Kapitel 21
William dirigierte das Taxi die Straße hinauf zum Palazzo und bat den Fahrer dann, ihn an der Ecke abzusetzen. Es war zwar schon spät, aber er sah noch Licht in der Wohnung brennen. Vorsichtig schaute er sich um, lief auf die andere Straßenseite und drückte auf die Klingel. »Kim? Ich bin’s. Darf ich rein?«, fragte er, sobald sie die Gegensprechanlage betätigte.
Als er die Wohnungstür erreichte, zog sie ihn sofort in den Flur. »Und? Wie geht’s dir?«
»Es geht. Er muss mir was über den Kopf gezogen und dann irgendwelche K.-o.-Tropfen gegeben haben. Ich habe immer noch einen grausamen Brummschädel.«
»Der Schuft! Ich dachte, du wolltest nach Hause fahren?« Kim und Steph hatten im Halbdunkeln gesessen, die Fenster zum Hof standen offen.
»Das wollte ich auch, aber ich hab’s mir anders überlegt.« Williams Miene verfinsterte sich. »Irgendjemand muss sich Daniel ja zur Brust nehmen. Ist Jess gut weggekommen?«
Kim und Steph tauschten einen Blick. »Wir hatten einen Plan, aber der hat nicht geklappt. Rhodri wollte sie von seinem Hotel aus zum Flughafen bringen, aber dann hat Daniel sie gefunden. Er muss ihr von hier gefolgt sein. Aber es ist alles in Ordnung, sie ist bei Carmella. Wo Daniel jetzt ist, wissen wir nicht.«
»Verflucht!«
Kim holte eine Flasche Wein und drei Gläser. »Jess steht sich selbst am meisten im Weg. Immer unternimmt sie alle möglichen Sachen allein. Sie traut uns nicht. Ich glaube, sie traut niemandem.«
William stellte sein Glas so heftig auf den Tisch, dass Wein überschwappte und auf der Holzoberfläche eine kleine Lache bildete.
»Was ist mit Rhodri?«
Kim grinste. »Im Moment sucht er ganz Rom nach Daniel ab. Das Problem ist, dass wir keine Ahnung haben, wo er suchen soll.« Sie wischte den verschütteten Wein mit einer Papierserviette auf.
»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Steph.
»Wir können nicht einfach abwarten. Wir müssen etwas tun.« Unruhig stand William auf und trat ans Fenster. »Da habe ich Daniel gesehen. Unten im Garten.«
»Na, jetzt ist er nicht da. Ich habe das Schloss austauschen lassen!«, sagte Kim erbost. »Und Jacopo hat die Gardinenpredigt seines Lebens bekommen. Er kann von Glück reden, dass er seinen Job noch hat.«
»Er konnte nichts dafür«, meinte William. »Daniel ist eine Nummer zu groß für ihn.« Nachdenklich trank er einen Schluck Wein und schaute dabei unentwegt in die Dunkelheit hinaus. »Und dann Jess’ verdammte Halsstarrigkeit. Das ist doch nicht mehr normal. Was ist, wenn sie sich eines Tages so in ihren Tagträumen verliert, dass sie nicht mehr herausfindet?«
Steph rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. »Wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen Jess überreden, Rom zu verlassen.«
Kim legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Aber wie?« Titus und Lucius hatten dienstfrei. In Togen gekleidet waren sie auf dem Weg zum Senat, wo sie die Debatten verfolgen wollten. Jetzt aber waren sie ins Gespräch vertieft.
