Kapitel 21
William dirigierte das Taxi die Straße
hinauf zum Palazzo und bat den Fahrer dann, ihn an der Ecke
abzusetzen. Es war zwar schon spät, aber er sah noch Licht in der
Wohnung brennen. Vorsichtig schaute er sich um, lief auf die andere
Straßenseite und drückte auf die Klingel. »Kim? Ich bin’s. Darf ich
rein?«, fragte er, sobald sie die Gegensprechanlage
betätigte.
Als er die Wohnungstür erreichte, zog sie ihn
sofort in den Flur. »Und? Wie geht’s dir?«
»Es geht. Er muss mir was über den Kopf gezogen und
dann irgendwelche K.-o.-Tropfen gegeben haben. Ich habe immer noch
einen grausamen Brummschädel.«
»Der Schuft! Ich dachte, du wolltest nach Hause
fahren?« Kim und Steph hatten im Halbdunkeln gesessen, die Fenster
zum Hof standen offen.
»Das wollte ich auch, aber ich hab’s mir anders
überlegt.« Williams Miene verfinsterte sich. »Irgendjemand muss
sich Daniel ja zur Brust nehmen. Ist Jess gut weggekommen?«
Kim und Steph tauschten einen Blick. »Wir hatten
einen Plan, aber der hat nicht geklappt. Rhodri wollte sie von
seinem Hotel aus zum Flughafen bringen, aber dann hat Daniel sie
gefunden. Er muss ihr von hier gefolgt sein. Aber es ist alles in
Ordnung, sie ist bei Carmella. Wo Daniel jetzt ist, wissen wir
nicht.«
»Verflucht!«
Kim holte eine Flasche Wein und drei Gläser. »Jess
steht sich selbst am meisten im Weg. Immer unternimmt sie alle
möglichen Sachen allein. Sie traut uns nicht. Ich glaube, sie traut
niemandem.«
William stellte sein Glas so heftig auf den Tisch,
dass Wein überschwappte und auf der Holzoberfläche eine kleine
Lache bildete.
»Was ist mit Rhodri?«
Kim grinste. »Im Moment sucht er ganz Rom nach
Daniel ab. Das Problem ist, dass wir keine Ahnung haben, wo er
suchen soll.« Sie wischte den verschütteten Wein mit einer
Papierserviette auf.
»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Steph.
»Wir können nicht einfach abwarten. Wir müssen
etwas tun.« Unruhig stand William auf und trat ans Fenster. »Da
habe ich Daniel gesehen. Unten im Garten.«
»Na, jetzt ist er nicht da. Ich habe das Schloss
austauschen lassen!«, sagte Kim erbost. »Und Jacopo hat die
Gardinenpredigt seines Lebens bekommen. Er kann von Glück reden,
dass er seinen Job noch hat.«
»Er konnte nichts dafür«, meinte William. »Daniel
ist eine Nummer zu groß für ihn.« Nachdenklich trank er einen
Schluck Wein und schaute dabei unentwegt in die Dunkelheit hinaus.
»Und dann Jess’ verdammte Halsstarrigkeit. Das ist doch nicht mehr
normal. Was ist, wenn sie sich eines Tages so in ihren Tagträumen
verliert, dass sie nicht mehr herausfindet?«
Steph rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her.
»Wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen Jess überreden, Rom zu
verlassen.«
Kim legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Aber
wie?«
Titus und Lucius hatten dienstfrei. In Togen gekleidet waren sie
auf dem Weg zum Senat, wo sie die Debatten verfolgen wollten. Jetzt
aber waren sie ins Gespräch vertieft.
»Ich habe Gerüchte gestreut«, sagte Lucius leise.
»Wie du es vorgeschlagen hast. Ich glaube, es besteht kein Zweifel,
dass alle in der Familie Christen sind.« Er seufzte. »Eigentlich
schade. Antonia ist ein hübsches Ding. Und sie bekäme sicher eine
erstklassige Mitgift. Aber wenn sie mit unserer Prinzessin
befreundet ist, muss sie natürlich weg.« Er lachte beklommen.
