Kapitel 19

Windhuk, Deutsch-Südwestafrika,
Mai 1908

Da war sie! Karl Roth nahm den Blick von den spitz zulaufenden typisch deutschen Hausdächern, die in dieser Gegend wohl niemals große Mengen Schnee würden abrutschen lassen müssen und deshalb völlig fehl am Platz wirkten, und richtete seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf Udako.

Dabei lehnte er sich mit dem Rücken gegen eine der schlanken Holzsäulen, auf denen das Vordach des Kolonialwarenhandels ruhte, und beobachtete, wie das dunkelhäutige Mädchen die staubige nicht befestigte Straße entlangschritt. Ihr langer gerade geschnittener Rock aus hellbraunem Leinen schwang um ihre Beine, und ein Gürtel aus dunklem Leder hob ihre schmale Taille hervor. Die helle Bluse mit den langen Ärmeln, die in winzigen Rüschen um ihre feingliedrigen Handgelenke endeten, umspielte ihren schlanken Oberkörper und die üppige Brust.

Einen Augenblick lang stellte Karl sich seine weißen Hände auf ihrer dunklen Haut vor, doch da allein dieser Gedanke seinen Körper heftig reagieren ließ, schüttelte er ihn gewaltsam von sich ab und beobachtete, wie Udako das unscheinbare Gebäude neben der Baustelle betrat, auf der eine Kirche20 errichtet wurde.

Nachdem Gouverneur Friedrich von Lindequist 1907 von Bruno von Schuckmann abgelöst worden war, hatte es nicht lange gedauert, bis das Mädchen ihr Arbeitsverhältnis im Gouvernements-Haus aufgab und hinaus auf die Missionsstation zog. Sie hatte, für Karl nicht nachvollziehbar, ihre begehrte Dienstmädchenstellung in einem großen, wunderschön erbauten Kolonialhaus für eine schlechter entlohnte Beschäftigung bei ein paar schwarzen Waisenkindern aufgegeben. Aber vermutlich lag es ihr näher, sich um ihresgleichen zu kümmern, statt Weißen zu Diensten zu sein.

Der Sozialdemokrat in ihm fühlte Stolz über ihre Entscheidung, doch dieser verflog rasch. Er hatte sich diesem fast radikal zu nennenden Zweig der Vereinigung in Magdeburg doch nur angeschlossen, da er sich in der großen Politik wie ein unwichtiges Rädchen im Getriebe fühlte und niemals etwas von dem Reichtum sehen würde, den sich eine kleine Elite in Deutschland angehäuft hatte. Auch er strebte nach Geld und Macht, doch Udako dachte anscheinend nicht wie er, sonst hätte sie wohl kaum ihre Chance auf ein angenehmes Leben so leichtfertig aufgegeben. Oder hing ihre Entscheidung etwa doch mit Leutnant Meindorff zusammen?

Karl hatte den Leutnant vor seinem Urlaubsantritt auffällig oft in ihrer Nähe gesehen und beobachten müssen, wie sie ihn anlächelte, obwohl sie in der Öffentlichkeit einen gesitteten Abstand zueinander einhielten. Vermutlich kam Meindorff die Abgeschiedenheit der Missionsstation gerade recht, um mit Udako anzubändeln. Das war einer der Gründe für seinen unüberlegten Angriff auf den Kerl in Magdeburg. Die großspurige Überheblichkeit des Offiziers bereitete ihm zunehmend mehr Schwierigkeiten.

Sein Hass auf diesen Mann, dem von Kindesbeinen an alles in den Schoß gefallen war, wurde seit Jahren genährt und loderte in diesem Augenblick wieder einmal lichterloh auf. Roth begann zu schwitzen, ballte die Hände zu Fäusten und fluchte unterdrückt vor sich hin. Er sehnte sich von Monat zu Monat brennender danach, diese Ungerechtigkeit endlich zu sühnen und den verhassten Mann leiden zu sehen. Mühsam kämpfte er den Zorn in seinem Inneren nieder wie ein Monster, das er zurück in seine Höhle sperrte, bis es das nächste Mal erwachte und ans Tageslicht drängte. Er ließ seinen Unterkiefer mit einem hörbaren Knacken und vor Schmerz verzerrtem Gesicht wieder einrasten. Wenn er es erst einmal zu etwas gebracht hatte – und dieser Tag war nicht mehr fern –, würde man auch ihm endlich Beachtung schenken. Und dann würde er Udako für sich beanspruchen. Er würde sie von Dienstmädchen umsorgen lassen und wenn sie wollte, konnte sie ein paar schwarze Waisenkinder in einem kleinen Häuschen auf seinem Grundstück unterbringen.

