Kapitel 17
Sie waren beim Goldschmied gewesen und länger geblieben als geplant. Als sie sich schließlich zu den Pferden aufmachten, brach bereits die Dunkelheit herein. Die Stadttore standen offen, und die Wagen und Karren, denen tagsüber die Zufahrt ins Zentrum verboten war, drängten herein und verstärkten noch den Lärm und das hektische Treiben auf den Straßen. Flavius sah sich ständig um und betrachtete nervös die vielen Menschen. Er hatte kein gutes Gefühl, das Gedränge hier im Viertel war zu groß, und die Stimmung war insgesamt reizbar und explosiv. Er wusste nicht genau, was vor sich ging, der Pöbel scharte sich zusammen. Keine gute Zeit, um mit zwei jungen Frauen und zwei unbewaffneten Sklaven unterwegs zu sein. Er war sorglos geworden mit diesen Ausflügen. Jedes Mal hatte er sich gefragt, ob es nicht doch zu gefährlich war, dass Eigon gegen den Willen ihrer Mutter die Villa verließ, aber bislang war nie etwas passiert. Vier harte Jahre des Lernens lagen hinter ihr. Sie hatte sich diese Ausflüge verdient. Außerdem boten sie ihm die Möglichkeit, mit Julia zusammen zu sein. Niemand hatte sie je bedrängt, obwohl er bisweilen das Gefühl hatte, dass sie beobachtet würden.
Unauffällig verringerte er den Abstand zu den beiden jungen Frauen und spitzte gleichzeitig die Ohren, um zu hören, worüber die Leute sich unterhielten. Der Kaiser. Der junge Kaiser und seine Freunde zogen wieder raufend und zechend durch die Stadt, stifteten Chaos und verhöhnten den Plebs. Im Stillen fluchend mahnte Flavius seine Schützlinge zur Eile, schob sie durch Lücken im Gedränge. Dann sah er unmittelbar vor ihnen eine Schlägerei ausbrechen, ein Dutzend junger Männer stürmte schreiend auf sie zu. Flavius gefror das Blut in den Adern. Die Raufbolde hatten es wirklich auf die beiden Mädchen abgesehen. Er packte Eigon am Arm und riss sie mit sich, suchte hektisch nach einem Fluchtweg. Der Sklave Demitrius, der hinter ihm ging, hatte Julia an der Hand genommen. So liefen sie davon, während die jungen Männer einen Haken schlugen und ihnen brüllend folgten.
»Halt sie auf!«, rief Flavius Vulpius zu, dem zweiten Sklaven. »Damit wir einen Vorsprung haben!« Ganz in der Nähe sah er eine dunkle Gasse. Verzweifelt steuerte er darauf zu, drängte die Mädchen in den Schatten, während die Schläger Vulpius erreicht hatten und ihn schreiend und johlend aus dem Weg stießen. Jemand packte eine brennende Fackel und setzte sie als Waffe gegen die Angreifer ein, ein anderer prügelte mit Fäusten auf sie ein. Flavius kämpfte sich zu Vulpius zurück, um ihm zur Seite zu stehen. »Lauft!«, rief er über die Schulter den Mädchen zu. »Lauft! Macht schon!«
Verängstigt hasteten Julia und Eigon die dunkle Gasse entlang, doch dann blieben sie abrupt stehen. »Ohne Flavius können wir nicht gehen!«, rief Julia. »Du lauf, ich warte auf ihn!« Vulpius war gestürzt, einen Moment konnte Flavius sein schmerzverzerrtes Gesicht inmitten des Gewühls am Boden ausmachen, dann war nichts mehr von ihm zu sehen. Verzweifelt versuchte Flavius, sich aus der Menge herauszuboxen, fort von den fliegenden Fäusten. Blut rann ihm aus der Nase. Dann war Julia bei ihm. Hinter ihnen johlte die Menge, jemand anderes fiel zu Boden. Julia packte Flavius am Arm und zog ihn in den Schatten. »Hier entlang! Schnell!«
»Aber Vulpius! Wir können ihn nicht dort lassen!«
»Das müssen wir aber. Wir können ihm nicht helfen!« Es war Demitrius, der die Führung übernahm. »Hier weiter. In der Dunkelheit werden sie uns nicht folgen.«
Irgendwie waren sie dem Tumult entkommen, auf einen schmalen Weg zwischen zwei Gebäuden gelangt und von dort in eine andere Gasse, die weiter vom Forum wegführte. Eigon griff nach Julias Hand. Flavius folgte ihnen dichtauf, warf aber immer wieder einen Blick hinter sich. Sie entfernten sich immer weiter vom Lärm. Schließlich blieben sie stehen und rangen keuchend nach Luft.
Flavius wischte sich die Nase am Saum seines Ärmels ab. »Ist euch auch nichts passiert? Habt ihr gesehen, wie es dazu gekommen ist? Da hatte doch jemand ein Messer!« Beschützend legte er einen Arm um Julias Schultern. »Kommt. Wenn wir hier entlanggehen, kommen wir auf Umwegen zu den Pferden zurück. Ihr müsst von hier weg!« Wieder warf er einen Blick hinter sich.
»Was machen wir mit Vulpius?«, rief Eigon. »Wir können ihn doch nicht einfach dort lassen.«
»Wir können ihm aber auch nicht helfen. Ich bringe euch nach Hause, dann kommen Demitrius und ich zurück und suchen nach ihm.« Wieder wischte sich Flavius das Blut aus dem Gesicht. »Hier entlang. Wir versuchen, uns durch die Gassen durchzuschlagen.« Er vermutete, dass sie jetzt im Viertel Subura waren, das selbst bei Tag berüchtigt war. Leise fluchend sah er sich um. Wenn sie mehr im Osten wären, am Esquilin, wären sie eher in Sicherheit.
Doch bald wurde ihnen klar, dass sie sich völlig verlaufen hatten.
»In dieser Gasse waren wir schon einmal, Flavius.« Demitrius zeigte auf ein Tavernenschild. »Zu den drei Kelchen.«
Eigon nickte. Alle rangen nach Luft. »Er hat Recht. Ich höre noch nicht einmal aus der Ferne Schreie. Es ist fast zu still.«
Eng aneinandergedrängt, schauten sie sich um. Die Gasse zwischen den Gebäuden war schmal, mit ausgestreckten Armen könnte ein Mann fast beide Mauern berühren. Über den schiefen Dächern war der Himmel als sternübersäter Streifen zu erkennen.
»Und was machen wir jetzt?« Flavius versuchte, ruhiger zu atmen und tat sein Bestes, seine wachsende Panik zu verbergen. Er war verantwortlich für diese beiden Mädchen, sie hatten sich ohnehin schon verspätet, er hatte sie in entsetzliche Gefahr gebracht, und jetzt hatten sie sich auch noch hoffnungslos verirrt in einem Elendsviertel, in das er sich selbst bei Tageslicht und mit einer bewaffneten Prätorianergarde nicht mit ihnen wagen würde.
Am Ende der Straße war plötzlich Johlen zu hören. In einiger Entfernung tauchte eine Gruppe von Männern auf, die Fackeln schwenkten und wie Jagdhunde belferten.
