Kapitel 38
Berlin, Deutsches
Reich,
August 1908
Demys Entsetzen wich allmählich tiefer Trauer. Sie legte das Telegramm aus den Niederlanden auf ihren Nachttisch, drehte sich mit einer schnellen Bewegung auf den Bauch und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kopfkissen.
Ihr Vater war tot. Sein Leichnam war in der Gracht hinter ihrem Haus gefunden worden.
Tränen kullerten über ihre Wangen und versickerten zwischen den Daunenfedern. Nach ihrer Mutter hatte sie nun nicht nur ihr Zuhause, sondern auch noch ihren Vater verloren.
Der Arzt, den man hinzugezogen hatte, schrieb von Alkoholeinfluss, einer Kopfverletzung, vermutlich infolge eines Sturzes, und dem darauffolgenden Ertrinken in dem trüben Gewässer des Kanals.
Gequält schloss Demy ihre Augen. Wie konnte es sein, dass ein gesunder, kräftiger Mann wochenlang in einem fremden und gefährlichen Landstrich irgendwo in Afrika klarkam und, kaum wieder zu Hause, in einem ihm seit Kindesbeinen an bekannten Kanal ertrank?
Was wird nun aus Feddo und Rika?, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Geschwister waren noch zu jung, um allein zu leben, zumal das mit Hypotheken belastete Haus sicher verkauft werden musste.
Demy erhob sich ruckartig. Sie musste sofort nach Hause! Ihre Geschwister waren allein auf sich gestellt, hatten den Tod ihres Vaters zu verkraften und würden in absehbarer Zeit ihr Zuhause verlieren. Vielleicht konnte sie irgendetwas tun.
Das Mädchen wischte sich mit beiden Händen die Tränen ab und lief mit neu erwachtem Tatendrang zur Tür. Mit fliegenden Schritten und mal wieder barfuß hastete sie den Flur entlang und polterte die Stufen hinunter. Sie stieß die Tür zum Foyer auf – und erstarrte.
Ein halbes Dutzend in vornehme dunkle Anzüge gekleideter Herren stand um den älteren Meindorff herum. Lautstark diskutierten sie über das Treffen des britischen Königs Eduard VII. von England mit dem russischen Zaren Nikolaj II., wobei die Aussicht auf eine neu bekräftigte Allianz zwischen den beiden Ländern die Anwesenden ebenso erregte wie der Verdacht, die Monarchen hätten sich auf eine Haltung zur Balkan-Krise geeinigt, ohne die Interessen anderer Länder zu berücksichtigen, wie zum Beispiel des hauptsächlich betroffenen Österreich.
»So viel zu der angeblichen Dissonanz zwischen ihnen. Es ist nicht lange her, da hörte ich, wie der Zar den britischen Vetter seiner Frau als Juden titulierte.«
»Bitte mäßigen wir uns im Ton, meine Herren.« Meindorff hob beschwichtigend die Hände.
Das Gespräch wurde leiser fortgesetzt, dennoch entging Demy kein Wort.
»König Eduard hat bei seinem Besuch Anfang August in Homburg seine Bereitschaft signalisiert, über den rasanten Flottenausbau unserer beiden Länder zu verhandeln.«
»Er bekommt es mit der Angst zu tun«, frohlockte ein Mann, den Demy als Martin Willmann erkannte.
»Die Wirtschaft Großbritanniens steht in diesen Tagen nicht eben üppig da, meine Herren. Von den gefürchteten Dreadnoughts geht nur eine jämmerliche Anzahl vom Stapel. Das weiß auch Seine Kaiserliche Majestät, und er wird keinerlei Diskussion bezüglich dieses Themas zugelassen haben.«
Das Mädchen drückte sich mit dem Rücken gegen die Tür und betrachtete den Sprecher. Seine Ähnlichkeit mit Adalbert Ahlesperg, dem leichtlebigen Freund von Joseph, war unverkennbar, wenngleich dieser Mann um viele Jahre älter war. Vermutlich handelte es sich um seinen Vater, Anton Ahlesperg.
Maria und Charles betraten vom Küchentrakt aus das Foyer und balancierten Silbertabletts mit Getränken in ihren Händen, die sie schweigend anboten.
»Ein Angriff der Briten auf unsere Flotte sollte ein unkalkulierbares Risiko darstellen, das einzugehen sie scheuen müssen.« Ehrenfried Ehnstein, der Vater von Brigitte, die sich in Demys Gedächtnis als »die Frau im rosaroten Kleid« eingebrannt hatte, hielt sich, wie um seine Worte zu unterstreichen, militärisch stramm aufrecht.
Eine Gruppe jüngerer Männer näherte sich Demys Standort. Sie hatten sich bisher abseits aufgehalten, wohl um ihre eigene, ungestörte Diskussion zu führen. Unter ihnen befanden sich Joseph, Adalbert Ahlesperg und zwei Herren, deren Namen Demy nicht kannte.
»Das behauptet Ehnstein, ebenso wie unser Großadmiral Alfred von Tirpitz, seit 1900. Offenbar hat ihnen noch niemand gesagt, wie schwer es ist, diesen Wettlauf gegen die Briten zu gewinnen«, spottete Joseph. Er und seine Freunde bedienten sich an den angebotenen Gläsern.
»Er kann im Grunde nur verloren werden. Selbst wenn die britische Marine zurzeit weniger Aufklärer oder Schlachtschiffe baut, sind die Briten uns, was die Anzahl der Kreuzer anbelangt, noch immer überlegen. Und sollte es darauf ankommen, verfügen sie über die weitaus besseren Ressourcen zur Steigerung ihre Produktivität.«
Willmann hatte sich zu der Gruppe gesellt und zum ersten Mal entdeckte Demy den Schmiss, eine Fechtverletzung, auf seiner linken Wange. Der erfolgreiche Geschäftsmann drehte ein Cognacglas zwischen seinen klobigen Fingern und wirkte trotz seiner starken Worte ruhig und ausgeglichen. »Dieser beschleunigte Flottenausbau, das Dilemma auf dem Balkan und die unnachgiebige Haltung der Habsburger zeigen, dass wir unweigerlich einer Krise entgegensteuern.«
»Na, das wäre doch mal etwas anderes als diese ewigen Diskussionen, das politische Taktieren und die zweifelhaften Streicheleinheiten einzelner Länder untereinander.« Adalbert rieb sich die Hände, als sähe er sich bereits mit der Waffe in der Hand auf die feindlichen Linien zustürmen.
Willmann lachte trocken auf. »Vielmehr sind es die gelangweilten Heißsporne wie unser Freund Adalbert hier, die uns einen Krieg bescheren werden! Unser Adel langweilt sich ebenfalls, die begüterten Bürger sonnen sich in ihren Erfolgen und das restliche Volk kämpft ums Überleben, ist unzufrieden und meutert. Außerdem will die Jugend aus ihrem immer gleichen Trott von Arbeit, Langeweile, Religion und Armut heraus und würde mit Begeisterung zu den Fahnen streben.« Der Mann mit der Narbe auf der Wange prostete seinen Kameraden zu und trank sein Glas in einem Zug leer.
