Kapitel 15

Magdeburg, Deutsches Reich,
März 1908

Hannes hielt Edith die Tür auf und ließ sie hinaus, während er einen letzten aufgebrachten Blick zurück auf die diskutierenden jungen Leute warf. Wie konnte man nur so engstirnig sein und behaupten, alle Industriellen seien Ausbeuter und häuften ihren Reichtum unverdient an!

Seine Familie besaß ein luxuriöses Stadthaus, Grundstücke rund um Berlin, die allmählich von der Stadt aufgekauft und verbaut wurden, und ein beträchtliches Vermögen auf der Bank, das stritt Hannes nicht ab. Doch das alles war den Meindorffs nicht einfach in den Schoß gefallen. Einer seiner Ahnen hatte mutig Geld investiert und mit harter Arbeit ein Unternehmen aufgebaut, das von nachfolgenden Generationen erweitert und den Veränderungen der Zeit angepasst wurde. Inzwischen leiteten sein Vater und Joseph Meindorff-Elektrik, handelten Verträge aus und gingen Risiken mit den Firmengeldern wie auch mit privatem Vermögen ein, um den Fortbestand des Unternehmens zu sichern. Sie mussten weder mit hohen körperlichen Belastungen noch an Werkbänken arbeiten, aber Müßiggang kannten sie dennoch nicht. Ihr Arbeitspensum war dem ihrer Angestellten durchaus gleichzusetzen.

»Kommen Sie, Herr Meindorff?«, fragte Edith. Sie war bereits auf den Gehweg getreten und sah lächelnd zu ihm auf.

Hannes schlug den Kragen seines Mantels hoch und beeilte sich, neben sie zu treten und ihr seinen Arm anzubieten.

Beim Anblick von Ediths Lächeln verflog sein Ärger so schnell, als trage der laue Abendwind ihn davon. Dies war ihr drittes Treffen, seit er damals mit Philippe Hans Grades Flugzeug angesehen hatte, und in ihrer Nähe vollführte sein Herz jedes Mal wildere Kapriolen. Wenn sie ihn mit ihren blauen Augen ansah, fühlte er sich wie berauscht vor Glück, weshalb ihm jeder Tag, an dem er Edith nicht treffen konnte, trübe und leer vorkam. Seine schulischen Leistungen ließen zu wünschen übrig, da er ununterbrochen an sie dachte. Einmal war er dabei erwischt worden, wie er sich unerlaubt aus der Kadettenanstalt entfernt hatte, um in Berlin über die Blumenspenden-Vermittlungsvereinigung15 einen Blumengruß für Edith in Auftrag zu geben. Der Verweis wegen dieses Vergehens machte sich in der Akte eines zukünftigen Offiziers ebenso schlecht wie seine neuerdings miserablen Leistungsnachweise.

»Sie waren heute Abend ungewöhnlich schweigsam«, riss Edith ihn aus seinen Gedanken.

»Ich bin nicht unbedingt das, was man einen politisch engagierten Menschen nennt«, wich er aus. Er hatte Edith noch immer nichts über seine Herkunft erzählt, denn offenbar fühlte sie sich in dem Kreis junger Sozialisten sehr wohl, wenngleich sie deutlich zurückhaltender argumentierte als ihre Bekannten und in ihrer Ansicht gemäßigter erschien.

»Aber Sie bilden sich dennoch eine eigene Meinung über politische Vorgänge und gesellschaftliche Belange.«

»Sicher«, gab er schnell zurück und warf ihr einen beunruhigten Seitenblick zu. Er war noch nicht bereit, ihr zu gestehen, dass er zu dem von ihren Freunden so attackierten Großbürgertum gehörte. »Ist das nicht ein herrlicher Abend?«, lenkte er vom Thema ab. »Die Luft ist so frisch und hören Sie … ist das nicht ein Kuckuck?«

Edith blieb stehen, behielt weiterhin ihren Arm in dem seinen und schloss die Augen, während sie dem kehligen Ruf des Vogels lauschte. »Wunderschön. Wo er wohl sitzt?«

»Wir könnten versuchen, es herauszufinden«, schlug Hannes vor, lachte erleichtert auf und dirigierte Edith in Richtung Park.