»Allerdings ist es nicht immer so einfach, etwas zu finden, womit
man Leute anschwärzen kann. Das Christentum ist an und für sich
nicht verboten.«
»Umso mehr Grund, das Misstrauen des Kaisers zu
schüren. Sicher, für Politik interessiert er sich nicht. Musik und
Spiele und seine Palastorgien sind ihm wichtiger, aber wir brauchen
nur die Saat zu säen.« Titus grinste. »Die Holzwolle, die er Gehirn
nennt, ist dafür ein fruchtbarer Boden!«
Die beiden Männer brachen in schallendes Gelächter
aus. Titus warf einen Seitenblick zu seinem Freund. Sein Gefühl
sagte ihm, dass Lucius nicht mehr hundertprozentig bei der Sache
war. »Es kommt mir nicht ganz gerecht vor, wenn wir meine Schäkerei
mit der Prinzessin planen und für dich gar nichts abfällt. Wie
wär’s mit der sanftmütigen Antonia? Es wäre doch ein Jammer, sie
als Jungfrau den wilden Tier vorzuwerfen. Welche
Verschwendung!«
Lucius runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob mir
die Vorstellung gefällt, Titus.«
»O doch, mein Freund, glaub mir, es wird dir
gefallen!« Titus versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken. »Und ich
habe noch viel Besseres für dich im Sinn, wenn’s um deinen Ehebund
geht. Da mach dir keine Sorgen. Erledige diese eine Sache für mich,
und ich sorge dafür, dass du über deine kühnsten Träume hinaus
belohnt wirst.«
Wenn jemand Geld brauchte, war er zu fast allem
bereit. Lucius war mittlerweile ziemlich auf den Hund gekommen.
Titus hatte herausgefunden, zu welchem Geldverleiher er ging und
wie oft er seiner Mutter Bettelbriefe schrieb. Sein Vater
beantwortete die verzweifelten Ersuche seines Sohnes um ein
Darlehen schon lange nicht mehr und weigerte sich sogar, die Briefe
zu lesen, die Lucius durch knabenhafte Sklaven zu seinem Landsitz
bringen ließ in der Hoffnung, der Anblick der jungen Männer könnte
ihn erweichen, sich seines Sohnes zu erbarmen.
»Ich finde, wir sollten jetzt etwas konkreter
werden«, fuhr Titus fort. »Ich möchte ungern erfahren müssen, dass
eine der beiden Damen uns von einem Freier unter der Nase
weggeschnappt wurde. Sie sind sowieso schon misstrauisch geworden.
Vielleicht war es ein Fehler, Melinus auszuschalten. Aber Eigon
muss isoliert werden. Sie muss richtig Angst bekommen.« Seine Züge
wurden hart. »Also gut. Antonia kann noch warten. Unser nächstes
Opfer ist Julia Pomponia. Der kann nun niemand nachsagen, dass sie
eine Christin ist, das Argument funktioniert bei ihr also nicht.
Ich finde, sie sollte einfach verschwinden. Hast du eine
Idee?«
Lucius schüttelte den Kopf.
»Ich denke, ein Unfall. Ganz schlicht. Das Mädchen
kommt oft in die Stadt. Sie ist hübsch«, er machte eine vielsagende
Pause, »aber sie ist habgierig und dumm. Ein paar Goldreifen und
Ohrringe reichen als Lockmittel. Darum kümmere ich mich. Bei dem
Teil des Plans brauchst du nicht mitzumachen.« Er schaute zum
Senatsgebäude, das vor ihnen lag. »Willst du immer noch mitkommen?
