Kapitel 36
Berlin, Deutsches
Reich,
August 1908
Hannes stellte sich Demy in den Weg und zog sie recht unsanft hinter die vom noch immer kräftigen Wind geschüttelte Baumgruppe.
»Du hast mich erschreckt! Was tust du um diese Uhrzeit mitten in der Woche überhaupt hier? Du forderst es ja geradezu heraus, dass deine Vorgesetzten in der Anstalt dich eines Tages erwischen.«
»Du hörst dich an wie eine Gouvernante«, entgegnete Hannes, dem es nicht gelang, seine Stimme vorwurfsvoll klingen zu lassen.
»Die hättest du auch ganz dringend nötig. Was, glaubst du, passiert, wenn sie in der Schule deine Abwesenheit bemerken?«
»Dein Akzent ist niedlich, wenn du dich so aufregst.«
»Hannes!«
»Philippe hat unrecht.«
»Wie bitte?«, brummte Demy und ihr Blick wurde noch eine Spur vorwurfsvoller. An Hannes’ ungehobelten Freund erinnerte sie sich nur ungern.
»Er behauptete, Tilla habe uns mit dir ein viel zu junges Küken ins Nest gelegt. Aber wenn du so sprichst, kann ich das nicht glauben. Oder ist das Frau Cronbergs Einfluss? Sie hat noch aus jedem störrischen Wildfang eine gediegene, angepasste Person geformt.«
»Mit zwei Ausnahmen.«
»Philippe … Und wer noch?«
Hannes’ Grinsen veranlasste Demy dazu, ihn gegen den Oberarm zu boxen. »Du machst dich jetzt sofort auf den Weg zurück in deine Offiziersschule!«
»Nicht so laut, Schwesterherz.« Wie meist zum Herumalbern aufgelegt, beugte Hannes sich nach vorn und spähte zwischen den Zweigen hindurch zum Haus, ob dort alles ruhig blieb.
»Zuerst muss ich dich um einen ganz großen Gefallen bitten«, flüsterte er dann.
Bei diesen Worten wurde sein Gesicht schlagartig ernst, was Demy dazu brachte, einmal wieder besorgt die Nase zu rümpfen. Ihre Vermutung, er habe Kummer mit seiner Edith, war wohl kaum aus der Luft gegriffen. Nicht, nachdem es diese zu ihrer beider Leidwesen viel diskutierte Verlobungsneuigkeiten zwischen dem Hause Meindorff und einer weiteren van Campen-Tochter gegeben hatte.
»Was ist passiert?« Ihr beunruhigter Ausruf erstickte zur Hälfte hinter Hannes’ Hand, die er kräftig auf ihren Mund presste. Dabei zischte er warnend und warf einen zweiten nervösen Blick zum Haus hinüber, in dem nur noch ein paar wenige Fenster erhellt waren.
»Edith ist mächtig böse auf mich. Sie will mich nicht mehr treffen.«
Demys Augen über seiner Hand wurden groß und rund. Augenblicklich war ihr klar, dass sie nicht nur Hannes zu bemitleiden hatte, sondern dass diese Veränderung in Ediths Gesinnung auch sie in erhebliche Bedrängnis brachte. Sollte Hannes Edith verlieren, gab es für ihn keinen Anlass mehr, gegen die Pläne seiner Familie zu rebellieren.
Demy atmete tief durch, nachdem Hannes seine Hand von ihren Lippen genommen hatte.
»Sie hat diese vermaledeite Verlobungsanzeige in den Zeitungen gesehen und die noch unglücklichere ›Jüngerer-Bruder-und-jüngere-Schwester-heiraten-ebenfalls‹-Berichterstattung. Jetzt nimmt sie an, du liebst mich tatsächlich und stehst ihr im Wege. Außerdem …« Hannes runzelte die Stirn. Tief empfundener Schmerz sprach aus jeder Faser seines Körpers. »Außerdem hegt sie den Verdacht, ich könne mich nicht gegen meinen Vater durchsetzen, wenn es hart auf hart kommt.«
Diese Angst fand Demy nicht unbegründet, zumal die junge Dame den aufgebrachten Herrn Meindorff ja bei dem Lumpenfest kennengelernt hatte.
»Ich spreche nochmals mit meinem Vater. Es muss einen Weg für Edith und mich geben. Notfalls versuche ich, deine Schwester und meinen Bruder zu überzeugen und sie mit ins Boot zu ziehen.« Kämpferisch warf ihr Gesprächspartner den Kopf zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Dennoch glaubte Demy, Unsicherheit und Schmerz in seinem Blick zu erkennen. Offenbar fühlte er sich bei Weitem nicht so sicher, wie er sich ihr gegenüber gab. Und das zu Recht.
Konnte Hannes tatsächlich mit der Hilfe seines Bruders rechnen? Bei der Erinnerung an den kurzen Augenblick, als sie an der offen stehenden Tür von Julia Romeike vorbeigekommen war, schauderte sie. Die Leidenschaft, mit der Joseph, sonst immer so berechnend und kühl, die blonde Frau an sich gepresst und ihren Hals geküsst hatte, erschreckte sie aufs Neue und übertraf sogar ihre Erleichterung darüber, dass er sie nicht gesehen hatte.
Spielten für ihn Gefühle keine Rolle? Fand er bei Julia etwas, was ihm Tilla nicht geben konnte … oder wollte? Oder machten das am Ende alle Männer so? Gehörten denn Sexualität und Liebe nicht zusammen?
Benommen blickte das Mädchen auf ihre Hände hinunter. War es bei ihren Eltern ebenso gewesen? Sie wusste nicht mehr sehr viel über ihre Mutter, hatte sie aber glücklich in Erinnerung. Tilla hingegen …
Demy hob ruckartig den Kopf. Wusste Tilla von dieser Julia? Hatte er ihr in ihren Flitterwochen seine Affäre bekannt oder ihr sogar rüpelhaft mitgeteilt, er sehe keine Veranlassung, sie nach seiner Eheschließung zu beenden?