»Denken Sie, wir sind bereit für einen Krieg, Willmann?«, wollte Joseph wissen.
»Bereit für einen Krieg, Meindorff? Niemand ist jemals bereit für einen Krieg. Wer von Ihnen hat denn Gefechtserfahrung vorzuweisen? Der letzte Krieg, ausgenommen die Kampfhandlungen in den Kolonien, liegt fast vierzig Jahre zurück. Wissen Sie auch nur im Ansatz, was eine kriegerische Auseinandersetzung Sie kostet?«
Adalbert lachte und hob nun seinerseits sein Glas. »Das verwöhnte Leben? Ein paar Wochen fern von aufregenden Frauen und den liebenden und sich vor Furcht um uns verzehrenden Mütter und Schwestern? Ach, kommen Sie, Willmann. Lockern Sie Ihren Hemdkragen und sehen sie das Ganze als das, was es sein würde: ein Kräftemessen. Ein kleines, aufregendes Spiel, bei dem wir einem Nachbarn seine Grenzen aufzeigen. Und bei unserer glorreichen Rückkehr würden wir von den Frauen als Helden bejubelt werden.«
Während Adalbert sprach, beobachtete Demy, wie sich Willmanns Mundwinkel spöttisch verzogen. »Sie sind und bleiben ein Luftikus, Ahlesperg«, lachte er. »Hoffen wir, dass die Realität Sie niemals unsanft aus Ihren Wunschträumen reißt.«
»Ich bin ein Glückskind, wissen Sie das nicht?«
»Ihr Glück wäre, wenn sich diese Unruhen um uns her in Luft auflösten. Dann, verehrter Freund, hätten Sie die Chance, ein Glückskind zu bleiben.« Willmann verbeugte sich, drückte der verdutzten Demy sein geleertes Glas in die Hand und wechselte mit festen Schritten hinüber zum älteren Meindorff und den anderen diskutierenden Männern.
Auch Adalbert reichte ihr sein leeres Kristallglas, ohne sie eines Blickes zu würdigen, was Josephs Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn, wobei seine Augen lange auf den nackten Zehen verweilten, die zu Demys Kummer frech unter ihrem Rocksaum hervorschauten.
»Was zum Henker treibst du hier?«
»Entschuldigen Sie bitte, Cousin Joseph. Mein Vater ist verstorben, und ich wollte darum bitten, nach Koudekerke reisen zu dürfen, damit ich nach den Kindern sehen kann.«
»Noch so eine reiselustige van Campen? Auf keinen Fall, junge Dame«, zischte er halblaut. »Wie wichtig die Fortsetzung deiner Ausbildung ist, zeigt dein heutiges Auftreten. Ich will nie mehr mit ansehen, wie eine in unserem Haus lebende Person ohne Schuhe vor eine Männergesellschaft tritt. Was sollen die Herren denken?«
In Demys Augen schimmerten Tränen der Verzweiflung und der Wut. Ihr Vater war tot und diesen Mann berührte das nicht im Geringsten. Er verstand nicht einmal, wie dringend sie zu ihren jüngeren Geschwistern reisen musste.
»Meine Güte!«, stieß Meindorff grimmig aus. »Ebenso nahe am Wasser gebaut wie die ältere Schwester, ja? Und dabei nahm ich an, du hättest etwas mehr Biss.«
Demy schluckte schwer. Die Kälte, die von diesem Mann ausging, ließ sie schaudern. »Tilla hat mir ein Telegramm geschickt. Sie wird von Paris zurück in euer niederländisches Nest fahren und sich um die Angelegenheit kümmern. Das genügt doch wohl!?« Im Weggehen hörte Demy ihn noch murmeln: »Fehlt nur noch, dass sie uns die anderen Bälger auch ins Haus bringt.«
Mit einer herrischen Handbewegung winkte Joseph Maria herbei, die Demy die Gläser abnahm. »Fräulein van Campen, wenn Männer zu Gast sind und über Politik und die Geschäfte diskutieren, dürfen Sie die Herren nicht mit Ihren privaten Kümmernissen behelligen.« Mütterlich und beschwichtigend legte ihr Maria die Hand auf den Arm.
Demy tastete mit der Hand nach der Türklinke und stahl sich davon. Mit bleischweren Schritten nahm sie die Treppe in Angriff. Für sie stand außer Frage, dass Tilla Rika und Feddo in ihr neues Zuhause bringen würde. Als die einzige erwachsene van Campen war sie nun für die Kleinen verantwortlich.
Aber die Kinder würden im Hause Meindorff nicht gern gesehen sein, dessen war Demy sich bewusst. Im Gegensatz zu ihr konnten sie nicht einmal eine Aufgabe im Haushalt übernehmen. Es brauchte nicht viel Fantasie, um weitere Komplikationen in ihrer aller Leben vorauszusehen. Doch was sollte sonst mit den Kindern geschehen, zumal zu befürchten stand, dass durch Erik van Campens verfrühten Tod die wahren finanziellen Verhältnisse – oder vielmehr das finanzielle Desaster – der Familie offenbar wurde?
Für einen Moment schlich sich bei Demy ein winziger Hoffnungsschimmer ein, nämlich der, dass Meindorff sicher nicht noch einen Sohn mit einer mittellosen van Campen verheiraten würde. Allerdings traute sie Tilla inzwischen zu, irgendein Täuschungsmanöver in der Hinterhand zu haben, um die ganze Lage weiterhin zu verschleiern.
Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke, und sie hielt mit der Hand auf der Türklinke inne. Sie hatte kein Zuhause mehr! Jede Chance, eines Tages nach Koudekerke zurückzukehren, war verloren – und damit auch ihre letzte Fluchtmöglichkeit, trieb Meindorff die Hochzeitspläne weiter voran.
Demy warf sich auf ihr Bett, wo sie zuvor schon ihrer Verzweiflung freien Lauf gelassen hatte. Das Gefühl, hilflos in der Falle zu sitzen, verursachte einen beißenden Schmerz in ihrem Inneren und ließ sie heftig erzittern.
Viel später, als endlich die Tränen versiegt waren, wandte sie den Kopf und blickte zur Balkontür hinüber. Ein Streifen goldenen Sonnenlichts fiel durchs Fenster und ergoss sich über ihr Bett. Als habe Gott seine liebevolle, fürsorgliche Hand tröstend auf ihren Rücken gelegt, durchdrang sie dort wohltuende Wärme, doch der Trost kam in ihrem aufgewühlten Herzen nicht an.
Blieb ihr nun wirklich keine Wahl, als Hannes zu heiraten, ja musste sie gar Erleichterung über diese Abmachung verspüren und verhindern, dass Hannes Edith zur Frau nahm? Wohin sonst sollte sie gehen? Am Ende fänden Tilla, Joseph und der alte Meindorff womöglich eines Tages einen neuen Heiratskandidaten für sie, der weitaus weniger nett war als Hannes!