Seneca zu hören lohnt sich immer. Danach können wir ins Bad
gehen.«
»Flavius!«, hörte Jess sich rufen. »Flavius,
Aelius, ihr müsst sie besser bewachen! Eigon, sag Julia, sie soll
aufpassen!«
Verschreckt sah sie sich in der Dunkelheit um. Doch
nur die Pelargonien und Bougainvilleen auf Carmellas Dachterrasse
hörten ihre Warnung. Jess stand auf, ging zur Brüstung und schaute
auf die Lichter weit unter sich. Sie zitterte. Auf den Straßen
waren noch viele Menschen unterwegs, Autos bahnten sich vorsichtig
einen Weg zwischen den Scharen von Passanten, Musikfetzen aus dem
Bistro weiter oben in der engen Straße trieben zu ihr herauf, dazu
der Lärm und die Gerüche aus den vielen Lokalen. Jess zitterte,
Tränen liefen ihr über die Wangen. Ärgerlich wischte sie sie fort.
Der Traum war vorbei, und es gab nichts, was sie tun konnte. Durch
die Wohnung hallte das Läuten der Türglocke. Jess drehte sich um
und starrte auf die Gegensprechanlage, ihr Herz klopfte wie wild.
Nach einer längeren Pause läutete es ein zweites Mal. Jess
erstarrte. Hier konnte ihr nichts passieren. Niemand außer Carmella
hatte einen Schlüssel zu dieser Wohnung. Trotzdem, der scharfe
Klingelton hatte ihr das Gefühl von Sicherheit genommen, jetzt
hatte sie wieder Angst. Und sie hatte Kopfschmerzen. Sie brauchte
Eigon. Sie wollte Eigons kühlende Hand auf der Stirn spüren, einen
Wickel aus grünen Kräutern bekommen, das sanfte Plätschern des
Brunnens im Atrium hören, den Frieden der stillen, heilsamen
Dunkelheit um sich haben.
»Eigon? Wo bist du? Ich gehe jetzt. Bist du
sicher, dass du nicht mitkommen willst?« Julia stand neben der Tür,
sie hatte ihre beste Stola umgelegt. »Ich habe die Sänfte bestellt,
sie können uns auch beide tragen.«
Lächelnd schüttelte Eigon den Kopf. »Nicht heute.
Ich habe eine Patientin. Eine Frau, die verkatert ist.« Sie wandte
sich um und schaute auf die würgende Frau, die an der Schläfe einen
blauen Fleck hatte.
Julia schnitt eine Grimasse. »Da bin ich froh, dass
nicht ich das bin!« Sie drehte sich um und trat in die Sonne
hinaus. Sie schmollte. Eigentlich sollte Flavius sie begleiten,
aber im letzten Moment hatte sein Vater ihn angeblich gebraucht.
Wütend hatte sie ihm gesagt, er solle trotzdem mitkommen, und er
hatte gezögert, hin- und hergerissen zwischen dem Pflichtgefühl
seinem Vater gegenüber und seinem Wunsch, sie zu beschützen. Sein
Pflichtgefühl hatte gewonnen. »Wart auf mich, Julia! Es dauert
nicht lange«, hatte er gerufen, ehe er im Haus verschwand.
»Von wegen«, hatte einer der Sklaven lachend
gesagt. »Aelius hat die Nase voll davon, dass Flavius Euch ständig
in diese Geschäfte begleitet. Wenn Ihr auf ihn wartet, könnt Ihr
den Ausflug vergessen.«
Julia hob die Augenbrauen. »Ach wirklich? Dann
gehen wir ohne ihn. Ich habe euch dabei, da kann mir nichts
passieren. Und ihr wisst ja, wohin wir gehen.« Zum Seidenhändler,
dann weiter zu einem ihrer Lieblingssandalengeschäfte und
schließlich zu ihrer Tante, wo sie bei einer Karaffe Traubensaft
mit ein paar Freundinnen den neuesten Klatsch austauschen würde.
Julia stieg in die Sänfte, schloss die Vorhänge vor dem Staub und
lehnte sich mit einem wohligen Seufzen in die Kissen zurück. Es war
aufregend, zur Abwechslung einmal allein in die Stadt zu gehen. Ein
Abenteuer. Wenn sie ganz ehrlich war, ging ihr Flavius’ rehäugige
Anbetung allmählich auf die Nerven. Und Pomponia Graecina hatte ihr
mehr als einmal gesagt, Julia in ihrem Alter solle eher an eine
gute Partie denken als an eine Tändelei mit dem Sohn eines
Freigelassenen. Nachdenklich schloss sie die Augen. Sie hatte immer
gewusst, dass Flavius auf Dauer nichts für sie war. Aber er war
nützlich. Ein willfähriger Begleiter, der ihr keinen Wunsch
abschlug. Also gut, das Geld für ihre Geschenke stammte immer von
ihr
selbst, aber das bedeutete zumindest, dass sie genau das bekam,
was sie wollte. Sie lächelte zufrieden in sich hinein.
