«
Jess unterdrückte selbst ein Lachen. »Ach, Rhodri, das tut mir leid. Hat sie dich genervt?«
»Das hat sie in der Tat.« Aber er klang nicht wirklich verärgert. »Unsere Reise durch das ländliche Frankreich wurde zu einem Wettlauf gegen die Zeit, bevor ich ihr den Hals umdrehte.«
»O je.« Jess verzog das Gesicht. »Rhodri, hör mal, ich mache mir ein bisschen Sorgen. Wie’s aussieht, haben sie das Mittagessen einfach stehen lassen und sind weggegangen. Halbleere Weingläser auf dem Tisch und so. Sehr gespenstisch.«
»Glaubst du, dass Daniel plötzlich aufgetaucht ist?«, fragte er mit scharfer Stimme.
Jess seufzte schwer. »O mein Gott, Rhodri, das hoffe ich wirklich nicht.« Sie schaute noch einmal auf den Hof hinaus. »Ein anderes Auto steht nicht hier. Ich war einfach davon überzeugt, dass er noch in Italien ist. Wunschdenken, vermute ich mal.«
»Könnte er es irgendwo am Rand des Feldwegs versteckt haben?«
Wieder seufzte sie. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich sollte ich mal nachschauen.«
»Nein, Jess, geh nicht allein los. Warte, ich bin gleich bei dir.«
Er ließ ihr keine Chance zu widersprechen, sondern hatte schon aufgelegt.
Jess öffnete die Tür zum Atelier. Es war ordentlich aufgeräumt und erweckte nicht den Eindruck, als habe Steph seit ihrer Rückkehr schon wieder gearbeitet. Vor dem Fenster bei der Werkbank flatterte ein Schmetterling. Jess öffnete das Fenster, scheuchte ihn behutsam nach draußen und sah dann zu, wie er auf die Sonne zuflog.
Spielen wir das Spiel immer noch?
Die Kinderstimme klang, als käme sie aus nächster Nähe. Jess gefror das Blut in den Adern. Langsam drehte sie sich um. »Eigon? Glads?«
Ich mag nicht mehr spielen. Mir ist kalt.
Die Stimme klang gereizt, aber Jess hörte auch die Angst, die hinter dem Ärger lag.
»Wo bist du denn, Herzchen?«, rief sie nach einem Moment.
Eigon ist weg. Ich kann sie nicht mehr finden!
Jetzt klang es, als würde Glads weinen.
Jess stockte der Atem. »Glads? Bist du das?«
Ich mag nicht mehr spielen! Das Spiel ist blöd!
Jess schluckte ihre Angst hinunter. Das waren kleine Kinder, verlassene, einsame kleine Kinder. Von ihnen hatte sie nichts zu befürchten. Die Woge mütterlicher Liebe, die sie überflutete, überraschte sie selbst. »Hört mal, ihr Kleinen. Eigon ist weggegangen. Aber sie kommt zurück.«
Wie dumm von ihr, das zu sagen! Das wusste sie doch gar nicht. Sie wusste überhaupt nichts. Sie wusste nicht einmal, in welchem Jahrtausend sie war. Mit einem Seufzen ging sie in die Küche zurück. »Steph? Mummy?« Plötzlich rief auch sie, überwältigt von Einsamkeit und Angst.
Eine knappe halbe Stunde später war Rhodri da, kündigte sich bereits von weitem mit einer Staubwolke an. »Hast du mittlerweile eine Ahnung, wo sie stecken könnten?«
Während Jess auf ihn wartete, hatte sie auf dem Mäuerchen in der Sonne gesessen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht in den Wald gegangen. Ich dachte, ich warte lieber auf dich.« Sie war sich sehr bewusst, welche Erleichterung und welches Glücksgefühl sie bei seinem Anblick empfand. Seine kräftige Statur, gekleidet in ein altes kariertes Hemd und eine eindeutig von Motten zerfressene Cordhose, war ungemein beruhigend, ebenso wie das Lächeln, mit dem er sie betrachtete. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Schön, dass du heil wieder hierhergekommen bist.«
»Das finde ich auch.« Sie glitt von der Mauer. »Du glaubst doch eigentlich nicht, dass Daniel aufgetaucht ist, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Steph hätte ihn mit einem Blick vernichtet. Und deine Mutter ist nicht minder furchteinflößend. Wenn sie einen Nomadenstamm in Usbekistan mit einer Kopfbewegung besänftigen kann, dann wird sie sich von diesem Mistkerl auch nicht beeindrucken lassen.«
Jess lächelte. »Ich bin so froh, dass du hier bist.«
»Ich auch, meine Liebe.« Er betrachtete sie gerade eine Sekunde länger als notwendig, und sie spürte ein aufgeregtes Flattern in der Magengrube.