Demy schloss erschöpft die Augen. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt wie ein gefangenes Tier, und sie hasste das Gefühl, von der Willkür anderer abhängig zu sein. Trotzig fragte sie sich, was wohl geschehen würde, falls sie sich ab sofort weigerte, auf alle angeblich wohlmeinenden Vorschläge einzugehen? Setzte sie damit neben Hannes’ und Ediths Glück auch noch das von Rika und Feddo aufs Spiel?
Auf diese Frage wusste das Mädchen keine Antwort, empfand aber zwei ihr mittlerweile vertraute Gefühle umso vehementer: Heimatlosigkeit und Einsamkeit.
***
Demy fühlte sich in den folgenden Tagen wie einer der Elefanten aus dem Tierpark, die sie so gern beobachtete. Die riesigen Tiere schwenkten oft stundenlang ihre mächtigen Schädel von links nach rechts und sahen darin wohl selbst keinen Sinn. Ebenso schwankend durchlebte auch sie ihre Tage. Mal zornig und rebellisch, sogar der erstaunten, aber unerschütterlichen Henriette gegenüber, mal traurig und in Selbstmitleid zerfließend, um gleich darauf eine erstaunliche Gelassenheit an den Tag zu legen.
Einige Tage nach Eintreffen der Todesnachricht aus den Niederlanden wagte es Margarete, Demy auf ihr Verhalten anzusprechen. Sie, Lina und Demy saßen in dem mit Nippes vollgestopften Salon der Pfisters. Während sich aus den feinen, verzierten Porzellantassen auf dem Beistelltisch der heiße Dampf des Tees in Richtung Decke verflüchtigte, waren Lina und Margarete wieder einmal in eine Diskussion über die in Preußen herrschenden Ehegesetze vertieft. Die neueste Errungenschaft der Familie, zwei Kanarienvögel in ihrem Vogelbauer, zwitscherten munter vor sich hin, als stritten auch sie über ihre Rechte und Pflichten.
Demy beobachtete das Gebaren der Ziervögel, vor allem das des deutlich farbenprächtigeren Männchens aufmerksamer, als sie dem Gespräch ihrer Freundinnen lauschte, bis Margarete sie direkt und dem Tonfall nach nicht das erste Mal mit ihrem Namen ansprach und aus ihrer Gedankenwelt riss.
»Demy van Campen! Gerade dich sollte das Thema interessieren. Immerhin wirst du, wie es aussieht, als Erste von uns dreien diesen entscheidenden Schritt tun.«
Demy drehte sich zu ihren Freundinnen um und sah sie erschrocken an. Feinfühlig, wie sie war, musterte Margarete sie, beugte sich vor und legte ihre weiche Hand auf Demys Unterarm. »Was ist denn mit dir? Ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt.«
Beim Blick in Margaretes mitfühlende dunkle Rehaugen fiel die sorgsam um Demys Herz aufgebaute Schutzmauer wie nicht gebrannter Ton in sich zusammen. In Margaretes Armen erzählte sie den Freundinnen von allen ihren Erlebnissen und Heimlichkeiten, seit Tilla im letzten Winter mit der Nachricht von ihrer geplanten Vermählung in ihre gemütliche Kammer auf dem niederländischen Gutshof gekommen war.
Nachdem sie geendet hatte, weinte sie an Margaretes Schulter und ließ es geschehen, dass diese ihr sanft über den Rücken strich. Erst als sie sich allmählich beruhigte und ihr Schluchzen, das ein Beben durch ihren Körper sandte, in immer längeren Abständen kam, wurde sie gewahr, dass weder Margarete noch Lina seit ihrem Ausbruch auch nur ein Wort gesagt hatten.
Erschrocken richtete sie sich auf, wischte sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht, was Fräulein Cronberg sicher sehr missfallen hätte, und sah von einer zur anderen. Verachteten sie sie nun wegen ihrer Heimlichkeiten? Wollten sie mit einer Betrügerin und einem kleinen Mädchen, das sie nun einmal war, nichts mehr zu tun haben?
»Es tut mir sehr leid, glaubt mir bitte.« Demy hob flehentlich die Hände. Ihre Schultern sackten nach vorn, als sie den Blickwechsel der anderen beobachtete.
Schließlich erhob sich Lina, drückte sich in dem vollgestellten Raum am Vogelbauer vorbei und trat ans Fenster. Leise sagte sie: »Ich habe Tilla bei dem Empfang vor dem eigentlichen Hochzeitsball kennengelernt. Sie schien mir so reizend und sympathisch. Wie konnte sie dir das nur antun?« Lina drehte sich um und ihre hellen Augen blitzten, während sie, lauter als zuvor, ausrief: »Müssen wir nicht nur gegen engstirnige Männer und die zu ihrem Vorteil entworfenen Gesetze ankämpfen, sondern auch gegen die Barrieren in den Köpfen einiger Frauen?«
»Lina, bitte, Tilla ist Demys Schwester. Sicher hatte sie lautere Absichten, bei dem was sie tat.«
Ein zweifelnder Blick von Lina traf Margarete. »Dann sag mir doch bitte, aus welchem Grund die junge Frau Meindorff hier in Berlin eine Begleitung braucht! Auf ihrer Reise aus den Niederlanden hierher war das sicher angebracht. Aber seitdem? Sie hält sich doch kaum in Berlin auf, und das Haus Meindorff verfügt über etliche Bedienstete …«
»Vielleicht hat sie Demy einfach gern um sich? Das ist doch nicht verwunderlich, bei so einem reizenden Sonnenschein?«
»Aber gegen Demys Willen?«
»Vielleicht wollte sie, dass Demy ihren Horizont erweitert. Immerhin ist Berlin …«
»… für ein so junges Mädchen eine beängstigend riesige, fremde und anonyme Stadt.«
»Zudem erhält Demy augenblicklich exquisiten Unterricht und eine fundierte Ausbildung durch Fräulein Cronberg, die sie in der Dorfschule …«
»… in der sie ihre Freunde und ihre Familie um sich hätte …«
»… nicht gehabt hätte.«
»… vielleicht mit mehr Begeisterung absolviert hätte.«
»Ohne Tillas Eigenmächtigkeit hätten wir Demy niemals kennengelernt.«
»Was ausgesprochen bedauerlich wäre, da hast du recht. Somit müssen wir Tilla zumindest in einem Punkt dankbar sein.«
»Schau, Lina. Sie lächelt wieder.«
Demys Gesicht wurde noch eine Spur fröhlicher. Es war ihr unmöglich, bei dem Schauspiel weiterhin in ängstlicher Trübsal zu verharren. »Ihr seid mir also nicht böse?«
»Dir?« Lina eilte zu ihr und nahm Demys beide Hände in die ihren. »Du bist doch in diesem undurchschaubaren Drama das Opfer.«
»Es gibt durchaus auch Gutes daran, Lina. Den Unterricht, eure Freundschaft …«
»Danke, Demy«, griff Margarete in das Gespräch ein. »Ich wusste, dass auch du das so siehst. Wir können die Geschehnisse nicht mehr rückgängig machen. Aber wir wollen dir gern dabei helfen, dass du in Zukunft nicht mehr für die Wünsche oder Fehler anderer Menschen büßen musst.«
»Das hätte ich gesagt haben können, liebe Margarete!« Die Professorentochter drückte nochmals kräftig Demys Hände, bevor sie sie losließ und sich wieder hinsetzte.