Als die Sänfte plötzlich zum Halt kam, reagierte
sie gar nicht, ganz in ihrem Tagtraum gefangen. Doch als die Sänfte
mit einem Ruck abgesetzt wurde, setzte sie sich doch auf und
öffnete den Vorhang. Zwei leuchtend grüne Augen schauten sie an.
Sie gehörten zu einem außerordentlich gut aussehenden jungen Mann.
»Seid gegrüßt, Herrin Julia!« Er salutierte. »Mich schickt ein
Freund mit der Bitte, Euch zu seinem Haus zu begleiten. Er hat
einen Goldschmied, von dem er überzeugt ist, dass er Euren
Geschmack trifft.«
Julia sah das besorgte Gesicht des dienstältesten
Sklaven. Sie sah, dass sich die beiden vorderen Sänftenträger einen
erschreckten Blick zuwarfen. Dann schaute sie wieder zu dem
grünäugigen Gott, der die Sänfte angehalten hatte. »Auf ein Wort
von Euch hin kann Eure Sänfte mir folgen.« Er war sehr wohlhabend,
wie Julia mit einem Blick auf die Details seiner Kleider
feststellte. Die säuberlich ausgeführten Stiche, die kunstvoll
gearbeiteten Nadeln und Schließen, der exquisite Haarschnitt, der
schwere Siegelring, die Ausstattung seines Pferds. Sogar das Pferd
selbst.
»Gut, warum nicht?« Sie lächelte kokett. »Es wäre
unhöflich, die Einladung abzulehnen.«
»Nein!«, schrie Jess in Gedanken, aber kein Laut
kam über ihre Lippen. Sie war nicht in der Lage,
einzugreifen.
Die Sklaven, die die Sänfte trugen, folgten dem
Mann eine lange Pinienallee hinauf zur Rückseite eines alten
Hauses. Es wirkte unbewohnt. Die Fensterläden waren verschlossen,
keine Menschenseele war zu sehen.
Aufgeregt schaute Julia hinaus und verzog dann vor
Enttäuschung das Gesicht. Das Haus war ja ganz hübsch, aber
nicht so prachtvoll, wie sie erwartet hätte. Und wo waren die
Sklaven, die Pferdeknechte, der Wagen und die Sänften, die man bei
der Villa eines reichen Mannes sehen sollte? Die Träger setzten die
Sänfte vor der Tür auf den Boden.
Der junge Mann saß ab. »Bringt die Sänfte zum Haus
eures Herrn zurück. Die Herrin Julia wird sie nicht mehr benötigen.
Ich bringe sie später selbst auf dem Pferd zurück.« Münzen
klimperten, dann öffnete er den Vorhang und half Julia
auszusteigen. »Hier entlang.« Er lächelte ihr freundlich zu, doch
in seinen Augen lag etwas, das sie zögern ließ. Sie sah sich um.
»Hier ist ja niemand.«
»Doch.« Er deutete auf die Stallungen. »Die Pferde
sind dort untergebracht. Ihr werdet schon sehen.«
Sie folgte ihm die Treppe hinauf. Die Tür schwang
mühelos auf, und als Julia das Haus betrat, spürte sie lediglich
einen Anflug von Argwohn.
Jess stöhnte auf. »Geh nicht rein. Trau ihm nicht.