Jedenfalls wusste Demy jetzt auch, warum er auf der Hochzeitsfeier so fahrig und unwirsch geworden war, kaum dass Rathenau mit seiner Begleiterin den Raum betreten hatte. Vielleicht war ihr Auftauchen bei dieser Festlichkeit Julias perfide Rache an einem Mann gewesen, der sie benutzt und anschließend im Stich gelassen hatte?
»Demy?« Der Kadett riss sie aus ihren düsteren Überlegungen zurück in die für das Mädchen nicht unbedingt einfachere Gegenwart. »Edith hat mir einen schrecklichen Brief geschrieben. Sie schrieb darin, sie wolle mich vergessen. Sie möchte weder meiner Karriere im Weg stehen noch einen Keil in unsere Familie treiben. Sie meinte, sie fände in so einer angesehenen Familie vermutlich niemals ihr Glück, weil sie einfach nicht dazugehöre, und sie wolle keiner anderen, geeigneteren Frau den Platz an meiner Seite streitig machen. Ich solle alle Bemühungen um sie aufgeben.«
Bestürzt kniff Demy die Augen zusammen. Sie hörte den Schmerz in Hannes’ Stimme, sah das Zittern seiner Hände und den plötzlich ungewöhnlich ernsten, ja verzweifelten Gesichtsausdruck, der sein freches Jungengrinsen fortgewischt hatte. »Ich schrieb ihr nochmals, um von ihr einen letzten Gefallen zu erbitten. Daraufhin hat sie sich bereit erklärt, sich mit dir zu treffen.«
»Mit mir? Aber Hannes, was sollte ich denn tun können? Bitte zieh mich nicht in diese Sache mit hinein. Ich kann mich deinem Vater nicht widersetzen. In dieser Position bin ich bei Weitem nicht!« Demy atmete stoßweise. Sie war nicht furchtsam veranlagt, aber vor diesem imposanten Mann, auf dessen Wohlwollen sie letztendlich angewiesen war, hatte sie Angst.
»Du sollst nicht mit meinem Vater sprechen, sondern mit Edith, kleine Demy. Sie sieht in dir eine Konkurrentin. Obwohl ich ihr versichert habe, dass das nicht der Fall ist, denke ich doch, es wäre sinnvoll, wenn sie das einmal aus deinem eigenen Mund hört.«
Demy wand sich innerlich und gab keine Antwort. Jetzt verfügte Hannes also auch noch über ihre Zeit, ganz zu schweigen davon, dass sie nicht erpicht darauf war, mit einer eifersüchtigen Frau zusammenzutreffen.
Natürlich lag es in ihrem eigenen Interesse, die leidige Angelegenheit zu klären. Erneut war sie knapp davor, Hannes an den Kopf zu werfen, dass sie gerade 14 Jahre alt war und seinem Vater reinen Wein einzuschenken gedenke. Allerdings wäre dies sehr egoistisch, denn Ediths und Hannes’ Situation würde sich dadurch auch nicht einen Deut verbessern.
»Nun schau mich nicht so kritisch an. Edith ist eine durch und durch liebenswerte Person. Ihr trefft euch, und du versicherst ihr, dass du keinerlei Interesse an mir hast und diese ganze Geschichte nur mitspielst, damit ihr und mir genug Zeit bleibt, um weitere Schritte zu planen.«
»Ich tue das, Hannes, weil ich keine andere Wahl habe. Ich wurde ebenso gezwungen, die Wünsche der Familie hinzunehmen. Und wenn dir nicht bald etwas absolut Großartiges zur Lösung unseres Problems einfällt, stehen wir irgendwann vor dem Traualtar. Ich treffe mich mit Edith, dennoch liegt es an dir, eine Lösung herbeizuführen, da gebe ich ihr vollkommen recht«, erklärte sie nachdrücklich, um dann fortzufahren: »Natürlich kann ich notfalls nach Holland zu meinem Vater flüchten, aber dein Vater findet dann womöglich sehr schnell eine andere Frau für dich – und das wird sicher wieder nicht Edith sein!«
»Du hast ja recht, wie Edith auch«, pflichtete ihr Hannes bei und trat wütend mit dem Fuß gegen den breiten Stamm der Buche, in deren Schatten sie ihre erregte Diskussion führten.
»Wann und wo?«
»Morgen schon. Nimm Henny mit und unternimm einen Ausflug in den Tiergarten. Edith wird dich an der Puppenallee39 beim Reichstag erwarten. Zwischen den marmornen Ahnen Seiner Majestät flanieren ständig eine Menge Passanten. Dort fallen zwei weitere Spaziergängerinnen nicht auf.«
»Meine Güte, Hannes. Wem sollten wir denn auffallen?«
»Edith meinte zuletzt, sie habe das Gefühl, sie werde beobachtet. Vermutlich täuscht sie sich. Aber vielleicht hat mein Vater tatsächlich einen seiner Handlanger beauftragt, zu beobachten, ob ich Edith weiterhin heimlich treffe.«
Das Unbehagen, das Edith bei dem Gedanken durchlebte, fortwährend von jemandem beobachtet und kontrolliert zu werden, war für Demy durchaus nachvollziehbar. Da sie fast täglich verstohlen das Grundstück verließ, um im Schlossgarten die Kinder zu unterrichten, fühlte sie bei der Aussicht, bei ihrem Treffen mit Hannes’ Freundin von einem Beobachter des alten Meindorff gesehen zu werden, ein unangenehmes Prickeln im Nacken. Falls Ediths Verdacht zutraf, konnte auch sie sich auf ein Donnerwetter einrichten.
»Um welche Uhrzeit soll ich sie treffen?«, fragte sie tapfer nach.
»Achtzehn Uhr. Früher kann Edith von Magdeburg aus nicht hier sein.«
»Dann wird sie aber über Nacht bleiben müssen.«
»Sie hat eine Verwandte in Berlin, bei der sie das Wochenende verbringt. Und solltest du Erfolg haben, kann ich sie auch endlich wiedersehen und nicht nur brieflich oder telegrafisch mit ihr kommunizieren.«
Aus seinen Worten sprach so viel Qual und Hoffnung zugleich, dass Demy gar nicht anders konnte, als ihm zu versichern, sie werde Frau Müller davon überzeugen, dass sie keinerlei Interesse an ihm hatte.