»Ich denke, das vorrangigste Problem ist diese erzwungene Verlobung und die Tatsache, dass der Herr Rittmeister Meindorff auf eine zügige Vermählung zu drängen beginnt«, sagte Lina.
Margarete strich sich mit einer sachten Handbewegung ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Lina, im Gegensatz zu dir halte ich das nicht für ein großes Problem. Er kann schwerlich ein Mädchen von vierzehn Jahren mit seinem volljährigen Sohn verheiraten.«
»Aber das darf nicht bekannt werden«, flüsterte Demy. »Ich kann unmöglich Tilla als Betrügerin dastehen lassen.«
»Warum nicht? Sie ist doch schon unter der Haube. Und Meindorff-Elektrik wird sich den Skandal einer Scheidung niemals leisten.« Während Lina gelassen die Achseln zuckte, schüttelte Demy den Kopf, und die Falten auf ihrer schmalen Nase zeigten deutlich ihr Missfallen.
»Es ist bestimmt nicht von Vorteil, die Meindorffs gegen uns aufzubringen. Meine Aufgaben sind doch eigentlich lächerlich, zumal die Person, der meine Fürsorge gelten sollte, ja schon wieder ohne meine Begleitung verreist ist. In den Augen mancher Mitglieder des Meindorff-Haushalts bin ich ohnehin ein Schmarotzer. Und jetzt wird Tilla auch noch unsere beiden Geschwister mit hierherbringen. Wie weit kann wohl die Verantwortung der Meindorffs für die Geschwister der Ehefrau und Schwiegertochter strapaziert werden?«
»Du befürchtest, du und deine Geschwister könnten abgeschoben werden? In eins dieser Fürsorgeheime?«, fragte Lina entsetzt.
Seit die drei jungen Frauen sich für das Säuglingsheim engagierten, wussten sie nur zu gut, wie es in einem Heim zuging, wie knapp die Zeit des Personals für die Kinder bemessen war und wie wenig auf ihre individuellen Bedürfnisse eingegangen wurde. Zudem fehlte es an der finanziellen Unterstützung der Einrichtungen.
Demy sah Lina hilflos an und zog beide Schultern hoch. »Ich weiß nur, dass ich in Koudekerke keine Heimat mehr habe. Ich möchte meiner Schwester nicht in den Rücken fallen und muss mir nun auch noch Gedanke um Rika und Feddo machen. Außerdem will ich mein Versprechen Hannes gegenüber nicht brechen.«
»Und wo bleibst du bei alldem?«, seufzte Lina. Stille senkte sich über den Raum. Ein warmer Windstoß brachte die weißen Gardinen vor den geöffneten Fenstern zum Tanzen und zauste den beiden Kanarienvögeln, die ebenfalls verstummt waren, sanft durch das gelbe und graue Gefieder. Im Treppenhaus waren leise Schritte zu hören, doch niemand störte die drei Mädchen bei ihrem Kaffeeplausch.
»Ihr wisst, dass ich nur ungern Schlechtes über andere Menschen sage«, begann Margarete zögernd, was Demy dazu veranlasste, ihr freundlich zuzulächeln. Sie kannte keine sanftere und zarter besaitete Person als die hübsche Siebzehnjährige. Lina hob interessiert die Augenbrauen.
»Falls Demy auf alle von ihr aufgezählten Aspekte Rücksicht nehmen will, bleibt ihr nur noch darauf zu hoffen, dass Hannes eine respektable Lösung für das Problem einfällt. Und dabei sehe ich nur eine Möglichkeit: Er muss sich gegen die Pläne seines Vaters stellen und auf unnachgiebige Art seine Interessen und Wünsche durchsetzen.«
»Bis jetzt hast du nichts Schlechtes über eine Person geäußert, verehrte Margarete«, meinte Lina, die wohl, ebenso wie Demy selbst, das Ende von Margaretes Ausführungen fürchtete.
Margarete legte Demy ein weiteres Mal ihre Hand auf den Unterarm.
»Meine Familie und die Meindorffs … wir sehen uns nicht häufig, obwohl wir doch recht nah verwandt sind.«
Trotz der stehenden Wärme im Raum fröstelte Demy. Eine Gänsehaut breitete sich über ihre Arme aus.
»Hannes ist nicht der Mann, der seinem Vater widerspricht. Das hat nur Philippe getan, Joseph wagte es selten einmal und die beiden jüngeren Brüder versuchten es gar nicht erst. Rittmeister Meindorff ist ein Despot, wie er im Buche steht.«
Wieder kehrte Stille in dem Raum ein. Sie lastete schwerer noch als die schwülwarme Luft auf den drei Freundinnen.
»Heißt das, Demy muss sich zwischen zwei gleichermaßen unschönen Alternativen entscheiden?«, flüsterte Lina nach geraumer Zeit. »Zwischen der Offenlegung gut gehüteter Geheimnisse oder einer arrangierten Ehe?« Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Im ersten Fall könnte Meindorff sie entweder aus dem Haus werfen oder ihr innerhalb von zwei Jahren einen neuen Heiratskandidaten suchen, um sie auf diese Weise aus dem Haus zu haben, nach Möglichkeit mit den jüngeren Geschwistern im Gepäck. Die zweite Alternative birgt sehr viel Potenzial für Leid und Schmerz … aber immerhin auch die Chance, dass die beiden einen gemeinsamen Weg finden.«
»Es gibt bestimmt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Demy, doch es fiel ihr schwer zu glauben, was sie gerade selbst ausgesprochen hatte.
***
Höflich bedankte Demy sich bei Margarete für ihre Gastfreundschaft und ließ sich von Lina zum Abschied umarmen. Kaum war sie aus dem Haus auf den Kurfürstendamm getreten, entdeckte sie Lieselotte. Die Freundin stand abseits unter einer Ulme und winkte ihr, sie solle zu ihr herüberkommen.
Nur zögerlich folgte Demy der Aufforderung und musterte dabei Lieselottes veränderte Erscheinung. Sie trug zwar noch die übliche helle Bluse, allerdings steckte sie nicht in einem Rock, sondern in einer grauen Männerhose. Als noch weitaus bedauerlicher empfand Demy Liselottes neuen Haarschnitt: Ihr kräftiges, braunes Haar war kurz geschnitten und lockte sich etwas widerspenstig um ihre Ohren und in ihrem Nacken.
Einerseits erschrocken über Lieselottes herbes Aussehen, andererseits dankbar, zu dieser Abendstunde eine Begleitung an der Seite zu haben, hakte Demy sich bei ihrer Freundin unter. Gemeinsam schlenderten sie über den Kurfürstendamm in Richtung Tiergarten.