»Ich habe Gerüchte gestreut«, sagte Lucius leise. »Wie du es vorgeschlagen hast. Ich glaube, es besteht kein Zweifel, dass alle in der Familie Christen sind.« Er seufzte. »Eigentlich schade. Antonia ist ein hübsches Ding. Und sie bekäme sicher eine erstklassige Mitgift. Aber wenn sie mit unserer Prinzessin befreundet ist, muss sie natürlich weg.« Er lachte beklommen. »Allerdings ist es nicht immer so einfach, etwas zu finden, womit man Leute anschwärzen kann. Das Christentum ist an und für sich nicht verboten.«
»Umso mehr Grund, das Misstrauen des Kaisers zu schüren. Sicher, für Politik interessiert er sich nicht. Musik und Spiele und seine Palastorgien sind ihm wichtiger, aber wir brauchen nur die Saat zu säen.« Titus grinste. »Die Holzwolle, die er Gehirn nennt, ist dafür ein fruchtbarer Boden!«
Die beiden Männer brachen in schallendes Gelächter aus. Titus warf einen Seitenblick zu seinem Freund. Sein Gefühl sagte ihm, dass Lucius nicht mehr hundertprozentig bei der Sache war. »Es kommt mir nicht ganz gerecht vor, wenn wir meine Schäkerei mit der Prinzessin planen und für dich gar nichts abfällt. Wie wär’s mit der sanftmütigen Antonia? Es wäre doch ein Jammer, sie als Jungfrau den wilden Tier vorzuwerfen. Welche Verschwendung!«
Lucius runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob mir die Vorstellung gefällt, Titus.«
»O doch, mein Freund, glaub mir, es wird dir gefallen!« Titus versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken. »Und ich habe noch viel Besseres für dich im Sinn, wenn’s um deinen Ehebund geht. Da mach dir keine Sorgen. Erledige diese eine Sache für mich, und ich sorge dafür, dass du über deine kühnsten Träume hinaus belohnt wirst.«
Wenn jemand Geld brauchte, war er zu fast allem bereit. Lucius war mittlerweile ziemlich auf den Hund gekommen. Titus hatte herausgefunden, zu welchem Geldverleiher er ging und wie oft er seiner Mutter Bettelbriefe schrieb. Sein Vater beantwortete die verzweifelten Ersuche seines Sohnes um ein Darlehen schon lange nicht mehr und weigerte sich sogar, die Briefe zu lesen, die Lucius durch knabenhafte Sklaven zu seinem Landsitz bringen ließ in der Hoffnung, der Anblick der jungen Männer könnte ihn erweichen, sich seines Sohnes zu erbarmen.
»Ich finde, wir sollten jetzt etwas konkreter werden«, fuhr Titus fort. »Ich möchte ungern erfahren müssen, dass eine der beiden Damen uns von einem Freier unter der Nase weggeschnappt wurde. Sie sind sowieso schon misstrauisch geworden. Vielleicht war es ein Fehler, Melinus auszuschalten. Aber Eigon muss isoliert werden. Sie muss richtig Angst bekommen.« Seine Züge wurden hart. »Also gut. Antonia kann noch warten. Unser nächstes Opfer ist Julia Pomponia. Der kann nun niemand nachsagen, dass sie eine Christin ist, das Argument funktioniert bei ihr also nicht. Ich finde, sie sollte einfach verschwinden. Hast du eine Idee?«
Lucius schüttelte den Kopf.