Hannes verzog das Gesicht, wohl, weil ihre Aussage seinem männlichen Ego nicht eben schmeichelte. »Ich stehe tief in deiner Schuld«, murmelte er dann, küsste sie flüchtig auf die Wange und verschwand in der Dunkelheit.
Demy verharrte zwischen den schwarzen Stämmen und lauschte auf das Brausen der Blätter über ihr. Ihr war, als flüsterten sie ihr warnend zu, sich nicht zu tief in diese Sache zu verstricken, um ihre geheime Schule und ihre ohnehin stark beschnittenen Freiheiten nicht aufs Spiel zu setzen. Allerdings wollte sie dem Glück von Hannes nicht im Weg stehen und so kehrte sie dem Raunen der Blätter den Rücken, trat auf den Weg zurück und schlenderte tief in Gedanken versunken in Richtung der ausladenden Freitreppe.
***
Demy traf ihre Schwester am nächsten Morgen zu ungewöhnlich früher Stunde im Speiseraum an. Noch immer bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen – deutliche Zeugen ihres Kummers und Schlafmangels – kaute sie mit sichtlichem Widerwillen auf einem Brötchen herum. Vermutlich zwang sie sich zu dieser Mahlzeit, und angesichts der um ihre schmal gewordenen Schultern hängenden Bluse war das auch gut so.
»Guten Morgen, Tilla.« Das Mädchen schenkte seiner Schwester ein Lächeln, das diese nur oberflächlich erwiderte.
»Guten Morgen. Du bist gestern spät nach Hause gekommen.«
Demy nickte nur und dachte bei sich, dass Tilla viel mehr danach aussah, als habe sie die Nacht zum Tag gemacht. Sie schwieg jedoch, holte sich vom reichhaltigen Büffet Brot und Käse, ließ sich Tee einschenken und setzte sich neben ihre Schwester.
»Tilla, ich muss mit dir reden.«
»Ist etwas passiert? Hast du etwas angestellt?«
»Nein. Aber ich habe Augen im Kopf. Dir geht es nicht gut und darüber möchte ich mit dir sprechen.«
»Was mich betrifft, brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Genieß dein junges Leben.«
»Ich genieße das Frühstück und später kommt Fräulein Cronberg. Da ist der Genuss dann sehr schnell vorbei.«
Jetzt endlich hob Tilla den Kopf und musterte sie. »Plagt sie dich, dieses Fräulein Cronberg?«
»Plagen?« Leise lachte Demy auf und drückte ihrer Schwester die erschreckend kalte Hand. »Sie ist streng und anspruchsvoll. Wenn ich ihre Ausbildung abgeschlossen habe, wird mein Verhalten in der Öffentlichkeit darüber entscheiden, ob ihr Ruf weiterhin tadellos bleibt oder ob ich ihn ruiniere! Aber im Grunde mag ich sie sogar. Sie ist höflich, aufmerksam und manchmal sogar auch lustig. Aber ihre Aufgabe nimmt sie sehr, sehr ernst.«
»Philippe, Hannes und Albert sind ebenfalls durch ihre Schule gegangen.«
»Dein Mann nicht?«
»Nein, die Erziehung des Erben übernahmen die Mutter, und vor allem der Vater persönlich.«
Demy runzelte die Nase und fragte sich, ob der bittere Tonfall in Tillas Stimme bedeutete, dass sie diesen Umstand bedauerte. Nahm ihre Schwester an, die Ausbildung bei Fräulein Cronberg wäre Joseph besser bekommen? Vermutlich deuteten der lose Lebenswandel von Philippe und das sonnige Gemüt von Hannes darauf hin, dass ihre Ausbildung sich grundsätzlich von der des ältesten Bruders unterschieden hatte. Albert, den jüngsten Meindorff, kannten Demy und Tilla noch immer nicht persönlich. Er war immerzu in seiner Militärschule kaserniert.
Demy hatte nicht vor, sich mit Tillas ausweichender Antwort zufriedenzugeben. »Du musst mir erzählen, was auf der Reise zwischen dir und deinem Mann passiert ist.«
»Ich muss gar nichts, liebe Demy. Kümmer dich um deine Angelegenheiten.«
Da war sie wieder, diese hochnäsige Bewegung, mit der sie den Kopf von ihr wegdrehte, und die besondere Stimmlage, die Demy schon immer so gereizt hatte, dass Tilla häufig ein Opfer ihrer übermütigen Streiche geworden war.
»Du hast darauf bestanden, dass ich dir als deine persönliche Gesellschafterin nach Berlin folge, und das heißt, ich bin auch dafür verantwortlich, wie es dir geht und was dich umtreibt.«
»Du bist ein kleines Mädchen ohne jegliche Verantwortung mir gegenüber.«
Aufgebracht und frustriert zugleich stemmte Demy ihre Hände gegen die massive Tischplatte. »Und aus welchem Grund bin ich dann hier?«
»Weil …« Tilla unterbrach sich, schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. Noch bevor die ältere der beiden Schwestern die Tür zum Foyer erreichte, war Demy an ihr vorbeigeeilt und stellte sich ihr in den Weg.
»Ich möchte dir helfen.«
Die junge Ehefrau lachte bitter auf. »Wie könntest du mir helfen?«
»Ich lebe, im Gegensatz zu dir, seit Monaten in Berlin. Ich kenne mich hier aus, weiß um die Eigenheiten der Leute, weiß um …«
»Berlin ist nicht die Welt.«
»Diese Stadt ist momentan meine Welt, und auch die deine. Und das für den Rest deines Lebens. Du wirst hier leben. In diesem Haus. Mit diesem Mann. Du kannst jetzt gleich versuchen, dich mit dieser Tatsache zu arrangieren oder ein Leben lang mit diesen Ringen unter den Augen und den abgehärmten Gesichtszügen herumlaufen, die sich sicher bald in deine Haut einbrennen.«
Henny und ein anderes Dienstmädchen betraten das Foyer, rissen angesichts der lauten Stimmen die Augen auf und verschwanden flink wieder in dem Raum, aus dem sie gekommen waren.
