Kapitel 11
Berlin, Deutsches
Reich,
März 1908
Henriette Cronberg schritt in steifer, aufrechter Haltung, die Schulter gestrafft und mit erhobenem Kopf um Demy herum, wodurch ihr Hals noch länger wirkte, als er ohnehin schon war. Die Ausgiebigkeit ihrer Musterung versetzte das Mädchen gedanklich auf einen Pferdemarkt. Allerdings übernahm sie in diesem Fall die Rolle des Pferdes! Dabei erklärte die Mittfünfzigerin ihr, dass sie seit ein paar Jahren nicht mehr als Gouvernante in einem einzigen Haushalt arbeitete und lebte. Ihr Ruf war mittlerweile so gut, dass sie in mehreren ausgesuchten Häusern unterrichtete, oftmals Gouvernanten in diese vermittelte und somit ein weitaus angenehmeres Leben führte als zuvor. Und dieses gedachte sie auch beizubehalten, indem sie ihre Schützlinge zu dem erzog, was eine angesehene Dame und einen noblen Gentleman ausmachte. Ihren mühsam erarbeiteten Ruf durfte keiner ihrer Zöglinge ruinieren.
Demy fasste diese Worte als Drohung auf, wenngleich der Tonfall Henriettes gemessen war.
»Fräulein van Campen, Ihre Haltung ist nicht anders als nachlässig zu nennen. Sie wirken für Ihr Alter schmächtig und unterentwickelt. Hoffen wir für Sie, dass Sie bald zu weiblicher Reife heranwachsen.«
Nur mit Mühe unterdrückte Demy ihre Belustigung. Vermutlich würde sie in den nächsten zwei, drei Jahren ihr Umfeld mit ihrer rasch »heranreifenden Weiblichkeit« gehörig erschrecken, denn ihre Mutter war groß gewesen, größer noch als ihr Vater!
»Diese Fransen!«, fuhr Frau Cronberg fort und griff in Demys nachlässig aufgestecktes Haar, sodass sich eine Spange löste und unter leisem Klackern über den Boden sprang, während Demys schwarze, schwere Locken wie ein Vorhang über ihre Schultern hinunterwallten. Andere Haarspangen folgten der ersten, die restlichen blieben nutzlos im Haar hängen. »Sie gehören ordentlich geschnitten und drapiert, damit Sie zumindest annähernd wie das aussehen, was Sie sind: eine junge Dame an der Schwelle zum Erwachsenwerden.«
Einzig der eng anliegende marineblaue Rock, dessen Saum mit feiner, heller Spitze geschmückt war, und die dazu kombinierte Bluse fand Gnade vor Henriette Cronbergs Augen. Die Frau nahm Demys Hände in die ihren, betrachtete ihre Finger mit den kurz geschnittenen, sauberen Fingernägeln, ehe sie sich nachdenklich ans Kinn fasste und ihren Weg um das Mädchen herum erneut aufnahm.
»Sie sprechen Französisch?«, wurde sie akzentfrei von ihrer Gouvernante gefragt.
Zögerlich antwortete Demy in der ungeliebten Sprache: »Nicht sehr gut, fürchte ich, Madame.«
»Ich verstehe. Wir benötigen demnach dringend einen exzellenten Französischlehrer. Wie sieht es mit der deutschen Geschichte aus? Kunst? Musik?«
Demy verbrachte den Morgen damit, Henriette Rede und Antwort zu stehen, wobei sie sich in dieser Zeit nicht ein einziges Mal setzen durfte, da die Frau nebenbei an ihrer Haltung im Stehen und Gehen arbeitete. Sie übte Schrittfolgen mit ihr ein und begann mit ihr Bewegungen einzustudieren, wie das anmutige Öffnen einer Tür, das grazile Aufheben eines Gegenstandes oder begleitende Gesten, während Demy über ihr Zuhause referierte.