»Ich kann’s nicht glauben, sie sind immer noch hinter uns her! Kommt, um die Ecke, damit sie uns nicht sehen.« Flavius verfiel wieder in einen Laufschritt. Die anderen hetzten ihm nach, bogen in eine weitere, noch schmalere Gasse, in der absolute Finsternis herrschte. Demitrius ging voraus. »Das ist eine Sackgasse.« Er blieb stehen und drehte sich zu den anderen um. »Wir sitzen in der Falle.«
»Dann müssen wir ganz leise sein«, zischte Flavius. »Vielleicht sehen sie uns nicht.«
»Sind sie hier entlang?«, rief eine Stimme hinter ihnen. Die Worte hallten zwischen den Gebäuden wider, und einen Moment zeichnete sich vor dem Schein einer Fackel, die jemand hoch über die Köpfe hielt, eine Gestalt ab. Das Licht fiel auf die Mauern und hätte fast die kleine Gruppe erreicht, die dort im Schatten kauerte, aber nicht ganz. »Wo sind sie? Habt ihr sie gesehen? Ohne das Mädchen dürfen wir nicht zurück. Wir müssen sie finden, sonst sind wie verloren. Ich habe Leute davonlaufen sehen, hier sind sie rein.« Er kam die Gasse entlang auf sie zu, hielt die Fackel hoch über den Kopf, als ein Schrei von der Straße ihn innehalten ließ. »Hier weiter! Wir haben sie gesehen. Komm!«
Die Gestalt zögerte. Eigon und Julia hielten die Luft an, Eigon merkte, dass sie am ganzen Leib zitterte. »Das glaube ich nicht«, fuhr der Mann fort. Seine Stimme war ruhiger, richtete sich direkt an sie. Er hielt die Fackel noch höher. »Ich glaube, in dieser Gasse versteckt sich ein Nest verängstigter Mäuschen, und ich glaube, die werde ich mir schnappen!«
Vor Angst stöhnte Julia leise auf. Es gab keinen Ausweg. Sie drückten sich noch weiter in den Schatten. Eigon spürte den unnachgiebigen Stein unter ihren Schulterblättern, an der Hüfte einen glatteren, kälteren Vorsprung. Es war ein Ring. Hoffnungsvoll drehte sie sich um, tastete umher und fand einen Türknauf. Sie drehte daran, und knarzend öffnete sich eine kleine Holztür. Im Handumdrehen hatten sich alle hindurchgedrängt und schlossen sie wieder, das Holz schabte über die unebenen Pflastersteine.
»Kann man sie verriegeln?« Verzweifelt fuhr Eigon mit der Hand über die Tür. »Helft mir doch! Ich kann keinen Riegel finden. Die Tür schließt nicht richtig.« Sie spürte eine Hand auf ihrer, dann umfassten raue Finger die Klinke, und Demitrius presste seine Schulter gegen das Holz. Wenig später rastete kreischend ein Riegel ein, die Tür war geschlossen.
»Den Göttern sei Dank«, schluchzte Eigon und fiel Julia vor Erleichterung in die Arme. Dann versuchten sie herauszufinden, wohin sie sich geflüchtet hatten. Zwar konnten sie so gut wie nichts ausmachen, doch der kühlen Luft, dem Plätschern von Wasser und dem Duft von Blumen nach zu urteilen, standen sie in einem kleinen Garten. Von der anderen Seite der Mauer waren Rufe zu hören, jemand warf sich immer wieder mit aller Kraft gegen die Tür im Versuch, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Dann trieb ein Schwall obszöner Flüche zu ihnen herüber.
»Seid gegrüßt, Freunde.« Hinter ihnen ging eine weitere Tür auf, Licht strömte in den Garten, und blinzelnd schauten sie auf, während eine Gestalt in die Tür am oberen Absatz einer Treppe trat. Der Mann hatte eine Fackel in der Hand, die im leichten Wind aufflammte. »Ich vermute, ihr sucht eine Zuflucht. Bitte kommt herauf.«
Sie stiegen die Stufen hinauf und fanden sich in einer anderen Welt wieder. Offenbar waren sie von den Elendsvierteln in eine Gegend gekommen, die höher am Berg lag; es war eine Welt des ruhigen Wohlstands und der Eleganz. Erleichtert traten sie ins Haus, während ihr Retter die Türen hinter ihnen verriegelte. Er war groß und dunkelhaarig, hatte ein schmales, ansprechendes Gesicht und war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Flavius und weit attraktiver. »Großvater, ich glaube, wir haben Besuch bekommen.«
Als sich ihre Augen an das Lampenlicht gewöhnt hatten, erkannten sie, dass in dem Raum ein älterer Mann am Ende eines langen Tischs saß. Vor ihm waren mehrere Landkarten und Schriftrollen ausgebreitet, neben ihm stand ein Weinkelch.
Felicius Marinus Publius nickte ihnen zuvorkommend zu, als sei er es gewohnt, dass mitten in der Nacht zerraufte, verängstigte Besucher durch den Garten zu ihm ins Haus drangen. »Wie angenehm. Bitte, kommt herein und setzt Euch.« Mit einer Bewegung hatte er alle Dokumente zu einem Haufen zusammengeschoben und betrachtete die Ankömmlinge. »Julius, mein Junge, einer dieser Männer ist verletzt. Kannst du Antonia rufen, damit sie sein Gesicht wäscht? Und diese jungen Damen wirken verstört. Was ist passiert?« Plötzlich klang er besorgt.
»Es war sehr freundlich von Eurem Enkel, uns hereinzulassen. Er hat uns das Leben gerettet.« Eigon trat vor. »Bitte erschreckt Euch nicht. Wir waren auf dem Heimweg, als ein Tumult ausbrach. Es ist zu einem Handgemenge gekommen, und plötzlich hat uns eine Horde Männer verfolgt.« Sie machte eine Pause. Die Männer hatten sie verfolgt, Eigon. Als ihr das zu Bewusstsein kam, wurde sie blass, fuhr aber tapfer mit ihrer Geschichte fort. »Wir sind vor ihnen geflohen, und dabei haben wir uns verlaufen. Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wenn sich Eure Tür nicht geöffnet hätte. Ich glaube, sie hätten uns umgebracht.« Von Erschöpfung und Angst übermannt, rang sie um Selbstbeherrschung. »Einen von unserer Gruppe, unseren Sklaven Vulpius, haben sie zu fassen bekommen …« Ihr versagte die Stimme.
Julius verzog missbilligend das Gesicht. »Die Tür hätte nicht offen sein dürfen. Offenbar war Gott mit Euch. Wir schicken morgen einen Suchtrupp nach Eurem Sklaven - ich fürchte, jetzt im Dunkeln und wo die Straßen voller Menschen sind, wird niemand ihn finden.«
Eigon sah dankbar zu ihm. »Es war dumm von uns, so spät noch unterwegs zu sein. Und nur, weil Julia sich nicht entscheiden konnte, welches Armband sie kaufen sollte!«
Ihre Stimme war etwas scharf geworden. Ihr war nicht entgangen, dass der Blick des jüngeren Mannes unwillkürlich zu ihrer Freundin gewandert war, und sie merkte, wie er bei ihren Worten wieder zu Julia schaute. Wie schaffte ihre Freundin es nur, so mühelos den Blick aller Männer auf sich zu ziehen? Und warum störte sie, Eigon, sich daran? Sie schalt sich selbst wegen dieses ungehörigen Gedankens in diesem unangebrachten Moment und merkte gar nicht, dass sie dabei selbst den Kopf kokett in den Nacken warf und diese Bewegung Julius nicht entging, so dass seine Aufmerksamkeit nachdenklich zu ihr zurückkehrte.