Karl wartete ungeduldig, während der leichte Wind den rötlich-braunen Sand durch die Straße wirbelte. Zwei Frauen, die ihr Haar mit Hauben vor Wind und Sand geschützt hatten, traten aus dem Laden, die wehenden Röcke leicht mit einer Hand gerafft, Körbe in der anderen. Auf der Straße marschierten frisch in Windhuk stationierte Rekruten in nicht ganz akkurater Reihe an ihm vorbei und er grüßte den sie lautstark antreibenden weißen Unteroffizier.

Endlich öffnete sich die Tür des Hauses, das er nicht aus den Augen gelassen hatte, und Udako trat heraus. Sie stellte eine Kiste auf den hölzernen Verandavorbau und wandte sich um, damit sie die Tür schließen konnte.

Karl schnallte den schwarzen Gürtel seiner beigen Uniform enger, bevor er über die Straße hastete. In dem Moment, als Udako sich nach der Lebensmittelkiste bückte, betrat er mit festem Schritt die Holzplanken, und sie wandte sich zu ihm um.

Das afrikanische Mädchen war nicht groß; ein Vorteil, da er ebenfalls nicht mit stattlicher Größe aufwarten konnte. Er richtete sich kerzengerade auf, erinnerte sich selbst daran, seinen leider etwas unansehnlichen Bauch einzuziehen, und grüßte militärisch zackig.

»Fräulein Udako, lass mich dir helfen«, presste er mit angehaltenem Atem hervor.

»Das ist sehr nett von Ihnen, Obergefreiter Roth.« Udakos Lächeln ließ Karls Knie weich werden. Eine Reihe ebenmäßiger weißer Zähne zeigte sich hinter ihren vollen Lippen. Sofort überkam ihn das Verlangen, seinen Mund auf ihren zu pressen. Er musste schleunigst zu Geld kommen, um dieses wunderbare Geschöpf endlich für sich zu gewinnen!

»Haben Sie denn keine anderen Verpflichtungen?«, fragte Udako in ihrem afrikanisch eingefärbten Deutsch freundlich nach.

Beinahe hätte er erwidert, es gäbe für ihn keine andere Verpflichtung, als sie zu beglücken, doch er beherrschte sich und erwiderte: »Im Moment nicht. Und ich kann dich unmöglich die schwere Kiste bis zum Wagen schleppen lassen.«

Ihr strahlendes Lächeln berauschte ihn. Er trug die Kiste die Straße hinunter bis zu dem Transportkarren, der der Missionsstation gehörte. Die davor angespannten Ochsen schlugen unruhig mit den Köpfen und Schwänzen, um sich der lästigen Fliegen zu erwehren. Es kostete ihn einige Anstrengung, bis er die Holzkiste auf die Ladefläche gehievt und hineingeschoben hatte. Allerdings ließ er sich nichts anmerken, sondern schaute Udako dabei an, in der Hoffnung, erneut ihr hinreißendes Lächeln geschenkt zu bekommen. Tief in sich fühlte er eine Regung, die über das körperliche Begehren hinausging, das er gewöhnlich für Frauen empfand, doch seine abgestumpfte Seele konnte diese nicht einordnen.

»Vielen Dank, Herr Obergefreiter. Sie sind mir wie immer eine große Hilfe gewesen.«

Seit Udako das Gouverneurshaus verlassen hatte, waren die Augenblicke rar gesät, in denen er ihr seine Zuneigung zeigen konnte. Und dann war auch noch dieser Meindorff in ihrem Umfeld aufgetaucht!

Wieder stieg der Zorn über den privilegierten Offizier in ihm auf, gleichzeitig machte ihm Udakos Nähe zu schaffen. Bedeuteten ihre freundlichen Worte nicht, dass sie dasselbe wollte wie er? Das hämische Gelächter einer seiner wechselnden Ziehmütter klang ihm noch immer in den Ohren, als er es einmal gewagt hatte, ihr zu sagen, wie gern er sie hatte. Auch eine Prostituierte hatte ihn ausgelacht, als er ihr gegenüber von Liebe sprach. Seine Empfindungen für Udako verwirrten ihn, schienen im Widerstreit miteinander zu liegen und das ließ seinen Zorn anwachsen. Nur mühsam gelang es ihm, ruhig zu bleiben.