Bitte!«
Julia schrie. Einen Moment starrte sie die zwei
Männer an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und wollte
weglaufen, aber die beiden holten sie mit wenigen Schritten ein,
packten sie, zogen sie aus und banden sie in dem dunklen, leeren
Haus an einem Bettrahmen fest. »Bitte, Lucius. Ein köstliches
Geschenk.« Titus lachte. »Noch schöner, als ich dachte.«
Die Männer hatten sich nicht einmal die Mühe
gemacht, Masken aufzusetzen. Panisch schaute Julia sie an. »Bitte
tut mir nicht weh. Macht, was immer Ihr wollt. Bitte…«
»Genau das haben wir auch vor, Schätzchen, keine
Angst. Wir tun genau das, was wir wollen.« Titus lächelte sie kalt
an. »Soll ich dich allein lassen, Lucius? Oder hättest du gern
einen Zuschauer?«
»Lass mich allein.« Lucius riss sich bereits die
Kleider vom Leib, trotz seiner Bedenken war seine Erregung
unerträglich groß.
Als er fertig war, schluchzte Julia leise, sie
wehrte sich nicht mehr.
»Bitte, lasst mich gehen. Ich erzähle auch
niemandem davon«, flehte sie leise.
Als sie Schritte hörte, drehte sie den Kopf in die
Richtung des Geräuschs und wurde blass. Der andere Mann näherte
sich. Titus.
»Jetzt bin ich dran.«
Lucius stieg vom Bett und bückte sich nach seinen
Kleidern. »Tu ihr nicht weh, Titus.«
Titus lachte. »Natürlich nicht.«
Lucius hörte ihre Schreie noch im Hof, wo er bei
den Pferden saß. Er hielt sich die Ohren zu. Ihm hatte die Idee von
Anfang an nicht gefallen. Es war grausam und gemein und sadistisch.
Er stand auf und ging zu seinem Pferd, das unruhig geworden war,
tätschelte ihm die Nüstern und flüsterte ihm beruhigend ins
Ohr.
Die Schreie steigerten sich zu einen Gellen, dann
verstummten sie abrupt. Die Stille, die im stickigen Schatten unter
den Pinien und Stechpalmen widerhallte, war fast unerträglicher als
die gequälten Schreie. Lucius biss sich auf die Unterlippe und
verzog das Gesicht. Vielleicht hatte Titus Mitleid mit ihr
bekommen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er in den Hof kam,
sein Gesicht war blass. An seinen Händen klebte Blut. »Das war’s«,
sagte er. Er ging zum Brunnen und zog einen Eimer Wasser hoch.
»Wenn dir schlecht wird bei dem, was jetzt kommt, dann geh. Wir
sehen uns in der Kaserne wieder.«
Lucius schloss die Augen. Einen Moment hob sich ihm
der Magen, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Er band
sein Pferd los, führte es in die Sonne und schwang sich in den
Sattel.
»Nein! Nein, Julia, nicht!«
Hilflos drehte Jess den Kopf hin und her und sah
sich benommen um. Sie lag auf dem Sofa in Carmellas Wohnzimmer und
trug Carmellas schwarz-roten Morgenrock. In der Ecke lief leise der
Fernseher, auf dem Tisch neben ihr stand ein halbleeres Weinglas.
Die Vorhänge waren geschlossen. Stöhnend setzte Jess sich auf. Sie
konnte sich weder daran erinnern, etwas getrunken, noch den
Fernseher angestellt zu haben. Sie verzog das Gesicht. Wann hatte
sie sich ausgezogen? Wie spät war es überhaupt? Auf unsicheren
Beinen ging sie in die Küche und holte aus dem Kühlschrank die Dose
mit Kaffeebohnen. Jeder Handgriff bereitete ihr große Mühe.
Als der Kaffee fertig war, nahm sie den Becher, zog
die Vorhänge auf und ging auf die Dachterrasse, die im vollen
Sonnenschein lag. Ihre Hände zitterten immer noch.