»Demy, es muss nicht das ganze Personal die Probleme der Herrschaft mit anhören.«
»Du wolltest es doch nicht anders.«
»Wann wirst du endlich erwachsen?«, seufzte Tilla und griff sich mit einer theatralischen Geste an die Stirn, was Demy noch mehr aufbrachte.
»Das fragst ausgerechnet du mich? Mach dir lieber Gedanken darüber, wie du mit deinen Problemen umgehen und sie lösen willst.«
»Was weißt du denn von meinen Problemen, kleines Mädchen?«
Wütend über ihren künstlich beherrschten Tonfall trat Demy dicht vor ihre Schwester. Verwundert stellte sie fest, dass sie inzwischen fast so groß war wie Tilla. Sie musste in den vergangenen Wochen kräftig gewachsen sein.
»Ich habe Joseph mit dieser Frau gesehen!«
Alle Farbe wich aus Tillas Gesicht. Sie schwankte und klammerte sich Halt suchend an Demys Schultern fest. »In der Öffentlichkeit? Er geht mit ihr in die Öffentlichkeit?« Tillas Worte waren nicht mehr als ein heiseres Flüstern. »Wie kann er mir das antun?«
Demy biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe. Nun erst wurde ihr bewusst, welche Gefahr ihr Wissen barg. Womöglich musste sie nun zugeben, dass sie immer noch mit Lieselotte verkehrte?
»Lass uns nach oben gehen, dort lässt es sich ungestörter reden«, schlug sie hastig vor.
Zu ihrer Erleichterung pflichtete Tilla ihr bei, und gemeinsam durchquerten sie die Halle und liefen die Treppe hinauf.
Im oberen Stockwerk angekommen öffnete Demy die Tür zu Tillas Räumen, ließ ihre Schwester vor sich eintreten und achtete darauf, dass die Tür hinter ihr auch wirklich ins Schloss schnappte. Sie kannte inzwischen die Neugier der dienstbaren Geister. Nach ihrer lautstarken Auseinandersetzung im unteren Stock waren sicher mehr als nur Henny und ihre Kollegin auf die Fortsetzung des Streites gespannt.
Kraftlos ließ Tilla sich auf ihre Chaiselongue sinken und streckte ihre Beine aus, während Demy an eins der Fenster trat und die Vorhänge energisch zurückzog. Unwillkürlich zog die Baumgruppe nahe der Mauer ihren Blick auf sich, bei der Hannes sie letzte Nacht überrascht hatte. In Anbetracht der Ereignisse, in die sie hineingezogen wurde wie in einen Strudel, wünschte sie sich, niemals erwachsen werden zu müssen.
»Wo hast du ihn und diese Frau gesehen?«
»Du weißt also tatsächlich von ihr?«
»Von ihr und von anderen …«, stieß Tilla aus, brach dann erschrocken ab. Demy sah die Tränen in Tillas Augen, obwohl diese schnell den Kopf senkte.
Sie hastete zu ihrer Schwester, um vor dem mit einem cremefarbenen Samtstoff überzogenen Möbel auf die Knie zu gehen und griff nach der wie leblos herunterhängenden Hand der Schwester. »Es war nicht auf einer der Gesellschaften. So dumm ist dein Mann nicht. Auch er bemüht sich um die Wahrung seines Rufs.«
»Er sagte, er werde sie weitertreffen, aber er hat mir versprochen, dass ich sie niemals zu Gesicht bekommen würde und er sich nie mit ihr in der Öffentlichkeit zeigen würde. Ich dachte schon, er habe sein Versprechen so schnell gebrochen. Wenigstens das letzte bisschen Würde sollte er mir doch lassen.« Tilla stieß die Worte hart und bitter hervor.
Demy zog nachdenklich die Nase kraus. Hieß das, dass Tilla sich mit diesem Doppelleben ihres Mannes zu arrangieren versuchte? Gab es keinen anderen, besseren Weg? Denn eines war ganz offensichtlich: Tilla litt unter der Situation, obwohl sie ihr wohl zwangsläufig zugestimmt hatte. Aber aus welchem Grund wollte Joseph so kurz nach der Vermählung die Beziehung zu einer anderen Frau aufrechterhalten? Widersprach das nur der fantasievollen, romantischen Vorstellung einer Vierzehnjährigen von der Ehe? Sah die Realität anders aus?
»Was ist auf eurer Reise geschehen?«, brachte sie mühsam hervor.
»Ich musste mitansehen, wie er mit anderen Frauen anbändelte. Mehrmals, in verschiedenen Landstrichen. Aus St. Petersburg mussten wir sogar überstürzt fliehen, da ein tobender Ehemann hinter ihm her war.«
»Aber weshalb tut er das?«
»Was fragst du das mich?«, fuhr ihre Schwester sie ungehalten an, erhob sich und verschwand im angrenzenden Zimmer. Die Tür zwischen ihnen donnerte laut ins Schloss.
Lange Zeit verharrte Demy vor der Chaiselongue, während sie hinüber zu den im Wind spielenden Gardinen blickte. Tilla hatte mit ihrem Ausbruch durchaus recht. Nach den Gründen für Josephs erniedrigendes Verhalten sollte wohl vielmehr er befragt werden. Aber das würde Demy niemals wagen.
Tilla und Joseph. Edith und Hannes. Vielleicht hatte Hannes den besseren Weg gewählt, indem er aus dem ihm vorgegebenen Rahmen ausbrach und die Frau heiraten wollte, die er liebte und die ihn ebenfalls liebte.
Demy drehte den Kopf und verbarg ihr Gesicht in ihren Armen. Sie hoffte und betete, in ein paar Jahren eine innige und von unschönen Turbulenzen verschonte Verbindung mit einem treuen Mann erleben zu können, der sie von ganzem Herzen liebte.
***
Nach dem Gewittersturm des Vorabends präsentierte sich der folgende Abend in herrlich warmer Sommerpracht. Die Bäume um die Statuen, die Kaiser Wilhelm den Bürgern Berlins gestiftet hatte – wenngleich sehr wohl auch Steuergelder in die Herstellung und Aufstellung der Marmorskulpturen geflossen waren –, warfen mit ihrem frisch geputzten Blätterdach großzügige Schatten auf die Siegesallee, wie die »Puppenallee« offiziell hieß. Vögel zwitscherten im Geäst muntere Lieder, und über den blühenden Blumenrabatten flatterten Schmetterlinge. Eine Baumreihe trennte den Flanierweg für Fußgänger, auf dem eine erkleckliche Anzahl Männer, Frauen und Kinder spazierten, von der mit Automobilen befahrbaren Straße.