Der Moment war sofort vorüber. »Komm.« Er marschierte bereits zum Tor. »Schauen wir doch erst kurz in den Wald, bevor wir uns überlegen, wie wir weiter vorgehen.«
Auf dem Weg waren keine frischen Autospuren zu sehen. Vom Anstieg etwas außer Atem, erreichten sie das Gatter, das in den Wald führte, und gelangten unter die Bäume. Dort war es sehr still, die Vögel schwiegen, kein Lüftchen regte sich. Nur eine Biene war zu hören, die ein blühendes Geißblatt umsummte.
Rhodri ging in die Hocke, um den Pfad genauer in Augenschein zu nehmen. »Siehst du irgendwelche Fußabdrücke?«
Jess lächelte. »Warst du als Kind bei den Pfadfindern?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber bei den Western, die ich im Fernsehen gesehen habe, war ich immer auf Seiten der Indianer. Es hat mich maßlos beeindruckt, wie sie jede Fährte verfolgen konnten. Schau.« Er deutete auf einen Abdruck in der weichen Erde am Rand des Wegs. »Hier ist vor kurzem jemand gegangen, jemand mit ziemlich kleinen Füßen, aber ohne festes Schuhwerk.«
Jess lachte laut. »Das könnte meine Mutter sein. In welche Richtung ist sie gegangen?«
»Bergauf, glaube ich. Komm.« Er ging ihr voraus, blieb aber nach wenigen Schritten wieder stehen. »Da, schau. Zwei unterschiedliche Fußabdrücke, die nebeneinanderher gehen, und hier …« Er runzelte die Stirn. »Hier sind sie plötzlich tiefer, aber weniger genau. Jetzt laufen sie nebeneinanderher. Und hier, wo es schlammig ist, ist jemand ausgerutscht.«
Jess folgte ihm, sie hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl. »Warum laufen sie denn?«
»Na ja, es scheint ihnen niemand zu folgen. Sonst würden wir ja Abdrücke über den ihren sehen.« Er blieb stehen, sah sich um, hob die Hand, damit Jess still blieb, und lauschte angestrengt. »Ich hätte die Hunde mitbringen sollen. Sollen wir es riskieren, zu rufen?«
Jess presste die Lippen zusammen und nickte. Als er rief, fuhr sie dennoch zusammen und hielt sich die Ohren zu. Die Stimme eines erstklassigen Waliser Baritons ist dafür ausgebildet, weit zu tragen. Die Echos hallten mehrere Sekunden durch die Berge. Mit einem erschreckten Aufschrei stoben überall Vögel auf. Fasane rannten aus dem Gebüsch, Tauben flatterten aus den Baumwipfeln, ein einsamer Rabe krächzte empört, als er von einer Eiche mitten im Wald abhob. Zwei Eichelhäher flogen kreischend aus der alten Esche, die weit unten im Tal über den Bach herabhing. Als der Lärm der Vögel erstarb, lauschten sie wieder.
»Nichts?« Jess machte eine hilflose Geste.
Rhodri schüttelte den Kopf, dann schaute er wieder auf den Pfad. »Der seltsame Fußabdruck ist immer noch da. Schauen wir doch mal, wohin er führt.« Er ging ihr wieder voraus den steilen Anstieg auf den Gipfel zu, wo jemand vor rund hundert Jahren mehrere Redwoods gepflanzt hatte. Sie umstanden einen uralten Erdwall und ragten wie Wachposten über dem Waldgebiet auf.
Als sie sich dem Gipfel näherten, verlangsamte Rhodri seine Schritte. »Schau, da ist jemand.«
Jess starrte durch das Gebüsch. Er hatte Recht. In einiger Entfernung stand eine Gestalt mit dem Rücken zu ihnen und betrachtete den Fuß der alten Steinmauer, die rund um den Berg führte. »Das ist meine Mutter!«, sagte sie.