»Weshalb hast du deine Haare abgeschnitten? Und musst du die Hose jetzt bei der Arbeit tragen?«
Das Mädchen schaute Lieselotte arglos an, die jedoch ihren Arm aus dem Demys zog und sie mit einem verächtlichen Blick bedachte. »Mir gefällt es so. Ich zeige damit deutlich, dass ich mich nicht länger an herkömmliche, veraltete und uns Frauen unterdrückende Vorgaben halte. Wer darf uns vorschreiben, dass wir aufwendige und komplizierte Frisuren oder unpraktische, ja diskriminierende Kleidung zu tragen haben?«
»Ich finde es schade um deine wunderschönen Haare. Sind sie nicht der Schmuck einer Frau? Und in dieser Hose siehst du so … so maskulin aus, nicht ein bisschen weiblich.«
»Schwächlich und schutzbedürftig meinst du wohl. Dieser ganze Tand zielt doch nur darauf ab, schnellstmöglich in einem Ehegefängnis zu landen. Ich strebe die ökonomische Unabhängigkeit vom Mann an. Die Sklaverei der Frau muss endlich ein Ende finden. Und dazu gehören auch aufgezwungene Äußerlichkeiten, die den Männern als Begründung dienen, uns für minderwertig zu halten. Längst schon fordern wir ein Recht auf Abtreibung. Unser Körper gehört uns. Wir sind die Benachteiligten, dadurch, dass wir die Kinder auf die Welt bringen müssen.«
»Lieselotte, ich verstehe das nicht«, wagte Demy zu widersprechen. »Jemand muss die Kinder nun einmal in sich tragen und zur Welt bringen. Gott gefiel es, diese Aufgabe den Frauen zu übergeben und damit hat er ihnen eine wichtige Rolle im Kreislauf des Lebens übertragen. Ja, sicher gehört uns unser Bauch, nicht aber das entstehende Leben darin. Es entsteht schließlich nicht nur aus dir selbst.« Demy errötete bei diesem Thema und sprach deshalb schnell weiter. »Zudem gehört es sich selbst, nicht dir, und könntest du ein ungeborenes Kind danach fragen, würde es sicher das Leben und nicht den Tod wählen. Und die Frage danach, welchen Anspruch Gott auf ein Menschenleben hat, dürfen wir dabei vielleicht auch nicht vergessen.«
Da Lieselotte ihr dieses Mal nicht ins Wort fiel, wie sie es in letzter Zeit so häufig tat, redete Demy immer weiter: »Wir Frauen sind mit Mütterlichkeit ausgestattet und dürfen diese Gabe nicht verachten.«
»Pah, glaubst du diesen Unsinn wirklich? Mütterlichkeit, das ist doch nur Mystifizierung. Sie wird uns Frauen nicht in die Wiege gelegt, sondern anerzogen. Ist nicht der beste Beweis dafür, dass es Männer gibt, die eine gewisse Mütterlichkeit ausstrahlen?«
Demy blieb abrupt stehen. Sie griff nach einem weit in den Spazierweg ragenden Zweig und zerrte aufgewühlt an diesem. Hatte es überhaupt Sinn, weiterzureden? Aber Lieselotte forderte sie immerzu zu Stellungnahmen heraus und schaute geringschätzig auf sie herunter, wenn sie keine Meinung zum angesprochenen Thema besaß.
»Moment mal, Lieselotte! Ich bin nicht gerade wie ein sittsames, typisches Mädchen aufgewachsen: Wettrennen über Dünen, Weitsprungversuche über Bäche und Grachten, Zielwerfen mit Kieselsteinen, und das alles habe ich vornehmlich mit den Jungs aus meiner Schule unternommen. Ja, ich besaß eine Puppe, die lag aber meist nur unbeachtet im Staub unter meinem Bett. Ich bin also das beste Beispiel für jemanden, der weder auf Weiblichkeit noch auf Mütterlichkeit gedrillt wurde. Und dennoch hege ich den Wunsch, eines Tages Kinder zu haben. Ich möchte sie lieben, umsorgen und großziehen. Frauen sind mütterlich, weil es von Gott, oder wenn du es anders willst: von der Natur so in uns angelegt ist. Und die Mütterlichkeit, die du in Männern siehst, sollte man vielleicht eher Väterlichkeit nennen. Denn obwohl Männer körperlich stärker sind und in vielen Dingen anders denken als Frauen, so können auch sie zärtlich und fürsorglich sein, außer man vernichtet diese Wesenszüge durch eine harte Erziehungsschule.«
»Männer und Frauen sind gleich! Wir sind in der Lage, dasselbe zu leisten«, stieß Lieselotte wütend aus, was Demy jedoch nur zu neuerlichem Widerspruch anstachelte.
»Ich kann niemals ein Gewicht in die Höhe stemmen, das ein gesunder Mann stemmen kann, und nicht so schnell laufen wie ein halbwegs normal gebauter Mann. Und Männer gebären keine Kinder und stillen sie nicht. Wir sind verschieden und wir werden immer verschieden sein! Uns wurden unterschiedliche Stärken mitgegeben! Aber unterschiedlich zu sein ist doch nichts Schlimmes!« Leiser sprach Demy weiter: »Ich fände es schrecklich, wenn es anders wäre. Wo bliebe dann die Vielseitigkeit des Lebens? Natürlich sind Männer nicht besser oder klüger als Frauen, und sie haben auch nicht das Recht, uns unsere Selbstbestimmung zu rauben. Ich pflichte dir auch bei, dass wir ein Wahlrecht für Frauen benötigen, denn unsere Stimmen, unsere Wünsche müssen gehört werden. Frauen sollten alle Berufe erlernen dürfen, die sie erlernen möchten, denn sie sind in der Lage viel zu leisten, aber doch nicht auf Kosten der Kinder!« Demy ließ den Zweig los und dieser schnellte mit einem vernehmlichen Rascheln in die Höhe.
War es die schwüle Abendluft, die ihr den Schweiß aufs Gesicht trieb, oder lag es an ihrer hitzigen Argumentation? Plötzlich schämte sie sich. Was wusste sie Jungspund schon von den Unterschieden zwischen Männern und Frauen? Von den Rechten in Preußen?
Ihre Freundin nutzte ihr verwirrtes Schweigen gekonnt aus. »Das, was du forderst, sind alles halbe Sachen, wobei ich ohnehin fürchte, du plapperst nur das nach, was dir die Frauen in diesem Lesezirkel vorgekaut haben. Und Frau Dohm hat recht, wenn sie sagt, dass man sich auf dem Gebiet der Frauenfrage immer wie ein Wiederkäuer vorkommt. Wenn nicht mal unsere Genossinnen begreifen, was sie sich mit der Beschränktheit ihrer Ansichten selbst antun!«
»Ich finde deine Worte beleidigend. Bemerkst du das nicht? Du darfst argumentieren und eine andere Sicht der Dinge vertreten, als ich es tue. Denn ohne deutliche Worte wird sich nichts ändern, dessen bin ich mir bewusst, selbst wenn ich manche deiner Ansichten für überzogen halte. Aber beleidigen lassen muss ich mich nicht, nur weil ich einen anderen Standpunkt habe als du.«
»Du hast recht, entschuldige bitte«, lenkte Lieselotte ein.