Demy zog den breiten schwarzen Gürtel um ihre schlanke Taille zurecht und krempelte, Henriettes Anweisungen bewusst ignorierend, die Ärmel ihrer weißen Bluse nach oben. Ihr war schlichtweg zu warm. Kaum ein Lüftchen regte sich, und die stehende Hitze hielt die Abgase der Fahrzeuge unangenehm in der Luft fest.
Seit Demy an der in den blauen Himmel hinaufragenden Siegessäule40 auf Edith getroffen war, schlenderten die beiden schweigend nebeneinander her, passierten eine der sorgsam gestutzten Hecken nach der nächsten, zwischen denen sich die ehemaligen Hohenzollern und andere Wegbereiter des jetzigen Kaiserreiches mit ihren beigestellten Nebenfiguren befanden.
Demy wich zum wiederholten Male einem offenen Sonnenschirm einer Dame aus, deren Begleiter – auf das Geschehen aufmerksam geworden – seinen Zylinder zog und sich entschuldigend in ihre Richtung verbeugte.
Es verging einige Zeit, bis Demy endgültig genug hatte von ihrer schweigsamen Begleiterin, dem übervollen Spazierweg und ihrer inneren Unruhe wegen der ungewöhnlichen Situation. Sie ergriff die erschrocken zusammenzuckende Edith am Unterarm und zog sie die drei Stufen hinauf, vorbei an dem in der Sonne gleißenden Standbild Friedrichs I. Dort setzte sie sich auf den rechten Teil der im Halbkreis um die Statue verlaufenden Steinbank. Diese von den Sonnenstrahlen angewärmte Sitzgelegenheit war, wie auch die anderen 32 Carrara-Marmor-Skulpturgruppen, durch zwei weitere männliche Statuen unterbrochen. Demy hatte keine Ahnung, wer diese beiden für Friedrich I. wohl sehr wichtigen Zeitgenossen waren. Sie rückte ein Stück zur Seite, damit auch Edith im Schatten der hinter der Steinmauer wachsenden Bäume sitzen konnte, und wandte sich ihr zu.
»Hannes bat mich um dieses Treffen mit Ihnen, Fräulein Müller – und Sie, so vermute ich, wollten es ebenso. Also nutzen wir doch unsere Zeit für ein klärendes Gespräch.«
»Mir ist das Ganze reichlich unangenehm. Und ich entschuldige mich für die Umstände.« Edith sah sie zurückhaltend an. »Hätte ich gewusst, wer Hannes wirklich ist, hätte ich gleich damals keinem neuerlichen Treffen mit ihm zugestimmt.«
»Und wären damit zwar ein paar Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen, aber auch dem Menschen, der Sie aufrichtig liebt!«
Die Frau neben ihr seufzte laut auf. Ihre deutlich zur Schau getragene Unsicherheit verlieh Demy wiederum Mut. »Hören Sie, Fräulein Müller: Ich habe dieser Verlobung nur zugestimmt, weil Hannes mich darum bat. Und dies tat er einzig aus dem Grund, weil sein Vater dadurch vorerst Ruhe gab und Hannes mehr Zeit hat, um einen Weg aus seiner und Ihrer Misere herauszufinden. Er ist ein netter Kerl und fast wie ein älterer Bruder für mich. Aber keinesfalls bedeutet er mir mehr als das.«
Wieder entrang sich Ediths Kehle ein Seufzen, das tief aus ihrer Seele zu kommen schien. Die Verzweiflung und den Schmerz, den diese Frau aus Liebe zu Hannes empfand, konnte Demy nur erahnen, zumal Edith weiterhin schwieg und mit leicht geneigtem Kopf darauf wartete, was das um viele Jahre jüngere Mädchen ihr noch mitteilen wollte.
»Hannes ist es nicht gewohnt, Entscheidungen seines Vaters zu unterlaufen oder ihnen offen zu widersprechen. Aber in Ihrem Fall wird er es tun. Sie sind es ihm wert! Haben Sie einfach ein wenig Geduld mit ihm. Und lassen Sie sich nochmals versichern, dass Ihnen von mir keine Gefahr droht.«
Ediths Schweigen dauerte an. Über den Köpfen der beiden Frauen, versteckt zwischen den Blättern der Buche, pfiff lauthals eine Amsel. Ein Pärchen spazierte an ihnen vorbei, umrundete Friedrich I. auf seinem Sockel und verließ anschließend die kleine Nische wieder, um zur nächsten Skulpturengruppe zu schlendern.
Demy ließ ihrer Begleiterin Zeit zum Nachdenken. Sie drehte sich noch weiter seitlich und fuhr mit den Fingern das Relief in der Rückenlehne der Marmorbank nach; die einzige weibliche Figur in der ganzen überladenen Puppenallee. Margarete hatte ihr verraten, dass diese betende Frau zu Füßen Friedrichs I. dessen Ehefrau, die brandenburgische Kurfürstin Elisabeth, darstelle.
»Ich danke Ihnen für dieses Treffen, Fräulein van Campen, und für Ihre ermutigenden Worte. Sie haben viel für uns gewagt. Das weiß ich als Frau vielleicht eher zu schätzen als Hannes. Sie könnten, falls Hannes sein Ziel erreicht, für lange Zeit als verschmähte Braut gelten.« Um Demy am Widerspruch zu hindern, hob Edith in einer sachten Bewegung ihre Hand. »Ich weiß überhaupt nicht, wie ich Ihnen dafür danken kann, ich möchte Ihnen gegenüber aber ehrlich sein: Noch bin ich mir meiner Entscheidung nicht sicher. Hannes hat mich, was seine Herkunft anbelangt, wohl gern ein wenig im Unklaren gelassen. Nicht mit der Absicht, mich zu täuschen, aber doch sehr bewusst. Dann fürchtete ich, er hätte mich Ihretwegen belogen und nun bin ich mir unsicher, ob Hannes sein Versprechen mir gegenüber in die Tat umsetzen kann. Das alles klingt nicht nach den besten Voraussetzungen für eine stabile, glückliche Beziehung, finden Sie nicht auch?«
Demy wiegte ausweichend den Kopf hin und her. Ihr gefiel diese Edith, weil sie nicht blindlings in ein Abenteuer hineinrannte – wie sie es selbst aller Wahrscheinlichkeit nach getan hätte. Sie fühlte jetzt schon mit Hannes mit, falls die Frau sich aufgrund der Vorkommnisse in den letzten Wochen gegen ihn entscheiden sollte.