Nach einer spärlichen Mahlzeit sprach die Gouvernante zum ersten Mal Demys verfärbtes Gesicht an. Inzwischen saßen sie an einem runden Tisch, auf dem zwei mit Kaffee gefüllte Tassen standen. Bei der Gelegenheit wurde die Schülerin im angemessenen Verhalten bei einem geselligen Nachmittagskaffee unterwiesen, obwohl ihr das Gebräu gar nicht schmeckte. Doch die in Berlin beliebten, förmlich aus dem Boden schießenden Kaffeehäuser waren für Frau Cronberg Anlass genug, sie daran zu gewöhnen.
Demy erzählte die harmlose Variante ihres Erlebnisses und hoffte trotzdem, die Frau so zu schockieren, dass sie eine Erholungspause benötigte. Doch Henriette erwies sich als überraschend unempfindlich. Ihr Rücken berührte die Lehne des Stuhls nicht einmal ansatzweise, dennoch saß sie kerzengerade, hielt die Tasse samt Untertasse exakt übereinander und sah Demy unverwandt an.
»Haben Sie bei der Polizei Anzeige gegen die Frau erstattet?«, erkundigte Henriette sich unvermittelt, und Demy schüttelte leicht den Kopf, während sie vorsichtig das Porzellan mit dem rosa Rosenmuster auf den Tisch stellte. Erst als sie das Gedeck sicher losgeworden war, erwiderte sie: »Ich kann die Frau nicht beschreiben. Es war zum Zeitpunkt des Geschehens bereits dunkel, und in der Aufregung hatte ich ohnehin keine Gelegenheit, sie richtig anzusehen. Der Herr Rittmeister meinte auch, es mache keinen Sinn, die Polizei wegen dieses Unsinns von wichtigen Arbeiten abzuhalten.«
Die Erzieherin nickte, und zum ersten Mal sah Demy ein Lächeln über die strengen Gesichtszüge huschen. Sie lächelte zurück, dankbar für dieses Zeichen von Verständnis und Zuneigung.
»Ich fragte, weil die Säuglingsheime dieser Tage beschämend überbelegt sind. Wenn die Frauen ihre Sprösslinge nicht haben wollen, weil sie eine Schande für sie bedeuten oder sie sie nicht durchzufüttern vermögen, werden sie entweder dort abgegeben, zumeist anonym, oder kurzerhand in den Fluss geworfen. Niemand mag sich der Kinder annehmen und kaum jemand unterstützt die Einrichtungen finanziell. Es ist ein Armutszeugnis für unsere Stadt und unser Land, wenn wir den Schwächsten unserer Gesellschaft nicht Schutz und Liebe angedeihen lassen!«
Demy wartete auf das große Aber, auf eine Aufzählung all der Fehler, die sie an diesem Tag begangen hatte, doch dies blieb aus.
»Berlins Straßen sind mittlerweile leider unsicherer als früher. Ein guter Grund für uns, gemeinsam ein paar Regeln für etwaige Spaziergänge aufzustellen, denken Sie nicht auch?«
Demy rümpfte verwirrt die Nase. Frau Cronbergs Worte klangen längst nicht so schrecklich, wie sie befürchtet hatte. Dies ließ sie hoffen, dass der Unterricht, so anstrengend er auch war, in angenehmer Atmosphäre verlaufen würde. Dennoch blieb ihre Befürchtung, ihre ohnehin eingeschränkten Freiheiten könnten noch mehr beschnitten werden und ein Treffen mit Lieselotte oder einen fröhlichen, unbeschwerten Ausflug nahezu unmöglich machen.
***
Durch die Glasfront des Anbaus fiel wegen der Büsche und Bäume im Garten schummeriges, grünes Licht in das Arbeitszimmer und ließ den alten Meindorff noch breiter und größer wirken, als er tatsächlich war.
Philippe beeindruckte die Erscheinung nicht mehr. Er kannte seinen Ziehvater mit seinen Fehlern, Vorlieben und Eigenheiten zu gut, als dass sein imposantes Äußeres, seine aristokratisch aufrechte Haltung und die herrische Stimme, die seine Machtzentrale innerhalb des Hauses schneidend durchdrang, ihn noch hätten einschüchtern können.