»Ich denke, ein Unfall. Ganz schlicht. Das Mädchen kommt oft in die Stadt. Sie ist hübsch«, er machte eine vielsagende Pause, »aber sie ist habgierig und dumm. Ein paar Goldreifen und Ohrringe reichen als Lockmittel. Darum kümmere ich mich. Bei dem Teil des Plans brauchst du nicht mitzumachen.« Er schaute zum Senatsgebäude, das vor ihnen lag. »Willst du immer noch mitkommen? Seneca zu hören lohnt sich immer. Danach können wir ins Bad gehen.«
 
»Flavius!«, hörte Jess sich rufen. »Flavius, Aelius, ihr müsst sie besser bewachen! Eigon, sag Julia, sie soll aufpassen!«
Verschreckt sah sie sich in der Dunkelheit um. Doch nur die Pelargonien und Bougainvilleen auf Carmellas Dachterrasse hörten ihre Warnung. Jess stand auf, ging zur Brüstung und schaute auf die Lichter weit unter sich. Sie zitterte. Auf den Straßen waren noch viele Menschen unterwegs, Autos bahnten sich vorsichtig einen Weg zwischen den Scharen von Passanten, Musikfetzen aus dem Bistro weiter oben in der engen Straße trieben zu ihr herauf, dazu der Lärm und die Gerüche aus den vielen Lokalen. Jess zitterte, Tränen liefen ihr über die Wangen. Ärgerlich wischte sie sie fort. Der Traum war vorbei, und es gab nichts, was sie tun konnte. Durch die Wohnung hallte das Läuten der Türglocke. Jess drehte sich um und starrte auf die Gegensprechanlage, ihr Herz klopfte wie wild. Nach einer längeren Pause läutete es ein zweites Mal. Jess erstarrte. Hier konnte ihr nichts passieren. Niemand außer Carmella hatte einen Schlüssel zu dieser Wohnung. Trotzdem, der scharfe Klingelton hatte ihr das Gefühl von Sicherheit genommen, jetzt hatte sie wieder Angst. Und sie hatte Kopfschmerzen. Sie brauchte Eigon. Sie wollte Eigons kühlende Hand auf der Stirn spüren, einen Wickel aus grünen Kräutern bekommen, das sanfte Plätschern des Brunnens im Atrium hören, den Frieden der stillen, heilsamen Dunkelheit um sich haben.
 
»Eigon? Wo bist du? Ich gehe jetzt. Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?« Julia stand neben der Tür, sie hatte ihre beste Stola umgelegt. »Ich habe die Sänfte bestellt, sie können uns auch beide tragen.«
Lächelnd schüttelte Eigon den Kopf. »Nicht heute. Ich habe eine Patientin. Eine Frau, die verkatert ist.« Sie wandte sich um und schaute auf die würgende Frau, die an der Schläfe einen blauen Fleck hatte.
Julia schnitt eine Grimasse. »Da bin ich froh, dass nicht ich das bin!« Sie drehte sich um und trat in die Sonne hinaus. Sie schmollte. Eigentlich sollte Flavius sie begleiten, aber im letzten Moment hatte sein Vater ihn angeblich gebraucht. Wütend hatte sie ihm gesagt, er solle trotzdem mitkommen, und er hatte gezögert, hin- und hergerissen zwischen dem Pflichtgefühl seinem Vater gegenüber und seinem Wunsch, sie zu beschützen. Sein Pflichtgefühl hatte gewonnen. »Wart auf mich, Julia! Es dauert nicht lange«, hatte er gerufen, ehe er im Haus verschwand.
»Von wegen«, hatte einer der Sklaven lachend gesagt. »Aelius hat die Nase voll davon, dass Flavius Euch ständig in diese Geschäfte begleitet. Wenn Ihr auf ihn wartet, könnt Ihr den Ausflug vergessen.«
Julia hob die Augenbrauen. »Ach wirklich? Dann gehen wir ohne ihn. Ich habe euch dabei, da kann mir nichts passieren. Und ihr wisst ja, wohin wir gehen.« Zum Seidenhändler, dann weiter zu einem ihrer Lieblingssandalengeschäfte und schließlich zu ihrer Tante, wo sie bei einer Karaffe Traubensaft mit ein paar Freundinnen den neuesten Klatsch austauschen würde. Julia stieg in die Sänfte, schloss die Vorhänge vor dem Staub und lehnte sich mit einem wohligen Seufzen in die Kissen zurück. Es war aufregend, zur Abwechslung einmal allein in die Stadt zu gehen. Ein Abenteuer. Wenn sie ganz ehrlich war, ging ihr Flavius’ rehäugige Anbetung allmählich auf die Nerven. Und Pomponia Graecina hatte ihr mehr als einmal gesagt, Julia in ihrem Alter solle eher an eine gute Partie denken als an eine Tändelei mit dem Sohn eines Freigelassenen. Nachdenklich schloss sie die Augen. Sie hatte immer gewusst, dass Flavius auf Dauer nichts für sie war. Aber er war nützlich. Ein willfähriger Begleiter, der ihr keinen Wunsch abschlug. Also gut, das Geld für ihre Geschenke stammte immer von ihr selbst, aber das bedeutete zumindest, dass sie genau das bekam, was sie wollte. Sie lächelte zufrieden in sich hinein.