»Gott sei Dank!« Rhodri reckte den Daumen in die Luft. »Komm, Jess. Worauf wartest du noch?« Sie stiegen den restlichen Weg hinauf, und als sie näher kamen, rief er wieder.
Aurelia drehte sich um. Ihre Haare waren länger und womöglich noch wilder geworden, als Jess sie in Erinnerung hatte, ihre Haut war noch gebräunter. Sie trug einen Zigeunerrock und eine silberblaue Bluse, die Ärmel hatte sie bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, die Bluse war so weit aufgeknöpft, dass eine Kette aus Kristallen und Lapislazuli zu sehen war. Aurelia winkte. Als die beiden näher kamen, begann sie zu lächeln. »Jess, mein Schatz! Rhodri! Was in aller Welt macht ihr beide denn hier oben?« Sie ließ ihnen gar keine Zeit zu antworten, umarmte Jess nur kurz und packte sie dann an der Hand. »Schau mal da rein. Steph ist hineingekrochen. Wir haben jemanden rufen hören. Wir dachten, da unten sei ein Kind.«
Rhodri und Jess warfen sich einen Blick zu. Rhodri ging in die Hocke. »Ist alles in Ordnung, Steph?«, rief er. »Hast du eine Taschenlampe?«
Sie hörten ein schabendes Geräusch, dann war zwischen den Steinen Stephs Gesicht zu sehen. Langsam kroch sie ganz heraus. Als sie sich aufrichtete, sah Jess, dass sie völlig verdreckt war. Und sie bemerkte, dass sie leichenblass war und am ganzen Leib zitterte. Offenbar nahm sie Jess und Rhodri gar nicht richtig wahr. »Da liegt ein Skelett. Von einem Kind.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Es ist um die Steine gekrümmt. Es muss begraben gewesen sein, und ein Fuchs oder so hat es ausgegraben. Die Knochen liegen verstreut herum.« Ihre Stimme zitterte. »O mein Gott, es ist grauenvoll. Sie sind so klein!«
»Bist du dir sicher, dass sie von einem Menschen sind?«, fragte Rhodri sanft.
»Natürlich bin ich mir sicher!«, fuhr sie ihn an. »Was für eine blöde Frage. Natürlich ist es ein Kind!« Tränen liefen ihr über die verdreckten Wangen.
»Wie in aller Welt hast du sie denn gefunden?«, fragte Jess schließlich. »Was habt ihr hier oben überhaupt gemacht?«
Mittlerweile hatte Aurelia Steph mit einem Taschentuch die Tränen abgetrocknet. »Wir haben das Kind rufen hören«, sagte sie. »Immer wieder, es war herzzerreißend. Es hatte sich ganz offenbar verirrt. Steph dachte, es wäre dein Gespenst, aber sicher waren wir uns nicht. Natürlich nicht! Wir haben es beide gehört, und…«Kopfschüttelnd machte sie eine Pause. »Wir haben unser Mittagessen stehen lassen und sind hergekommen, um sie zu finden. Wir sind den Rufen gefolgt, immer weiter den Pfad hinauf. Wir riefen zurück und sagten, dass wir unterwegs sind. Hier oben hörte es dann auf. Die Stimme war völlig weg. Steph dachte, sie würde sich da verstecken.« Aurelia deutete zu den Steinen. »Wir haben immer wieder gesagt, dass wir hier sind und wir uns um sie kümmern wollen. Aber wir haben einfach nichts mehr von ihr gehört.« Zum ersten Mal stockte auch ihr die Stimme. »Nur diese entsetzliche Stille.«
»Hat sie gefragt, ob sie mit dem Spiel aufhören kann?«, fragte Jess nach einem Moment mit heiserer Stimme.