Wenig später hatte Julius’ Schwester Antonia Flavius’ Gesicht verarztet. Sie brachte Tücher und eine Schüssel warmes Wasser herein, und als er widersprechen wollte, sagte sie nur lächelnd: »Wer sollte Euch versorgen, wenn nicht ich?«
»Beauftragt einen Sklaven, bitte, macht Euch nicht die Hände schmutzig, Herrin …«
Sie grinste keck. »Eine solche Aufgabe überlasse ich niemand anderem als einem von uns, und glaubt mir, unter meinen Händen ergeht es Euch weit besser als unter denen meines ungeschickten Bruders oder eines Bediensteten!«
Julius lächelte vergnügt. Die Geschwister waren sich eindeutig sehr zugetan, und es war Julius, der die Schüssel und die Tücher wieder hinaustrug. Als sie sich ein paar Minuten später an den Tisch setzen wollten, auf den Essen und Wein aufgetragen worden waren, blieb Demitrius zögernd zurück. »Vielleicht sollte ich zu Euren Sklaven gehen, Herr«, murmelte er. »Es gehört sich nicht, dass ich hier sitze.«
Der alte Mann verzog missmutig das Gesicht. »Wenn das Euer Wunsch ist. Aber ich finde, da Ihr zusammen mit den anderen Euer Leben aufs Spiel gesetzt habt, ist es nur recht, wenn Ihr jetzt auch das Essen mit ihnen teilt. Seid Ihr nicht auch dieser Ansicht?« Er richtete seinen Blick auf Eigon.
Sie nickte. »Demitrius ist sehr mutig gewesen.«
»Großvater, sie machen sich Sorgen um ein anderes Mitglied ihrer Gruppe. Der Sklave Vulpius wurde im Tumult von ihnen getrennt«, erinnerte Julius ihn. Er lächelte Eigon zu. »Ich meinte, es gebe nichts, was wir jetzt in der Dunkelheit für ihn tun könnten.«
Der alte Mann sah besorgt drein. »Dann beten wir für ihn. Bitte, kommt zu Tisch.«
Nachdem sie sich gesetzt hatten, bat er mit erhobener Hand um Stille. »Wir sollten Gott danken für das Mahl, das hier vor uns steht, und für Eure Rettung, meine Freunde, im Namen unseren Herrn Jesus Christus, und wir beten, dass Euer Gefährte Vulpius sicher zu Euch zurückkehrt.«
Einen Moment herrschte Stille. Julia und Eigon tauschten einen Blick, Flavius runzelte die Stirn. »Ihr seid Christen, Herr? Mein Vater hat von Menschen wie Euch gesprochen.« Abrupt unterbrach er sich und schaute, beschämt über seinen Tonfall, auf seinen Teller.
»Und offenbar nicht sehr vorteilhaft, Eurer Miene nach zu urteilen, junger Mann.« Julius’ Großvater lachte. »Habt keine Angst, wir werden Euch nicht zu bekehren versuchen. Und wir haben auch nicht vor, Menschenopfer aus Euch zu machen, wenn Ihr das denken solltet. Esst. Lasst es Euch schmecken. Dann begleiten unsere Bediensteten Euch nach Hause.«
Im Lauf des Abends kam der Lärm des Aufruhrs auf den Straßen allerdings immer näher. Mehrmals wurde gegen die Tür gehämmert, und einmal glaubte Eigon sogar zu hören, wie ihr Name gerufen wurde. Schaudernd sah sie in die Runde. Die anderen hatten offenbar nichts bemerkt als den allgemeinen Tumult, aber einer nach dem anderen legten sie Messer und Löffel beiseite und schoben das Essen fort.
»Du darfst sie heute Nacht nicht auf die Straße hinausschicken, Großvater«, sagte Antonia schließlich. »Sie müssen bei uns bleiben. Früher oder später werden die Leute sich zerstreuen. Bei Tagesanbruch ist es draußen wieder sicher, und vielleicht finden wir auch heraus, worum das alles geht.«
»Ich bin ganz deiner Meinung.« Der alte Mann nickte. »Bitte, seid unsere Gäste. Wir haben reichlich Platz. Antonia, meine Liebe, kümmere dich um die jungen Damen und sorge dafür, dass sie alles bekommen, was sie brauchen.«
Die zwei Zimmer, die ihnen zugewiesen wurden, gingen vom Säulengang ab. Entzückt entdeckten sie im flackernden Lampenlicht bemalte Wände und Mosaikböden, Elfenbeinkämme und weiche Tücher.
Eigon schaute gedankenverloren in das Becken mit warmem Wasser, das eine junge Bedienstete ihr zum Waschen gebracht hatte, als es an der Tür klopfte. Es war Antonia. »Ich wollte nachsehen, ob du alles hast, was du brauchst.« Sie lächelte. Sie war groß und schlank und sah ihrem Bruder sehr ähnlich. Im Lauf des Abends hatte sie ein paarmal freundlich zu Eigon hinübergesehen und war offenbar gebannt gewesen von allem, was Eigon zu erzählen hatte. »Darf ich reinkommen und mich mit dir unterhalten, oder bist du zu müde?«
Eigon bedeutete ihr einzutreten und schloss die Tür leise hinter ihr. »Ich weiß nicht, was wir ohne eure Hilfe getan hätten. Wir sind euch allen sehr dankbar.«
Antonia setzte sich auf die Bettkante. »Einer unserer Diener ist hinausgegangen und hat sich umgehört, was passiert ist. Der Kaiser hat wieder ein Konzert gegeben und sich danach mit seinen Freunden betrunken. Irgendwie ist es dann zu einem Tumult gekommen, aber mittlerweile hat er sich wieder etwas gelegt.« Sie musterte Eigons Gesicht. »Der Plebs gerät schnell außer Rand und Band.« Sie schauderte. »Aber du hattest Angst vor etwas anderem als dem Tumult. Du hast gedacht, dass es jemand auf dich persönlich abgesehen hat, oder?«
Erstaunt sah Eigon auf. »Woher weißt du das?«
Abwehrend schüttelte Antonia den Kopf. »Ich habe dich beobachtet. Dich hat das, was passiert ist, irgendwie nicht überrascht.«
»Sie haben meinen Namen gerufen. Sie wussten, dass ich hier bin. Die anderen haben es nicht bemerkt.«
»Weißt du, warum jemand dir etwas antun sollte?«, fragte Antonia freundlich.
Eigon machte eine ausweichende Geste. »Ja, ich weiß, warum. Aber es ist eine lange Geschichte …« Sie schaute beiseite. »Vielleicht nicht heute Nacht.«
»Ich verstehe. Es geht mich nichts an.« Antonia wirkte nicht im mindesten gekränkt. »Ich hoffe bloß, dass deine Familie sich keine zu großen Sorgen macht. Möchtest du, dass wir einen Boten …«
Eigon schüttelte den Kopf. »Wir sollten eigentlich überhaupt nicht in der Stadt unterwegs sein. Aber vielleicht haben sie gar nicht bemerkt, dass wir weg sind. Meinem Vater geht es nicht gut. Manchmal spricht meine Mutter tagelang nicht mit mir und nimmt mich gar nicht wahr.«
»Das ist traurig.«
Eigon nickte. »Meinem Lehrer wird es auffallen, aber er wird sich erkundigen und herausfinden, dass Julia und Flavius auch nicht da sind, und dann wird er sich denken, dass wir in den Krawall geraten sind.«
Antonia machte ein verdutztes Gesicht. »Wie alt bist du denn? Ich hätte gedacht, dass du schon viel zu alt bist, um einen Lehrer zu haben. Ich habe sobald wie möglich mit dem Unterricht aufgehört.«
Eigon lachte. »Ich glaube, ich bin vierzehn oder fünfzehn. Ich weiß es nicht genau.« Sie zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Bin ich zu alt? Melinus sagt, man könnte sein ganzes Leben mit Lernen verbringen.«
»Das klingt alles sehr ernst.« Antonia schnitt eine Grimasse.