Als die Sänfte plötzlich zum Halt kam, reagierte sie gar nicht, ganz in ihrem Tagtraum gefangen. Doch als die Sänfte mit einem Ruck abgesetzt wurde, setzte sie sich doch auf und öffnete den Vorhang. Zwei leuchtend grüne Augen schauten sie an. Sie gehörten zu einem außerordentlich gut aussehenden jungen Mann. »Seid gegrüßt, Herrin Julia!« Er salutierte. »Mich schickt ein Freund mit der Bitte, Euch zu seinem Haus zu begleiten. Er hat einen Goldschmied, von dem er überzeugt ist, dass er Euren Geschmack trifft.«
Julia sah das besorgte Gesicht des dienstältesten Sklaven. Sie sah, dass sich die beiden vorderen Sänftenträger einen erschreckten Blick zuwarfen. Dann schaute sie wieder zu dem grünäugigen Gott, der die Sänfte angehalten hatte. »Auf ein Wort von Euch hin kann Eure Sänfte mir folgen.« Er war sehr wohlhabend, wie Julia mit einem Blick auf die Details seiner Kleider feststellte. Die säuberlich ausgeführten Stiche, die kunstvoll gearbeiteten Nadeln und Schließen, der exquisite Haarschnitt, der schwere Siegelring, die Ausstattung seines Pferds. Sogar das Pferd selbst.
»Gut, warum nicht?« Sie lächelte kokett. »Es wäre unhöflich, die Einladung abzulehnen.«
 
»Nein!«, schrie Jess in Gedanken, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie war nicht in der Lage, einzugreifen.
 
Die Sklaven, die die Sänfte trugen, folgten dem Mann eine lange Pinienallee hinauf zur Rückseite eines alten Hauses. Es wirkte unbewohnt. Die Fensterläden waren verschlossen, keine Menschenseele war zu sehen.
Aufgeregt schaute Julia hinaus und verzog dann vor Enttäuschung das Gesicht. Das Haus war ja ganz hübsch, aber nicht so prachtvoll, wie sie erwartet hätte. Und wo waren die Sklaven, die Pferdeknechte, der Wagen und die Sänften, die man bei der Villa eines reichen Mannes sehen sollte? Die Träger setzten die Sänfte vor der Tür auf den Boden.
Der junge Mann saß ab. »Bringt die Sänfte zum Haus eures Herrn zurück. Die Herrin Julia wird sie nicht mehr benötigen. Ich bringe sie später selbst auf dem Pferd zurück.« Münzen klimperten, dann öffnete er den Vorhang und half Julia auszusteigen. »Hier entlang.« Er lächelte ihr freundlich zu, doch in seinen Augen lag etwas, das sie zögern ließ. Sie sah sich um. »Hier ist ja niemand.«
»Doch.« Er deutete auf die Stallungen. »Die Pferde sind dort untergebracht. Ihr werdet schon sehen.«
Sie folgte ihm die Treppe hinauf. Die Tür schwang mühelos auf, und als Julia das Haus betrat, spürte sie lediglich einen Anflug von Argwohn.
