Kapitel 31
Nahe
Empfängnisbucht,
Deutsch-Südwestafrika,
Juli 1908
Fünf Tage nach ihrem Aufbruch trafen Philippe, Roth und Rosenzweig verschwitzt und mit einer feinen roten Sandschicht überzogen in ihrem Biwak in Meeresnähe ein. Kaum waren sie zwischen die Zelte geritten, eilte Akia herbei, ergriff die Zügel von Philippes Stute und die Stricke der Lasttiere und führte sie in den Unterstand, wo er ihnen die prall gefüllten Wasserschläuche und vollgestopften Satteltaschen abnahm.
Während Philippe einen der anderen schwarzen Soldaten zu sich winkte, dem er sein Gewehr und den Munitionsgürtel mit der Anweisung in die Hand drückte, beides in sein Zelt zu bringen, beobachtete er Akia.
»Lief bei Ihnen alles glatt, Herr Unteroffizier?«, sprach er den Afrikaner an.
»Wir sind auf der neu festgelegten Route über eine der regulären Schutztruppen-Abteilungen gestolpert, Herr Leutnant.«
»Das stand früher oder später zu befürchten.«
»Ich war gezwungen, den Soldaten offenzulegen, dass wir für eine kurze Zeit zusätzlich herbeordert worden sind. Ihr Anführer war ebenfalls Unteroffizier, aber da er ein Weißer war, natürlich …«
Philippe zuckte mit den Schultern. In der Kolonie entschied die Hautfarbe darüber, wer wem weisungsbefugt war. »Was für einen Eindruck machten die Soldaten auf Sie?«
»Sie wirkten erleichtert über unsere Unterstützung.«
Auf Philippes erstauntes Zungenschnalzen drehte die Stute die Ohren zu ihm. Er hatte eine andere Reaktion erwartet, ja erhofft.
»Darf ich eine Vermutung äußern, Herr Leutnant?«
»Nur zu.«
»Die meisten der Jungs da draußen sind Namas, Hereros oder Buschmänner. Nicht, dass ich annehme, sie seien besser oder schlechter als andere, aber sie wurden schon oft genug betrogen. Welchen Grund sollten sie haben, wegzusehen, wenn ein Schürffeld oder ein Transport überfallen wird? Man würde ihnen kein Geld dafür geben. Höchstens vielleicht einem der weißen Vorgesetzten.«
»Du denkst, ich sollte gezielter die Offiziere und Unteroffiziere unter die Lupe nehmen?«
»Das, oder …«
Rosenberg, der sein Pferd inzwischen versorgt hatte, ging in ihrer Nähe vorüber. Nachdem er in außer Hörweite war, tauchte Akia unter dem Hals der Stute hindurch, um deren Hufe auf Phillipes Seite zu kontrollieren.
Philippe trat zurück, lehnte sich mit dem Rücken an einen in den Wüstensand getriebenen Pfosten und verschränkte die Hände hinter seinem Nacken.
»Was wäre, wenn die Soldaten weder eingeweiht noch bestochen worden sind? Jemand, der die Einsatzpläne und die Routen kennt, könnte diese Informationen an irgendwelche Halunken weiterleiten, sodass sie zu Zeiten und an Orten zuschlagen könnten, in denen für ein paar Stunden oder gar Tage keine Truppen zugegen wären.« Der kräftige Mann ließ das Hinterbein der Stute los und richtete sich auf. Zögernd drehte er sich um, vom Schein der untergehenden Sonne angestrahlt, wodurch der den Nama eigene rötliche Hautton deutlicher hervortrat.
Philippe konnte ihm für das Aussprechen seiner Überlegung nichts anderes als Hochachtung entgegenbringen. Immerhin verdächtigte er hochrangige Militärs, da sie diejenigen waren, die die Einsatzpläne entwarfen, aufzeichneten und weitergaben.
»Das ist in jedem Fall mehr als nur eine Überlegung wert, Herr Unteroffizier. Danke«, murmelte Philippe, versunken in die in eine völlig andere Richtung weisende Fährte.
Ein Grinsen überzog Akias sonst so ernstes Gesicht. »Wir sind alle nicht besonders erpicht darauf, länger als unbedingt nötig diese unwirtliche Gegend mit den Seehunden zu teilen, Herr Leutnant.«
»Sie haben Familie?«
»Eine Frau und zwei Kinder.«
»Ich gehe Ihrem Gedanken nach. Da ich vor Ort aber einen fähigen Mann brauche, kann ich Ihnen leider keinen freien Tag bei Ihrer Familie gönnen.«
»Danke, für das Lob, Herr Leutnant. Ich bleibe und hoffe, Sie werden schnell fündig.«
Philippe bückte sich und warf sich mehrere mit Seilen verbundene Kalebassen38 und eine Satteltasche über die Schulter. Wieder huschte ein Lächeln über das Gesicht des Schwarzen, ehe er die restlichen Kürbisgefäße und die verbliebene Satteltasche aufnahm und gemeinsam mit Philippe hinüber zum Depotzelt schlenderte.
