Kapitel 23

Berlin, Deutsches Reich,
Mai 1908

Unsanft stieß Demy Margarete an, da sie an der soeben erreichten Haltestelle aussteigen mussten. Treu wie ein Hündchen folgte ihr die Freundin; immerhin fuhr sie das erste Mal mit Berlins öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Oberleitung zischte zum Abschied leise, bevor die Straßenbahn davonrumpelte, und zwei etwas verloren dastehende, verstörte Mädchen zurückließ.

Diesmal ergriff Demy Margaretes Hand und drückte sie kräftig, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. »Du sagtest, von der Haltestelle Kaisereiche aus findest du das Haus der Barnas?«

Margarete nickte und sah zu den sanft im Wind winkenden Blättern der Eiche25 hoch. »Hier entlang«, flüsterte die junge Frau mit erstickter Stimme und deutete in eine der von diesem Platz abzweigenden Straßen.

Demy behielt Margaretes Hand fest in der ihren und zog sie förmlich hinter sich her. Auch sie verspürte schreckliche Angst um Lina, war allerdings nicht so apathisch wie ihre Freundin. Sie ahnte, dass jede Minute zählte. Sollte Lina nicht inzwischen zu Hause eingetroffen sein, mussten sie Schlimmes annehmen und umgehend die Polizei verständigen!

Auf der linken Straßenseite standen mehrere zweistöckige Stadtvillen, ihnen schloss sich ein Birkenhain an. Dem Wäldchen gegenüber, von einem schmiedeeisernen Zaun auf einem niederen Mäuerchen und einem großen Garten umgeben, befand sich eine eher nüchtern wirkende Villa. In der Mitte des Gebäudes, direkt über dem Eingang, thronte ein Turm, der einzige Schmuck des ungewohnt stuck- und säulenfreien Hauses, das Demy fast heimelig anmutete.

»Das ist es«, flüsterte Margarete.

»Bitte läute du. Ich bin Herrn Barna noch nie zuvor begegnet. Ich rede mit ihm, aber ich brauche dich an meiner Seite!«

»Ist gut.« Margarete straffte die Schultern und griff nach dem eisernen Gartentor, das sich quietschend öffnen ließ. Die Mädchen fassten sich an den Händen und stiegen nebeneinander die drei Stufen hinauf.

Mit zitternder Hand zog Margarete an dem Metallbogen neben der Eingangstür, der im Inneren des Hauses eine tief klingende Glocke zum Klingen brachte.

Für ihr Empfinden dauerte es entsetzlich lange, bis ihnen ein rundlicher Mann mit grauem Backenbart, wild abstehenden grauen Haaren und einem etwas verloren wirkenden Blick öffnete.

»Ach, Fräulein Pfister.« Professor Barnas Augen huschten über Demy hinweg und suchten den langen schmalen Pflasterweg zum Tor ab. »Wo ist Lina?«

In ihren Ohren hörte Demy unangenehm laut das Rauschen ihres eigenen Blutes. Ihr Herz klopfte kräftig. Lina war also nicht nach Hause zurückgekehrt! Die bisher durch einen Funken Hoffnung im Zaum gehaltene Panik wollte nun doch von ihr Besitz ergreifen.

War ihre Freundin noch immer in den verwinkelten Gassen des Scheunenviertels gefangen? Oder befand sie sich gar in Gefahr?

»Was ist?« Professor Barnas Blick blieb an Demy hängen, und er runzelte die Stirn, was seine Bügelbrille tiefer auf die rundliche Nasenspitze hinunterrutschen ließ.

Das Mädchen schluckte hörbar. »Ich fürchte, Lina ist verschwunden, Herr Professor.«

»Verschwunden?« Der Physikprofessor wandte sich sichtlich verwirrt an Margarete, der mittlerweile die lange unterdrückten Tränen ungehindert über das Gesicht liefen.

Auf seinen Wink hin folgten die beiden Mädchen Linas Vater in das Haus. Er führte sie in einen mit altrosafarbenen Polstersesseln gemütlich eingerichteten Salon, dessen hohe, überfüllte Bücherregale zum einen den intellektuellen Hintergrund des Hausherrn, zum anderen auch die Vorlieben seiner Tochter widerspiegelten.

»Was heißt das, Lina ist verschwunden? Wo? Weshalb?«

Innerhalb kürzester Zeit entlockte der Mann ihnen alle relevanten Fakten und ging daraufhin zum Telefon hinüber, da er die Polizei einzuschalten gedachte. In diesem Augenblick klang das Läuten der Eingangsglocke dumpf durch das Haus.

»Vielleicht ist sie das!«, stieß Margarete aufgeregt hervor und eilte zu Demy, um sie am Arm zu ergreifen.

Eng umschlungen blieben die beiden Mädchen zurück, während der Professor in den Flur hastete und dabei die Tür zum Salon einen Spaltweit geöffnet ließ.

Demy hörte die zitternde Margarete ein Gebet murmeln. Eine ihr entfernt bekannt vorkommende Männerstimme veranlasste sie allerdings, sich von Margarete zu lösen und an die Tür zu gehen. Sie wollte nicht beim Lauschen erwischt werden, deshalb spitzte sie vorsichtig durch den Spalt in den quadratisch angelegten Flur. Zu ihrem Leidwesen verbarg Professor Barnas Gestalt den Besucher an der Tür. Doch als beide Männer das Haus verließen, zögerte Demy nicht einen Moment, bevor sie ihren Lauschposten aufgab und mit flinken Schritten über den dunklen Teppich zum Eingangsbereich huschte.

Am Straßenrand stand eine Kutsche, an deren offenem Schlag sich sowohl der Fahrer als auch Professor Barna beschäftigten.

Gespannt riss Demy ihre Augen auf, als sie den Ärmel von Linas weißem Kleid erspähte. Lina war zurück! Aber was war mit ihr? Weshalb stieg sie nicht aus?

Endlich gelang es den Männern, die junge Frau aus dem Gefährt zu holen, und der Chauffeur trug sie zum Haus. Demy warf einen Blick auf sein Gesicht und wich erschrocken zurück. Es handelte sich um Bruno, den Kutscher der Familie Meindorff.

Rückwärts wich Demy von der Tür zurück, wandte sich um und floh in den Salon. Falls Bruno Lina im Scheunenviertel gefunden hatte, durfte er nicht erfahren, dass sie mit ihr zusammen gewesen war! Denn sollte dies dem Rittmeister zu Ohren kommen, war ihr eine gewaltige Standpauke sicher, ganz abgesehen von dem Verbot, das Grundstück der Meindorffs in der nächsten Zeit zu verlassen.

