Kapitel 11
Voller Kummer drückte Eigon ihr
Gesicht ins Kissen, um ihr Weinen zu ersticken. Von draußen drangen
die Geräusche der großen Stadt zu ihr. Das Rattern der Wagenräder
im ersten Morgengrauen, die Rufe der Straßenverkäufer und in der
Ferne das tiefere, sonore Dröhnen der Menschenmengen, die sich
versammelten. Heute war ein Tag der Festlichkeiten und des
Triumphs. Zur Feier seiner Erfolge würde der Kaiser in einer
Prozession durch die Straßen Roms ziehen. Ihm würden Symbole seiner
ruhmreichen Siege folgen, Schätze aus Gold und Edelsteinen, üppig
geschmückte Pferde, Jagdhunde mit reich verzierten Halsbändern,
Waffen und vor allem seine Gefangenen aus Gallien und Britannien.
Und der Bedeutendste unter diesen Gefangenen war König Caradoc, ihr
Vater, mit seiner Frau und seiner Tochter. Mit lautem Klappern
wurde die äußere Gefängnistür geöffnet, dann hörte Eigon Männer
rufen. Sie schauderte. Jetzt kamen sie zu ihnen. Mit Ketten, um sie
an den Hand- und Fußgelenken zu fesseln. Und nach der Prozession
würden sie auf die sandige Arena gezerrt und getötet werden. Ihre
Mutter und ihr Vater hatten versucht zu verhindern, dass Eigon von
ihrem Schicksal erfuhr, aber sie hatte heimlich die geflüsterten
Unterhaltungen belauscht. Sie hatte das grausame Lachen der
Wachposten und ihre Gespräche gehört, hatte ihre lüsternen Blicke
gesehen, als
sie debattierten, wie lange die schöne Gemahlin des britischen
Anführers wohl brauchen würde, um zu sterben.
»Wir sind stolz, wir sind Fürsten«, hatte ihr Vater
ihr am Abend zuvor noch einmal eingeschärft. »Wenn die Götter uns
den Tod bestimmt haben, dann werden wir ihm mit Würde und Mut
begegnen. Denk an dein nächstes Leben, mein Kind. Dieses ist nur
eines von vielen. Die Schmerzen sind rasch vorbei, und dann stehen
dir noch viele Leben bevor.« Er hatte sie an sich gezogen und auf
den Scheitel geküsst. »Morgen werde ich stolz auf dich sein, Eigon.
Du wirst mit erhobenem Haupt durch die Straßen gehen und den
Menschen von Rom zeigen, dass wir nicht die unwissenden Tölpel
sind, für die sie uns halten. Wir sind vornehm und gebildet und so
gut wie sie. Besser noch. Sie haben in ihrem Eroberungsdrang die
Verbindung zu den Göttern des Landes verloren. Ihre Stadt mag
riesige Ausmaße haben, es mag Abertausende von Menschen hier geben,
aber wenn ihr Geist ermattet und ihre Seelen sich verirren, sind
sie nichts im Vergleich zu uns. Vergiss das nicht, meine Tochter.«
Über ihren Kopf hinweg hatte er zu Cerys geblickt und mit trauriger
Resignation gelächelt.
Der Lärm der Marschierenden hallte durch die
Steinmauern, und Eigon verkroch sich noch tiefer unter der Decke.
Sie hörte einen gebellten Befehl, hörte Männer abrupt stehen
bleiben, das metallische Aufstampfen ihrer genagelten Stiefel, als
sie Haltung annahmen, und aus der Nähe einen knappen Bericht über
den Zustand der Straßen.
Ein Schatten fiel auf ihr Bett. »Eigon, es ist Zeit
aufzustehen.« Es war ihre Mutter. Cerys war blass, aber gefasst,
während sie wartete, bis Eigon aus dem Bett stieg. Neue Kleider
waren ihnen gebracht worden. Cerys lächelte gequält. »Je prächtiger
wir aussehen, desto größer ist der Triumph des Kaisers, uns besiegt
zu haben«, sagte sie bitter.
»Schau, sie haben uns wunderschöne Tuniken und Umhänge gebracht,
sogar Goldreifen. Und sie nennen deinen Vater König.«
»Ich weiß nicht, wie tapfer ich sein kann, Mama«,
wisperte Eigon, während sie die Tunika über den Kopf streifte. »Ich
versuche mein Bestes.« Sie gürtete sich mit einem geflochtenen Band
und streckte dann die Arme aus, um in den Umhang zu schlüpfen. Er
war eine kleine Version des Umhangs, den ihre Mutter trug.
»Das weiß ich, mein Herz.« Cerys zog sie an sich.
»Du wirst uns alle Ehre machen. Dein Vater ist davon überzeugt.«
Draußen ertönte ein Ruf, eine Tür fiel knallend zu. Eigon schmiegte
sich noch enger an ihre Mutter. »Wird es wehtun? Getötet zu
werden?«
Cerys schüttelte resolut den Kopf. »Nein. Die
Götter werden dir Kraft und Trost schenken.«
Die Ketten brachten sie erst im letzten Augenblick.
Es waren Handfesseln und Halsringe, wie auch die Sklaven sie
trugen. Dann wurden sie nach draußen geführt an ihren Platz im
Prozessionszug, der auf dem Exerziergelände der Kaserne Aufstellung
nahm. Eigon stockte der Atem, sie klammerte sich an die Hand ihrer
Mutter. Von ihrem Vater war nichts zu sehen. Hunderte von
Gefangenen wurden aus den Kerkern geführt, sie waren barfuß,
abgemagert, stanken nach Kot. Krieger, Grundbesitzer, Bauern, die
dem Gemetzel irgendwie entkommen waren. Alle wurden von den
römischen Wachposten, die freizügig von ihren Schwertern und
Peitschen Gebrauch machten, in Reih und Glied gebracht. Auch
Adelige der Stämme waren unter den Gefangenen, einige so vornehm
gekleidet wie Eigon und Cerys, andere von Wunden oder Krankheiten
entstellt. Und sie alle waren gefesselt. Die Spitze des Zugs
bildeten Trompeter, Würdenträger in Triumphwagen, Karren voll
erbeuteter
Schätze, zwischen die Gefangenen mischten sich Reitergruppen, und
überall waren die Legionäre und Hilfstruppen des römischen Heers.