»Nicht immer. Deswegen haben Julia und ich auch den Ausflug in die Stadt unternommen. Wir waren einkaufen.«
»Trotzdem. Wo wohnst du?«
Eigon beschrieb es ihr, und Antonia war beeindruckt. »Ich dachte, das wäre eine Villa des Kaisers.«
»Sie hat auch dem früheren Kaiser gehört. Er hat uns das Leben gerettet. Er hat uns das Haus geschenkt.«
»Weshalb?«
»Mein Vater war - ist - in unserer Heimat ein König. Er wurde gefangen genommen, und wir wurden nach Rom gebracht, um dem Volk vorgeführt und getötet zu werden, aber der Kaiser hat uns verschont. Das ist jetzt schon sehr lange her.«
Antonia schauderte. »Wir leben in einer grausamen Welt.« Sie seufzte. »Du musst furchtbare Angst gehabt haben.«
Eigon nickte. »Aber Claudius war gut zu uns. Und bislang hat Kaiser Nero uns in Ruhe gelassen.«
Antonia schüttelte den Kopf. »Er ist ein wilder junger Mann. Deswegen hat er so begeistert beim Aufruhr heute Nacht mitgemacht!« Sie seufzte. »Aber solange Seneca und Burrus an seiner statt regieren, während er sich amüsiert, ist Rom relativ sicher. Das sind vernünftige Männer, und in ein paar Tagen werden alle den Tumult vergessen haben, und in Rom kehrt wieder Ruhe ein.«
»Mir kommt er außerordentlich töricht vor!« Eigon stand noch unter Schock. »Aelius, das ist unser Haushofmeister, hat uns erzählt, dass im Volk eine Menge Gerüchte und Gräuelgeschichten über ihn kursieren.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Die Ereignisse des vergangenen Abends hatten sie zutiefst verstört.
Antonia legte den Kopf schief. »Welches Land war das, in dem dein Vater König war?«
»Wir haben auf den britannischen Inseln gelebt. Claudius nennt sie - nannte sie - Britannien. Mein Vater war - ist - König der Catuvellaunen und der Silurer, das ist der Stamm meiner Mutter. Aus unseren Stämmen kamen die tapfersten Krieger. Das Land war unbeschreiblich schön. Manchmal sitze ich da und sehe es in Erinnerung vor mir. Sanfte grüne Hügel und Wälder und Rinder und Schafe und wunderschöne kleine Pferde und Hunde. Und freundliche Holzhäuser mit runden Außenwänden und strohgedecktem Dach. In Städte wie Rom sind wir nie gefahren. Vielleicht gab es auch keine. Camulodunum war die größte Stadt, die ich dort kannte, aber sie war ein Dorf im Vergleich zu Rom.« Sie trat näher zu Antonia. »Und du - woher kommst du?«
»Die Familie meines Großvaters lebt seit vielen Jahren in Rom. Unsere Mutter und unser Vater sind vor ein paar Jahren am Fieber gestorben, das in den Hügeln rund um die Sommervilla ausbrach, in der wir damals gerade waren.« Antonia schaute traurig auf ihre gefalteten Hände. »Danach sind Julius und ich zu unserem Großvater gezogen; er ist Senator.«
»Und was sind Christen?«, fragte Eigon. »Flavius weiß es offenbar, aber ich habe noch nie von ihnen gehört. Entschuldige.«
»Wir sind Anhänger Christi. Gottes eigener Sohn Jesus Christus ist zum Menschen geworden. Er lebte unter den Juden in Judäa, er lehrte und heilte und wurde vom römischen Statthalter Pontius Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt. Er hat nicht so viel Glück gehabt wie dein Vater. Er wurde getötet. Aber dann hat Gott ihn auferstehen lassen, und jetzt lebt er wieder, im Himmel.«
Eigon zog die Stirn kraus. »Ist er einer von euren römischen Göttern?«
Antonia schüttelte den Kopf. »Es gibt nur einen Gott. Genau darum geht es ja. Die römischen Götter sind keine richtigen Götter. Und der Kaiser auch nicht.«
»Aber das darf man doch nicht laut sagen!« Eigon hob die Augenbrauen. »Und unsere Götter in Britannien?«
Antonia zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich gilt für sie dasselbe. Uns wird gelehrt«, sie lächelte, um ihrer Bemerkung die Schärfe zu nehmen, »dass die alten Götter vielleicht Engel waren, Diener oder Boten Gottes.«
Eigon seufzte. »Damit würde Melinus nicht einverstanden sein.« Oder vielleicht doch? Sie wusste es nicht. Er hatte nie mit ihr über die Christen gesprochen.
»Wer ist Melinus?«
»Mein Lehrer. Er ist ein Druide.« Als Eigon Antonias verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte, lachte sie. »Was ihr einen Priester und Philosophen nennen würdet. Ein Gelehrter.«
»Und er ist mit deinem Vater als Gefangener nach Rom gekommen?«
Eigon schüttelte den Kopf. »Das ist eine andere lange Geschichte.« Wie konnte sie ihrer neuen Freundin erklären, dass Melinus ein Sklave war? Beim Essen war ihr klargeworden, dass ihr Gastgeber offenbar seine Sklaven alle in die Freiheit entlassen hatte. Sie arbeiteten noch für ihn, aber aus freien Stücken, und sie wurden für ihre Arbeit bezahlt.
Hinter ihnen ging die Tür auf, und Julia erschien. Sie war in einen Schal gehüllt. »Ich dachte mir doch, dass ich euch reden hörte. Seid ihr nicht müde?« Wie zur Bekräftigung ihrer Aussage gähnte sie herzhaft.
»Du hast Recht.« Antonia stand auf. »Entschuldige. Es war unhöflich von mir, dich nicht schlafen zu lassen. Wir reden morgen früh weiter. Gute Nacht.«
Sie sahen ihr nach, wie sie den Säulengang entlang verschwand. »Habe ich euch unterbrochen?« Julia ließ sich neben Eigon aufs Bett fallen.
Eigon schüttelte den Kopf. »Wir haben uns über die Götter unterhalten.«
Julia schaute sie fassungslos an. »Warum habt ihr euch denn nicht über ihren hübschen Bruder unterhalten? Ist der schon vergeben?«
Eigon lachte. »Julia!«
»Das müssen wir herausfinden. Gleich morgen früh. Dann bitte ich meine Tante, uns offiziell mit der Familie bekannt zu machen. Ich finde, er würde einen wunderbaren Ehemann abgeben, meinst du nicht auch?«
»Für mich?« Eigon merkte, dass sie rot wurde.
»Nein, du Dummerchen. Für mich!«
 
Auf der Dachterrasse war es dunkel geworden. Stöhnend streckte Jess, noch immer auf dem Stuhl sitzend, ihre steifen Gliedmaßen.
»Ach, endlich bist du wach!« Carmella trat in die Tür. »Ich habe Kim angerufen, damit sie sich keine Sorgen macht, und ihr gesagt, dass du zum Abendessen hierbleibst.« Sie stellte vor Jess ein Glas auf den Tisch, in dem Eiswürfel klapperten. »Campari. Also, für Eigon geht die Geschichte noch weiter«, sagte sie mit einem Lächeln, »aber jetzt müssen wir uns um dich kümmern. Damit Daniel nicht in deinen Kopf kommt.«
Jess sah, dass ein Kartensystem auf dem Tisch ausgelegt war. »Hast du nochmal die Karten gelesen?«
Carmella nickte. »Ich habe ihn auch in der sfera di cristallo gesehen. Er ist in der Nähe.« Wie auch die andere Zuhörerin, die sie spürte, wann immer sie die Karten für Jess legte. Auch diese Frau konnte die inneren Wege deuten. Aber wer sie war, und wie sie in diese Geschichte passte - das wusste Carmella nicht.