 
Jess stöhnte auf. »Geh nicht rein. Trau ihm nicht. Bitte!«
 
Julia schrie. Einen Moment starrte sie die zwei Männer an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und wollte weglaufen, aber die beiden holten sie mit wenigen Schritten ein, packten sie, zogen sie aus und banden sie in dem dunklen, leeren Haus an einem Bettrahmen fest. »Bitte, Lucius. Ein köstliches Geschenk.« Titus lachte. »Noch schöner, als ich dachte.«
Die Männer hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, Masken aufzusetzen. Panisch schaute Julia sie an. »Bitte tut mir nicht weh. Macht, was immer Ihr wollt. Bitte…«
»Genau das haben wir auch vor, Schätzchen, keine Angst. Wir tun genau das, was wir wollen.« Titus lächelte sie kalt an. »Soll ich dich allein lassen, Lucius? Oder hättest du gern einen Zuschauer?«
»Lass mich allein.« Lucius riss sich bereits die Kleider vom Leib, trotz seiner Bedenken war seine Erregung unerträglich groß.
Als er fertig war, schluchzte Julia leise, sie wehrte sich nicht mehr.
»Bitte, lasst mich gehen. Ich erzähle auch niemandem davon«, flehte sie leise.
Als sie Schritte hörte, drehte sie den Kopf in die Richtung des Geräuschs und wurde blass. Der andere Mann näherte sich. Titus.
»Jetzt bin ich dran.«
Lucius stieg vom Bett und bückte sich nach seinen Kleidern. »Tu ihr nicht weh, Titus.«
Titus lachte. »Natürlich nicht.«
Lucius hörte ihre Schreie noch im Hof, wo er bei den Pferden saß. Er hielt sich die Ohren zu. Ihm hatte die Idee von Anfang an nicht gefallen. Es war grausam und gemein und sadistisch. Er stand auf und ging zu seinem Pferd, das unruhig geworden war, tätschelte ihm die Nüstern und flüsterte ihm beruhigend ins Ohr.
Die Schreie steigerten sich zu einen Gellen, dann verstummten sie abrupt. Die Stille, die im stickigen Schatten unter den Pinien und Stechpalmen widerhallte, war fast unerträglicher als die gequälten Schreie. Lucius biss sich auf die Unterlippe und verzog das Gesicht. Vielleicht hatte Titus Mitleid mit ihr bekommen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er in den Hof kam, sein Gesicht war blass. An seinen Händen klebte Blut. »Das war’s«, sagte er. Er ging zum Brunnen und zog einen Eimer Wasser hoch. »Wenn dir schlecht wird bei dem, was jetzt kommt, dann geh. Wir sehen uns in der Kaserne wieder.«
Lucius schloss die Augen. Einen Moment hob sich ihm der Magen, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Er band sein Pferd los, führte es in die Sonne und schwang sich in den Sattel.
 
»Nein! Nein, Julia, nicht!«
Hilflos drehte Jess den Kopf hin und her und sah sich benommen um. Sie lag auf dem Sofa in Carmellas Wohnzimmer und trug Carmellas schwarz-roten Morgenrock. In der Ecke lief leise der Fernseher, auf dem Tisch neben ihr stand ein halbleeres Weinglas. Die Vorhänge waren geschlossen. Stöhnend setzte Jess sich auf. Sie konnte sich weder daran erinnern, etwas getrunken, noch den Fernseher angestellt zu haben. Sie verzog das Gesicht. Wann hatte sie sich ausgezogen? Wie spät war es überhaupt? Auf unsicheren Beinen ging sie in die Küche und holte aus dem Kühlschrank die Dose mit Kaffeebohnen. Jeder Handgriff bereitete ihr große Mühe.
Als der Kaffee fertig war, nahm sie den Becher, zog die Vorhänge auf und ging auf die Dachterrasse, die im vollen Sonnenschein lag. Ihre Hände zitterten immer noch.