Eigon und Cerys hörten den triumphierenden Ruf der Trompete und
wussten, dass sich die Spitze des langen Zugs in Bewegung setzte.
Es dauerte sehr lange, ehe auch sie Hand in Hand losmarschierten.
Langsam, feierlich zog die Prozession durch die gaffenden
Menschenmengen auf das Zentrum von Rom zu.
»Wo ist Papa?« Eigon schaute zu ihrer Mutter
hoch.
Cerys machte eine ausweichende Geste. »Ich kann ihn
nicht sehen.« Ihr Gesicht war blass, aber sie hielt sich aufrecht,
die Schultern gestrafft, den Kopf hoch erhoben. Eigon biss sich
tapfer auf die Lippen und versuchte, es ihrer Mutter gleichzutun.
Sie wollte ihre Eltern nicht enttäuschen.
Die Prozession wand sich durch enge Straßen,
gesäumt von hohen Gebäuden, wie Eigon sie noch nie zuvor gesehen
hatte. Einige Häuser waren aus Holz, andere aus Ziegel oder Stein,
aber alle waren viele Stockwerke hoch, manche hatten Balkone,
Fenster und Fensterläden, andere nur blanke Mauern. Sie passierten
Tempel und Märkte, Gärten, Villen und Theater und gelangten
schließlich auf das gewaltige Forum, auf dem noch größere Gebäude
als alle bisherigen standen. Das gleißende Licht brannte sengend
heiß auf sie herab. Die Gebäude ragten schier bis in den Himmel,
die Tempel bestanden aus reinem Marmor, die Säulen bildeten einen
hoch aufragenden schimmernden Wald, auf den breiten, symmetrischen
Treppenfluchten saß in drangvoller Enge die Bevölkerung Roms. Eigon
erstarrte fast vor Ehrfurcht. Endlich kamen sie zum Stehen, direkt
vor dem Podium, auf dem Kaiser Claudius und seine Gemahlin
Agrippina mit ihrem Gefolge unter den Standarten Roms saßen. Rund
um sie her waren die Gefangenen, umgeben von Tausenden johlenden
Zuschauern, auf die Knie gesunken. Viele
von ihnen weinten. Einige flehten bereits um ihr Leben, während
andere, wie ihre Mutter, stolz und aufrecht dastanden, ohne den
Kopf zu beugen, als sie vor den Kaiser geführt wurden. Erst da sah
Eigon auch ihren Vater. Er war von zwei Männern mit gezücktem
Schwert durch die Reihen der Gefangenen bis vor das Podium geführt
worden, so dass er zum Kaiser hinaufblicken musste. Wie ihre Mutter
gesagt hatte, war er wie ein König gekleidet, und mit seiner
stolzen Haltung und seiner ruhigen Miene betrachtete er den Mann
über sich mit einer stillen Würde, der auch Halsring und Ketten
keinen Abbruch taten. Wenn überhaupt, dann war es Claudius, der
etwas unsicher wirkte.
»Habt Ihr etwas zu sagen, ehe wir Euch als Verräter
verurteilen, die sich so lange der Macht Roms widersetzt haben?«
Claudius’ Stimme übertönte kaum das Lärmen der Menge, und durch
sein leichtes Stottern klang sie wenig gebieterisch, doch die
Senatoren in seiner Umgebung hörten ihn, ebenso wie die Männer, die
Caratacus am nächsten standen.
Er trat einen Schritt vor, und allmählich
verstummten die Menschen. Seine Wachposten wichen respektvoll
zurück. Caratacus drehte sich um und bedeutete Cerys und Eigon, zu
ihm zu kommen. Deren Bewacher traten ebenfalls zurück, Mutter und
Tochter gingen nach vorne und stellten sich rechts und links an
seine Seite.
»Großer Kaiser, ich stehe als Euer Gefangener vor
Euch«, begann Caratacus langsam. »Doch ich stehe hier auch als
König meines Volkes. Ein Mann meines Geblüts und meines Ansehens
wäre nach nur einem Bruchteil der Triumphe, die ich gefeiert habe,
als geehrter Gast in Rom empfangen worden anstatt als Gefangener,
und Ihr hättet Euch glücklich geschätzt, der Verbündete eines
derartig mächtigen Königs zu sein. Ich war der Herrscher, der Rom
besiegte
und in die Schranken wies!« Er machte eine Pause. Im großen Forum,
gerahmt von zwei Hügeln und umgeben von prachtvollen Bauten,
herrschte absolute Stille, selbst die Zuschauer in den hintersten
Rängen verrenkten den Hals, um seine Worte zu verstehen. »Nun seid
aber Ihr der Sieger, und ich bin derjenige, der gedemütigt wurde.
Ich besaß Pferde und Männer, Waffen und Wohlstand. Verwundert es
Euch, dass ich deren Verlust bedauere? Ihr wollt die Welt
beherrschen, doch das bedeutet nicht, dass jeder andere sein Leben
als Sklave beenden möchte! Und hätte ich mich Euch ohne Schlacht
ergeben, wäre weder meine Niederlage noch Euer Sieg ruhmvoll.« Er
lächelte feierlich und hob ein wenig fragend die Augenbrauen,
während er dem Blick des Kaisers begegnete. »Wenn Ihr mich und
meine Familie hinrichtet, werden wir alle vergessen sein. Schont
Ihr unser Leben, werden mein Volk und ich in alle Ewigkeiten ein
Symbol Eurer Gnade sein!«
Als er geendet hatte, breitete sich atemlose Stille
über die Menge. Erst nach einer ganzen Weile erhob Claudius sich
und trat an den Rand des Podiums. Er sah sich um, kniff die Augen
vor der Sonne zusammen, seine Toga wehte in der leichten Brise,
dann schließlich richtete er den Blick auf Caratacus.