Edith ergriff ihre Hände. Ihre Finger krallten sich in Demys. »Da ist dieser Mann wieder!«, stieß sie keuchend aus.
»Welcher Mann?«
»Seit dem Fest, auf dem ich auch Sie kennenlernte, verfolgt er mich.«
Nicht weniger erschrocken als Edith sprang Demy so eilig auf die Füße, dass ihr Rock um ihre Beine wirbelte.
Hannes hatte ihr von Ediths Verdacht berichtet, sie werde von einem vom Rittmeister gedungenen Mann beobachtet. Die Vorstellung, dass dieser sie sah, wie sie mit Hannes’ heimlicher Liebe sprach, behagte ihr überhaupt nicht. Sie trat nach vorn, bis sie direkt hinter dem verzierten Sockel der Skulptur stand, und spickte vorsichtig an ihr vorbei.
Unter der Baumreihe zwischen dem Flanierweg und der Straße bewegte sich ein Mann scheinbar ohne Ziel hin und her, doch da er sich im Schatten aufhielt, erkannte Demy wenig mehr als seine schmale, hochgewachsene Statur. Sie drehte sich zu Edith um. Mit schreckgeweiteten Augen saß diese noch immer neben dem Relief auf der Steinbank.
»Wenn er Sie mit mir gesehen hat, wird er eine Verbindung zwischen Hannes und unserem Gespräch heute herstellen, denken Sie nicht auch?«, fragte Edith stockend.
Demy blieb nichts anderes übrig, als ihr leise zuzustimmen, wobei ihr ein heißer Schauer über den Rücken rieselte. Sollte dem alten Meindorff zu Ohren kommen, dass Hannes die Verbindung zu Edith keineswegs abgebrochen hatte, ja dass sogar seine Verlobte in seine Heimlichkeiten involviert war, konnte dies ungeahnte Folgen für sie alle nach sich ziehen. Da wäre eine Entlassung aus ihrem Arbeitsverhältnis wohl noch wünschenswert; schlimm dagegen ein eiliges Vorantreiben der über ihre Köpfe hinweg geschmiedeten Hochzeitspläne!
»Ihr Verfolger hat mich hinter der Statue vielleicht noch nicht entdeckt oder konnte mich im Schatten der Bäume nicht erkennen. Bleiben Sie einfach sitzen.«
»Was haben Sie vor?«
Ohne noch mehr Zeit durch eine Erklärung zu vergeuden, trat Demy neben die verdutzte Edith und bestieg die Sitzfläche genau an der Stelle, auf der sie zuvor gesessen hatte. Dort hob sie ihren Rock unanständig weit hoch und erkletterte mit Leichtigkeit die hohe steinerne Rückenlehne. Ohne weiter nachzudenken sprang sie hinunter und landete geschickt hinter der rückwärtigen Mauer und der Hecke, durch die sie sich hindurchzwängte. Den Rock mit beiden Händen gerafft rannte sie im Schutz der Büsche bis zu einem Fußweg, der sie tiefer in den Tiergarten hineinführte.
Erst als sie an dem kleinen See anlangte, kam ihr der Gedanke, dass ihre undamenhafte Flucht womöglich völlig sinnlos gewesen war. Sollte dieser Mann Edith wirklich verfolgen, hatte er sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht erst bei der Marmorgruppe 15 entdeckt, sondern war ihnen schon von ihrem Treffpunkt bei der Siegessäule aus gefolgt.
Mit zu Fäusten geballten Händen blieb sie stehen. Glucksende Wellen liefen zu ihren Füßen im grasbewachsenen Ufer aus. Bläulich schillernde Libellen surrten knapp über der Wasseroberfläche des Neuen Sees hinweg, während zwei Ruderboote, besetzt mit zwei Damen in weißen Kleidern mit aufgespannten Sonnenschirmen und je einem rudernden Herrn im schwarzen Anzug vorbeiglitten. Ein Entenpaar flatterte aufgeregt davon und kam erst in der Mitte des Seeabschnitts wieder zur Ruhe.
Demy schloss die Augen und lauschte auf die ihr so vertrauten Geräusche des Wassers, atmete den leicht modrigen Geruch ein und vermisste dabei den Geschmack des Salzes.
Erst nach geraumer Zeit zwang sich das Mädchen, ihre Augen wieder zu öffnen. Es brachte ihr nur eine tiefe Sehnsucht nach ihrem Zuhause am Meer ein, wenn sie sich diesen Erinnerungen hingab. Sie lebte nun mal in Berlin und musste versuchen, hier ihr Glück zu finden. Und neben all den Schwierigkeiten, die sich momentan vor ihr auftürmten, wollte sie die kleinen Geschenke des Lebens nicht aus dem Blick verlieren. Dazu gehörten die ihr trotz ihrer Fehltritte noch immer möglichen Freiheiten, ihre Besuche bei dem kleinen Nathanael, ihr exquisiter Unterricht und ihre drei eigenen Schüler. Auch durfte sie ihre Freundschaft mit Margarete und Lina und die mit Henny und Maria, Personal aus dem Haus, das ihr zugetan war, obwohl sie sich eigentlich meiden sollten, nicht vergessen.
Demy gefiel auch die unmittelbare Nähe zum Schloss Charlottenburg mit seinem Park, ebenso wie der Tiergarten mit dem Zoologischen Garten. Berlin war voller Museen, Galerien, Schauspielhäuser und deren Künstler und dabei immerzu im Umbruch. Langeweile gab es zwischen den Mauern dieser Stadt wahrlich nicht, und doch erlebte sie Tage, an denen sie sich in ihr wie eine Gefangene fühlte.