»Können wir das Thema wechseln?«, schlug Demy daraufhin vor.
»Ich war heute im Rahmen eines Treffens von uns jüngeren Frauenrechtlerinnen aus dem Verein Frauenwohl bei einer Veranstaltung des Arbeiterjugendvereins«, fuhr Lieselotte fort, als habe sie Demys Bitte nicht vernommen. »Und ich sage dir, wir leben in einer aufregenden Zeit. Stell dir das nur einmal vor: Nach den preußischen Landtagswahlen im Juni hat die SPD trotz des Dreiklassenwahlrechtes sagenhafte sieben Sitze erhalten42. Männer wie der im Waisenhaus aufgewachsene Robert Leimert oder Karl Liebknecht sind Mitglieder im preußischen Abgeordnetenhaus! Und das, obwohl Liebknecht momentan noch aufgrund seiner veröffentlichten Schriften43 wegen Hochverrats im Gefängnis sitzt!«
Lieselotte berichtete enthusiastisch weiter: »Endlich wird das gemeine Volk gehört werden müssen. Auch wir Frauen vom Verband fortschrittlicher Frauenvereine und die Mitglieder der Arbeiterjugendvereine haben unseren Anteil an diesem bahnbrechenden Wahlsieg, denkst du nicht auch? Und gemeinsam fordern wir, dass endlich Jugendliche unter sechzehn Jahren geschützt werden und Lehrlinge und ihre Schwierigkeiten bei den Lehrherren genug Aufmerksamkeit bekommen, damit nie wieder ein Lehrling aus Verzweiflung über seine Behandlung und Ausbeutung in den Freitod geht.«
Demy nickte lahm. Sie wusste um die Entstehung des Arbeiterjugendvereins und deren Anlehnung an die Gewerkschaften und die SPD. Paul Nähring war einer der vielen Jugendlichen dieser Zeit, der von seinem Vater in die Obhut des Lehrherrn übergeben worden war. Da er wie die meisten Lehrlinge in der Familie des Arbeitgebers lebte, musste er, wie allgemein üblich, nach der Arbeit noch im Haushalt mithelfen.
Eines Tages war der junge Mann verschwunden. Man fand ihn schließlich erhängt im Berliner Grunewald. Sein Körper war von unzähligen alten und frischen Wunden und Blutergüssen gezeichnet gewesen, die ihm offensichtlich von seinem Lehrherrn beigebracht worden waren.
Dass der Verein gegen derartige Praktiken anging, fand Demy sehr lobenswert, was ihr jedoch nicht behagte waren die radikalen Führer der SPD, Männer wie Karl Liebknecht. Wie Demy aus Gesprächsfetzen der Meindorff-Männer und ihrer Gäste gehört hatte, hatten diese Parteiführer es sich zum Ziel gesetzt, die Jugend anzustacheln, damit sie aktiv in die Klassenkämpfe eingriff. Die aggressive Rhetorik, die Lieselotte voll und ganz übernommen hatte, so wie sie auch die Lehren Minna Cauers und Hedwig Dohms förmlich in sich aufzusaugen schien, machte Demy Angst.
Nicht nur sie hatte gehört, dass nicht einmal die große Mehrheit der SPD unter August Bebel und Karl Kautsky hier beschwichtigen konnte, obwohl diese Gemäßigten prognostizierten, der Kapitalismus, wie er gegenwärtig im Deutschen Reich herrsche, werde über kurz oder lang von allein zu Staub zerfallen und die Macht an die SPD übergehen. In dem Wahlsieg vergangenen Juni sahen sie einen ersten Beginn dieses Verfalls.
»Wir müssen die Hände unserer jungen Leute vor der Ausbeutung schützen und unsere Köpfe vor der Verdummung!«, fuhr Liselotte fort. »Weshalb gibt man uns nicht das Recht, über unser Land, in dem wir leben, selbst zu bestimmen? Der Kaiser und alle seine Adeligen sind nicht besser oder intelligenter als wir! Und sieh dir an, was sie tun. Ihre Überheblichkeit, ihr Stolz, ihr Traditionalismus führen uns mehr und mehr an den Rand eines Krieges! Und wer steht im Falle eines solchen in der ersten Reihe? Wir, das gemeine Volk, die Jugend! Und wer befiehlt über uns, hetzt uns auf den Gegner und sieht zu, wie wir einer nach dem anderen erschossen werden? Diejenigen, die den Krieg heraufbeschwören würden: der Adel! Die Führungsebene des Militärs ist durchsetzt von ihnen und ihren Söhnen!«
Demy spürte die junge Frau neben sich vor Aufregung zittern. Sie selbst war einfach nur verwirrt. Sie verstand Lieselotte und ihre Ansichten gut, musste ihr in vielem zustimmen, dennoch missfiel ihr der aggressive Tonfall, mit dem sie die Worte förmlich ausspie. Mit einem Blick auf das gerötete Gesicht ihrer Begleiterin und in ihre kämpferisch blitzenden Augen beschloss Demy, ihr in Zukunft lieber nur noch schweigend zuzuhören.
»Demy, stell dir vor«, plötzlich war Lieselottes Ton gemäßigter, beinahe sanft, »unser Schlafbursche, der Anton, hat eine Stelle als Assistent bei Linas Vater angenommen. Er zieht demnächst bei uns aus und bei Barnas ein. Sie haben eine Dachkammer, die sie ihm zur Verfügung stellen. Und dieser Professor Barna will ihm sogar das Physikstudium ermöglichen.«
»Das ist ja wunderbar für Anton!«, erwiderte Demy und lächelte. Demnach war es Lina einmal mehr gelungen, ihren Willen durchzusetzen.
»Ja, das ist ein Zeichen dafür, dass es zumindest in der Mittelschicht noch ein paar Menschen zwischen all den Ausbeutern und Halunken gibt. Oder dass bereits ein Umdenken auch in dieser Schicht stattfindet.«
Demy seufzte laut auf, was ihre Freundin jedoch wenig beachtete. Nun ließ sie sich, wie so oft bei ihren Treffen, wütend über ihren erpresserischen Arbeitgeber aus.
Die junge Niederländerin nahm das Erreichen des Zoologischen Gartens zum Anlass, sich von Lieselotte zu verabschieden. Sie ging ein paar Schritte und wandte sich dann um, um Liselotte so lange nachzusehen, bis sie hinter den ersten Bäumen des Parks aus ihrem Blick verschwand. Dabei schlich sich ein wehmütiger Schmerz in ihr Herz. Sie hatte Lieselotte als Freundin verloren! Zu sehr unterschieden sich ihre Lebens- und Anschauungsweisen. Lieselotte investierte all die ihr neben der Fabrikarbeit verbleibende Zeit und Kraft in den als radikal verschrienen Verein Frauenwohl, Demy hingegen war eigentlich noch zu jung, um sich über diese Themen den Kopf zu zerbrechen.