»Das heißt, Daniel ist in Rom.«
Carmella nickte wieder. »Natürlich. Was dachtest du denn, wo er ist?«
»Er hat uns gesagt, dass er nach England zurückfliegt, aber ich habe ihm nicht geglaubt.«
»Du hast Recht, er ist hier. Ganz in der Nähe.« Carmella warf einen Blick zu ihr. »Es tut mir leid, Jess, aber er will dir nichts Gutes. Und irgendetwas ist merkwürdig bei ihm, das ist mir aufgefallen, als ich ihn näher beobachten konnte. In seinem Kopf ist ein anderer Mann, ein bösartiger Mann. Ich gehe davon aus, dass er besessen ist.« Ihr Gesicht war voller Sorge. »Dieser andere Mann nährt sich an Daniels Hass und Angst.«
Jess starrte sie verständnislos an. »Ein anderer Mann?« Das überstieg ihr Vorstellungsvermögen.
Carmella nickte. »Ein Toter, Jess. Du verstehst schon. Ein Geist.«
»O mein Gott!« Ein kalter Schauer lief Jess über den Rücken. »Weißt du, wer er ist?«
Carmella machte eine hilflose Geste. »Ich sehe ihn nicht als Gesicht, nur als Schatten. Aber ich spüre seinen eisigen Griff. Er ist ein böser, ein sehr böser Mann. Und ich fürchte, sie planen schreckliche Sachen. Es wird etwas Entsetzliches passieren, Jess!«
»Was soll ich tun?«, flüsterte Jess.
»Du musst Daniel um jeden Preis aus dem Weg gehen.« Carmella sah ihr fest in die Augen. »Du darfst nicht zulassen, dass er dich findet. Warum er diesen anderen Mann in seine Seele lässt, weiß ich nicht. Vielleicht ist ihm nicht klar, dass es passiert ist. Ich werde dir zeigen, wie du ihn psychisch abwehren kannst, aber es ist besser, wenn er erst gar nicht in deine Nähe kommt.«
Schaudernd nickte Jess. »Du brauchst mir nicht eigens zu sagen, dass ich Angst vor ihm haben muss. Ich habe panische Angst. Bist du dir sicher, dass er noch in Rom ist?«
»Absolut sicher.«
»Dann musst du mir helfen, die anderen davon zu überzeugen. Sie wollen mir nicht glauben. Sie halten mich für verrückt.«
Mitternacht war lang vorbei, als Carmella mit Jess die Treppe hinunter zu ihrem Auto ging. »Um diese nachtschlafende Zeit lasse ich dich nicht allein durch die Stadt laufen. Nicht, wenn jemand wie er sich da draußen herumtreibt.« Sie schloss den schmucken lila- und silberfarbenen Smart auf, der in der Nebenstraße hinter einer ganzen Batterie überquellender Mülltonnen mit der Schnauze direkt an der Wand geparkt stand. »Zu Kim sind es nur ein paar Minuten.«
Sie rasten durch die warmen Straßen, flitzten mit atemberaubendem Tempo durch Gässchen, vorbei an Pizzerien und Brunnen, geschäftigen Bistros und Trattorien, die alle in Flutlicht getaucht waren, und blieben schließlich vor dem Palazzo stehen. »Pass auf dich auf, cara mia, und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.« Carmella beugte sich zur Seite, um Jess rechts und links einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann öffnete sie die Beifahrertür und stieß sie auf. »Bis bald, ja? Ciao!«
Sie wartete mit laufendem Motor, bis Jess die Straße überquert hatte. Sobald sie die Tür aufgeschlossen hatte, winkte Carmella ein letztes Mal und raste davon.
Jess schloss die Tür hinter sich, blieb einen Moment im Foyer stehen und ließ die Stille des alten Gebäudes auf sich wirken. Sie war erschöpft. Eine Ewigkeit schien vergangen, seit sie das Haus am Morgen verlassen hatte. Sie ging über den Marmorboden auf die Treppe zu, um zu Kims Wohnung hinaufzusteigen, als aus der Dunkelheit eine Gestalt auf sie zutrat. »Guten Abend, Jess. Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr heimkommen.«
Sie wirbelte herum. »Daniel!«
»Genau der. Du hast dich mir in letzter Zeit eher entzogen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie sehr du dich früher immer gefreut hast, mich zu sehen.« Er lächelte.
Sie starrte ihn an. Er war unrasiert und ungewaschen, selbst aus mehreren Schritten Entfernung roch sie seinen Schweiß. »Daniel, ich dachte, du wärst wieder bei Nat.«
»Das bin ich auch.« Er grinste. »Jeder weiß, dass ich bei ihr und den Kindern in England bin. Das wirst du schon noch merken.« Er trat auf sie zu.
»Wie bist du an den Schlüssel gekommen?«
»Auf dieselbe Art wie du, denke ich mal.« Er verschränkte die Arme und schwieg kurz. »Kim hat in ihrer Küche offenbar Dutzende Ersatzschlüssel hängen. Sie ist viel zu großzügig, wenn es darum geht, Gästen Schlüssel zu ihrer Wohnung auszuhändigen. Nicht dass ich die Schlüssel noch habe. Ich habe sie nachmachen lassen und den Bund zurückgehängt, so dass sein Fehlen nicht auffällt.«
»Und was willst du jetzt tun?« Ihr Herz hämmerte wie wild, ihre Handflächen waren klamm. Haltsuchend griff sie nach dem massiven Endpfosten des Geländers, das sich in den ersten Stock hinaufschwang.
Er lächelte kalt. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.«
»Ich könnte schreien.«
»Das kannst du. Aber ich bezweifle, dass jemand dich hört. Nicht einmal Sir Galahad. Ich hab dich und William zusammen gesehen. Du liebst ihn immer noch, stimmt’s? Du hasst mich und liebst diesen dummen Schlappschwanz. Na, der kann dir jetzt auch nicht helfen, niemand wird dich hören, wenn du schreist. Die Wohnungen hier im Erdgeschoss stehen den Sommer über alle leer, und Jacopo schläft tief und fest, besoffen, wie er vermutlich ist. Und selbst wenn sie dich oben hören sollten, bis sie hier unten sind, wäre es schon zu spät.«
»Was meinst du mit zu spät?« Sie hatte einen Kloß im Hals.
Er lachte. »Was meine ich wohl damit? Vielleicht würdest du schon tot am Boden liegen, überfallen, ausgeraubt und ermordet in dieser ach so gefährlichen Stadt. Oder vielleicht würdest du ihnen erzählen, dass Daniel hier war und dich bedroht und angegriffen hat, obwohl gar nichts passiert ist und obwohl sie wissen, dass er in England ist und das beweisen kann. Sie würden den Kopf schütteln und seufzend einen Blick austauschen. Die arme Jess, bildet sich wieder alles Mögliche ein.«
»Dir macht dein verrücktes Spiel wohl richtig Spaß.« Sie umklammerte den Pfosten des Treppengeländers noch fester.