»Jess?« Zwanzig Minuten später riss Carmellas
Stimme sie aus ihren Gedanken, dann stand Carmella selbst in der
Terrassentür. »Ich dachte mir doch, dass ich Kaffee rieche. Warte,
ich mache mir auch einen.«
Erst als sie sich mit einer Tasse Kaffee zu Jess
gesetzt hatte, schaute sie sie eingehender an. »Was ist passiert,
Jess?«
Nachdem Jess alles erzählt hatte, herrschte
zunächst Schweigen. Carmella saß vorgebeugt da, die Ellbogen auf
die Knie gestützt, und betrachtete sie nachdenklich. Schließlich
schüttelte sie vorwurfsvoll den Kopf. »Du hast sofort wieder
vergessen, was ich dir gesagt habe, Jess. Dass du dich schützen
musst«, sagte sie sanft. Sie stand auf, verschwand in der Wohnung
und kehrte gleich darauf mit ihren Karten wieder. Sechs davon legte
sie auf dem Tisch aus. »Ich frage
jetzt nach Daniel.« Seufzend deckte sie die Karten nacheinander
auf. Dann zögerte sie. War sie hier, die unbekannte Zuschauerin?
Sie spürte ihre Gegenwart nicht. Noch nicht. »Wir haben hier zwei
Männer. Daniel und dieser Titus. Sie sind so eng verbunden« - sie
verschränkte Ring- und Mittelfinger -, »dass sie die Gedanken des
anderen lesen können. Beide verlieren zunehmend den Kontakt mit der
Realität.« Sie schaute auf. »Wenn Titus dich findet, Jess, dann
fürchte ich, dass Daniel dich auch finden kann. Sie sind beide sehr
gefährlich.« Carmella studierte wieder die Karten und schüttelte
dann den Kopf. Jetzt spürte sie die Person, das rätselhafte
Lächeln, den beobachtenden Blick aus weiter Ferne. Sie stand auf.
»Ich rufe Steph an. Du brauchst deine Freunde um dich, und wir
müssen uns überlegen, was wir als Nächstes tun.«
»Warte!« Jess hielt sie am Ärmel zurück. »Du hast
noch etwas gesehen. Was?«
»Nichts, was du nicht schon wüsstest, Jess. Du bist
in Gefahr. Ich glaube, Daniel allein wäre vielleicht damit
zufrieden, deinen Ruf zu ruinieren und dich zu bedrohen. Aber mit
Titus in seinem Kopf ist er nicht mehr verantwortlich für seine
Handlungen. Auf deinem Berg da in Wales ist zwischen ihm und Titus
etwas passiert. Dadurch ist eine Verbindung zwischen ihnen
entstanden, die immer stärker wird. Und jetzt hat Titus Blut an den
Händen.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Als ich das Kartenlesen
lernte, sagte meine Großmutter immer, dass man eine Sache nie, nie
tun darf, und das ist, einen Tod vorherzusagen. Es ist nicht an
uns, den bevorstehenden Tod eines Menschen zu prophezeien. Das
können die Karten nicht. Zumindest…« Sie zögerte. »Selbst jetzt
sagen sie es nicht eindeutig, aber sie warnen mich. Sie erzählen
von Angst, und sie sagen mir, dass du in Todesgefahr bist.« Sacht
strich sie mit den Fingern
darüber. »Wir können sie nicht ignorieren, Jess. Aber ich weiß
nicht, was ich dir raten soll. Ich weiß nicht, wie wir dich
schützen können.« Sie richtete sich auf. »Also, jetzt rufe ich Kim
an, ja?«
Jess nickte. »Ja, bitte.« Ihr war elend
zumute.
Innerhalb von zwanzig Minuten waren Kim, Steph und
William bei ihnen.
Es gab nicht genügend Stühle auf der Dachterrasse,
und so setzte William sich Kim zu Füßen auf ein Kissen. Carmellas
Karten lagen noch auf dem kleinen Tisch, die bunten Bilder
leuchteten in der Sonne.
»Ich glaube, wir sind uns einig, dass Daniel völlig
durchgeknallt ist. Aber was können wir gegen ihn unternehmen? Es
gibt keine Beweise, nur unser Wort gegen seines. Er ist verdammt
schlau vorgegangen.« William rutschte auf seinem Kissen hin und
her, um eine bequemere Position zu finden. Carmella erschien mit
einem Tablett, auf dem für jeden eine Tasse Kaffee stand. »Ich muss
mich bei dir entschuldigen, Carmella, dass ich deine Fähigkeiten
angezweifelt habe.« Er grinste. »Du hast mir damit das Leben
gerettet.«
»Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte,
William.« Sie erwiderte sein Lächeln.