Auch diesen Gedanken schob Demy beiseite, gemeinsam mit dem flauen Gefühl in ihrer Magengegend, das mit dem Heimweh einherging. Sie nahm den Blick von den in den abendlichen Sonnenstrahlen golden funkelnden Wellen und schritt energisch aus, um endlich den Heimweg anzutreten.
Hannes würde eine Lösung für ihre Probleme finden. Sie selbst konnte bis zu ihrer Volljährigkeit bei Tilla bleiben, anschließend stand ihr die Welt offen, vor allem bei der exzellenten Schulbildung, die sie momentan neben ihrer gesellschaftlichen Ausbildung erhielt.
Lächelnd wandte sie sich vom See ab. Wenn die Meindorffs wüssten, dass sie eigentlich noch ganz regulär zur Schule gehen könnte, würden sie sich die Kosten für die teuren Privatlehrer und vermutlich auch die für Fräulein Cronberg sparen. Und genau dieser Punkt, ihr Alter, blieb ihr zuletzt immer noch als Trumpf, um einer erzwungenen Heirat zu entfliehen.
***
Traurig und verwirrt blickte Demy am nächsten Morgen auf den in der Halle anwachsenden Berg an Koffern, Reisetaschen und Hutschachteln. Ihre Schwester überwachte die Dienstboten dabei, wie sie die Menge an Gepäck zuerst die Stufen herunterschleppten und anschließend hinaus zur Kutsche trugen, wo der Kutscher Bruno alles auflud und festzurrte.
Die Augustsonne schien fröhlich durch die beiden weit offen stehenden Türflügel in das Foyer und warf einen meterlangen Lichtstreifen auf den Parkettboden und die Gepäckstücke, als sei ihr Bestreben, alle Aufmerksamkeit auf diese zu ziehen.
»Tilla, ich verstehe das nicht«, rief Demy und ergriff die geschäftig an ihr vorbeihastende ältere Schwester an der Hand.
»Du verstehst vieles noch nicht, das dir später einmal als völlig normal erscheinen wird.«
»Weshalb verreist du schon wieder?«
»Das sagte ich dir doch. Ich brauche Abstand.«
»Wovon?«
Tilla warf ihr einen tadelnden Blick zu, besann sich dann aber und hakte sich bei Demy unter, um sie hinaus auf die Treppe zu führen. Nebeneinander stiegen sie diese hinab; die eine in einem aufwendigen Reisekleid und die andere im einfachen Hauskleid und, was jedoch niemand bemerkte, ohne Schuhe an den Füßen.
Arm in Arm verließen sie den gepflasterten Weg und spazierten über die Wiese, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen.
»Gestern habe ich erneut mit Joseph gesprochen. Da er weiterhin darauf beharrt, dieses Flittchen zu treffen, habe ich ihn gebeten, sich wenigstens an einige Regeln zu halten. Er versprach mir, sie einzuhalten. Das ist momentan alles, was ich erreichen kann. Aber ich möchte Joseph gleich zu Beginn dieser unrühmlichen Abmachung wenigstens klarmachen, wie wenig ich unter diesen Umständen gewillt bin, ihm als braves Frauchen zur Verfügung zu stehen, wenn es in seinen Zeitplan und in seine Geschäftsverpflichtungen passt. Deshalb habe ich durchgesetzt, dass ich in Koudekerke vorbeischaue und später meine Freundin in Paris besuche.« Tilla lächelte vor sich hin. »Ihm blieb nichts anderes übrig, als meine Bedingungen anzunehmen. Nun muss er ein paar seiner Geschäftsessen und Partys ohne die Vorzeigeehefrau absolvieren.« Nach diesen Worten warf Tilla ihrer jüngeren Schwester einen Blick zu, in dem neben der allgegenwärtigen Traurigkeit auch Stolz über ihren Triumph lag.
Demy gefiel die kämpferische Haltung bei ihrer sonst so steifen, auf den äußeren Anschein bedachten Schwester, doch sie schwieg dazu.
»Es ist eine von unseren Vätern arrangierte Ehe, der ich zugestimmt habe. So, wie sie jetzt verläuft, hatte ich sie mir nicht vorgestellt, aber ich werde das Beste herausholen, so wie Joseph das auch tut. Ich verfüge über genug Geld für schöne Reisen, ich verkehre unter den reichen und angesehenen Familien Preußens, ja des ganzen Landes, das einen hervorgehobenen Platz in der Weltpolitik innehat. Ich besitze schöne Kleider der neuesten Mode, dazu edlen Schmuck, und wenn ich Lust dazu habe, kann ich Partys geben und so viel tanzen, wie es mir gefällt. Wenn das kein Glück ist!«
Obgleich Demy dieser Tand nichts bedeutete, verstand sie, dass ihre Schwester, geprägt durch ihre Erziehung und vermutlich auch von ihrem Vater, der noch immer seinem verlorenen Einfluss und Vermögen nachtrauerte, darin tatsächlich eine Erfüllung sah. Demy jedoch trieb eine ganz andere Frage um:
»Warum darf ich nicht mit dir kommen? Ich kenne deine französische Freundin ebenfalls, und ich würde gern nach Hause fahren und Papa, Rika und Feddo wiedersehen, vielleicht auch meine früheren Schulkameraden.«
Ihre Schwester blieb stehen, löste den Arm aus ihrem und stellte sich vor sie. Tillas Gesicht wurde von ihrer Hutkrempe beschattet und sah noch immer erschreckend bleich aus. »Ich möchte dich hier in Berlin lassen, damit du deine Ausbildung bei Frau Cronberg ordentlich beendest. Erst vor zwei Tagen habe ich mich mit ihr unterhalten. Sie ist voll des Lobes über deine schnelle Auffassungsgabe und deinen Lernwillen, sieht aber noch erhebliche Defizite, was die Fremdsprachen, deine Haltung und deine Manieren betrifft. Mit den Tanzstunden ist noch gar nicht begonnen worden.«
»Tanzen? Du wirst auf den Bällen tanzen, ich stehe an der Seite und warte, bis du mich brauchst. Ich möchte nicht tanzen lernen. Viel lieber wäre es mir, ich könnte endlich einmal meine Reitausrüstung benutzen. Die Letzte musste ich aussortieren, da ich ihr entwachsen war, ohne dass ich auch nur ein Pferd zu Gesicht bekommen hätte.«
Zu Demys Verwunderung lachte ihre Schwester hell auf und schloss sie in ihre Arme. »Du bist einfach einzigartig, meine Kleine. Und manchmal vergesse ich wirklich, wie jung du noch bist. Ich lasse also Frau Cronberg mitteilen, sie solle neben dem Tanzlehrer dringend auch einen Reitlehrer für dich suchen, einverstanden?«
»Das wäre schön. Aber muss das mit dem Tanzen sein?«
Tilla sah sie nur durchdringend an. »Josephs Vater hat mit meinem Gatten und mir erneut über dich gesprochen …«
Während Tillas Zögern schoss Demy der Gedanke durch den Kopf, sie würde vielleicht doch nach Hause geschickt werden. Aber das war ja nicht möglich; nicht, nachdem Tilla ihr gerade die weiteren Pläne für ihre Ausbildung aufgezählt hatte.