»Jess?« Zwanzig Minuten später riss Carmellas Stimme sie aus ihren Gedanken, dann stand Carmella selbst in der Terrassentür. »Ich dachte mir doch, dass ich Kaffee rieche. Warte, ich mache mir auch einen.«
Erst als sie sich mit einer Tasse Kaffee zu Jess gesetzt hatte, schaute sie sie eingehender an. »Was ist passiert, Jess?«
Nachdem Jess alles erzählt hatte, herrschte zunächst Schweigen. Carmella saß vorgebeugt da, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und betrachtete sie nachdenklich. Schließlich schüttelte sie vorwurfsvoll den Kopf. »Du hast sofort wieder vergessen, was ich dir gesagt habe, Jess. Dass du dich schützen musst«, sagte sie sanft. Sie stand auf, verschwand in der Wohnung und kehrte gleich darauf mit ihren Karten wieder. Sechs davon legte sie auf dem Tisch aus. »Ich frage jetzt nach Daniel.« Seufzend deckte sie die Karten nacheinander auf. Dann zögerte sie. War sie hier, die unbekannte Zuschauerin? Sie spürte ihre Gegenwart nicht. Noch nicht. »Wir haben hier zwei Männer. Daniel und dieser Titus. Sie sind so eng verbunden« - sie verschränkte Ring- und Mittelfinger -, »dass sie die Gedanken des anderen lesen können. Beide verlieren zunehmend den Kontakt mit der Realität.« Sie schaute auf. »Wenn Titus dich findet, Jess, dann fürchte ich, dass Daniel dich auch finden kann. Sie sind beide sehr gefährlich.« Carmella studierte wieder die Karten und schüttelte dann den Kopf. Jetzt spürte sie die Person, das rätselhafte Lächeln, den beobachtenden Blick aus weiter Ferne. Sie stand auf. »Ich rufe Steph an. Du brauchst deine Freunde um dich, und wir müssen uns überlegen, was wir als Nächstes tun.«
»Warte!« Jess hielt sie am Ärmel zurück. »Du hast noch etwas gesehen. Was?«
»Nichts, was du nicht schon wüsstest, Jess. Du bist in Gefahr. Ich glaube, Daniel allein wäre vielleicht damit zufrieden, deinen Ruf zu ruinieren und dich zu bedrohen. Aber mit Titus in seinem Kopf ist er nicht mehr verantwortlich für seine Handlungen. Auf deinem Berg da in Wales ist zwischen ihm und Titus etwas passiert. Dadurch ist eine Verbindung zwischen ihnen entstanden, die immer stärker wird. Und jetzt hat Titus Blut an den Händen.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Als ich das Kartenlesen lernte, sagte meine Großmutter immer, dass man eine Sache nie, nie tun darf, und das ist, einen Tod vorherzusagen. Es ist nicht an uns, den bevorstehenden Tod eines Menschen zu prophezeien. Das können die Karten nicht. Zumindest…« Sie zögerte. »Selbst jetzt sagen sie es nicht eindeutig, aber sie warnen mich. Sie erzählen von Angst, und sie sagen mir, dass du in Todesgefahr bist.« Sacht strich sie mit den Fingern darüber. »Wir können sie nicht ignorieren, Jess. Aber ich weiß nicht, was ich dir raten soll. Ich weiß nicht, wie wir dich schützen können.« Sie richtete sich auf. »Also, jetzt rufe ich Kim an, ja?«
Jess nickte. »Ja, bitte.« Ihr war elend zumute.
Innerhalb von zwanzig Minuten waren Kim, Steph und William bei ihnen.
Es gab nicht genügend Stühle auf der Dachterrasse, und so setzte William sich Kim zu Füßen auf ein Kissen. Carmellas Karten lagen noch auf dem kleinen Tisch, die bunten Bilder leuchteten in der Sonne.
»Ich glaube, wir sind uns einig, dass Daniel völlig durchgeknallt ist. Aber was können wir gegen ihn unternehmen? Es gibt keine Beweise, nur unser Wort gegen seines. Er ist verdammt schlau vorgegangen.« William rutschte auf seinem Kissen hin und her, um eine bequemere Position zu finden. Carmella erschien mit einem Tablett, auf dem für jeden eine Tasse Kaffee stand. »Ich muss mich bei dir entschuldigen, Carmella, dass ich deine Fähigkeiten angezweifelt habe.« Er grinste. »Du hast mir damit das Leben gerettet.«
»Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte, William.« Sie erwiderte sein Lächeln.