»Dein Vorschlag ist nicht nur inakzeptabel, sondern geradezu unverfroren. Aber was sollte ich von dir auch anderes erwarten, nicht? Ich und bei der AEG investieren? Welch abstruse Idee! Die AEG hat schon erfolglos versucht, Meindorff-Elektrik zu übernehmen. Einen zweiten Versuch wagen sie entweder nicht, oder aber sie stecken eine neuerliche Niederlage ein. Meindorff-Elektrik ist durchaus in der Lage, sich auf dem Markt gegen Siemens und die AEG zu behaupten!«
Philippe widerstand dem Drang, das Arbeitszimmer augenblicklich zu verlassen. Beim ersten Gegenwind klein beizugeben entsprach nicht seiner Art. »Die Wirtschaftskrise von 1901 ist gerade einmal sieben, der folgende Aufschwung fünf Jahre her und Sie haben die Folgen des Zusammenbruchs schon vergessen? Nirgendwo im Land hatte man siegesgewisser in die Zukunft geschaut als in Berlin und dabei gedankenlos über die Verhältnisse gelebt. Es wurden Häuser erbaut und verschwenderisch ausgestattet, Reisen unternommen, Schmuck, Kunstgegenstände und allerlei anderer Tand angeschafft, und plötzlich waren die finanziellen Mittel erschöpft. Arbeiter mussten entlassen, Häuser veräußert werden, um mühsam den Kopf über Wasser zu halten, den Schein zu wahren …«
»Halte mir keine Vorträge, Junge. Diese Jahre haben Meindorff-Elektrik kurzfristig geschwächt, doch nun sind wir neu erstarkt und gefestigter als zuvor.«
»Bis zur nächsten Krise.«
»Die wird es in absehbarer Zeit nicht geben!« Meindorffs Stimme donnerte aufgebracht zu dem Leutnant herüber. Philippe drehte sich um und wurde gewahr, dass sein Ziehvater erregt aufgesprungen war. Sein noch erstaunlich faltenloses Gesicht verfärbte sich zunehmend. Ihm war es also wieder einmal gelungen, den Mann, der ihn in seinem Haus großgezogen hatte, mit nur wenigen Sätzen gegen sich aufzubringen.
Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich zu verabschieden. Vielleicht war seine Sorge um die Sicherheit des Hauses Meindorff – die unweigerlich mit dem finanziellen Erfolg von Meindorff-Elektrik zusammenhing – unbegründet. Die Wirtschaftslage zeigte sich nach der neuerlichen Konjunktur stabil, und zumindest der jüngere Meindorff, der eines Tages die Nachfolge der Geschäfte antreten würde, hatte sich mit seiner Brauerei ein ordentliches zweites Standbein geschaffen. Allerdings besaß Berlin eine Unzahl an konkurrierenden Bierbrauereien. Käme es hart auf hart, würde ein Großteil von ihnen schnell untergehen.
Das war der Grund, weshalb Philippe vorgeschlagen hatte, Meindorff-Elektrik sollte sich nach mindestens einem, besser mehreren Standbeinen umsehen, ebenso in andere Firmen investieren. Er selbst hielt inzwischen einen kleinen Aktienanteil bei der AEG und der Deutschen Bank, doch da Meindorff verständlicherweise auf beide Einrichtungen nicht gut zu sprechen war, behielt er dies für sich.
Gerüchte, dass sich einige der nach der Wirtschaftskrise mühsam geretteten Betriebe zu verschiedenen Kartellen zusammengeschlossen hatten, mit denen sie den eigentlich freien Markt mit Preisabsprachen korrumpierten, sickerten selbst zu ihm durch. Und so manch ein Besucher der letzten Jahre bestätigte seinen Verdacht, dass Meindorff selbst einem dieser Kartelle angehörte. Vermutlich handhabten auch die AEG und Siemens das in ganz ähnlicher Weise, doch die beiden Großkonzerne waren, da sie die Krise größtenteils unbeschadet überstanden hatten, inzwischen dazu übergegangen, keine Preisabsprachen mehr zu treffen, sondern die kleineren Unternehmen kurzerhand zu schlucken.