»Demy …« Wieder zögerte die junge Frau. Schließlich straffte sie ihre schmalen Schultern, reckte den Kopf und bekam diesen strengen, anmaßenden Blick, den Demy überhaupt nicht ausstehen konnte. In diesem Moment wurde ihr klar, wie wenig ihr gefallen würde, was Tilla ihr zu sagen hatte.
»Wir befürworten es, uns bereits jetzt nach einem Hochzeitstermin für Hannes und dich umzusehen. Natürlich noch nicht in unmittelbarer Zukunft, keine Angst. Aber er sollte festgelegt sein.«
Als sie den Sinn von Tillas Worten begriff, wurden Demys Augen immer größer. Unwillkürlich wich sie nach hinten aus, trat dabei mit ihrem nackten Fuß auf einen im Gras liegenden spitzen Stein, ignorierte aber den Schmerz. Ob die Beschleunigung der Hochzeitspläne etwas mit Ediths Beobachter zu tun hatte? Hatte dieser Mann ihr heimliches Treffen an Meindorff gemeldet?
Das Gefühl, als würde jemand eine Schlinge um ihren Hals unbarmherzig enger ziehen, bemächtigte sich ihrer. Vorwurfsvoll rief sie aus: »Du willst mich allen Ernstes verschachern, weil du fürchtest, ich finde sonst einen Weg, dem Arrangement zu entkommen, nicht? Muss es mir denn so ergehen wie dir? Bist du nur glücklich, wenn ich dein Leid teile?«
»Demy, beruhige dich bitte. Du schreist ja die ganze Dienerschaft herbei.«
»Nein, Tilla. Nein! Da mache ich nicht mit. Niemals!« Das Mädchen wollte die Flucht ergreifen, doch Tilla packte sie erstaunlich schnell und fest am Handgelenk und hielt sie zurück.
»Du magst Hannes doch, also hör jetzt sofort auf mit dem kindischen Gezeter, Demy van Campen!«
Aus ihren blauen Augen blitzte Demy ihre Halbschwester wütend an, beruhigte sich aber so weit, dass sie zumindest den Drang unterdrücken konnte, weit, weit fortzulaufen.
»Mein Schwiegervater ist sehr unglücklich über die Entwicklung mit Hannes und diesem Arbeitermädchen. Er besteht darauf, dass zügig ein Termin bekannt gegeben wird.«
Demy blieb fassungslos der Mund offen stehen. Sollte sie Hannes womöglich noch vor ihrem 16. Geburtstag heiraten? War das überhaupt möglich? Wusste Tilla bereits einen Weg, wie sie Demys wahres Alter weiterhin verschleiern konnte?
»Du musst doch einsehen, dass du es weitaus schlechter hättest treffen können. Ihr zwei kennt und mögt euch. Das ist schon mehr, als viele Paare von sich sagen können, wenn sie heiraten.«
»Ihr würdet uns beide vernichten!«, stieß Demy aus.
»Nun sei doch nicht so halsstarrig.«
»Hannes liebt Edith über alles. Und ich würde mit einem Mann verheiratet sein, der sein Leben lang einer anderen Frau nachtrauert! Das kannst du nicht wollen, Tilla.«
»Es ist längst beschlossene Sache. Auch du wirst noch lernen, dem alten Meindorff nicht zu widersprechen. Was er sagt, ist Gesetz.«
Mit aller Kraft stieß Demy ihre Schwester von sich und rannte in den Garten. Sie ignorierte Tillas Rufe und versteckte sich in dem Gestrüpp vor der Mauer, wo sie ihren verzweifelten und wütenden Tränen freien Lauf ließ. Es war so furchtbar ungerecht, dass andere Leute fortwährend über ihren Kopf hinweg Entscheidungen für sie trafen. Wenn sie Hannes und Edith nicht versprochen hätte, ihnen zu helfen, wäre sie augenblicklich ins Haus gestürmt, hätte sich in die Mitte des Foyers gestellt und lautstark verkündet, dass sie erst 14 Jahre alt war und Hannes weder in einem noch in hundert Jahren heiraten werde. Demy ignorierte Tillas Rufe weiterhin, doch als sie eine Kutsche wegfahren hörte, wurde ihr bewusst, dass ihre Schwester Berlin für längere Zeit verließ, ohne dass sie sich voneinander verabschiedet hatten.
Traurig lehnte sie sich gegen die moosbewachsenen Mauersteine und grübelte darüber nach, wie sie sich aus ihrer misslichen Lage retten konnte, ohne Hannes und ihrer Schwester in den Rücken zu fallen.
Wenigstens blieb ihr noch Zeit, um eine Lösung zu finden. Zudem nahm sie sich in einem Anflug von Rebellion vor, ab sofort zumindest einen Teil ihres anstrengenden Doppellebens aufzugeben. Sie würde bei Fräulein Cronberg die nötige Etikette erlernen, aber niemand konnte sie daran hindern, sich trotzdem so zu benehmen, wie es ihr gefiel!