»Das stimmt.« Er lächelte. »Wenn du drohst, mein Leben zu ruinieren, kannst du nichts anderes erwarten, Jess.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht die geringste Absicht habe, dein Leben zu ruinieren.«
»Aber du wirst es trotzdem tun. Du hast William alles erzählt, stimmt’s? Hat er dir geglaubt? Besessen, wie er von dir ist, könnte er glatt so dumm sein und dir glauben. Irgendwann, irgendwie, wird’s rauskommen. Das ist ein Damoklesschwert, das ständig über mir schwebt, und du wirst den Rest meines Lebens Macht über mich haben.«
»Ich werde nicht …«
»Doch, ich glaube schon, Jess. Und das kann ich doch nicht zulassen, oder?« Mit ausgestreckter Hand trat er auf sie zu.
Vor Angst aufschreiend, wandte sie sich um und wollte die Treppe hinauffliehen, als jemand mit klappernden Schlüsseln die schwere Haustür hinter ihnen öffnete.
Daniel wirbelte herum. Ohne abzuwarten, wer da hereinkam, rannte er zur Tür, stieß den Ankömmling beiseite und floh nach draußen.
Unter einem Schwall italienischer Flüche torkelte Jacopo ins Foyer. »Che cosa?« Mit rot geränderten Augen schaute er sich um. »Signora?« Die Haustür stand offen, Daniel war in die Nacht hinaus verschwunden. Der alte Mann stieß die Tür zu. Er konnte sich kaum aufrecht halten.
Jess atmete tief durch und versuchte, ihren dröhnenden Herzschlag etwas zu beruhigen. Langsam drehte sie sich wieder zur Treppe um. »Buonanotte, Jacopo!«, rief sie. Er schlurfte durchs Foyer zur Tür in der Ecke, die in seine Hausmeisterwohnung führte, ohne Jess zu hören.
Irgendwie gelang es ihr, sich die Stufen hinaufzuschleppen und die Wohnungstür aufzuschließen. Sorgsam schloss sie sie hinter sich wieder ab. Alles war dunkel, die anderen hatten nicht auf sie gewartet. Mehrere Sekunden starrte sie die Wohnungstür an, schließlich entdeckte sie den Riegel und schob ihn vor. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer.
Sie hatte den Raum halb durchquert, als die Nachtischlampe anging und William sich im Bett aufsetzte. »Guter Gott, Jess!«
»O mein Gott!« Jess blieb mit wild klopfendem Herz stehen. »O William, das tut mir wirklich leid. Ich hatte ganz vergessen, dass wir die Zimmer getauscht haben.«
Er grinste und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Kein Problem. Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt, als er ihr blasses Gesicht sah.
»Daniel war unten. Im Haus. Er hat Kims Schlüssel nachmachen lassen.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Mist.« William stieg aus dem Bett. Er war nackt. Sie lächelte wehmütig, als er sich umdrehte und mit dem Rücken zu ihr in eine Jeans schlüpfte.
»Und wo ist er jetzt?«, fragte er, während er sich ein T-Shirt über den Kopf streifte und wieder zu ihr umwandte.
»Keine Ahnung. Zum Glück ist der Hausmeister heimgekommen. Daniel hat ihn zur Seite geschubst und ist nach draußen geschossen. Er ist längst über alle Berge. Ich glaube, er lebt unter den Brücken. Er war unrasiert und hat gestunken. Er ist überzeugt, dass ihr alle glaubt, er sei wieder bei Nat in England, und ihr mich alle für verrückt haltet.« Müde fuhr sie sich übers Gesicht. »Vielleicht bin ich ja auch verrückt. Was soll ich bloß tun, William?«
Er setzte sich ans Fußende des Bettes. »Vielleicht solltest du einfach nach England zurückfahren. Und er bleibt hier und spielt seine dummen Spielchen weiter.«
Sie starrte ihn fassungslos an. »Und was ist mit Eigon?«
Er seufzte. »Was mit Eigon ist? Jess, du hast sie zuerst in Wales gesehen. Kannst du mit deinen Nachforschungen, oder wie immer du es nennen magst, nicht genauso gut dort weitermachen?« Leicht ungehalten schüttelte er den Kopf. »Ist sie wirklich so wichtig? Im Vergleich zu deiner Sicherheit?«
Sie nickte heftig. »Doch, das ist sie. Ich kann’s nicht erklären, aber so ist es nun mal. Ich will nicht nach Hause, William. Nicht jetzt.«
Er seufzte wieder. »Also, das Wichtigste ist, dass du jetzt erst einmal in Sicherheit bist. Geh schlafen, Jess, und dann reden wir morgen früh weiter, ja?«
»Er hat gesagt, keiner von euch würde mir glauben, dass ich ihn gesehen habe.«
»Ich glaube dir.«
Sie nickte bekümmert, dann ging sie zur Tür, schaute aber noch einmal über die Schulter zurück. »Danke, dass du hier bist, William.«
»Gern geschehen!«
»Bis morgen.«
Er nickte.
 
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging William zum Fenster und schaute nachdenklich in die Dunkelheit hinaus.
Die Gestalt, die unten im Garten stand, schaute zu ebendem Fenster hinauf, obwohl William sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Vor Zorn verengten sich Daniels Augen, als er seine Silhouette im Fenster sah. Jetzt schlief der Mistkerl also schon wieder bei ihr im Bett. Leise fluchend ging er auf Zehenspitzen zum Tor, schloss es hinter sich ab und lief die Gasse entlang zur Straße. Dort hielt er inne, ein böses Lächeln überzog sein Gesicht. Dann machte er wieder kehrt. So leise wie möglich schlich er über den Rasen und die Kieswege zu dem Beet unter Jess’ Fenster und bückte sich nach der Leiter.
 
Völlig überraschend erschien Aelius in heller Aufregung vor Cerys und ihrem Gemahl, als die beiden am späten Morgen mit Pomponia Graecina der warmen Oktobersonne am Brunnen saßen. Einen Moment blieb der Haushofmeister respektvoll in der Tür stehen und überlegte sich, wie er auf sich aufmerksam machen sollte, dann trat er unaufgefordert vor Caratacus, zu aufgelöst, um sich noch länger zurückhalten zu können.
»Herr, die beiden jungen Herrinnen sind gestern weggegangen.« Bekümmert rang er die Hände. »Und sie sind abends nicht zurückgekommen.«
Caratacus sah bestürzt zu seinem Haushofmeister auf, das Blut wich ihm aus den Wangen. »Was meinst du damit, sie sind weggegangen?«
»Sie wollten zum Markt, zu den Seidenverkäufern, und dann weiter zum Goldschmied, der hinter der Via Sacra wohnt.« Aelius warf einen Blick zu Pomponia. »Mein Sohn Flavius hat sie begleitet, zusammen mit zwei Sklaven. Eigentlich kann ihnen nichts zugestoßen sein.« Mittlerweile hatten alle vom Aufruhr der vergangenen Nacht gehört.
Mit einem kleinen Aufschrei sprang Cerys auf. »Eigon hätte die Villa nicht verlassen dürfen. Sie weiß genau, dass sie nicht nach draußen darf!«
»Seid zuversichtlich, Herrin.« Melinus trat vor. »Ich bin mir sicher, dass ihnen nichts passiert ist.«
Pomponia Graecina, die vor einer Weile gekommen war, um Caratacus eine neue Schriftrolle zu lesen zu bringen, verzog ärgerlich das Gesicht. »Julia ist wirklich saumselig! Sie weiß genau, dass Eigon nicht ohne richtigen Begleitschutz in die Stadt darf! Aber sie ist einfallsreich.« Das musste sie auch sein, um Cerys’ Verbot zu umgehen. »Vielleicht haben sie beschlossen, in der Stadt zu übernachten. Flavius ist ein verantwortungsbewusster junger Mann. Als er den Ärger auf der Straße bemerkte, hat er die beiden bestimmt in Sicherheit gebracht.«
»Vielleicht haben sie bei Euch übernachtet«, sagte Caratacus nachdenklich und schaute sie hoffnungsvoll an. »Euer Haus liegt viel näher am Stadtzentrum.«
Pomponia schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Wir kommen gerade von dort. Sie waren nicht da.«
»Dann müssen wir wohl einen Suchtrupp ausschicken«, entschied Caratacus. Sein Gesicht wurde mit jeder Minute fahler, seine Stimme schwächer; die Aufregung raubte ihm die letzte Kraft. »Kümmere dich darum, Aelius!«
»Sofort, Herr!« Aelius zog sich zurück.