»Ihr seid ein beredter Gegner, König Caratacus. Und
ein mutiger.« Jetzt, da völlige Stille im dicht besetzten Forum
herrschte, trug seine Stimme weiter. »Ich bin geneigt, Eurem
Ansinnen stattzugeben und Euch zu schonen.«
Die gespannte Stille währte noch einen Moment, dann
ging langsam ein Seufzen durch das Meer kniender Gefangener. Die
Zuschauer griffen es auf, dann jubelte jemand. Zuerst stimmten die
nächsten Umsitzenden in die Jubelrufe ein, dann fielen nach und
nach alle Reihen in den Chor ein, bis das ganze Forum von
ohrenbetäubendem Freudenrufen
erfüllt war, die durch die gesamte Stadt zu hallen schienen.
Claudius ließ die Menge lange Zeit gewähren, ein
leichtes Lächeln spielte um seine Lippen; dass seine Worte Anklang
fanden, missfiel ihm nicht. Schließlich bat er mit erhobener Hand
um Ruhe. Als endlich wieder Stille einkehrte, trat er einen
weiteren Schritt vor. »Ich verlange Eure Huldigung, großer König.
Und die Eurer Gemahlin und Eurer Tochter.« Bei den letzten Worten
blickte er Eigon direkt in die Augen.
Vor Angst stockte ihr der Atem. Sie spürte, dass
ihr Vater zögerte, mit seinem Stolz rang, und sie drückte seine
Hand und schaute flehentlich zu ihm hoch. Auch Claudius bemerkte
es. Er wollte nicht, dass ihm dieser Moment des Triumphs durch den
wahnwitzigen Mut dieses Mannes genommen wurde. »Eure Huldigung,
großer König, und Eure Familie und Euer Volk lebt. Sonst sind sie
alle des Todes.« Die Drohung und die Macht, die in seiner Stimme
lagen, waren jetzt nicht zu überhören. Seiner vielen Schwächen zum
Trotz besaß Claudius, wenn es geboten war, große Autorität.
Caratacus holte tief Luft. »Löst unsere Ketten, und
ich knie vor Euch als freier Mann.«
Claudius senkte den Kopf, und auf ein
Fingerschnippen hin erschienen Männer, die die Ketten entfernten.
Caratacus bewegte prüfend die Finger und stieg dann auf das Podium.
Er nahm die Hand des Kaisers in seine, sank auf ein Knie und küsste
den Ring. »Und jetzt huldigt Ihr meiner Gemahlin.« Claudius deutete
auf Agrippina, die neben ihm saß. Caratacus hob die Augenbrauen,
widersprach aber nicht, sondern ergriff ihre Hand, ohne zu
bemerken, wie die Senatoren und die anderen Gefolgsleute des
Kaisers missbilligend die Stirn runzelten. Cerys und Eigon traten
ebenfalls auf das Podium, um vor Tausenden von Zeugen dem Kaiser
Roms zu huldigen. Als Eigon zurücktreten wollte, spürte sie seine
Hand auf ihrem Scheitel. Verängstigt schaute sie hoch und begegnete
seinem Blick zum zweiten Mal. Dieses Mal lächelte er.
Doch der Tag war noch nicht vorüber. Als die
Menschen aus dem Forum strömten, zogen sich die Männer auf dem
Podium in den Senat zurück, und dorthin wurden auch Caratacus und
seine Familie gebracht, damit sie ihre Ergebenheit gegenüber Rom
bekräftigen und Caratacus vor dem Senat sprechen konnte. Und hier
erfuhren sie auch, dass der Kaiser ihnen ein Haus schenkte, in dem
sie leben sollten.
Cerys warf einen Blick zu ihrem Mann. Mit
ausdrucksloser Miene senkte er den Kopf. Willigte er in seine
Niederlage ein, in ein Leben, das im Grunde das eines Gefangenen
sein würde? Sie konnte es nicht sagen. Aber zumindest für heute war
alles vorbei. Die Ketten waren entfernt, ihr Gefolge war
freigesetzt worden, um ihnen zu dienen. Als der Senat sich erhob
und Claudius stehend Beifall zollte, hatten sie ihre Aufgabe
erfüllt. Sie wurden aus dem Senatsgebäude in die gleißende Sonne
hinausgebracht. Die Menschenmengen zerstreuten sich, der große Tag
war vorbei. Sie waren frei.
Auf dem Weg zu ihrem neuen Zuhause suchte Eigon die
Hand ihrer Mutter, sie konnte kaum fassen, dass ihr Leben verschont
worden war. Sie war noch blass, ihre Augen ganz groß in ihrem
schmalen Gesicht. Cerys schaute zu ihr. »Mama.« Eigon drückte ihre
Hand. »Mama, ich muss dir etwas sagen.«
»Mein Herz, es ist alles vorbei. Du brauchst keine
Angst mehr zu haben.«
Eigon sah verständnislos zu ihr hoch. »Vor
nichts?«
»Nein, meine Tochter, vor gar nichts.« Lächelnd
schaute Cerys zu ihrem Mann. Sein Gesicht war ausdruckslos, er
hatte das Gespräch offenbar nicht gehört. »Du brauchst dir
keine Sorgen mehr zu machen. Wir können alles vergessen und ein
neues Leben anfangen.«
Eigon nickte wortlos. Sie hatten ihr gesagt, sie
solle sofort sagen, wenn sie den Mann sah, der ihr so wehgetan
hatte. Sie hatte gedacht, die bösen Männer seien alle dort
geblieben. Aber da, direkt vor dem Senatsgebäude, hatte einer der
Soldaten sie angestarrt, und ihr Herz war stehen geblieben. Sie
würde ihn überall wiedererkennen. Die harten goldgelben Wolfsaugen
unter dem Helm, das scharfe, kantige Gesicht, die dicken, weichen
Lippen, die über ihren Körper gewandert waren, die krallenden
Finger, die sie gepackt hatten und die jetzt ein Schwert hielten,
das ihn als Offizier der kaiserlichen Wache auswies. Eigon hatte
ihn sofort erkannt. Und er hatte gesehen, dass sie ihn erkannte.