Einen Moment sah er ihr in die Augen, dann wandte er sich wieder an die anderen. »Was, wenn Jess nach London zurückfährt? Wäre sie dort sicher?«
Carmella schüttelte den Kopf und setzte sich wieder an ihren Platz vor den Karten. »Ich glaube nicht, dass das genügt.« Sie schaute eine Weile auf die Auslage, dann blickte sie zu Steph, die die Karten ebenfalls schweigend studiert hatte. »Du hast gesehen, was sie sagen?«
Steph nickte.
»Moment mal«, sagte William mit gerunzelter Stirn. »Was sagen sie denn genau?«
Carmella machte eine nichtssagende Geste. »Dass Jess verschwinden soll, was du ja auch vorschlägst. Aber ich glaube nicht, dass sie in London sicherer wäre als hier.«
»Vielleicht könnte ich mir ja einen anderen Namen zulegen. Mir die Haare färben.« Jess lächelte angestrengt. Dann schaute sie auf. »Wo ist Rhodri?«, fragte sie unvermittelt.
»Keine Sorge, er ist noch in Rom.« Kim grinste vielsagend. »Er hat angerufen, um zu sagen, dass er hierbleibt, bis du in Sicherheit bist.«
»Das ist nett von ihm.« Rhodri in der Nähe zu wissen beruhigte Jess. Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Sie war den Tränen nahe. »Aber es wird mir nichts nützen, mir eine neue Identität zuzulegen. Durch Titus findet Daniel mich trotzdem.«
»Es gibt etwas, das du machen kannst«, sagte Carmella nachdenklich. »Du musst Eigon vergessen. Keine Fragen mehr, keine Nachforschungen mehr. Kein Rom mehr. Du darfst Titus - und Eigon - nicht mehr in deinen Kopf lassen. Das habe ich dir schon einmal gesagt. Und ich habe dir auch gezeigt, wie man das macht. Umgib dich mit Licht. Ruf nach den Engeln, damit sie dich beschützen. Das sind alterprobte Mittel, um sich zu schützen, Jess. Du musst sie benutzen. Wenn sie dich in deinem Kopf nicht erreichen, können sie auch nicht wissen, wo du dich aufhältst.«
Jess sprang auf und trat an die Brüstung. »Aber ich kann sie nicht aus meinem Kopf vertreiben«, flüsterte sie. »Ich muss herausfinden, was passiert ist.«
 
Daniel saß drei Straßen weiter in einer Bar. Mit zitternder Hand hob er ein Glas Grappa an die Lippen. Er hatte gesehen, was mit Julia passiert war. Durch Titusʹ Augen hatte er gesehen, wie er ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Sie hatten sie vergewaltigt, dann hatte Titus sie umgebracht. Es war so einfach gegangen. Und so schnell. Zu schnell. Er nahm einen zweiten großen Schluck und fuhr sich mit dem Ärmel über die Lippen. Er hatte durch Titus’ merkwürdig bernsteinfarbene Augen gesehen. Er hatte empfunden, was Titus empfunden hatte. Es war aufregend gewesen. Es hatte ihm gefallen. Es war nicht dasselbe wie bei einer Schlacht, es war kein Kampf Mann gegen Mann, kein Kampf unter Gleichwertigen. Es war ein Opfergabe an die Götter.
Und dann hatte er durch Titus’ Augen gesehen, wie es sein würde, wenn er, Daniel, an der Reihe war und wenn es sich bei der Frau, die hilflos vor ihm lag, um Jess handelte. Was, wenn er sie noch einmal vergewaltigte? Titus würde dabei sein und ihn verhöhnen, dass er sich zurückhielt, und dieses Mal würde Daniel sie töten. Das würde ihm Macht verleihen. Es war erregend.