Margarete verharrte noch immer reglos im Salon. Als Demy sie am Arm berührte, schrak sie sichtbar zusammen.

»Lina muss überfallen worden sein. Sie wird gerade vom Kutscher der Meindorffs ins Haus getragen. Er darf mich hier nicht sehen!«

»Aber … du hast recht. Vielleicht wäre es von Vorteil, wenn er uns beide nicht sieht!«

»Komm!«, zischte Demy und zog die Freundin hinter sich her zu einer Terrassentür. Im Flur erklangen bereits feste Schritte und Männerstimmen. Das Mädchen rüttelte und zerrte an dem Knauf, bis die Tür endlich aufsprang und sie Margarete durch den Spalt schieben konnte. Demy selbst kämpfte gegen die Gardine an, da der feine Stoff sich im entstandenen Luftzug aufblähte und sie einhüllte. Letztendlich gelang auch ihr die Flucht hinaus auf die Sandsteinterrasse. Sie ließ die Tür hinter sich offen stehen und folgte Margarete über eine Steintreppe hinunter in den Garten. Schnell huschten sie um die Hausecke, wo sie sich keuchend und zitternd an die weiß verputzte Fassade pressten.

»Das war knapp!«, lachte Demy, teils erleichtert, teils aufgeregt und drückte dabei beide Hände auf ihr rasant klopfendes Herz. Bei der Vorstellung, von einem wütenden Rittmeister mit seinen drohend zusammengezogenen Augenbrauen und den stechenden Augen wegen eines erneuten Regelbruchs abgekanzelt zu werden, zitterten ihr doch die Knie.

»Demy, was tun wir jetzt? Wir können nicht ewig hier stehen bleiben, vor allem, weil der Professor uns bald suchen wird. Immerhin wähnt er uns in seinem Salon.«

»Keine Angst. Bruno ist nicht der Gesprächigste. Er fährt sicher bald weg und dann können wir hinein.«

***

Der Kutscher gab einem Arzt und dieser einem Polizisten die Klinke in die Hand. Währenddessen saßen die beiden Freundinnen in einem mit wildem Wein überwachsenen Gartenpavillon und wussten noch immer nicht, wie es Lina ging und was ihr zugestoßen war. Letztlich hielt es Demy in ihrem Versteck nicht länger aus. Sie lief über die Wiese bis an die Pforte und fing dort den Uniformierten ab, der im Begriff war, das Anwesen zu verlassen.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Wachtmeister. Was ist mit Fräulein Barna passiert?«

»Das müssen Sie sie selbst fragen, kleines Fräulein.« Der Mann mittleren Alters bedachte sie mit einem prüfenden Blick. »Und wer sind Sie?«

»Demy van Campen, eine Freundin von Fräulein Barna. Hatte sie einen Unfall? Wurde sie überfallen? Rief man Sie deshalb?«

»Der Herr Professor kann von Glück reden, dass ich überhaupt kommen konnte, Fräulein van Campen. In der Innenstadt demonstrieren mal wieder die Bürger. Über dreißigtausend Menschen sind auf den Straßen und protestieren gegen das Dreiklassenwahlrecht26.« Diesmal tippte der Polizist sich an seine Pickelhaube, während er Demy erneut fragend anschaute. »Sie und Fräulein Barna sind also Freundinnen? Befand Fräulein Barna sich in ihrer Gesellschaft?«

»Nicht direkt«, murmelte Demy und ärgerte sich über ihre Ungeduld, die sie dazu getrieben hatte, den Wachtmeister anzusprechen. Wenn er sie nun detaillierter ausfragte und die Meindorffs doch noch von dieser Geschichte erfuhren …

»Erläutern Sie mir das bitte genauer?«

»Wir besuchten gemeinsam eine Freundin von mir und dabei entfernte Lina sich von uns. Wir konnten sie nicht mehr finden und waren sehr in Sorge um sie.«

»Wir?« Bei dieser Frage wanderte sein Blick über sie hinweg zu Margarete, die Demy langsam gefolgt war.

»Margarete Pfister, Herr Wachtmann«, stellte sie sich vor und gesellte sich an Demys Seite, was diese als ausgesprochen tröstlich empfand.

»Das deckt sich mit der Aussage von Fräulein Barna. Leider stimmt es wohl auch, dass sie keine Zeugen für den Angriff auf sie hat.«

»Sie ist also überfallen worden? Mein Gott, geht es ihr gut?« Erneut war Margarete den Tränen nahe.

»Sie hat ein paar schmerzhafte, aber oberflächliche Blessuren davongetragen, wie ihr Arzt mir versicherte. Seien Sie also unbesorgt. Zeugen des Angriffs wurden Sie aber nicht?«

»Wir? Nein!« Erbost stemmte Demy die Hände in die Hüfte. »Denken Sie, wir hätten dem Treiben zugesehen, ohne unserer Freundin zu Hilfe zu eilen?«

Ein belustigtes Lächeln legte sich auf das bärtige Gesicht des Polizisten. »In diesen Tagen, Fräulein van Campen, schauen viel zu viele Menschen einfach weg. Sie kennen bestimmt die biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter?«

»Aber natürlich. Und wir hätten Lina selbstverständlich beigestanden, nicht wahr, Margarete?« Demy schaute ihre Freundin auffordernd an, die durch ein eher zaghaftes Nicken ihre Zustimmung bekundete.

»Da Sie keine Augenzeugen des Vorfalls sind, nehme ich Ihre Personalien nicht auf. Sollte ich sie zu einem späteren Zeitpunkt dennoch benötigen, erhält Professor Barna Ihre Erlaubnis, sie an mich weiterzugeben?«

Demy verzog das Gesicht, nickte aber. Wenn es dabei half, denjenigen zu fassen, der Lina überfallen und ihr wehgetan hatte, würde sie einen weiteren Zornesausbruch des Rittmeisters über sich ergehen lassen. Auch Margarete stimmte dem Vorschlag des Wachtmeisters zu. Sicher würde ihre Familie mit ähnlichem Unverständnis und Unwillen reagieren wie Meindorff, wenn sie erfuhren, wo ihrer Tochter den heutigen Nachmittag verbracht hatte.

Schuldgefühle überkamen Demy, und sie ließ Kopf und Schultern hängen.

»Ich möchte Sie abschließend in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass das Scheunenviertel keine Gegend ist, in der junge Damen sich aufhalten sollten. Ich hoffe, dieser bedauerliche Vorfall ist Ihnen eine Lehre!«

»Ja, Herr Wachtmeister«, erwiderte Margarete sofort und aus tiefstem Herzen.