»Cerys, hör auf zu weinen!«, befahl Caratacus und schaute zornig zu seiner Gemahlin. »Ich habe nie verstanden, weshalb du Eigon verboten hast, das Haus zu verlassen. Das ist jetzt das Ergebnis. Das ist allein deine Schuld. Sie glaubte, heimlich in die Stadt gehen zu müssen, und hat keine richtige Eskorte mitgenommen. Aelius wird teuer dafür bezahlen! Er hätte nie zulassen dürfen, dass so etwas passiert!«
Mit Tränen in den Augen sah Cerys zu ihrem Gemahl. Sie konnte ihm weder den Grund für ihr Verbot erklären noch worin die Gefahr für Eigon genau bestand. Niemand kannte das Geheimnis, das sie mit Eigon teilte, und niemand durfte je davon erfahren. Aber das bedeutete auch, dass sonst niemand von dem Mann wusste, der in der Stadt lebte und gedroht hatte, ihre Tochter zu töten. Cerys schauderte. Sie und Eigon hatten seit ihrer Ankunft in der Villa vor all den Jahren nie mehr über die Gefahr gesprochen, und doch wusste Cerys, dass sie nach wie vor bestand. Sie spürte es. Augen beobachteten sie, Augen wie die einer Katze, die mit unendlicher Geduld vor dem Mauseloch darauf wartet, zuzuschlagen. Warum der Mann so lange wartete, war ihr unklar, doch irgendwoher wusste sie, dass er noch dort draußen war und sie beobachtete.
Die kleine Schar wurde am späteren Vormittag von Julius Marinus Publius und einer ganzen Reihe Diener seines Großvaters zur Villa begleitet, und nachdem den Rettern gebührend gedankt worden war und sie sich verabschiedet hatten, mussten Eigon und Flavius den Zorn Cerys’ und Caratacus’ über sich ergehen lassen. Julia zog sich in ihr Zimmer zurück und wartete, bis sich die Wogen geglättet hatten.
Eigon war noch bei ihrer Mutter und versuchte verzweifelt, sie zu beruhigen, als einer der Haussklaven kam und nach Aelius fragte. Im Obstgarten war Vulpius’ Leiche gefunden worden. Sie hatten ihm die Kehle durchtrennt und ihn über die Mauer geworfen.
Entsetzt schaute Aelius auf den verstümmelten Leichnam, dann ließ er seinen Sohn holen. Er war außer sich vor Wut. »Wie oft bist du mit Prinzessin Eigon und Herrin Julia in der Stadt gewesen?«, fragte er.
»Sehr oft, Vater. Es hat nie die geringste Gefahr bestanden. Niemand hat uns je bedroht. Uns ist nichts passiert.« Flavius war weiß wie ein Leintuch.
»Das ist eine Warnung«, sagte Aelius. Vor Zorn sprach er sehr leise, seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Sie wussten, woher er kommt. Wer immer das getan hat, beobachtet dieses Haus.«
»Aber warum, Vater?« Flavius tat sein Bestes, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Der Aufruhr hatte nichts mit uns zu tun. Der Plebs randaliert doch ständig aus dem einen oder anderen Grund. Der Kaiser und seine Freunde haben die Menschen wieder aufgewiegelt!«
»Wirst du den Mund halten, du dummer Junge!« Besorgt warf sein Vater einen Blick über die Schulter, obwohl sie mittlerweile allein im Obstgarten standen. Der Leichnam war fortgetragen worden. »Ich will dich so etwas nie wieder sagen hören. Mauern haben Ohren.«
Flavius biss sich auf die Lippe. Der Anblick des Toten hatten ihn mehr erschüttert, als er sich eingestehen wollte. »Sie wollten uns doch nur überfallen, weil sie uns vom Goldschmied kommen sahen und dachten, wir hätten etwas Wertvolles dabei. Deswegen haben sie uns angegriffen. Der arme Vulpius hatte nichts bei sich, das sich zu stehlen lohnte.«
Aelius verzog das Gesicht. Möglicherweise hatte sein Sohn Recht. Aber ebenso möglich war, dass mehr hinter dieser Sache steckte. Woher etwa hatten die Mörder gewusst, dass Vulpius zu dieser Villa gehörte? Er war ein Sklave und hatte nichts bei sich gehabt, anhand dessen er hätte identifiziert werden können. In diesem Haushalt trugen die Sklaven keinen an ihre Kleidung genähten Anhänger mit ihrer Adresse und dem Namen ihres Besitzers. War er gefoltert worden, um seinen Häschern Information preiszugeben, und wenn ja, welche Art von Information? Aelius seufzte. Dem Anschein nach gehörte diese Villa Caratacus, der dem Haushalt vorstand und dem alle die Achtung bezeugten, die einem großen Mann gebührte. Letztlich jedoch war er ein Gefangener, auch wenn niemand sich mehr daran erinnerte. Niemand, nicht einmal Aelius’ Gemahlin oder sein Sohn, wusste, dass Aelius, als er seine Arbeit in diesem Haushalt angetreten hatte, beauftragt worden war, laufend Bericht über den König zu erstatten. Nachdenklich ging er zum Haus zurück. Ein kranker, willfähriger Mann hatte für den Kaiser keine Gefahr dargestellt. Doch wenn sich Caratacus’ Verhalten in irgendeiner Weise veränderte, hatte Claudius angeordnet, auf der Stelle darüber informiert zu werden. Zweifellos würden Neros Berater es ebenso halten.
 
»Was hast du deiner Mutter gesagt?« Julia erschien, sobald Eigon wieder allein war.
»Nur dass wir zum Goldschmied gehen wollten.«
»War sie wütend?«
»Ja, sie war sehr wütend.« Eigon war am Boden zerstört. Wütend war kein Wort für die Reaktion ihrer Mutter auf das, was passiert war, zumal sie außerdem zur Kenntnis hatte nehmen müssen, dass ihre Tochter sich ihren Anweisungen seit Jahren widersetzte. Die Nachricht vom Tod einer ihrer Sklaven war Caratacus verschwiegen worden, der sich mit Fieber ins Bett zurückgezogen hatte. In der Gegenwart ihres Gemahls hatte Cerys ihre Gefühle mühsam beherrscht, doch sobald sie mit ihrer Tochter allein war, hatte sie ihnen freien Lauf gelassen. »Ich schicke Julia fort!«, schrie sie. »Sie hat nichts als schlechten Einfluss auf dich! Wie konntest du nur so gedankenlos sein? Bedeutet deine Sicherheit dir denn gar nichts?«
»Aber, Mama, mir ist doch nie etwas passiert!«
»Ich verbiete dir, das Haus jemals wieder zu verlassen, hörst du? Nicht einmal in den Obstgarten darfst du gehen. Draußen vor den Mauern sind Leute, die uns beobachten. Verbrecher. Wer weiß, in wessen Auftrag sie das tun.«
Unvermittelt brach sie in Tränen aus, und Eigon nahm sie in die Arme. »Ist ja gut, Mama, bitte weine nicht. Es tut mir leid, dass ich dir solche Sorgen gemacht habe. Und ich tu’s nie wieder, das verspreche ich dir.«
An der halb geöffneten Tür klopfte es leise, und Cerys schob Eigon von sich. Der Moment der Vertrautheit war vorüber.