»Für einen Tag im Mai ist es heute noch sehr warm, nicht wahr?«, plauderte Udako. Ihre Hände spielten unruhig mit den Falten ihres Rocks und ihr Blick wanderte an ihm vorbei.

Karl, dem die wärmeren Temperaturen von Oktober bis März zu schaffen machten, vor allem, wenn seine Einheit in Richtung der Wüstenküste geschickt wurde, nickte. »Da hast du recht. Ich freue mich auf die kühleren Monate. Sie laden zu Spaziergängen, Picknicks und Ausfahrten ein, nicht wahr?« Ehe er weiter darüber nachdenken konnte, stieß er hervor: »Dürfte ich dich einmal zu einem Spaziergang einladen?«

Wie gerne hätte er ihr weit mehr als nur einen einfachen Spaziergang offeriert, doch das behielt er noch für sich. Er durfte nicht voreilig lospreschen.

Sein Blick wanderte begierig zu den prachtvollen Villen der Kaufleute, hohen Militärs und Beamten hinüber. Sie lagen zwischen künstlich angelegten und etwas kümmerlich aussehenden Buchen-, Eichen- und Birkenhainen versteckt. Er nahm sich vor, um sein eigenes Haus lediglich die exotisch wirkenden Palmen und sonstige hier ansässige Vegetation anzupflanzen, schon allein, damit seine Anlage sich deutlich von der konservativen, snobistischen Art der anderen Prachthäuser abhob.

Energisch zwang Karl sich in die Gegenwart zurück und stellte fest, dass er Udakos Antwort überhört hatte. Es war erstaunlich, was diese Frau mit ihm anstellte. In ihrer Anwesenheit fiel es ihm schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Allerdings ließ ein prüfender Blick in ihr Gesicht erahnen, dass sie seine Frage bejaht hatte.

»Was hältst du von morgen Nachmittag? Wir könnten von Windhuk aus in Richtung …«

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Obergefreiter, aber wie ich Ihnen bereits sagte: Ich kann nicht.«

»Dann an einem anderen Tag. Natürlich habe ich durch meine militärischen Pflichten nicht viel Zeit, aber wir finden bestimmt einem gemeinsamen freien Nachmittag.«

»Bitte, Herr Obergefreiter.« Sie hatte wohl Schwierigkeiten dabei, die korrekten deutschen Worte zu finden, denn sie murmelte etwas in ihrer Muttersprache vor sich hin. »Sie dürfen mich nicht mehr fragen«, brachte sie schließlich hervor.

Karl lächelte breit und vergaß darüber den Bauch einzuziehen. Natürlich war es für sie nicht angemessen, mit einem deutschen Soldaten zu verkehren. Dieses Mädchen wusste, wo ihr Platz war. »Aber nicht doch. Niemand wird-«

Einer der wenigen weißen Missionare unterbrach durch seine Ankunft ihr Gespräch. Der ältere Herr winkte Udako herbei, die unverzüglich seiner Aufforderung Folge leistete.

Da er bisher geglaubt hatte, Udako habe durchaus ihren eigenen Kopf und auch einen gewissen Grad an Stolz, nahm Karl diesen prompten Gehorsam mit Freude wahr. Allzu selbstsichere Frauen riefen Wut in ihm hervor. Ihr kurzer Blick zurück, während das Gefährt über die unebene, staubige Straße holperte, schien Karl verheißungsvoll. Lag in ihren dunklen Augen nicht ein sehnsuchtsvolles Glitzern? Euphorisch gestimmt begab er sich auf den Rückweg zu seiner Baracke, um, kaum dort angekommen, zu erfahren, dass er mit seiner Einheit in die Namib abkommandiert wurde. Leutnant Meindorff hatte zusätzliche Soldaten angefordert.

Unbeherrscht spuckte er auf den mit Steinplatten ausgelegten Boden. Ausgerechnet dieser widerwärtige Meindorff durchkreuzte seine Pläne mit Udako. Ahnte der Kerl vielleicht, dass Karl … Wieder einmal stieg unbändige Wut auf diesen privilegiert lebenden Mann in ihm auf. Allerdings barg die Aussicht, so frühzeitig erneut in Richtung Küste zu reisen, auch Vorteile. Er musste die sich ihm dadurch bietenden Optionen nur richtig nutzen!

Himmel ueber fremdem Land
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