»Fräulein van Campen?«

»Ja, aber …«

»Treffen Sie ihre Freundin an einem anderen Ort!«

»Ja, Herr Wachtmeister.«

Der Uniformierte verabschiedete sich knapp und schloss das Gartentor mit lautem Klappern hinter sich.

Margarete stützte sich erschüttert auf dem Gartentörchen auf, doch Demy wollte endlich erfahren, was mit Lina geschehen war und wie es ihr ging. Dennoch ließ sie ihrer zartbesaiteten Freundin einen Augenblick des Durchatmens, ehe sie ihre Hand ergriff. Die Mädchen eilten auf die Terrasse und betraten von dort den Salon.

Lauschend blieben sie inmitten des Wohnzimmers stehen. Im Haus herrschte absolute Stille. »Herr Barna?«, rief Margarete halblaut und trat in den quadratischen Flur. Inzwischen hatte ihr Gesicht wieder etwas mehr Farbe angenommen.

Über ihnen knarrten die Dielen, und kurze Zeit später eilte der Professor die Stufen hinunter. »Sie beide habe ich ja ganz vergessen!«, stieß er hervor und schüttelte über sich selbst den Kopf.

»Wie geht es Lina, Herr Professor?«

»Sie wurde überfallen. Da sie sich zur Wehr setzte, schlug der Lump ihr mit einem Holzbrett auf den Kopf. Lina quälen Kopfschmerzen, aber ansonsten geht es ihr gut. Auch dank des Kutschers, der sie taumelnd in der Nähe der Alten Synagoge in der Heidereutergasse entdeckte, erkannte und mitnahm.«

»Wie gut, dass Bruno dort unterwegs war«, seufzte Demy.

»Wer sind Sie eigentlich?«

»Eine Freundin von Lina. Demy van Campen. Lina und ich haben uns in Margarete Pfisters Literaturkreis kennengelernt.«

»Ich erinnere mich. Lina erwähnte Sie das eine oder andere Mal.«

»Dürfen wir zu ihr?«, drängte nun Margarete.

»Natürlich. Fräulein Pfister, Sie kennen ja den Weg?«

Die junge Frau bejahte und eilte Demy wenig würdevoll voraus die Stufen in den ersten Stock hinauf.

Lina lag in ihrem hübschen, ganz in Weiß und Gelb eingerichteten Zimmer auf ihrem Bett und drückte sich einen mit Eis gefüllten Beutel an den Hinterkopf. Ein erfreutes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie die Freundinnen im Türrahmen erblickte. »Wie bin ich froh über eure Anwesenheit! Ich fürchtete schon, ihr beiden würdet auf der Suche nach mir das ganze Scheunenviertel durchforsten.«

»Du weißt gar nicht, wie erleichtert wir sind, dich wohlbehalten wiederzusehen. Wir haben große Angst um dich ausgestanden!« Mit diesen Worten sank Margarete vor dem weißen Bettgestell in die Knie und legte ihren Kopf auf Linas Arm. Das Mädchen lächelte Demy an und strich der sichtbar aufgewühlten Margarete beruhigend über das Haar.

»Mir geht es gut. Ich wünschte nur, mein Vater hätte nicht die Polizei verständigt.«

Jetzt war es an Demy, die Freundin verwundert anzusehen. Aus welchem Grund wollte Lina den Überfall geheim halten? Es war doch ohnehin längst zu spät, um ihrem Vater verheimlichen zu wollen, wo sie heute gewesen war. Oder stellte sie ihre Frage falsch? Musste sie vielmehr lauten: Weshalb wäre es Lina lieber gewesen, nicht über den Angriff sprechen zu müssen?

Die Verletzte biss sich auf die Unterlippe, bevor sie mit verschwörerischer Stimme fortfuhr: »Ich habe dem Wachtmeister nicht ganz die Wahrheit gesagt!«

»Lina! Aber aus welchem Grund denn?« Entsetzt richtete Margarete sich auf, während Demy mit gerümpfter Nase und nachdenklich zusammengekniffenen Augen zum Fenster ging und hinaussah.

»Kanntest du den Mann, der dich angegriffen hat?«, fragte sie die Freundin.

»Nein. Und es handelte sich nicht um einen Mann, das ist ja mein Problem.«

»Eine Frau hat dich überfallen? Wollte sie dein Geld und deinen Schmuck an sich nehmen?«

»Auch keine Frau«, seufzte Lina und richtete sich in ihren Kissen auf. »Es war ein Kind, ein kleiner Bursche von vielleicht acht, neun Jahren.«

Demy starrte ihre verletzte Freundin mit dem Kopfverband und den Abschürfungen im Gesicht ungläubig an. »Ein Kind hat dich so zugerichtet?«

»Darf ich einfach erzählen, was passiert ist? Vermutlich versteht ihr mich dann besser, vor allem auch meine Handlungsweise dem Wachtmeister gegenüber.«

Margarete nickte, wobei sie noch immer Linas Hand umklammert hielt, während Demy wieder zum Fenster hinaussah. Ihr Bruder Feddo war fast acht Jahre alt. Er war ein Lausbub, gelegentlich auch wild, dennoch würde sie ihm niemals zutrauen, dass er einer Frau mit einem Holzscheit auf den Kopf schlug, um ihre Wertsachen zu erbeuten! Wie skrupellos musste so ein Kind sein?

Zögernd fuhr sie mit dem Zeigefinger über das Fensterglas. Ob sie dem Kind, das Lina angegriffen hatte, unrecht tat? Sie kannte doch inzwischen die drangvolle Enge im Scheunenviertel, die Not und Entbehrungen, die viele der Menschen zu erleiden hatten. Was wusste sie schon davon, wie ein Kind reagierte, wenn es Nahrung oder Geld für Medikamente oder für die Miete des heruntergekommenen, überfüllten Zimmers brauchte, in dem es hauste?

Ein Räuspern von Lina unterbrach ihre Überlegungen. »Ich wollte nur die niedliche Katze streicheln, daher folgte ich ihr aus dem Torbogen.

Zwei Straßen weiter wurde ich gewahr, dass ich mich hoffnungslos verlaufen würde, wenn ich nicht unverzüglich umkehrte. Ich war noch nicht weit gekommen, als plötzlich dieser Junge um eine Hausecke kam und direkt in mich hineinlief. Ich stürzte beinahe, was er wohl geplant hatte, denn er nutzte meine Hilflosigkeit, um mir meine Handtasche zu entreißen.« Lina holte tief Luft, erzählte aber sofort weiter, während die beiden anderen Mädchen begierig lauschten.