Seine Miene war unbeweglich geblieben, während er in
Habtachtstellung verharrte, aber sie wusste sofort, dass auch er
sie wiedererkannte. Und jetzt wusste er, dass er die Gemahlin des
Königs der Britannier und dessen Tochter geschändet hatte und dass
sie, Eigon, vermutlich der einzige Mensch war, der ihn
identifizieren konnte.
Im römischen Gesetz stand auf das, was er getan
hatte, die Todesstrafe. Während er dem Kind in die Augen schaute,
hatte er eine kurze Geste gemacht, die es nie vergessen würde. Er
war sich mit dem Finger über die Kehle gefahren. Was er damit sagen
wollte, war eindeutig. Bei ihrer nächsten Begegnung würde er sie
töten.
Als es an der Tür klopfte, wachte Jess mit einem
Ruck auf. Tageslicht fiel in den Raum.
»Jess? Wieso ist deine Tür zugesperrt?« Die Klinke
wurde knarrend auf und ab bewegt. Es war Steph.
Jess stieg aus dem Bett und ging die Tür öffnen.
»Entschuldige.«
»Ich bring dir einen Kaffee. Ist alles in
Ordnung?«
Jess nickte. Sie schlüpfte in ihren Morgenrock,
nahm Steph einen Becher ab und schloss wieder die Tür. Sie hatte
beschlossen, wegen Daniel nichts zu sagen. »Eigon ist letzte Nacht
gekommen. Sie war hier im Raum. Carmella hat sie wirklich
hergerufen.« Sie stand mit dem Rücken zur Tür.
Steph setzte sich aufs Bett. »Erzähl schon!«
»Sie ist einfach aufgetaucht. Sie hat nichts
gesagt, aber ich habe sie genau gesehen. Dann ist sie irgendwie
verblasst. Aber nachts habe ich von ihr geträumt. Wie sie nach Rom
gekommen ist, und wie Claudius ihren Vater begnadigt hat. Er hat
ihnen ein Haus geschenkt, in das sie dann gezogen sind.«
»Hat es dir Angst gemacht? Ich meine, als sie
erschien?«
Jess nickte. »Ein bisschen schon. Sie war so
plötzlich da, und dann war sie auch schon wieder weg. Aber sie ist
nicht erschreckend, nicht richtig. Sie ist doch nur ein kleines
Mädchen.«
»Ein zerstörungswütiges kleines Mädchen.« Steph zog
die Knie an und stellte ihren Becher darauf. »Und was zum Teufel
ist mit dir und den Jungs?«
»Den Jungs?« Jess ging zum Fenster hinüber.
»William und Daniel.«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«
»Jetzt komm schon, Jess. Die Spannung zwischen euch
war groß genug, um ein ganzes Kraftwerk zu betreiben!«
»Das ist keine gute Metapher, Steph.« Jess schaute
auf den Brunnen. Zu dieser Zeit stand die Sonne noch nicht hoch
genug, der Hof lag im Schatten.
»Vielleicht nicht, aber vielsagend. Also, was ist
los?«
Erbost drehte sich Jess zu ihr. »Woher hat Daniel
gewusst, dass ich hier bin?«
»Offenbar hat er gestern hier angerufen. Kim hat
nur vergessen, es uns zu sagen. Anscheinend ist er bei dieser
Konferenz in letzter Minute für jemand anderen eingesprungen und
dachte, er könnte bei ihr vorbeischauen. Er hatte keine Ahnung,
dass wir alle hier sind.«
»Sehr wohl hat er das gewusst! Ist er noch
hier?«
Steph nickte. »Da Nat und die Kinder für ein paar
Tage bei ihren Eltern sind und er sich dort nicht so wohlfühlt, hat
Kim ihm vorgeschlagen, bis zu Beginn der Konferenz ein paar Tage
bei ihr zu bleiben. Es ist wie in alten Zeiten, als wir alle
zusammen am College waren.« Sie zögerte. »Ich weiß ja, dass es
zwischen dir und William momentan nicht ganz einfach ist, obwohl
ich dachte, du kämst ganz gut damit zurecht. Aber ist irgendetwas
zwischen dir und Daniel vorgefallen, das ich wissen sollte?«
»Nichts. Nur Schulisches. Ich will die Schule
vergessen. Und ich will nicht, dass jemand versucht, mich in meiner
Entscheidung umzustimmen.«
»Ach, das ist alles? Das konnte Kim ja nicht
wissen.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen.« Jess schwieg
einen Moment. »Ich will heute sowieso in die Stadt. Und zwar
allein, also sei so nett und bring Kim taktvoll bei, dass ich nicht
mit von der Partie bin, wenn sie einen Gruppenausflug
vorschlägt.«
»Natürlich. Wohin willst du?«
»Ich will Eigons Spuren folgen. Mir das Forum und
den Senat ansehen. Herausfinden, wo sie gewohnt hat. Ich nehme
meinen Skizzenblock mit und schaue mir alles an, wie eine gute
Touristin.«
Steph lächelte. »Ich kann dir einen Führer geben.
Kim und ich unternehmen was mit den Jungs und lenken sie ab. Daniel
hat etwas von der Spanischen Treppe und Keats’ Haus gesagt.«
»Gute Idee. Solange es nichts ist, wohin ich auch
gehe.«
Sie schlüpfte in ein loses Leinenkleid, schnappte
sich einen Sonnenhut, steckte Block und Bleistifte in ihre Tasche
und verließ die Wohnung, ohne William und Daniel überhaupt zu
sehen. Wenig später war sie in den Scharen von Passanten
untergetaucht und ging, den Führer in der Hand, auf das antike
Stadtzentrum zu.