Er wusste immer noch nicht, weshalb er es damals, beim ersten Mal, getan hatte. Er hatte es nicht geplant. Oder doch? Er hatte das Fläschchen mit den Tropfen schon lange mit sich herumgetragen. Seit dem Tag, als er es bei einer Durchsuchung der Schließfächer in der Schule konfisziert hatte, fast, als hätte er gewusst, dass er es eines Tages brauchen würde. Er hatte bei der Disco zu viel getrunken. Es hatte ihn angemacht, die vielen jungen Mädchen zu sehen, die ihn so unverhohlen mit ihren Reizen in Versuchung führen wollten. Es hatte an dem Abend in der Turnhalle überwältigend nach Sex gerochen. Er hätte jedes der Mädchen haben können, aber er hatte Jess beobachtet. Hatte gesehen, wie sie mit Ash tanzte und wie der Junge provozierend seine Hüften an ihren rieb, hatte gesehen, wie Jess lachte. Dann hatte sie mit William getanzt, und er hatte gesehen, wie die beiden sich immer näher kamen. Und mit wem hatte er tanzen können? Seine Frau saß zu Hause bei den Kindern. Er war ein Lehrer in leitender Position, er hatte mit der Frau des Direktors getanzt. Und mit der französischen Assistenzlehrerin. Das war besser. Und mit Jess. Einen Tanz konnte sie ihm kaum abschlagen. Aber sie hatte ihn auf Armeslänge gehalten, hatte ihn mit einem neutralen Lächeln abgefertigt und höflich zugehört. Und dann hatte sie wieder mit Ash getanzt. Da hatte er den Entschluss gefasst. Er würde ihr zeigen, worauf es beim Lieben wirklich ankam. Und das hatte er auch.
Mit einer Geste bedeutete er dem Kellner, ihm noch ein Glas Grappa zu bringen.
Erst am nächsten Morgen war ihm klargeworden, was er eigentlich getan hatte. Zuerst hatte er geglaubt, er würde ungeschoren davonkommen. Sie konnte sich eindeutig an nichts erinnern. Aber dann hatte sie peu à peu alles wieder zusammengestückelt. Er hätte sich ja denken können, dass die dumme Ziege nicht die Klappe halten würde. Sobald sie sich erinnerte, war ihm klar, dass er seine Karriere, seine Zukunft und seine Ehe verspielt hatte.
Die Drohungen, sie umzubringen, hatte er nicht ernst gemeint. Natürlich nicht. Zumindest anfangs nicht. Er wollte sie einfach so weit einschüchtern, dass sie den Mund hielt. Aber das hatte nicht funktioniert. Wahrscheinlich hatte das alles nur noch schlimmer gemacht. Danach hatte er versucht, alle Leute davon zu überzeugen, sie hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Das war nicht weiter schwierig. Seiner Ansicht nach hatte sie sowieso nicht alle Tassen im Schrank, mit den Gespenstern und den Stimmen und Visionen und den blutverschmierten Skizzenblöcken. Bei der Erinnerung schauderte er. Aber dann hatte die Stimme in seinem Kopf zu flüstern begonnen. Die Stimme eines anderen Mannes. Die Stimme, der er seit dem Tag in Ty Bran folgte, als Jess über die Felder davongelaufen war und er zurückblieb und sich allein seinen Dämonen stellen musste.
Er hatte nicht vorgehabt, danach noch weiterzumachen. Natürlich nicht. Er war ein kultivierter Mensch. Aber als er im Traum die panische Angst in Jess’ Augen sah, hatte ihn das erregt, und als er schwitzend im Bett aufwachte, hatte er nicht nur schier unstillbare Lust empfunden, sondern auch eine berauschende Erregung, hervorgerufen durch die Vorstellung, Jess tatsächlich zu töten. Der Mann in seinem Kopf wusste das. Der Mann in seinem Kopf würde ihn so lange drängen, bis er es wirklich tat.
Die Tochter des Königs
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