»Allerdings hatte der Bursche nicht damit gerechnet, dass ich ihn am Arm erwischen würde. Er stürzte, und ich beschimpfte ihn und zwang ihn dann, mich zu seiner Mutter zu bringen. Schließlich sollte er nicht ungeschoren davonkommen.«

»Aber Lina, in diesen Gassen nur der Führung eines kriminellen Kindes ausgesetzt …?« Entsetzt über Linas Idee schüttelte Margarete den Kopf.

»Es war eine Dummheit, das ist mir mittlerweile auch klar. Aber in dem Augenblick war ich einfach nur entrüstet und wollte dem Kerl eine Lektion erteilen.«

Demy schenkte Lina ein Lächeln. Wie gut konnte sie sowohl ihre Wut auf den kleinen Dieb als auch ihre unbedachte Handlungsweise verstehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte Demy nicht minder unüberlegt gehandelt.

»Jedenfalls führte er mich wohl durch das ganze Viertel und wieder zurück, bis mir auffiel, dass er mich nur in die Irre leitete. In der Zwischenzeit hatte ich ausreichend Gelegenheit, ihn mir eingehend anzusehen. Er war schmutzig, trug keine Schuhe, aber fadenscheinige, löchrige Kleidung und sein Haar war schrecklich verfilzt. Da ahnte ich, dass der Junge womöglich gar kein Zuhause, gar keine Eltern hat.«

Ihr Erzählfluss wurde durch einen unterdrücken Aufschrei von Margarete unterbrochen. »Du denkst …? Aber du sagtest doch, er sei noch ein Kind? Es kann doch nicht allein auf sich gestellt in diesen Gassen hausen!«

»Liebe Margarete, ich fürchte, es gibt viele heimatlose Kinder in den Straßen Berlins. Warte nur, bis ich zu Ende erzählt habe!«, stieß Lina hervor. »Jedenfalls stellte ich ihn zur Rede, und er gab widerwillig ein paar Antworten. Sie bestätigten meinen Verdacht. Also bat ich ihn, mich zurückzubringen, und da erst bemerkte ich, wie abhängig ich in diesem Wirrwarr aus Plätzen, Straßen und Gassen von ihm war.« Lina zuckte verlegen mit den Schultern. «Er führte mich, nun zielstrebiger, wie es mir schien, durch unendlich viele verdreckte, düstere Hinterhöfe, bis mir plötzlich jemand einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzte. Drei andere Kinder, darunter auch ein Mädchen und ein deutlich älterer Bursche, umringten mich. Ich versuchte mich zu wehren, doch mein Kopf schmerzte grässlich und ich hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Also gab ich ihnen, was sie begehrten, nämlich meine Handtasche. Daraufhin stürmten sie davon und ließen mich zurück.«

Bedrücktes Schweigen senkte sich über die Freundinnen. Während Demy noch immer reglos zum Fenster hinausstarrte, streichelte Margarete die Hand von Lina, die sich jetzt wieder in ihrem Bett zurücklegte und erschöpft die Augen schloss.

»Aber weshalb hast du das alles dem Wachtmeister verschwiegen?«, flüsterte Margarete irgendwann in die Stille hinein.

Den Kopf leicht geneigt drehte Demy sich um und betrachtete die beiden Freundinnen. Konnte Margarete die Antwort denn nicht selbst erraten? »Diese Kinder waren alle so hohlwangig, sahen schauderhaft vernachlässigt und zugleich furchtbar hart aus. Ich musste an Demys kleinen Nathanael und seine Mutter denken. Wissen wir, wie viele von diesen verzweifelten Menschen da draußen in den Straßen dieser Stadt leben? Sie hungern, frieren, ohne eine Chance auf ein halbwegs menschenwürdiges Dasein. So auch diese Kinder, die mich angriffen. Vergessene Kinder! Wie könnte ich ihnen einen Vorwurf machen? Wie sollte ich ihnen die Polizei auf den Hals hetzen? Vielmehr beschloss ich, nicht mehr nur zu reden, sondern endlich etwas zu tun. Wie oft sprachen wir darüber, dass wir nach dem Säugling sehen wollten, dem Demy das Leben gerettet hat? Aber sind wir auch nur einmal bei ihm gewesen?«

»Ich war dort«, sagte Demy leise, woraufhin ihre Freundinnen ihr erstaunt die Köpfe zuwandten. »Aber ich habe das Säuglingsheim nicht betreten. Dort gibt es eine Pforte, und ich fürchtete mich, meinen Namen und meine Adresse anzugeben. In den letzten Wochen habe ich genug unschöne Gespräche mit dem Herrn Rittmeister Meindorff geführt. Sollte er erfahren, dass ich nach dem Findelkind schauen wollte, könnte das erneut eine Auseinandersetzung nach sich ziehen.«

»Du bist doch sonst nicht so ängstlich«, platzte Lina heraus.

»Das bin ich auch nicht. Aber ich fühle mich im Hause der Meindorffs so allein. Zudem macht mir dieser Mann doch ein bisschen Angst. Auch möchte ich vermeiden, dass mein Fehlverhalten später auf Tilla zurückfällt; immerhin hat sie mich nach Berlin gebracht, sorgt für meine Ausbildung und ist nun ein Mitglied dieser Familie.«

»Da hat Demy nicht unrecht«, murmelte Margarete, hob die Augenbrauen und richtete sich auf. »Ich denke, wir müssen das Problem anders angehen. Meinen Eltern gefällt es mit Sicherheit auch nicht, wenn ich mich in diesem Waisenhaus zeige. Doch wenn wir die Einrichtung offiziell finanziell unterstützen und ehrenamtliche Hilfe leisten, rücken deine Besuche bei Nathanael in ein völlig anderes Licht.«

»Der Gedanke ist gut«, sinnierte Lina mit wieder geschlossenen Augen.

»Der Haken ist nur, dass ich kaum über Geld verfüge«, wandte Demy beschämt ein, was Margarete veranlasste, aufzustehen und neben sie an die Fensterfront zu treten.

»Wir werden diese Unterstützung über den Lesezirkel organisieren. Unsere Freundin, Klaudia Groß, liebt Kinder über alles. Sie wird sich ebenso für diese Pläne einsetzen wie auch Adele und Frau Cronberg. Wir verkehren alle in einem Bekanntenkreis mit durchaus ansehnlichem Lebensstandard. Dabei denke ich ferner an die Ehnsteins, Ahlespergs und den Herrn Willmann. Spendet einer von ihnen, wird es die Eitelkeit der andern Familien nicht zulassen, hintenanzustehen. Mal sehen, vielleicht können wir ihnen sogar den einen oder anderen der erst im Februar dieses Jahres herausgekommenen blauen Hundert-Mark-Scheine entlocken?«

Ohne eine Falte auf der Nase, dafür mit großen Augen, nickte Demy begeistert. Die Aussicht, sogar ihre bei den Meindorffs überaus geschätzte Gouvernante mit im Boot zu haben, ganz abgesehen von Namen wie Ahlesperg und Ehnstein, gab Margaretes Vorschlag einen absolut seriösen Anstrich.