»Herrin?« Es war Melinus. »Ich suche nach Eigon. Es ist Zeit für ihren Unterricht.« Er kam ihr zur Rettung.
»Natürlich.« Cerys schniefte und straffte die Schultern. »Eigon, geh mit ihm. Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.«
Betreten folgte Eigon ihrem Lehrer nach draußen. Als sie sich an ihren Studiertisch setzten, betrachtete er sie mit gerunzelter Stirn. Da es Herbst wurde und der Abend immer früher hereinbrach, arbeiteten sie um diese Zeit nicht mehr im Garten. »Und was ist wirklich passiert?« Seine Stimme war freundlich, aber seine Augen blickten streng.
Nachdem sie ihm alles erzählt hatte, lehnte er sich nachdenklich zurück und schwieg eine Weile. Als er schließlich etwas sagte, war es etwas völlig anderes, als Eigon erwartet hatte.
»Wie seltsam, dass ihr ausgerechnet bei Christen Unterschlupf gefunden habt. Die Herrin Pomponia Graecina und ich waren bei mehreren Christentreffen. Wir haben ihren Lehrer Petrus gehört.«
Erstaunt sah Eigon ihn an. »Aber du glaubst doch nicht an ihren Gott, oder? Einen einzigen Gott, wo wir doch wissen, dass es in jedem Fluss und Berg und Wald einen Gott gibt.«
Bedächtig schüttelte er den Kopf. »Ihr Gott, von dem ich glaube, dass es der Gott der Juden ist, nur in sanfterer Gestalt, ist ein mächtiger Gott, und Petrus hat mich mit seinem Wissen und seiner Wortgewalt beeindruckt. Vieles von dem, was er sagt, ist bedenkenswert. Er kannte diesen Jesus, sie waren Freunde und sind zusammen durchs Land gezogen. Eines Tages würde ich gern selbst mit den Menschen reden, die du kennengelernt hast, aber momentan sei froh darüber, dass sie hilfsbereit und gastfreundlich waren. Ihr hättet in der Situation keine besseren Helfer finden können.«
Sie runzelte die Stirn. »Wir wurden gerettet, aber wir haben den Tod eines Mannes verursacht.«
»Nein, Prinzessin, für Vulpius’ Tod ist der Mann verantwortlich, der ihn ermordet hat. Aber er ist in euren Diensten gestorben, und deshalb sollten wir sein Gedächtnis ehren.« Er seufzte. Seine Intuition sagte ihm, dass es bei diesem Mord um mehr ging als nur um einen versuchten Raubüberfall oder gar die Gewalttätigkeit einer aufgebrachten Menge. Mittlerweile wussten in der Villa alle von dem Toten, der über die Mauer geworfen worden war, und alle ahnten, dass es eine Botschaft war. Aber an wen war sie gerichtet, und was sollte sie besagen? Melinus zog einen Berg Schriftrollen zu sich. Jetzt wollte er den Unterricht beginnen. Eigon brauchte Ablenkung. Es gefiel ihm gar nicht, wie verstört sie aussah. Gleichgültig, was er sagte, sie würde sich wegen Vulpiusʹ Tod Vorwürfe machen, während die unbekümmerte Julia vermutlich keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendete.
 
Als William unten im Garten eine Bewegung wahrnahm, kniff er die Augen noch mehr zusammen. Hinter den halb geöffneten Läden versteckt, schaute er hinaus. War noch immer jemand dort? Mit zwei Schritten war er beim Schalter und knipste das Licht aus, denn schlich er zum Fenster zurück. Zuerst konnte er in der Dunkelheit nichts ausmachen, doch dann erkannte er eine Gestalt, die direkt unter seinem Fenster auf dem Kiesweg stand. Er sah auch ein blasses, rundes Gesicht, das nach oben gerichtet war, die Züge waren aber nicht zu erkennen. Trotzdem war William überzeugt, dass Daniel dort stand. Wer sollte es sonst sein? Das Gesicht verschwand, die Gestalt wurde kleiner. Sie bückte sich, suchte nach etwas - vielleicht nach der Leiter, die dort versteckt war? William lächelte finster. Wenn Daniel zum Fenster hinaufstieg, würde er eine böse Überraschung erleben. Schweigend wartete er. Nichts. Vorsichtig sah er wieder nach unten. Die Gestalt war zu einer anderen Stelle gegangen. William hörte das Rascheln von trockenem Laub, dann einen unterdrückten Fluch, und da wusste er, was passiert war. Die Leiter war nicht mehr da. In dem Fall war es vielleicht an der Zeit, dass er nach unten ging und sich Daniel zur Brust nahm.
Er schlüpfte in die Schuhe, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Im Flur herrschte absolute Stille. Gut. Was er Daniel zu sagen hatte, wollte er ihm unter vier Augen sagen, dafür brauchte er keine Zeugen. Mit geballten Fäusten schlich er zur Wohnungstür hinaus und ging auf seinen Gummisohlen leise die Treppe hinunter. Das war das Mindeste, was er für Jess tun konnte.
Auch auf der Straße war es ruhig geworden. William sah sich um und ging dann die Hauswand entlang in die Richtung, in der er den Eingang zum Garten vermutete. Als er die Ecke erreichte, zögerte er, drückte sich eng an die Mauer und versuchte, in die Finsternis der Gasse zu spähen, die zwischen den beiden Häusern hindurchführte. Nichts war zu sehen. Er lauschte. Hörte er da ganz leise ein rostiges Scharnier quietschen? Er schob sich ein Stück weiter die Mauer entlang. Am anderen Ende der Gasse würde ein Tor sein. Hatte Daniel den Garten schon verlassen? Wartete und lauschte er ebenfalls? William hielt den Atem an.
Nichts. Das Einzige, was er hörte, war sein eigener Herzschlag. Da! Bewegte sich nicht etwas? War das ein leiser Schritt? Jemand, der sich ihm näherte?
Seine Muskeln waren angespannt, er war bereit. Das Geräusch erstarb. William schob sich noch weiter zur Ecke vor. Ein paar Zentimeter noch, dann würde er richtig in die Gasse sehen können.
Und plötzlich wurde er von Armen gepackt, zuerst von hinten, dann wie von allen Seiten. Jemand nahm ihn in den Würgegriff, er hörte ein atemloses Keuchen. »Ah ja, Sir Galahad, du hast wohl gedacht, ich könnte dich nicht sehen, wie?« Der Griff wurde noch fester, William merkte, dass ihn eine Woge blinder Wut erfasste. Er war derjenige, der Sport trieb und fit war, und trotzdem war er machtlos. Er bekam keine Luft mehr. Sein Kopf wurde nach hinten gedrückt, einen Moment sah er Daniels Gesicht, keine fünf Zentimeter von seinem entfernt. »Und, William, was hast du vorgehabt? Ihren Ruf retten? Ihr Leben?« Daniel lachte gehässig. »Dich edelmütig als Opfer anbieten?« Er drückte noch fester zu. William sah Sterne. Verzweifelt krallte er sich in Daniels Arm, dann wurde alles schwarz.
Die Tochter des Königs
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