»Zwei Kinder, sagten Sie?«
»Zwei Söhne.«
»Soll ich den beiden oder Ihrer Frau etwas von Ihnen mitbringen?«
»Ich besitze nichts, was ich Ihnen mitgeben könnte, Herr Leutnant. Aber wenn Sie ihnen ausrichten würden, dass es mir gut geht … Das wäre das größte Geschenk für sie.«
Philippe zog sich in sein eigenes Zelt zurück. Er musste dringend nach Windhuk. Vielleicht lag des Rätsels Lösung direkt vor der Haustür des Gouverneurs. Und dabei würde er Udako wiedersehen …
***
Van Campen lief unruhig im Zelt auf und ab. Fahrig stieß er eine Flasche Wein vom Tisch, die mit einem dumpfen Aufprall im Sand landete. Die rote Kostbarkeit lief mit unrhythmischem Glucksen aus und versickerte in Sekundenschnelle im durstigen Wüstensand.
In dem Versuch, den wertvollen Inhalt zu retten, beugte Karl sich nach vorn, doch im unruhigen Licht der Lampe sah der Rotwein plötzlich aus wie Blut, was ihn in der Bewegung innehalten ließ.
»… mich so übers Ohr hauen zu lassen!«, tobte van Campen weiter.
Unterdessen angelte Karl mit den Fingern in der Tasche seiner Uniformhose nach dem Messer, klappte die Klinge heraus und reinigte damit scheinbar gelassen seine Fingernägel. Dabei überlegte er, ob er den Namen seines Vorgesetzten tatsächlich nie zuvor erwähnt hatte. Angesichts seiner seit vielen Jahren genährten Aversion gegen diesen Mann war das durchaus möglich.
»Auch noch ein Meindorff aus Berlin!«
Karl hielt inne und warf einen kurzen Blick auf den aufgebrachten Mann, um gleich darauf seine Tätigkeit fortzusetzen. Bis jetzt erschloss sich ihm nicht, weshalb sich der Niederländer über den Namen seines Leutnants so aufregte. Um den wütenden Monolog zu durchbrechen, sagte Karl: »Ich habe in der Walvis Bay vorerst nichts unternommen, da ich Sie vorher informieren wollte. Dennoch ging mir der eine oder andere Gedanke durch den Kopf.«
Mit seinen gelassenen Worten erreichte er zumindest, dass van Campen stehen blieb, ihn einige Sekunden lang anstarrte und sich schließlich mit hölzernen Bewegungen auf sein Feldbett setzte.
Karl steckte sein Messer ein. Täuschte er sich oder zitterten dem Mann die Knie? Jagte der Name Meindorff ihm ebenso viel Angst ein, wie er bei Karl Hassgefühle erweckte?
»Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?« Van Campens Stimme klang zwar herrisch, ließ einem unsicheren Zittern aber dennoch genug Raum, damit Karl es vernahm.
»Der Leutnant tappt auf der Stelle. Das wurmt ihn gehörig. Ich vermute, er würde auf jeden noch so winzigen Hinweis sofort reagieren. Damit könnte man ihn in eine Falle locken und das Problem beseitigen. Die Schuld schieben wir jemand anderem in die Schuhe. Aufständischen Hottentotten oder diesem schwarzen Unteroffizier, der sich beim Leutnant so anbiedert.«
»Er ist ein Meindorff«, warf van Campen ein, was Karl dazu veranlasste, die Augen zu verdrehen.
»Was ist Ihr Problem?«, fauchte er den älteren Mann an. Immerhin war er gerade dabei, auch dessen Arsch zu retten! Und dabei würde erneut Blut an seinen Händen kleben, nicht an denen des Niederländers!
»Meine älteste Tochter ist in Berlin mit einem Meindorff verheiratet.«
Karl schluckte einmal, dann noch einmal und räusperte sich. »Dieselbe Familie?«
»Üblicherweise schicken der Adel und die Reichen ihre Söhne auf Militärschulen, damit sie Offiziere werden. Wie viele Meindorffs, die Geld genug besitzen und nicht in irgendeiner Weise miteinander verwandt sind, wird es in Berlin wohl geben?«
Der Unteroffizier musste van Campen zustimmen. Nicht nur in Preußen waren die meisten Adeligen und auch der Geldadel untereinander verbandelt. Diese Vermutung äußerte er laut und fügte hinzu: »Gleichgültig. Dieser Kerl wird mich und damit auch Sie auffliegen lassen. Wollen Sie dieses Risiko eingehen, nur weil er ein Verwandter der angeheirateten Familie ist?«
Van Campens Zögern brachte Karl noch mehr gegen seinen Geldgeber auf. Er würde nicht zulassen, dass die familiären Verstrickungen seines Partners seine Pläne und Träume zerstörten! Je mehr Meindorffs er mit seinem Vergeltungsschlag traf, desto besser! Karl stieß mit der Stiefelspitze mehrmals in den Sand, um seine aufgestauten Aggressionen loszuwerden.
»Ich weiß nicht, was Sie vorhaben. Ich will es auch nicht wissen. Mein Problem ist jetzt vielmehr, dass ich einen anderen Investor auftreiben muss.« Mit diesen Worten erhob sich van Campen von seinem Lager, ging an Karl vorbei, duckte sich durch den Zeltausgang und verschwand nach draußen.
Begleitet von einem Knacken renkte Karl erneut seinen Unterkiefer ein. Auf sein Vermögen musste er wohl noch ein bisschen warten. Die Aussicht darauf, dass zumindest Philippe Meindorff endlich aus seinem Leben verschwand, war allerdings ein großer Trost.