»Fein, das wäre also geklärt«, sagte Lina und legte sich schmerzvoll seufzend einen Arm über die Augen.

Ohne einer Absprache zu bedürfen verließen Margarete und Demy leise deren Zimmer.

***

Die braunen Flügel weit gespreizt glitt der Bussard über die Wiese, schwenkte herum und flog in einem Bogen in Richtung Waldrand, um von dort erneut in Hannes’ Richtung zu drehen. Bei diesem Manöver verlor er deutlich an Höhe, sodass er nur noch wenige Meter über dem Boden dahinglitt und der Kadett sich fragte, ob der Raubvogel seinen eigenen Schatten als potenzielle Beute ausgemacht hatte.

Er behielt diese Überlegung nur kurz im Sinn, denn erneut ging sein suchender Blick ungeduldig an den Bäumen vorbei, zwischen deren Stämmen das blau glitzernde Wasser des Wannsees zu sehen war, bis hinüber an die Straße. Sein Herz schien für einen Moment ins Stolpern zu geraten.

Sie war gekommen! In einem blassblauen Kostüm und mit dem grauen Hütchen auf dem hochgesteckten Haar machte Edith den Eindruck, als habe sie sich eigens für dieses Treffen – das erste, bei dem sie allein sein würden –, besonders hübsch zurechtgemacht.

Aufgeregt wie ein kleiner Schuljunge erhob sich Hannes von dem Holzpflock, auf dem er gesessen hatte, zog die Kadettenjacke glatt und eilte der Frau seines Herzens entgegen.

Seit er seine Einladung zu diesem Treffen ausgesprochen hatte, war er sich keinen Augenblick lang sicher gewesen, ob Edith wirklich kommen würde. Er empfand es als furchtbar taktlos, eine Dame nicht zu Hause abzuholen, sondern sie selbstständig zum Treffpunkt reisen zu lassen, doch zumindest dahingehend hatte Edith seine Bedenken zerstreut. Sie sei eigenständig und selbstbewusst genug, ohne Begleitung nach Berlin zu fahren, hatte sie ihm vor einer Woche zugeraunt, jedoch weiterhin offengelassen, ob sie zum vorgeschlagenen Zeitpunkt erscheinen würde.

Hannes erreichte die junge Frau, die bei seinem Anblick trotz ihrer Eigenständigkeit nun doch einen erleichterten Eindruck machte, was sein Grinsen noch breiter werden ließ. Mochten die Frauen in diesen Tagen moderner sein als zuvor – wenn sie seinen Beschützerinstinkt weckten, fühlte er sich gut.

Zur Begrüßung streckte er ihr beide Hände entgegen und wartete voll Ungeduld, bis sie die ihren hineinlegte. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«

»Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Immerhin kenne ich Sie kaum. Es schickt sich nicht …« Sie ließ den Satz unvollendet und entzog ihm ihre Hände.

»Vertrauen Sie mir«, bat er und deutete einladend in Richtung Wäldchen und dem dahinter versteckten See.

»Das tue ich.«

Ihr Lächeln jagte ihm einen heißen Schauer durch den Körper. Niemals zuvor hatte er sich zu einer Frau so hingezogen gefühlt wie zu Edith, und dabei war sie keine der schlanken, eleganten und bewundernswerten Damen, die Preußen gewöhnlich hervorbrachte. Etwas an ihrem Wesen war anders; rein und wunderschön, aufregend und eigentümlich beruhigend zugleich. Es gab da nur ein Problem. Und das hieß nicht etwa Klassenunterschied, denn dieser störte Hannes nicht. Die schwer zu überwindende Hürde, die sich zwischen ihn und Ediths Glück stellen könnte, war sein Vater. Dieser hatte schon seinen Willen durchgesetzt, was die Eheschließung von Hannes’ älterem Bruder anbelangte, und mit seinen Bemühungen, eine gute Partie für Philippe zu finden diesen nach Afrika getrieben. Der Rittmeister würde dies auch bei ihm versuchen. Und ganz sicher war in den Plänen des gestrengen und auf Traditionen bedachten Mannes keine Edith Müller als Ehefrau für ihn vorgesehen.

Das nächste Problem, und das wollte er heute endlich aus der Welt schaffen, war Ediths Ahnungslosigkeit darüber, mit wem genau sie da überhaupt angebandelt hatte.

Sie tauchten in den kühlen Schatten der Bäume ein. Der bisher tadellos angelegte Weg wurde deutlich schmaler, und über dem festgetretenen Waldboden rankte sich ein Gewirr aus oberflächlich verlaufenden Wurzeln.

Obwohl Edith solides Schuhwerk trug und kaum Schwierigkeiten beim Begehen des unebenen Weges haben würde, bot Hannes ihr mit einer knappen Verbeugung seinen Arm. Er bemerkte ihr Zögern, spürte, wie sie mit sich kämpfte, da sie viel Wert auf ihre Selbstständigkeit legte. Umso mehr freute er sich, als sie nachgab und sich bei ihm einhakte.

Fürsorglich geleitete er sie durch das Waldstück, bis sich vor ihnen der von der Sonne beschienene See ausbreitete. Zügig griff er um und hielt ihre Hand unmissverständlich in seiner fest. Er hatte nicht vor, Edith so schnell wieder loszulassen.

»Ist das schön!«, seufzte seine Begleiterin und ließ ihren Blick über die glitzernde Wasserfläche schweifen.

»Ja, wunderschön!«, stimme Hannes ihr zu und betrachtete dabei ihr ebenmäßiges, rundliches Gesicht. Angenehm intensiv empfand er dabei die Wärme ihrer Hand in der seinen.

Rechts von ihnen öffnete sich die Bucht zu einem breiten Sandstrand, an dem sich trotz der Proteste konservativer Kreise und wohlhabender Anlieger im Sommer vergangenen Jahres das erste Mal sonnenhungrige Berliner aller Schichten in mehr oder weniger züchtigen Badekleidern vergnügt hatten. An diesem kühlen Tag waren allerdings nur vereinzelte Spaziergänger unterwegs.