Sie folgte ihm bereitwillig und suchte mit den Augen die Bäume nach dem Vogel ab, und dabei hielt sie sich die ganze Zeit an seinem Arm fest. Hannes ließ sie gern gewähren und genoss ihre Nähe. Dabei beobachtete er eher ihr Gesicht und die munter blitzenden Augen, als dass er nach dem Kuckuck Ausschau hielt.

Plötzlich flog der Vogel auf. Die dunklen Fruchtstände der Erle, in deren Geäst er gesessen hatte, hüpften für einige Sekunden wild auf und ab. Edith klammerte sich an ihn, und Hannes nutzte ihren Schrecken aus, indem er sie näher an sich zog. Begeistert atmete er den leicht blumigen Duft einer parfümierten Seife ein, doch da begann sie bereits, sich gegen seine Nähe zu sträuben.

»Keine Angst, so schnell falle ich nicht in Ohnmacht«, spottete sie gutmütig. Zwar fiel Hannes in ihr Lachen ein, aber sie loszulassen fühlte sich an, als würde sich seine Haut ablösen. Er war jedoch nicht der Typ, der sich lange unangenehmen Gefühlen hingab. Vielmehr freute er sich darüber, dass er sie wenigstens einmal im Arm gehalten hatte und nun wusste, wie sie duftete. Das musste für heute genügen!

»Sie sollten mich nach Hause bringen, Herr Meindorff. Ich muss morgen früh pünktlich vor dem Fabriktor stehen.«

»Ungern«, erwiderte er und zwinkerte ihr zu, was sie zum Lachen brachte. Diesmal schlug sie sein Angebot aus, sich erneut bei ihm unterzuhaken. Es war, als habe sie sich darauf besonnen, mehr Abstand zu ihrem Begleiter einzuhalten. Hannes nahm auch dies hin.

Auf dem Weg zu ihrem Elternhaus unterhielten sie sich über unverfängliche Nebensächlichkeiten. Unterdessen war die Dämmerung in die Nacht übergegangen, und als Hannes Edith vor die Haustür geleitete, stand ein großer, fast vollkommener Mond am Himmel. Sein fahles Licht beschien Ediths rundes Gesicht und hob eine gelöste Haarsträhne hervor. Hannes streckte die Hand aus, um sie ihr aus der Stirn zu streichen, doch Edith war schneller. Verlegen bot er ihr die erhobene Hand zu einem verabschiedenden Händedruck. Zügiger als von Hannes erwünscht öffnete Edith die Tür, huschte hindurch und schloss sie hinter sich.

Hannes’ Schultern sackten herab. Er hatte auf eine zärtliche Berührung, auf ein Lächeln, das Zuneigung verriet oder zumindest auf eine neue Verabredung gehofft, aber all dies blieb ihm versagt. Ob sie seine Gesellschaft nicht so genoss wie er die ihre? Er drehte sich um, ging langsam die Stufen hinunter und trat am Straßenrand zu seinem geparkten Daimler. Sie ist einfach nur wohlerzogen und ein bisschen schüchtern, sagte er sich. Immerhin hatte sie bereits drei Treffen mit ihm zugestimmt, wenngleich diese immer in Gesellschaft stattgefunden hatten. Vielleicht sollte er es einmal wagen, sie zu einem Spaziergang mit ihm allein einzuladen?

Nachdem er die Automobiltür geöffnet hatte, wandte er den Kopf. Ediths Silhouette am Fenster hob sich deutlich vor dem Lichtschein aus dem Zimmer ab. Sie winkte ihm zu, bevor sie die Vorhänge zuzog. Auf Hannes’ Gesicht breitete sich ein fröhliches Lächeln aus, ehe er endlich einstieg und in Richtung Groß-Lichterfelde fuhr. Die Tatsache, dass der Zapfenstreich längst überschritten sein würde, bis er dort ankam, verdrängte er mühelos aus seinen Gedanken. Diese drehten sich einzig und allein um Edith.

Himmel ueber fremdem Land
titlepage.xhtml
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_000.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_001.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_002.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_003.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_004.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_005.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_006.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_007.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_008.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_009.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_010.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_011.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_012.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_013.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_014.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_015.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_016.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_017.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_018.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_019.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_020.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_021.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_022.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_023.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_024.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_025.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_026.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_027.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_028.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_029.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_030.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_031.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_032.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_033.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_034.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_035.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_036.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_037.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_038.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_039.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_040.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_041.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_042.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_043.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_044.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_045.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_046.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_047.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_048.html