Stunden später musste sie sich eingestehen, dass
nichts so aussah wie in ihrem Traum. Mit einem schiefen Lächeln
setzte sie sich an einen Tisch unter die Markise einer Bar ganz in
der Nähe der Piazza Consolazione und streifte ihre Sandalen ab. Sie
fühlte sich ziemlich erschöpft. Sie war ewig über das Forum Romanum
geschlendert, hatte die Ruinen besichtigt, bisweilen bei der
Führung der einen oder anderen Reisegruppe mitgehört und versucht,
sich den Ort zu Beginn des ersten nachchristlichen Jahrhunderts
vorzustellen. Das fiel ihr schwer, Eigons Ehrfurcht konnte sie
allerdings gut nachvollziehen: ein keltisches Kind, das nur die
heimische Architektur kannte und Bäume für die gewaltigsten
Monumente hielt, und dann diese Steinwüste. Jess war den Palatin
hinaufgestiegen, dankbar für den Schatten der Pinien, Zypressen und
Eichen, und hatte überall Ausschau gehalten nach einem vagen Umriss
hinter einer Säule, nach einem Kind, das ihr inmitten der
Erinnerungen an die Vergangenheit folgte, aber es zeigte sich
nicht.
Als Jess schließlich doch eine Gestalt bemerkte und
aufschaute, war es niemand, den sie sehen wollte.
»Na, hast du einen schönen Tag gehabt?« Lächelnd
zog Daniel den kleinen gusseisernen Stuhl ihr gegenüber zu sich und
nahm Platz.
Wie gelähmt starrte sie ihn an. »Was machst du denn
hier? Bist du mir gefolgt?«
»Natürlich. Ich kann ja wohl kaum behaupten, ich
sei rein zufällig hier vorbeigekommen.« Sein Gesicht war eisig.
»Jess, du und ich, wir müssen uns unterhalten.«
»Wo sind die anderen?«
»Bestaunen Keats’ Grab auf dem englischen Friedhof.
Sie haben überhaupt nicht gemerkt, dass ich weg bin.« Er lächelte
zufrieden.
Jess setzte ihre Sonnenbrille auf. »Dann unterhalte
dich mal. Was hast du zu sagen?« Auf dem Tisch vor ihr lag der
Rom-Führer, daneben stand ein Glas frisch gepresster Orangensaft.
Sie nahm das Glas, trank einen Schluck und hoffte, Daniel würde
nicht bemerken, wie sehr ihre Hand zitterte.
Er beobachtete sie eingehend. »Hast du jemandem
davon erzählt?«
»Nein.«
Er lächelte. »Sehr vernünftig. Es würde dir sowieso
niemand glauben.«
»Ich werde deswegen niemandem davon erzählen, weil
ich es vergessen will, Daniel. Niemand soll wissen, was passiert
ist.«
»Es ist nichts passiert. Das war alles nur deine
Einbildung.« Als der Kellner an den Tisch kam, schaute er kurz auf
und bestellte ein Bier. »Du warst betrunken.«
Sie hob die Augenbrauen, und unvermittelt legte
sich ihre Angst. Was konnte er ihr hier, inmitten der vielen
Menschen, schon antun? »Daniel, du und ich wissen, was passiert
ist. Aus unterschiedlichen Gründen wollen wir es beide für uns
behalten. Lassen wir’s dabei bewenden. Ich werde versuchen zu
vergessen, was du mir angetan hast und dass du gedroht hast, mich
umzubringen, als dir klarwurde, dass ich mich erinnern kann.« Sie
schob ihre Brille auf die Nasenspitze und schaute ihn über den Rand
hinweg
entschlossen an. »Du wirst den ganzen Zwischenfall vergessen. Ich
lasse mich nicht mehr erpressen oder bedrohen. Du bist ein Stück
Dreck. Du hast deine Frau und deine Kinder und dich selbst
verraten. Und jetzt schlage ich vor, dass du nach England
zurückfährst.« Sie stand auf, plötzlich kochte sie vor Wut. »Und
ich rate dir, mir ein exzellentes Arbeitszeugnis auszustellen, wenn
ich mich um einen neuen Job bewerbe, Daniel, sonst erinnere ich
mich vielleicht doch wieder, was in der Nacht passiert ist!« Sie
klaubte ein paar Münzen aus ihrer Tasche, warf sie auf den Tisch
und ging davon, lief die Stufen hinunter und über die Piazza und
stieg dann zum Tarpejischen Felsen auf. Daniel folgte ihr
nicht.
In der Wohnung war es sehr still, als sie heimkam.
»Hallo?«, rief sie. Keine Antwort. Sie ging direkt in ihr Zimmer,
zog ihre staubigen Sandalen und das Kleid aus und ging ins Bad, wo
sie als Erstes das Wasser in der Dusche anstellte.
Das Plätschern des Wassers auf den Fliesen wurde
von einem Klopfen unterbrochen. Schnell drehte sie sich um. »Wer
ist da?«, rief sie. Mit zitternden Händen stellte sie das Wasser
ab, griff nach einem Handtuch und wickelte es um sich. »Wer ist
da?«
Sie bekam keine Antwort. Nervös biss sie sich auf
die Unterlippe. Die Tür war verschlossen. »Wer ist da?«, fragte sie
wieder. Sie schlich zur Tür und legte ihr Ohr dagegen. Langsam
drehte sich der Knauf. »Wer ist da?«, rief sie zum vierten Mal.
»Daniel? Bist du das? Lass mich in Ruhe!« Sie zitterte am ganzen
Körper. »Verschwinde!« Immer noch keine Antwort.