In leichtem Plauderton befragte Hannes Edith nach ihrem Ergehen und dem ihrer Familie, während sie am Wasser entlangschlenderten. Er erfuhr, dass ihre Schwester wieder einmal entlassen worden war. Trotz gesetzlicher Bestimmungen zum Arbeitsschutz gelang es den Arbeitgebern noch immer leicht, in ihren Augen unnötigen Ballast abzuwerfen. Der Kadett verspürte eine gewisse Erleichterung darüber, dass Edith es bei einer rein sachlichen Erwähnung dieses Geschehens beließ. Hätte sie gegen die reichen Industriellen gewettert, wäre er gezwungen gewesen, sein Vorhaben, ihr heute über seinen familiären Hintergrund reinen Wein einzuschenken, auf unbestimmte Zeit zu vertagen.

Geschickt wich er einer Frage über seine Familie aus, sodass sie bei Philippe, seiner Vorliebe für Flugzeuge und seinen Aufenthalt in der Kolonie landeten.

»Was halten Sie von einem Picknick?«, erkundigte er sich schließlich lächelnd, als sie den lauschigen Platz erreichten, den er als Ziel für die heutige Verabredung auserkoren hatte.

Seine Begleiterin blieb stehen und sah sich um. Realisierte sie erst jetzt, wie weit sie sich von den letzten Häusern und der neu eröffneten Badeanstalt entfernt hatten? Sie löste ihre Hand aus seiner und trat ans Ufer, wo kleine Wellen sachte über den mit Kieselsteinen durchmischten Sand ausrollten und dabei ein zischendes Geräusch verursachten. Während sie zum gegenüberliegenden Ufer blickte, nahm Hannes seinen Rucksack ab und breitete eine rot-weiß karierte Decke auf einem Wiesenstreifen oberhalb des Sandstrands aus. Er holte frische Brötchen, kalten Braten, in Scheiben geschnittene Karotten und zwei Flaschen Wasser hervor.

Vier flache, mit je fünf Mann besetzte Ruderboote glitten in hoher Geschwindigkeit nahe am Ufer vorbei, und die Ruderer grüßten mit einem knappen Kopfnicken zu ihnen herüber.

Das Gefühl, nicht gänzlich abgeschieden zu sein, schien Edith zu beruhigen. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sie sich zu ihm um.

Hannes, noch die Stoffservietten in der Hand, welche ihnen als Teller dienen sollten, stockte mitten in der Bewegung. Die hängenden Zweige der Birken umspielten Ediths Gestalt, während das glitzernde Wasser sie einhüllte wie das Licht von tausend Sternen.

»Entschuldigen Sie bitte meine Unverfrorenheit. Aber ich kann nicht anders, als zu sagen, dass Sie wunderschön sind.«

In einer bezaubernd schüchternen Geste führte Edith beide Hände an ihre Wangen, um die aufsteigende Röte zu verbergen. Hannes ließ die Servietten fallen, sprang auf die Beine und trat zu ihr an den Ufersaum. Sanft legte er seine Hände über die ihren, umfasste sie und zog sie von ihrem Gesicht fort, um sie dann sanft gegen seine Brust zu drücken, in der sein Herz kräftig klopfte.

»Bitte, Fräulein Müller. Ich meine es ernst. Ich sehe Sie einfach zu gern an.«

»Hannes«, flüsterte sie und errötete schon wieder, da sie ihn spontan mit seinem Vornamen angesprochen hatte. Er lachte glücklich auf. Ihre Blicke trafen sich, ließen einander nicht mehr los.

Hannes trat noch einen Schritt näher, spürte ihren Körper federleicht an seinem. Unwillkürlich hielt er den Atem an, fühlte eine starke Erregung in sich aufsteigen, lauschte dem Rauschen seines Blutes in seinem Kopf und war doch völlig konzentriert auf ihre blauen Augen. Ein leichter Widerstand ihrer Hände gegen seine Brust hielt ihn davon ab, sich mit seinem Gesicht dem ihren noch mehr zu nähern.

»Hannes, zu was führt das?«, flüsterte sie.

Er hörte das Beben in ihrer plötzlich heiser klingenden Stimme, lächelte und raunte ihr zu: »Zu unserem ersten Kuss, Edith. Zu einem Picknick mit der Frau, die ich liebe, und zu dem Versprechen, dich eines Tages zu heiraten.«

»Du scherzt, Hannes. Das tut man nicht, nicht bei einem so ernsten Thema.«

»So ernst war mir noch nie etwas in meinem Leben«, beteuerte er, zögerte aber im nächsten Augenblick, da Ediths Zurückhaltung ihn aus dem Konzept brachte. Er begann eine ihrer gelösten Haarsträhnen um seinen Zeigefinger zu wickeln.

»Es ist dir also ernst mit mir?«, fragte sie noch immer mit einer Spur Verunsicherung in der Stimme.

»Sehr.«

Edith lächelte, worauf Hannes das Spiel mit der Locke unterließ und stattdessen mit beiden Händen ihr Gesicht umfasste. Ohne sich auf eine neuerliche Diskussion einzulassen, küsste er sie.

Sie zitterte, das spürte er deutlich. Also umfing er sie noch fester, um sie wieder zu küssen und dabei fest an sich zu drücken, als wolle er sie vor allen Widrigkeiten dieser Welt beschützen.

Vertrauensvoll schmiegte Edith sich an ihn, und genau das war es, das ihn aus einem tranceähnlichen Zustand wieder zu sich brachte. Für ihn bedeutete es einiges an Überwindung, seine Leidenschaft zu zügeln, doch schließlich löste er sich behutsam von ihr.

Begleitet von einer irritierenden Atemlosigkeit beeilte Hannes sich, das Picknick fertig vorzubereiten. Wenige Augenblicke später saßen sie nahe nebeneinander auf der Decke.

Über ihnen raschelten die Blätter der Buchen und Birken im schwachen Wind, der auch die Wasseroberfläche kräuselte und sanfte Wellen an den Strand rollen ließ. Der Geruch des feuchten Bodens verband sich mit dem herben Duft des Waldes zu einer kräftigen Urwüchsigkeit. Vermutlich würde ihn dieser Duft sein Leben lang an diesen besonderen Tag erinnern.

Nach dem Verzehr der mitgebrachten Speisen legte Hannes sich träge zurück und schloss die Augen. Bunte Lichtpunkte tanzten vor dem orangefarbenen Schimmer, der seine Lider durchdrang, da ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien. Eine zarte Berührung an seiner Wange ließ ihn die Augen öffnen und gegen das helle Licht anblinzeln.

Edith lag neben ihm, seitlich auf einen Ellenbogen aufgestützt, und streichelte ihm scheu und unendlich zärtlich über das Gesicht. Ihren Hut hatte sie abgenommen, doch wegen des grellen Gegenlichts lagen ihre Züge dennoch vollkommen im Schatten, während ihr Haar sie beinahe wie ein Heiligenschein umgab. Vorsichtig beugte sie sich ihm entgegen, und erneut berührten sich ihre Lippen.