Auf ihrem Heimweg in Richtung Schloss Charlottenburg hoffte und betete Demy, dass Lieselotte mithilfe ihrer neuen Bekanntschaften ihrem Lebenstraum näherkommen durfte und über die angeprangerten Missstände nicht bitter wurde oder gar ihr eigenes kleines Glück verpasste.
***
Die bunte Färbung der Blätter an den Bäumen verriet trotz des herrlich warmen Sonnenscheins über Berlin, wie weit das Jahr bereits fortgeschritten war. Vogelschwärme zogen auf ihrem Weg in südliche Gefilde über die quirlige Stadt hinweg. Auf dem Fußweg der Schlossstraße lagen die ersten Kastanien und die grünen stachelbesetzten Schalenhälften knackten unter Demys Schuhen.
Mit ihren Gedanken war das Mädchen jedoch weit fort. Die aufgerollte Berliner Neueste Nachrichten in der Hand grübelte sie über die Entwicklungen in der Welt nach, die der Zeitungsbursche lauthals auf dem Kurfürstendamm hinausgerufen hatte, sodass auch Demy ihm ein Exemplar abgekauft hatte, um die Artikel gleich Vorort zu lesen. Zwei Tage zuvor hatte Österreich-Ungarn die seit Ende der 1870-er Jahre besetzten eigentlich zum Osmanischen Reich44 gehörenden Balkanländer Bosnien und Herzegowina annektiert und damit den Konflikt mit dem Königreich Serbien massiv verschärft. Russland, auf dessen Hilfe Serbien hoffte, ließ noch auf eine Reaktion warten.
Zeitgleich hatte Fürst Ferdinand sich die Schwäche des Osmanischen Reichs zunutze gemacht, sich zum Zar von Bulgarien ausgerufen und die Unabhängigkeit des Landes erklärt. Nur einen Tag später, so verrieten die heutigen Schlagzeilen, schloss sich die unter dem Schutz der osmanischen Regierung stehende Insel Kreta dem Unabhängigkeitsbestreben Bulgariens an und verkündete ihren Anschluss an Griechenland. Es brodelte auf dem Balkan, und Österreich-Ungarn, der Bündnispartner des Deutschen Reiches, saß als Auslöser dieser Krise inmitten des von ihm angeheizten Hexenkessels45.
Das tiefe, heiser klingende Hupen eines Automobils schreckte Demy auf. Mit gerümpfter Nase betrachtete sie das glänzende Schwarz von Hannes’ Fahrzeug. Es hielt entgegen der Fahrtrichtung am Straßenrand direkt neben ihr.
»Hier steckst du! Charles sagte mir, du seiest bei der Familie Pfister, aber als ich dort eintraf, hieß es, du müsstest bereits zu Hause sein.«
Verwirrt musterte Demy den jungen Kadetten. Er trug einen vornehmen schwarzen Frack, und die akkurat gebundene Krawatte über dem weißen gestärkten Hemd passte weder zu dem fröhlichen Hannes noch zu der sommerlichen Stimmung des warmen Septembertages.
»Du warst in diesem Hochzeitsstaat im Haus deines Vaters, um meine Schwester zu begrüßen? Steht der herumziehenden Zigeunerin denn diese Ehre zu?«
»Du glaubst nicht, was mich das für Nerven gekostet hat, kleine Demy. Aber Edith braucht doch ihr Brautfräulein. Also habe ich den Versuch gewagt, dich abzuholen. Die Aufregung um die Rückkehr von Tilla kam mir dabei sehr entgegen.«
»Tilla, Rika und Feddo sind also tatsächlich schon angekommen!? Ich muss schnell … was?« Demy, der die Bedeutung von Hannes’ Worten erst jetzt aufging, starrte den jungen Mann ungläubig an.
»Spring schnell rein, dann schaffen wir es noch rechtzeitig, bevor der Beamte auf dem Standesamt Feierabend macht.«
»Hannes? Was hat das zu bedeuten?«
Der Angesprochene zeigte ihr ein so schelmisches Grinsen, wie sie es bei ihm niemals zuvor gesehen hatte. Das Leuchten seiner Augen bestätigte ihr, dass sie sich nicht verhört und sich das Weitere richtig zusammengereimt hatte: Hannes und Edith wollten heute heiraten! Vermutlich war eine heimliche Trauung geplant, denn im Hause Meindorff war man ja mit Tilla beschäftigt, deren Rückkehr gestern per Telegramm angekündigt worden war.
Der Bräutigam sprang aus dem Wagen und riss Demy ungestüm in die Arme, um sie vom Boden hochzuheben und sich gemeinsam mit ihr einmal um seine eigene Achse zu drehen.
»Ja, Demy. Edith und ich heiraten! Es hat viel Überzeugungskraft und auch eine Unsumme an Geld gekostet, um dies in aller Heimlichkeit zu arrangieren, doch heute ist es so weit. Die Liebe meines Lebens wird meine Ehefrau, bis dass der Tod uns scheidet, und du, die du einen gewaltigen Anteil an meinem und Ediths Glück hast, bist eine der Brautführerinnen. Gleichzeitig wirst du von dem schrecklichen Joch der Verlobung mit mir befreit.« Voll Überschwang küsste er sie auf beide Wangen, ehe er sie endlich losließ und für sie die Tür seines Automobils öffnete.
Da sie erst einmal ihre wild wirbelnden Gedanken und die auf sie einströmenden Gefühle sortieren musste, zögerte Demy.
»Bitte steig ein, Kleines. Wenigstens zwei Personen meiner Familie hätte ich gern an meinem großen Tag mit dabei. Dich und Philippe. Doch dieser Herumtreiber ist natürlich mal wieder nicht da. Also? Kommst du?«
»Weißt du, was du mit dieser übereilten Handlung heraufbeschwörst?«, mahnte sie, noch immer zögernd.
»Ärger, Enterbung, Verbannung?«
»Warum lässt du deinem Vater nicht etwas Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er eine Arbeiterin zur Schwiegertochter bekommt? Gib ihm die Möglichkeit, Edith kennenzulernen, und er wird feststellen, was für eine nette Person sie ist.«
»Kleine Demy! Du hast ein gutes Herz. Aber mein Vater hat mir unmissverständlich klargemacht, dass er diese Verbindung niemals gutzuheißen gedenkt; nicht in einhundert Jahren. In ihm steckt eine Erziehung, die besagt, Adel wird ausschließlich mit Adel verbunden, Macht mit Macht und Geld mit Geld, um das Imperium, die Familie zusammenzuhalten, wenn nicht sogar zu vergrößern. Gefühle spielen dabei keine Rolle.«
»Aber du bist sein Sohn. Deine Gefühle müssen ihm doch etwas bedeuten!«
»Dass er so nicht denkt, hast du doch am eigenen Leib erfahren. Lieber arrangiert er eine für ihn nutzlose Heirat zwischen dir und mir, als dass er mir die Ehe mit einer Frau einfacher Herkunft erlaubt hätte«, sagte Hannes mit bitter klingender Stimme.
»Denk doch an die möglichen Folgen für dich und Edith. Unsere Abmachung verschafft euch ausreichend Zeit, damit dein Vater seine Meinung ändern kann«.