Dann hörte sie sehr schwach Stephs Stimme vor ihrem
Schlafzimmer. »Jess, bist du schon zurück? O mein Gott, Daniel,
Entschuldigung! Störe ich?«
Jess riss die Tür auf. »Nein«, sagte sie und
drückte das Handtuch an sich. Jetzt gewann wieder ihre Wut die
Oberhand. »Du störst überhaupt nicht!«
Daniel lachte. »’tschuldigung, Steph. Mir war nicht
klar, dass Jess unter der Dusche steht.« Er betrachtete sie mit
einem höhnischen Grinsen. »Ich lass euch mal allein, damit sie sich
anziehen kann, wir können uns ja dann später unterhalten.«
Die beiden Frauen sahen ihm nach, wie er das Zimmer
verließ. Sobald er fort war, drehte Steph sich wieder zu ihrer
Schwester. »Was in drei Teufels Namen geht hier vor sich?«
Jess sprintete zur Tür, warf sie ins Schloss und
drehte den Schlüssel um. Dann setzte sie sich aufs Bett. »Es ist
eine lange Geschichte«, sagte sie kopfschüttelnd.
»Und? Ich habe alle Zeit der Welt.« Steph setzte
sich neben sie. »Die Wahrheit, Jess.«
Jess seufzte. Sie konnte es einfach nicht mehr für
sich behalten. Sie musste jemandem davon erzählen. »Er hat mich
vergewaltigt. In London, nach der Schülerdisco. Deswegen habe ich
gekündigt.« Nachdem sie einmal begonnen hatte, sprudelte es nur so
aus ihr heraus. »Steph, deswegen wollte ich auch weg aus London.
Ständig hat er mir gedroht. Er hat panische Angst, ich könnte
jemandem davon erzählen, Natalie oder dem Rektor. In Wales hat er
gesagt, er würde mich umbringen. Deswegen bin ich weg von Ty Bran.
Deswegen bin ich hierhergekommen. Ich habe alles getan, um ihm aus
dem Weg zu gehen, und jetzt ist er mir nach Rom gefolgt. Und heute
ist er mir zum Forum nachgegangen und hat mir wieder gedroht!« Ihre
Augen füllen sich mit Tränen der Wut, ärgerlich wischte sie sie
fort. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!«
Steph starrte sie aus aufgerissenen Augen an.
»Jess, ist dir klar, was du da sagst?«
»Ja, natürlich weiß ich das! Er hat mich
vergewaltigt. Er hat mir irgendwelche K.-o.-Tropfen gegeben und« -
sie holte keuchend Luft -, »und hat mich vergewaltigt!«
Mittlerweile weinte sie haltlos.
Steph legte die Arme um sie und drückte sie fest an
sich. »Ach, Jess, du Arme. Mein Gott, wie konnte er bloß!« Sie
schaute über die Schulter zur Tür. »Bist du zur Polizei
gegangen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht wollte, dass jemand davon erfährt.
Das wollte ich einfach nicht. Zuerst wusste ich gar nicht, wer es
gewesen war. Ich konnte mich an nichts erinnern. Es ist mir nur
ganz langsam wieder eingefallen, und erst noch später ist mir
klargeworden, dass es Daniel war. Er hat es auch gar nicht
geleugnet. Er hat behauptet, ich sei betrunken gewesen und hätte
ihn angemacht.« Sie seufzte.
»Könnte das sein?« Steph verzog das Gesicht, griff
nach Jess’ Hand und drückte sie fest.
Entgeistert sah Jess sie an. Niemand wird dir
glauben. Einen Moment hörte sie Daniels Stimme in ihrem Kopf.
»Nein«, stieß sie hervor. »Nein, das könnte nicht sein!« Sie
entriss Steph ihre Hand.
»Aber du hast doch gerade gesagt, du hättest dich
nicht erinnert, was passiert ist. Manchmal, wenn wir zu viel
getrunken haben …«
»Meine Kleider waren zerrissen. Ich hatte überall
blaue Flecken. Er hat mich unter Drogen gesetzt. Ich bin bei der
Ärztin gewesen.«
Steph blieb der Mund offen stehen.
»Sie hat mich gedrängt, zur Polizei zu gehen, aber
ich wollte nicht. Ich wollte nichts wie weg.«
»Also hast du gekündigt und bist nach Ty Bran
gekommen.« Steph stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus.
Jess nickte, ohne ein Wort zu sagen.
»Warum?« Steph drehte sich zu ihr. »Das verstehe
ich nicht. Wenn es stimmt, warum in Gottes Namen lässt du ihn dann
ungeschoren davonkommen? Du bist doch eine Kämpfernatur, Jess, du
hättest ihn fertigmachen müssen. Das Schwein!«
Jess machte eine abwehrende Geste. »Ich konnte
nicht logisch denken. Außerdem weiß ich, was mit Frauen passiert,
die einen Mann wegen Vergewaltigung anzeigen wollen. Ich bin einmal
mit einer Schülerin wegen einer solchen Sache zur Polizei gegangen.
Die Demütigung wollte ich mir nicht antun. Sogar du hast mich doch
gefragt, wie viel ich getrunken hatte!«
»Ich glaube dir, Jess.« Steph schüttelte den Kopf.
»Natürlich glaube ich dir. Du Arme, das tut mir wirklich so leid.
Er ist ein Schwein, ein widerwärtiges Schwein, aber ich fürchte, er
hat leider Recht. Selbst wenn du zur Polizei gehen würdest, ohne
handfeste Beweise, und selbst wenn …« Steph schwieg kurz und zuckte
mit den Achseln. »Da steht sein Wort gegen deins.«
»Fachbereichsleiter. Verheiratet. Angesehener
Lehrer. Auf der anderen Seite eine flatterhafte, rachsüchtige,
frustrierte Kollegin, die demnächst gefeuert werden sollte. Das
meinst du doch«, flüsterte Jess.
»Wollten sie dir wirklich kündigen?«, fragte Steph
besorgt.
Jess schüttelte den Kopf. »Nicht, soweit ich weiß,
aber er könnte es ja behaupten. Er könnte sagen, dass ich nur aus
dem Grund gekündigt habe. Dass ich der Kündigung zuvorkommen
wollte. Er könnte alles Mögliche behaupten!«
»Würde der Direktor eher dir oder ihm
glauben?«
»Brian?« Jess schüttelte wieder den Kopf.