Philippe wusste nicht, mit welchen Mitteln Meindorff an eine neuerliche Finanzspritze gelangt war, um damit sein Unternehmen zu erhalten, denn das Jahr 1908 ließ sich nicht eben gut an: Berliner Großbanken, allen voran die Deutsche Bank, kontrollierten inzwischen über 80 % des gesamten deutschen Bankkapitals und in vielen Betrieben besetzten genau diese Banken auch Aufsichtsratsposten. Den Druck, den sie auf Firmen ausübten, ob nun direkt oder als Kreditgeber, wuchs allmählich ins Unerträgliche.
Sein Ziehvater beruhigte sich wieder und nahm hinter dem wuchtigen Eichenholzschreibtisch Platz. Unter seinen buschigen Augenbrauen taxierte er sein Mündel. »Wir sind eine angesehene Familie, auch wenn du mittlerweile unseren Ruf ein wenig ramponiert hast – wobei ich zugeben muss, dass so mancher Zeitgenosse heimliche Bewunderung oder gar Neid dir gegenüber empfindet. Die aussichtsreiche Vermählung von Joseph und die sich daraus ergebenden neuen Möglichkeiten in den Niederlanden waren für Meindorff-Elektrik ein wichtiger Schachzug.«
Philippe hörte nicht länger zu. Jetzt erklärte sich ihm die Verbindung zwischen seinem älteren Ziehbruder und Tilla. Seine Besorgnis bezüglich der Zukunft von Meindorff-Elektrik wuchs. Tilla van Campen und ihre Familie hatten selbst einem gewieften Fuchs wie Meindorff erfolgreich vorgegaukelt, nach wie vor eine angesehene, erfolgreiche Familiendynastie in den Niederlanden zu sein. Vielleicht mochte sich sowohl für die Elektrowaren als auch für die Brauereiprodukte der Meindorffs in den Niederlanden tatsächlich ein neuer Markt erschließen, doch der würde bei Weitem weniger Bedeutung haben als sein Ziehvater sich erhoffte. Und mit dieser zweifelhaften Sicherheit in der Hinterhand nahm er einen neuerlichen, sicher erheblichen Kredit bei einem Geldinstitut auf?
Mit zusammengebissenen Zähnen erwog Philippe, ob er sich in die geschäftlichen Angelegenheiten der Familie einbringen sollte, oder ob er lieber weiterhin bei seinem bisherigen Standpunkt blieb, dass ihn diese im Grunde nichts angingen.
Meindorff riss ihn aus seinen Überlegungen: »Du wolltest mir aber etwas anderes mitteilen, bevor du dich auf den Weg zurück nach Afrika begibst.«
Der ältere Herr nahm Philippe mit seiner Frage die Entscheidung ab. Er war für sein eigenes Leben verantwortlich, das sich kaum noch mit dem seiner Ziehfamilie verknüpfte, seit er in der Kadettenanstalt aufgenommen worden war.
»Ich heirate in den nächsten Wochen«, ließ er verlauten.
Meindorff sah ihn erst erfreut, dann aber mit zunehmend misstrauischem Blick an. »Mir ist von keiner Verbindung berichtet worden.«
»Das kann auch schwerlich der Fall sein. Die junge Dame lebt in Südwest.«
Der Blick seines Gegenübers erhellte sich wieder. Offenbar überlegte Meindorff, welche einflussreiche Familie inzwischen lange genug im fernen Afrika lebte, um Philippes Eskapaden nicht oder nur am Rande mitbekommen zu haben und deshalb noch gewillt war, ihm ihre Tochter anzuvertrauen.
»Eine Hinrichs?«
»Sie heißt Udako und stammt aus dem Volk der Nama.«
Jegliche Farbe wich aus Meindorffs Gesicht. Als er sich wie so oft in letzter Zeit den linken Oberarm massierte, sah Philippe seine Hand heftig zittern.