»Mein Entschluss steht unumstößlich fest.«
»Und der von Edith?«
»Natürlich ebenfalls. Was soll diese Frage?«
Demy zog hilflos die Schultern hoch. Sie fühlte sich müde und überfordert und fragte sich, weshalb sie sich überhaupt in die Angelegenheit eines Mannes einmischte, der rund sechs Jahre älter war als sie selbst. »Was erhofft sie sich von dieser heimlichen Eheschließung?«
»Ein Leben an meiner Seite.«
»Den Reichtum, das Ansehen, den Namen Meindorff?«
»Demy!« Hannes runzelte die Stirn und ergriff sie derb an den Oberarmen. »Was soll das? Was willst du? Gönnst du mir das Glück mit Edith nicht?«
»Leiser«, zischte dieses Mal Demy. Entschuldigend lächelte sie einen vorbeischlendernden älteren Herrn an. »Ich wünsche dir und deiner Edith nur das Allerbeste. Aber hat sie eine Ahnung, was auf euch zukommt? Kannst du deine Militärlaufbahn fortsetzen, wenn dein Vater sich von dir abwendet? Wie viele Kameraden hast du in deiner Offiziersausbildung oder dein jüngerer Bruder in der unteren Stufe der Militärschule, die nicht aus dem Adel, oder zumindest aus dem gut situierten Bürgertum stammen? Wie bringst du das Geld für eine Familie und deine Ausbildung auf?«
»Das wird schon gehen. Immerhin erfährt mein Vater zunächst einmal gar nichts von unserer Trauung. Wir halten sie so lange wie möglich geheim. Falls das aus Rücksicht auf dich nicht mehr geht und er mir die Unterstützung streicht, ergreife ich eben einen anderen Beruf. Edith hat ja auch ein Einkommen durch ihre Arbeit. Nun freu dich doch einfach für mich und werde eines von Ediths Brautfräulein.«
»Ich komme mit«, erwiderte Demy schließlich, wenn auch noch immer zögerlich. So wie Hannes sich ausdrückte, war sie hoffentlich nicht die einzige Trauzeugin, denn sollte der Standesbeamte ihre Papiere einsehen wollen, würde er feststellen, dass sie aufgrund ihres Alters für diesen Status nicht taugte. Oder war genau das ihre Chance, die unüberlegt vorangetriebenen Pläne von Hannes vorerst zum Scheitern zu bringen?
Das Türenschlagen und die laute, durch das Foyer dröhnende Stimme des alten Rittmeisters bei der letzten Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn noch immer im Ohr, rang sie um eine Entscheidung, ob sie Hannes von seiner vorschnellen Eheschließung abbringen sollte oder nicht.
»Nun mach nicht so ein Gesicht. Freu dich lieber mit mir. Hin und wieder muss der Mensch sein Herz entscheiden lassen, nicht die Forderungen seines Umfeldes.«
Demy, mit den Gedanken bei der zutiefst unglücklichen Tilla, stieg ein, strich ihren lindgrünen Rock glatt und beobachtete, wie der aufgekratzte Bräutigam hinter dem Steuer Platz nahm. Es mochte schon seine Richtigkeit haben, dem Herzen zu folgen. Nur fragte sie sich, ob Hannes’ noch junges Herz nicht lautstark seinen Verstand überschrie, der ihn vielleicht zu einer langsameren, überlegteren Gangart ermahnt hätte.
Er gab Gas, und Demy griff mit beiden Händen nach ihrem runden Strohhut, an dem die grünen Satinbänder wild flatterten und der ihr vom Kopf zu wehen drohte.
»Ich bin für eine Hochzeit nicht passend gekleidet«, wagte Demy einzuwerfen, noch immer unschlüssig darüber, wie sie zu der heimlichen Trauung stehen sollte.
»Mir scheint fast, du willst inzwischen Vaters arrangierte Verbindung eingehen!«
Das Mädchen kräuselte die Nase, senkte aber peinlich berührt den Kopf und spürte, wie die Röte ihr heiß ins Gesicht stieg. Immerhin hatte sie in den vergangenen Tagen und Wochen mehrere Male mit diesem Gedanken gespielt.
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie überdeutlich gegen den Fahrtwind an.
»Warum zögerst du dann?«
»Ich habe Angst um dich …«
»Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, was ich tun und lassen will.«
Obwohl Demy schwieg, schlugen ihre Gedanken Kapriolen. Brach mit der Trauung von Hannes und Edith die letzte, wenn auch für sie im Grunde ohnehin nicht akzeptable Zufluchtsstätte für sie weg? Sie und ihre jüngeren Geschwister würden den Meindorffs schon bald lästig werden und vielleicht einen weiteren Heiratskandidaten auf den Plan rufen.
Demy erschauerte bei der Vorstellung, zwang sich aber, Hannes endgültig aus ihren Zukunftsplänen zu verdrängen. Ihr Leben veränderte sich momentan rasant, praktisch von einer Minute auf die andere. War vor einigen Wochen noch die Aufregung um das Findelkind ein Abenteuer für sie gewesen, betrafen die Schwierigkeiten nun ihre unmittelbare Zukunft. Lina und Margarete wussten inzwischen um ihre Heimlichkeiten. Würden sie schweigen? Akzeptierten die beiden jungen Damen sie tatsächlich noch immer als Gleichgestellte? Lieselotte mit ihren radikalen Ansichten war für sie als Vertraute verloren. Der Vater war tot, das Zuhause in Koudekerke gab es nicht mehr.
Somit war der Weg für Tilla und die Meindorffs geebnet, ihr einen Fremden als Ehemann zuzuführen. Fehlte nur noch, dass sie auch noch schlechte Nachrichten von Anki aus Russland übermittelt bekam.
Ruckartig hob Demy den Kopf. Anki! Weshalb war sie bisher nie auf diesen Gedanken gekommen? Es gab noch eine weitere Zufluchtsstätte vor einer ungewollten Ehe! Sie konnte Anki heimlich bitten, für sie in St. Petersburg ebenfalls eine Kindermädchenanstellung aufzutun.
Ankis Arbeitgeber, Oberst Chabenski, schien einflussreich zu sein und über exzellente Verbindungen zu verfügen, sodass dieses Anliegen womöglich gar kein Problem darstellte. Falls sich die Dinge dramatisch schlecht für sie entwickelten, würde sie einfach heimlich die Flucht antreten. Immerhin hatte sie bei Hannes noch etwas gut. Er konnte ihr dabei helfen, Fahrkarten zu besorgen, ihr Gepäck aufgeben …
Erleichtert über diese Möglichkeit lächelte Demy befreit vor sich hin, lehnte sich in den harten Sitz des Daimlers zurück und nahm sich fest vor, Anki noch am gleichen Tag einmal wieder zu schreiben.
Sie schwieg auf dem gesamten Weg nach Groß-Lichterfelde, den Strohhut mit einer Hand auf ihr Haar gepresst, mit der anderen hielt sie sich an der Tür fest. Ihre Hoffnung aber klammerte sich an die soeben gesponnenen Pläne.