Einen Moment sah er ihr in die Augen, dann wandte
er sich wieder an die anderen. »Was, wenn Jess nach London
zurückfährt? Wäre sie dort sicher?«
Carmella schüttelte den Kopf und setzte sich wieder
an ihren Platz vor den Karten. »Ich glaube nicht, dass das genügt.«
Sie schaute eine Weile auf die Auslage, dann blickte sie zu Steph,
die die Karten ebenfalls schweigend studiert hatte. »Du hast
gesehen, was sie sagen?«
Steph nickte.
»Moment mal«, sagte William mit gerunzelter Stirn.
»Was sagen sie denn genau?«
Carmella machte eine nichtssagende Geste. »Dass
Jess verschwinden soll, was du ja auch vorschlägst. Aber ich glaube
nicht, dass sie in London sicherer wäre als hier.«
»Vielleicht könnte ich mir ja einen anderen Namen
zulegen. Mir die Haare färben.« Jess lächelte angestrengt. Dann
schaute sie auf. »Wo ist Rhodri?«, fragte sie unvermittelt.
»Keine Sorge, er ist noch in Rom.« Kim grinste
vielsagend. »Er hat angerufen, um zu sagen, dass er hierbleibt, bis
du in Sicherheit bist.«
»Das ist nett von ihm.« Rhodri in der Nähe zu
wissen beruhigte Jess. Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
Sie war den Tränen nahe. »Aber es wird mir nichts nützen, mir eine
neue Identität zuzulegen. Durch Titus findet Daniel mich
trotzdem.«
»Es gibt etwas, das du machen kannst«, sagte
Carmella nachdenklich. »Du musst Eigon vergessen. Keine Fragen
mehr, keine Nachforschungen mehr. Kein Rom mehr. Du darfst Titus -
und Eigon - nicht mehr in deinen Kopf lassen. Das habe ich dir
schon einmal gesagt. Und ich habe dir auch gezeigt, wie man das
macht. Umgib dich mit Licht. Ruf nach den Engeln, damit sie dich
beschützen. Das sind alterprobte Mittel, um sich zu schützen, Jess.
Du musst sie benutzen. Wenn sie dich in deinem Kopf nicht
erreichen, können sie auch nicht wissen, wo du dich
aufhältst.«
Jess sprang auf und trat an die Brüstung. »Aber ich
kann sie nicht aus meinem Kopf vertreiben«, flüsterte sie. »Ich
muss herausfinden, was passiert ist.«
Daniel saß drei Straßen weiter in einer Bar. Mit
zitternder Hand hob er ein Glas Grappa an die Lippen. Er hatte
gesehen, was mit Julia passiert war. Durch Titusʹ Augen hatte er
gesehen, wie er ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Sie
hatten sie vergewaltigt, dann hatte Titus sie umgebracht. Es war
so einfach gegangen. Und so schnell. Zu schnell. Er nahm einen
zweiten großen Schluck und fuhr sich mit dem Ärmel über die Lippen.
Er hatte durch Titus’ merkwürdig bernsteinfarbene Augen gesehen. Er
hatte empfunden, was Titus empfunden hatte. Es war aufregend
gewesen. Es hatte ihm gefallen. Es war nicht dasselbe wie bei einer
Schlacht, es war kein Kampf Mann gegen Mann, kein Kampf unter
Gleichwertigen. Es war ein Opfergabe an die Götter.
Und dann hatte er durch Titus’ Augen gesehen, wie
es sein würde, wenn er, Daniel, an der Reihe war und wenn es sich
bei der Frau, die hilflos vor ihm lag, um Jess handelte. Was, wenn
er sie noch einmal vergewaltigte? Titus würde dabei sein und ihn
verhöhnen, dass er sich zurückhielt, und dieses Mal würde Daniel
sie töten. Das würde ihm Macht verleihen. Es war erregend.