Steph nickte. Aurelia sah zwischen ihren Töchtern hin und her. »Ist das euer Gespenst? Eigon?«
»Es ist nicht Eigon«, sagte Jess. »Ich glaube, es ist ihre jüngere Schwester - oder ihr kleiner Bruder. Als die Römer sie gefangen genommen haben, waren die beiden weg, wie vom Erdboden verschluckt.«
»O mein Gott!« Aurelia sah bekümmert drein. Sie warf einen Blick zu den Steinen. »Du meinst, sie oder er ist dort hineingekrochen und gestorben? Oh, das ist zu schrecklich, um sich das vorzustellen.«
»Sie haben die Gegend hier tagelang abgesucht, aber sie haben die beiden nicht gefunden«, flüsterte Jess. »Irgendwann haben sie die Suche eingestellt und Eigon und ihre Mutter nach Süden gebracht. Ihre Mutter und ihr Vater sind in Rom gestorben.«
»Und Eigon?« Aurelia schaute ihre jüngere Tochter an, deren Gesicht sehr blass war.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was aus Eigon geworden ist.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Rhodri nach einer weiteren längeren Pause. »Wir können das Kind doch nicht einfach da liegen lassen.«
»Wir können aber auch niemandem davon erzählen«, warf Jess rasch ein. »Du weißt doch, was dann passieren würde. Die Polizei würde kommen. Sie würden sichergehen wollen, dass es kein Kind der heutigen Zeit ist. Sie würden die Knochen mitnehmen. Die Zeitungen würden von der Geschichte Wind kriegen. Dann würde es hier vor Menschen wimmeln! Wenn die Knochen wirklich alt sind, würden sie sie einem Museum geben, und da würden sie dann in einem Schaukasten liegen mit dem Etikett ›Kind der Eisenzeit‹ oder ›Römisch-britisches Kind‹. Dazu darf es nicht kommen!« Ihre Augen glänzten vor Tränen. »Das wäre entsetzlich! Wir dürfen niemandem davon erzählen. Wir müssen sie in Frieden ruhen lassen.«
»Aber sie ruht nicht in Frieden, Jess«, widersprach ihre Mutter sanft.
»Nein, aber sie weiß, dass wir jetzt wissen, wo sie ist.« Jess fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich kriech mal rein, ich will sie sehen.«
»Bist du sicher?« Steph schüttelte abwehrend den Kopf. »Es ist schrecklich.«
»Das glaube ich dir.« Jess nickte. Sie ging ein paar Schritte zurück und pflückte ein paar Fingerhut, die im Halbschatten unter einem der hohen Redwoods blühten. Sie warf einen kurzen Blick zu Rhodri. Er nickte ermutigend. Dann ließ sie sich auf alle viere nieder und robbte in die Dunkelheit.
»Kann sie da drin was sehen?«, fragte Rhodri leise. »Du hattest gar keine Taschenlampe.«
Steph nickte. »Es ist ziemlich dunkel, aber durch die Steine sickert ein bisschen Licht.« Sie fuhr sich mit zittrigen Händen übers Gesicht. »Die Knochen sind bewegt worden, sie liegen verstreut herum. Irgendjemand hat sie ausgegraben.« Ihre Stimme ging in ein Schluchzen über.
Aurelia legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich hoffe zu Gott, dass es wirklich ein archäologischer Fund ist«, sagte sie ruhig. »Wenn es ein neuzeitliches Grab ist, kriegen wir Ärger.«
»Wir müssen herausfinden, was genau es ist, bevor wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen«, sagte Rhodri nach einer langen Pause. Alle hatten die Augen auf den dunklen Spalt gerichtet, in dem Jess verschwunden war. »Ich überlege gerade, ob Jim Macrae bereit wäre, festzustellen, ob sie alt sind oder nicht.«
»Doktor Macrae?« Entgeistert sah Steph ihn an. »Ihm darfst du das bestimmt nicht sagen. Er müsste die Polizei verständigen. Ich bin mir sicher, dass er Tote melden muss, ganz egal, wie alt sie sind. Wenn ich mich recht erinnere, hat jemand mir mal erzählt, dass man einen Arzt rufen muss, der bestätigt, dass jemand wirklich tot ist, selbst wenn der- oder diejenige ein Skelett ist! Muss man dann nicht auch einen Gerichtsmediziner einschalten? Jess wäre außer sich! Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das müssen wir uns wirklich ganz genau überlegen. Wir sind hierhergeführt worden. Das Kind hat uns gerufen.«
Rhodri war zu den Steinen hinübergegangen. Jetzt ging er in die Hocke und spähte hinein. »Ist alles in Ordnung?«, rief er leise.