»Eindeutig Daniel. Er hat ihn als Konrektor vorgesehen. Eines Tages
wird er selbst eine Schule leiten.« Sie drehte sich zu ihrer
Schwester um. »Was soll ich bloß tun, Steph?«
Steph schwieg eine Weile, während sie Jess
nachdenklich betrachtete. Schließlich sagte sie: »Um ehrlich zu
sein, ich weiß es nicht. Wie lange kennen wir Daniel jetzt schon?
Seit Jahren. Hat er sich je sonderlich für dich interessiert? Ich
meine das nicht unfreundlich, aber wenn ich mich recht erinnere,
war er nie in dich verknallt. Zumindest nicht so, dass wir es
bemerkt hätten.«
Jess lächelte spöttisch. »Dafür war Kim in ihn
verknallt, weißt du noch? Ziemlich aussichtslos, wenn mich nicht
alles täuscht. Aber früher war ich ja auch mit William
zusammen.«
»Hast du William davon erzählt?«
Jess schüttelte den Kopf. »Er und ich haben in
letzter Zeit kaum miteinander gesprochen.« Sie machte eine kurze
Pause. »Hast du gehört, was ich vorhin gesagt habe? Steph, Daniel
hat gedroht, mich umzubringen!«
Steph wandte das Gesicht zum Fenster. »Er glaubt,
dass er ungeschoren davongekommen ist, bedroht dich aber immer
noch.«
»Er hat Angst, ich könnte Nat davon erzählen.«
Fröstelnd zog Jess das Handtuch enger um sich. »Ich wollte das
alles vergessen. Alles hinter mir lassen und neu anfangen. Malen,
mir vielleicht irgendwo auf dem Land einen anderen Job suchen. Ich
wollte Daniel nie wiedersehen. Und jetzt ist er hier.«
»Er mag ja hier sein, Jess, aber das war er die
längste Zeit. Dafür sorge ich schon.« Entschlossen ging Steph zur
Tür. »Überlass das nur mir.«
William saß gerade in der Küche und sah Kim zu,
wie sie in einer schweren Pfanne Zwiebeln anbriet, als Daniel
hereinkam, sich an den Tisch setzte und die Weinflasche zu sich
zog. »Hört mal, ihr zwei, ich fahre heute Abend nach London
zurück.« Er verfolgte, wie Kim etwas Knoblauch in die Pfanne gab
und im heißen Öl schwenkte. »Aber vorher muss ich euch noch etwas
sagen.« Er warf einen kurzen Blick zu William. »Ihr wisst ja, dass
zwischen mir und Jess die Stimmung ein bisschen komisch ist.« Er
seufzte und trank einen großen Schluck aus seinem Glas. »Ich finde,
ihr solltet wissen, was passiert ist. Es wird so oder so
herauskommen, was ich vermeiden wollte, aber vielleicht ist es ja
auch zu ihrem Besten, wenn ihr Bescheid wisst.« Unglücklich zuckte
er mit den Schultern, trank noch einen Schluck Wein und schaute zu
William. »Du weißt vermutlich, dass es Jess momentan nicht so
gutgeht.« Er atmete tief durch. »Hat sie dir von ihrem
Nervenzusammenbruch erzählt?«
William runzelte die Stirn. »Welchem
Nervenzusammenbruch denn?«
»Das dachte ich mir.« Daniel schüttelte den Kopf.
Kim nahm ihre Pfanne vom Feuer und setzte sich zu den beiden
Männern an den Tisch. Mit angespannter Miene schob sie die Ärmel
zurück und griff nach ihrem Glas. »Jess hat keinen
Nervenzusammenbruch gehabt. Das hätte Steph mir erzählt.«
»Steph weiß nichts davon.« Daniel schürzte die
Lippen. »Ich komme mir etwas schäbig vor, das alles hinter ihrem
Rücken zu erzählen, aber ich vermute, sie wird ein paar ziemlich
unschöne Sachen über mich sagen, und da möchte ich vorher einiges
klarstellen. Nachdem ihr euch getrennt habt, William, ist es ihr
ziemlich mies gegangen. Das hat sie sehr mitgenommen.
Wahrscheinlich brauche ich dir das nicht eigens zu sagen. Na ja,
und da hat sie sich ein bisschen
in mich verguckt. Für mich kam das natürlich überhaupt nicht in
Frage. Ich meine, sie ist sehr attraktiv, aber ich bin glücklich
verheiratet, das wisst ihr ja. Ich habe versucht, ihr das so
zartfühlend wie möglich beizubringen, aber sie konnte die
Zurückweisung nicht ertragen. Sie hat ein irres Fantasiegespinst
entworfen, in dem ich sie geschlagen haben soll. Angeblich habe ich
sie sogar vergewaltigt. Sie ist ziemlich heftig geworden und hat
gedroht, zur Polizei zu gehen. Ich wusste nicht mehr, wie ich damit
umgehen soll. Ich meine, das wüsste doch wohl keiner, oder?« Er sah
zwischen Kim und William hin und her, seine Hände lagen um sein
Weinglas. »Ich bin zum Rektor gegangen. Habe ihn um Rat gefragt.
Ich meine, heutzutage haben Lehrer es ja oft mit Kids zu tun, die
für sie schwärmen oder ihnen alles Mögliche vorwerfen, aber nicht
unter Kollegen. Nicht jemand wie Jess.« Bekümmert schaute er in
sein Glas, dann trank er wieder einen kräftigen Schluck. Es
herrschte Stille. Kim und William sahen sich ungläubig an.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte William
schließlich.
»Ich weiß.« Daniel griff nach der Flasche.
»Und du sagst, dass sie an der Schule gefeuert
wurde?«, fragte Kim skeptisch.