Er wusste immer noch nicht, weshalb er es damals,
beim ersten Mal, getan hatte. Er hatte es nicht geplant. Oder doch?
Er hatte das Fläschchen mit den Tropfen schon lange mit sich
herumgetragen. Seit dem Tag, als er es bei einer Durchsuchung der
Schließfächer in der Schule konfisziert hatte, fast, als hätte er
gewusst, dass er es eines Tages brauchen würde. Er hatte bei der
Disco zu viel getrunken. Es hatte ihn angemacht, die vielen jungen
Mädchen zu sehen, die ihn so unverhohlen mit ihren Reizen in
Versuchung führen wollten. Es hatte an dem Abend in der Turnhalle
überwältigend nach Sex gerochen. Er hätte jedes der Mädchen haben
können, aber er hatte Jess beobachtet. Hatte gesehen, wie sie mit
Ash tanzte und wie der Junge provozierend seine Hüften an ihren
rieb, hatte gesehen, wie Jess lachte. Dann hatte sie mit William
getanzt, und er hatte gesehen, wie die beiden sich immer näher
kamen. Und mit
wem hatte er tanzen können? Seine Frau saß zu Hause bei den
Kindern. Er war ein Lehrer in leitender Position, er hatte mit der
Frau des Direktors getanzt. Und mit der französischen
Assistenzlehrerin. Das war besser. Und mit Jess. Einen Tanz konnte
sie ihm kaum abschlagen. Aber sie hatte ihn auf Armeslänge
gehalten, hatte ihn mit einem neutralen Lächeln abgefertigt und
höflich zugehört. Und dann hatte sie wieder mit Ash getanzt. Da
hatte er den Entschluss gefasst. Er würde ihr zeigen, worauf es
beim Lieben wirklich ankam. Und das hatte er auch.
Mit einer Geste bedeutete er dem Kellner, ihm noch
ein Glas Grappa zu bringen.
Erst am nächsten Morgen war ihm klargeworden, was
er eigentlich getan hatte. Zuerst hatte er geglaubt, er würde
ungeschoren davonkommen. Sie konnte sich eindeutig an nichts
erinnern. Aber dann hatte sie peu à peu alles wieder
zusammengestückelt. Er hätte sich ja denken können, dass die dumme
Ziege nicht die Klappe halten würde. Sobald sie sich erinnerte, war
ihm klar, dass er seine Karriere, seine Zukunft und seine Ehe
verspielt hatte.
Die Drohungen, sie umzubringen, hatte er nicht
ernst gemeint. Natürlich nicht. Zumindest anfangs nicht. Er wollte
sie einfach so weit einschüchtern, dass sie den Mund hielt. Aber
das hatte nicht funktioniert. Wahrscheinlich hatte das alles nur
noch schlimmer gemacht. Danach hatte er versucht, alle Leute davon
zu überzeugen, sie hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Das war
nicht weiter schwierig. Seiner Ansicht nach hatte sie sowieso nicht
alle Tassen im Schrank, mit den Gespenstern und den Stimmen und
Visionen und den blutverschmierten Skizzenblöcken. Bei der
Erinnerung schauderte er. Aber dann hatte die Stimme in seinem Kopf
zu flüstern begonnen. Die Stimme eines anderen Mannes. Die Stimme,
der er seit dem Tag in Ty Bran
folgte, als Jess über die Felder davongelaufen war und er
zurückblieb und sich allein seinen Dämonen stellen musste.
Er hatte nicht vorgehabt, danach noch
weiterzumachen. Natürlich nicht. Er war ein kultivierter Mensch.
Aber als er im Traum die panische Angst in Jess’ Augen sah, hatte
ihn das erregt, und als er schwitzend im Bett aufwachte, hatte er
nicht nur schier unstillbare Lust empfunden, sondern auch eine
berauschende Erregung, hervorgerufen durch die Vorstellung, Jess
tatsächlich zu töten. Der Mann in seinem Kopf wusste das. Der Mann
in seinem Kopf würde ihn so lange drängen, bis er es wirklich
tat.