Innen kauerte Jess neben dem kleinen Skelett. Sie hatte die Blumen danebengelegt und die winzigen Fingerknochen für einen Moment sanft berührt. »Es tut mir so leid, dass niemand gekommen ist«, flüsterte sie. »Eigon hat es wirklich versucht. Sie hat alles getan, um euch zu finden. Das haben alle. Bist du vor lauter Angst hier hineingekrochen? Ach, mein Herz, es tut mir so leid.« Tränen strömten ihr über die Wangen. »Deine Mutter hat es nie verwunden, dass sie dich verloren hatte. Du hast ihr so gefehlt. Hast du sie in Tir n’an Og gefunden? Das hat sie sich so gewünscht.« Sie schloss die Augen. »So weit weg sie auch sein mochte, sie hat nie aufgehört, dich zu lieben.«
Welches Kind es wohl war? Das würde sie gern wissen. Die Knochen waren so klein. Vorsichtig hob sie einen auf. Er war federleicht und sehr zerbrechlich. Ehrfürchtig legte sie ihn zurück. Sie küsste ihre Fingerspitze und legte sie eine Sekunde auf die Stirn des kleinen Schädels, dann kroch sie wieder in die Sonne hinaus.
Die anderen beobachteten sie schweigend, einen Moment rührte sich niemand. Dann legte Rhodri einen Arm um sie. »Alles in Ordnung?«
Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und nickte. Einen Moment hielt sie sich an ihm fest, spürte seine Kraft und nahm den männlichen Geruch seines Hemdes wahr. Am liebsten wäre sie einfach so in der Sicherheit seiner Arme stehen geblieben. Aber sie löste sich widerwillig von ihm und grinste schief.
»Entschuldigung. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.« Sie holte tief Luft und versuchte, sich ein wenig zu fassen. »Die Knochen sind eindeutig sehr alt, ganz leicht und porös. Das sind bestimmt keine heutigen.«
»Und was meinst du, was wir tun sollen?«, fragte Steph unsicher.
Einen Moment schwieg Jess. Sie war ein Bild des Jammers. Sie ließ die Arme hilflos herabhängen, ihr Gesicht war bekümmert und erschöpft. »Sollen wir sie erst einmal dort belassen?«, schlug sie schließlich vor. »Wenn wir jemandem Bescheid sagen, werden die Knochen entfernt.«
»Das haben wir uns auch gedacht.« Rhodri warf einen Blick zu Steph. »Du hast Recht. Sie gehören nicht ins Museum. Ich glaube, das wäre völlig falsch.«
»Vielleicht könntest du deine Freundin fragen? Eigon, meine ich«, sagte Steph. »Redet sie so mit dir? Wird sie wissen, was passiert ist?«
Jess zuckte mit den Schultern. »Ich kann’s versuchen.«
»Gehen wir doch nach Hause«, sagte Aurelia schließlich. »Das Kind hat so lange hier gelegen, da macht eine Nacht mehr auch nichts aus. Wenn seine Seele durch den Wald hier geistert, dann weiß es jetzt, dass wir es gefunden haben und dass du ihm Blumen gebracht hast, Jess. Und morgen entscheiden wir, was wir weiter tun.«
 
Jess erwachte aus einem merkwürdigen Traum. Im Dunkeln sah sie sich um. Sie hatten den Rest des Tages gemeinsam verbracht und zu viert in der Küche zu Abend gegessen, bis Rhodri kurz vor Mitternacht schließlich nach Cwm-nant zurückgefahren war. Beschlossen hatten sie lediglich, dass die Knochen nicht in einem Museum ausgestellt werden sollten. Als Jess zu Bett gegangen war, hatte sie ruhig dagelegen und leise zu Eigon gesprochen, aber sie hatte keine Antwort bekommen. Und als sie schließlich einschlief, träumte sie von William. Er stand hinter der Tür in seiner Wohnung und rief immer wieder nach ihr. »Jess, die Politesse ist weg. Du kannst jetzt reinkommen.« Als sie aufwachte, war sie völlig aufgelöst. Sie schlich nach unten, um die anderen nicht zu wecken, und ließ sich in der Küche ein Glas Wasser einlaufen. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah in den vom Mond erleuchteten Garten hinaus. Ein Wind war aufgekommen, die Äste bogen sich und warfen tanzende Schatten über den Hof und das Atelier. »Togo? Glads?«, flüsterte sie. »Seid ihr da?«
Sie bekam keine Antwort.
Als sie nach einer ganzen Weile wieder ins Bett ging, schlief sie sofort ein.
Die Tochter des Königs
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