Auf diese verführerische Weise eingeladen, ergriff Hannes Edith und zog sie an sich, bis sie fast auf ihm lag. Ihre Haare kitzelten ihn am Hals, da er den Kragen der Uniformjacke geöffnet hatte. Seine Umarmung wurde fester, sein Kuss fordernder, doch Edith begann sich zu sträuben. Ihm blieb nichts anders übrig, als sie freizugeben.

»Hannes«, keuchte sie atemlos. »Wir sollten miteinander reden.« Entschlossen richtete sie sich auf, was ihn zwang, ihrem Beispiel zu folgen, wobei er allerdings so dicht neben ihr blieb, dass ihre Schultern sich berührten.

Sie ließ es zu, verschränkte aber ihre Finger nervös ineinander.

»Hannes, ich weiß so gut wie nichts von dir. Und das behagt mir, ehrlich gesagt, nicht. Wohin geht dein Weg, nachdem du Lichterfelde abschließt? Wo und wie lebst du? Ich fürchte, ich weiß über deinen Freund Philippe mehr als über den Mann, der mir soeben indirekt einen Heiratsantrag unterbreitet hat.«

»Du hast recht«, gestand Hannes ein und wappnete sich für seine im Vorfeld geplante Rede, obwohl er sie gern noch hinausgezögert hätte. Wer wusste schon, wie Edith, die immerhin zu einem Sozialistenzirkel gehörte, auf seine Offenbarung reagieren würde? Dennoch hatte sie recht, es war höchste Zeit, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Zögernd begann er: »Meine Mutter lebt seit ein paar Jahren nicht mehr, mein Vater ist Joseph Meindorff, der gemeinsam mit meinem älteren Bruder das Unternehmen Meindorff-Elektrik leitet.«

Vorsichtig wagte Hannes einen Blick zu Edith hinüber, die ihr Gesicht dem blauen See zugewandt hielt. Ob sie das weit entfernt vorüberziehende Segelboot beobachtete? Oder war sein Geständnis für sie so schockierend, dass sie nicht einmal mehr bereit war, ihn eines Blickes zu würdigen?

»Und ich dachte schon bei unserem ersten Zusammentreffen, mir käme der Name bekannt vor. Wir besitzen ein Bügeleisen der Meindorff-Werke!« Edith wandte sich ihm zu. »Mir ist schon längst klar, dass deine Familie vermögend sein muss. Immerhin ist Groß-Lichterfelde eine Elite-Militärschule. Offizier zu werden ist noch immer dem Adel und Begüterten vorenthalten. Allerdings hatte ich dich nicht direkt mit Meindorff-Elektrik in Zusammenhang gebracht.«

»Bereitet dir das Schwierigkeiten?«, fragte er und hielt den Atem an. Der Moment, den er seit Wochen fürchtete, war gekommen: Wie würde die junge Frau reagieren?

Edith hob die Schultern, ließ sie aber gleich darauf wieder sinken, wobei sie laut ausatmete. Das Schweigen, in das sie sich hüllte, fügte ihm innerliche Qualen zu. Was dachte sie nun über ihn? Würde sie sich von ihm abwenden?

»Ich empfinde es als angenehm, dass du nicht sofort dein Vermögen herausgestellt hast. Viele Männer tun das, um Mädchen zu beeindrucken. Es freut mich auch, dass du mir nun mehr zu erzählen bereit bist, selbst wenn mir das fast ein wenig spät kommt. Schwierigkeiten bereitet mir aber …« Edith unterbrach sich und griff nach seiner Hand, die er fest umschloss.

Fast ängstlich sah er sie an. Er hatte diese wunderbare, liebenswerte und herrlich aufrichtige Frau gerade erst für sich gewonnen. Die Angst, sie jetzt wegen etwas so Unausweichlichem wie seiner Herkunft zu verlieren, stieg ins Unermessliche. Da half es auch nicht, dass sie so beherrscht reagiert hatte. Vielleicht war sie einfach nur sehr sachlich und würde als Nächstes jede weitere Annäherung strikt unterbinden

»Deine Familie, Hannes … wie werden sie auf mich reagieren? Ich bin keine angemessene Partie für einen Meindorff!«

Er legte die Fingerspitzen seiner freien Hand auf ihre Lippen, hinderte sie daran, auszusprechen, was trotz der Erleichterung über Ediths vernünftige Ansichten seiner Euphorie einen Dämpfer versetzte. »Wenn unsere Liebe stark genug ist, werden wir diese Hürde nehmen. Edith, du bist eine wunderbare Frau, und ich zweifele nicht einen Augenblick daran, dass du auch meine Familie bezaubern wirst.«

Ihr zärtliches Lächeln traf ihn mitten ins Herz, und so zog er sie erneut an sich.

***

Eine Windbö blähte die Tischdecke auf, und nicht nur Meindorff griff nach ihr. Ehrenfried Ehnstein glättete den Stoff an der Stirnseite des Tisches und hob sein Bierglas, um dem eigens für diese illustre Gesellschaft abgestellten Kellner zu signalisieren, dass er es auffüllen solle. Das Wirtshaus Waldhütte, nahe an einem Waldstück am Wannsee gelegen, war normalerweise um diese Tageszeit nicht geöffnet, doch für die unregelmäßigen Treffen der Herren aus der Elektrobranche machte der Eigentümer gern eine Ausnahme. Vermutlich ahnte er, dass an diesen Tagen unlautere Preisabsprachen getroffen und Großaufträge untereinander verteilt wurden, doch diese Sonderöffnungszeiten brachten ihm eine Menge Elektroartikel zu einem ausgesprochen günstigen Preis ein.

Neben der Terrasse, auf der die Männer in ihren dunklen Anzügen mit den modernen Strohhüten auf den Köpfen ihre Zigaretten rauchten und diskutierten, wiegten sich alte Eichen im auffrischenden Wind. Zwischen ihren Stämmen hindurch war das Blau des Wannsees zu erahnen.

»Siegfried konnte sich nicht länger halten. Ihm brachen Aufträge weg, als seine Arbeiter streikten.« Ehnstein nahm mit einem Grinsen das schäumende Bier entgegen und trank mit hörbarem Schlürfen.

Meindorff fragte sich, ob seine Freude dem Bier galt oder vielmehr mit der Geschäftsaufgabe des Konkurrenten zu tun hatte, der bis vor Kurzem zu ihrem erlesenen Kreis gehört hatte.