»Man hat ihr nahegelegt zu gehen«, sagte Daniel und
schenkte allen nach. »Die diplomatische Art. Die Kollegin ist
überarbeitet, braucht etwas Erholung. Derlei. Dann ist sie total
durchgeknallt. Irgendwie hat sie ihre ganzen Anschuldigungen und
ihren Frust auf dieses Hirngespenst übertragen. Als sie aus Ty Bran
verschwunden ist, habe ich mir ernsthaft Sorgen um sie gemacht. Sie
ist über die Felder gerannt auf der Flucht vor römischen Soldaten
und hat rumgeschrien, einer von ihnen wollte sie umbringen.« Er
hielt kurz inne. »Dann finde ich heraus, dass sie selbst nach Rom
gefahren ist. Deswegen bin ich hergekommen. Ich meine, was hättet
ihr denn an meiner Stelle getan? Ich habe wirklich Angst um sie
gehabt.«
»Das heißt, es gibt keine Konferenz?«, fragte
Kim.
»Nein, es gibt keine Konferenz.«
»Scheiße«, sagte William leise. »Das glaube ich
nicht.«
»Nein«, sagte Kim langsam, »nein. Das mit den
Gespenstern hat sie nicht erfunden. Steph hat das Gespenst auch
gesehen. Es existiert wirklich.«
»Römische Soldaten?« Daniel lächelte sarkastisch.
»Also bitte! Aber gut, wenn ihr ihr glauben wollt.« Er leerte sein
Glas und stand auf. »Ich wollte nur, dass ihr den Sachverhalt kennt
und wisst, was an der Schule passiert ist. Erzählt ihr besser
nichts von diesem Gespräch, das bringt sie nur noch mehr auf. Und
vielleicht sollte auch Steph nichts davon erfahren. Sie würde euch
sowieso nicht glauben. Aber das ist eure Sache. Ich fahre nach
Hause. Eigentlich wollte ich gar nicht kommen, aber ich dachte, ich
müsste nachsehen, ob Jess einigermaßen in Ordnung ist. Und jetzt
kann ihr ja nichts passieren, wo ihr sie im Auge behaltet. Ich
verschwinde. Es regt sie nur auf, dass ich hier bin, und ich muss
auch wieder zu Nat und den Kindern. Kann ich sie euch überlassen?
Vielleicht kriegt sie sich ja ein, wenn ich weg bin.« Er zuckte
hilflos mit den Achseln. »Aber ich glaube, ihr solltet aufpassen.
Vor allem du, William. Sie ist nicht sie selbst. Als ich in Ty Bran
war, ist sie ziemlich aggressiv geworden.« Er verzog das Gesicht.
»Komm ihr bloß nicht zu nah, wenn sie glaubt, du wärst ein
römischer Soldat oder so.« Er lächelte spöttisch, schob seinen
Stuhl unter den Tisch und ging zur Tür.
»Du gehst jetzt? Jetzt sofort?«, fragte Kim
scharf.
»Das ist das Beste. Tut mir leid, wenn ich euch die
Laune verdorben habe, aber ich finde, das musstet ihr erfahren.«
Seine Tasche stand bereits im Flur, jetzt schlang er sie sich um
die Schulter. »Viel Glück, Leute, und grüßt Steph von mir.«
»Daniel …« William stand hastig auf, doch Daniel
hatte die Tür bereits geschlossen. Wenige Sekunden später hörten
sie die Wohnungstür ins Schloss fallen, der Knall hallte durch den
hohen, dunklen Korridor.
»Merda!«, sagte Kim. Sie kehrte an den Herd
zurück, stellte die Pfanne wieder auf die Flamme und griff nach dem
Kochlöffel.
»Mir war schon klar, dass irgendetwas nicht stimmt,
aber auf so etwas wäre ich nie im Leben gekommen.« William setzte
sich wieder und starrte auf die Tischplatte. Beide schwiegen.
»Die arme Jess«, sagte Kim nach einer ganzen Weile.
»Das erklärt natürlich die ganzen wirren Sachen mit den Kelten und
dem Kind. Und weswegen sie aus heiterem Himmel hier aufgetaucht
ist. Was sollen wir bloß sagen, William?« Sie schaute nachdenklich
zu ihm.
»Selbst wenn das, was Daniel sagt, stimmen sollte,
können wir nichts unternehmen«, antwortete William bedächtig. »Also
sprechen wir nicht darüber. Wir sagen einfach, dass Daniel
plötzlich nach Hause musste. Dass Nat angerufen hat, weil eins der
Kinder krank ist. Etwas in der Art.«
Kim nickte. »Und erzählen wir Steph davon?«
William seufzte. »Eher nicht.«
»Sollte sie es nicht wissen?«
»Sie würde es nicht für sich behalten. Entweder
wäre sie unglaublich wütend auf Daniel, oder sie würde Jess zum
nächsten Psychiater schleppen für den Fall, dass es stimmen könnte.
Was garantiert nicht der Fall ist! Lassen wir Jess doch einfach
eine Weile in Ruhe. Daniel ist nicht mehr da, und damit hat er
Recht, seine Anwesenheit hat sie wirklich
aufgebracht. Das haben wir ja hautnah miterlebt. Vielleicht kommt
sie etwas zur Ruhe, wenn er nicht mehr hier ist.« Er seufzte
schwer, dann schaute er skeptisch auf. »Ich habe nie den Eindruck
gehabt, dass sie auf Daniel gestanden hat. Du?«
Kim hob die Augenbrauen. »Wenn, dann hat sie das
schon längst überwunden.« Sie rupfte Blätter von einem
Kräutersträußchen, das in einem Krug auf dem Fensterbrett stand.
»Liebst du sie noch, William?«, fragte sie mit einem Blick zu
ihm.
Er verzog das Gesicht. »Kim, wir haben uns
getrennt.«
»Das ist keine Antwort.«
»Eine andere bekommst du aber nicht.« Er stand auf,
trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Auf der
gegenüberliegenden Seite stieg Daniel gerade in ein Taxi. William
sah, dass er einen letzten Blick zur Wohnung hinaufwarf, dann wurde
die Wagentür zugezogen, und das Taxi fuhr davon.