Martin Willmann, der mit Abstand jüngste Teilnehmer ihrer Syndikats-Runde, räusperte sich. Der Rauch seiner Zigarette, die er in ähnlich lässiger Art hielt, wie er auch auf dem Gartenstuhl saß, wehte seinem Tischnachbarn ins Gesicht. Er warf dem wesentlich älteren Ehnstein einen reichlich respektlosen Blick zu.

Meindorff bewunderte den erst 40-Jährigen für seine Schaffenskraft, für seine Selbstsicherheit und auch für die Beharrlichkeit, mit der er sein Unternehmen von Tag zu Tag vorantrieb. Allerdings waren ihm Willmanns Geschäftsmethoden gelegentlich suspekt, zumal er der Einzige in der Runde blieb, der sich nicht einen Deut in die Karten sehen ließ.

»Siegfrieds Frau ist vor zwei Wochen verstorben. Ihm stand der Sinn nicht nach Geschäften. Es steht zu befürchten, dass weder sein Prokurist noch die Bank ein Auge darauf hatten, was mit den Firmenanteilen geschah, die Kleinanleger innehatten. Sie gingen alle innerhalb weniger Tage an Siemens über«, informierte er die anderen Industriellen über das Desaster, das zu der feindlichen Übernahme geführt hatte.

»Seine Bank!« Anton Ahlesperg lachte grimmig auf. »Mindestens ein Geschäftsführer seiner Bank sitzt bei Siemens in der Führungsebene.«

Meindorff notierte sich innerlich, dass er die Machtverhältnisse des Kreditinstitutes abklären wollte, das seine Konten verwaltete, wurde aber abgelenkt. In der Nähe des Wirtshauses trat ein Pärchen aus dem lichten Waldstück. Das war in der Nähe des Strandbades auch im Frühjahr kein ungewöhnlicher Anblick, allerdings glaubte er in dem jungen Mann in Kadettenuniform seinen Sohn Hans zu erkennen. In diesem Augenblick zog der Kadett das Mädchen an sich, und ihr leidenschaftlicher Kuss dauerte lange an.

Meindorff kniff die Augen zusammen und musterte die mollige Gestalt des Mädchens, es gelang ihm jedoch nicht, sie einer ihm bekannten Familie zuzuordnen. Er verfolgte das Paar mit den Augen, als es händchenhaltend den Spazierweg zwischen den Wiesen und Bäumen in Richtung Stadt entlangschlenderte.

Dass die Jungspunde ihre Liebschaften unterhielten, war nichts Ungewöhnliches. Dennoch gebot es der Anstand, sich nicht mit ihnen an öffentlichen Orten zu zeigen. Er konnte nur hoffen, dass Hans bedachtsam genug vorgegangen und nicht mitten über den Sandstrand des Bades spaziert war.

Meindorff knöpfte sich beim nächsten kräftigen Windstoß sein Jackett zu und plante in Gedanken ein eindringliches Gespräch mit seinem Sohn. Er musste ihm nochmals deutlich vor Augen halten, dass Eltern junger Damen Vorbehalte hegten, diese mit allzu leichtfertigen Männern zu vermählen. Immerhin hatte er für Hans bereits die ersten Fäden zu einer gewinnbringenden Verbindung geknüpft.

***

Arthur Conan Doyles The Hound of the Baskervilles lag unbeachtet auf dem dunklen Holzboden des Pavillons. Zwischen den Weinranken vor den Fensterdurchlässen stahlen sich die Sonnenstrahlen in das Innere des runden Gartenhäuschens und tauchte dieses in ein sanftes Ambiente. Eine Biene summte herein, drehte eine Runde und verschwand durch den Eingang wieder im gleißenden Sonnenlicht, wo die Vögel lautstark mit den Grillen um die Wette sangen.

Dieser Nachmittag konnte durchaus idyllisch genannt werden, wenngleich die ausgewählte Lektüre des Lesezirkels eher mörderischer Natur war. Aber diese lag ja ohnehin geschmäht von den sechs anwesenden Damen auf dem Boden.

Als wenig friedlich hingegen empfand Demy die zunehmend hitzige Diskussion zwischen Lina und Lieselotte. Lina, von dem Überfall vor zwei Wochen noch immer stark beeinflusst, hatte ihre Idee gleich in die Tat umgesetzt. Mithilfe ihres Vaters war ein Spendenfonds eingerichtet worden und sie war mittlerweile eifrig dabei, den Damen ihres breit gefächerten Bekanntenkreises die Wichtigkeit ihrer Idee anzupreisen. Im ersten Überschwang ihrer Gefühle hatte sie, wie sie es nannte, »Prominenz rekrutieren« wollen, erhielt jedoch einige empfindliche Abfuhren. Schließlich war sie mit Gertrud Bäumer, der Vertrauten Helene Langes, in Kontakt gekommen. Randvoll mit neuen Eindrücken hatte Lina beim heutigen Treffen des Lesezirkels von den Erfolgen und weitreichenden Zielen der beiden Frauenrechtlerinnen erzählt und damit Lieselottes Unwillen auf sich gezogen. Das Mädchen aus dem Scheunenviertel war von der rundum verlaufenden Holzbank aufgesprungen und hatte sich im Eingang postiert. Sie kam zu den Treffen nur dann, wenn sie sich sicher sein konnte, dass außer Demy und den beiden ihr bereits bekannten Damen keine andere Besucherin anwesend war, oder aber, wenn wie an diesem Tag ein Treffen in einem unverfänglichen Rahmen stattfand.

»Was bringt es uns Frauen, wenn wir für ein Recht auf gleichwertige Bildung, auf ein ebenbürtiges Studium und ein einheitliches Arbeitsumfeld streiten, nur um das Erkämpfte dann wieder fahren zu lassen, sobald wir heiraten?«

»Es bringt uns dahingehend etwas, Lieselotte, als wir endlich nicht mehr als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt werden. Oder aber im Falle einer Scheidung. Denn bisher sind geschiedene Frauen unweigerlich in Schande und Armut abgerutscht. Nun kann eine Geschiedene in ihrem erlernten Beruf arbeiten und für ihre Kinder sorgen.«

»Da aber liegt doch genau der Fehler«, begehrte Lieselotte auf. »Die Kinder bleiben die Sorge der Frau. Wir Frauen sollen alle Rechte, alle Privilegien, selbst jeden Pfennig aufgeben, um Kinder zu bekommen und zu erziehen.«

Lina lachte unbekümmert auf, was Lieselotte die Zornesröte ins Gesicht trieb. »Wir können uns noch so kämpferisch nach Unabhängigkeit und Gleichberechtigung ausstrecken, liebe Lieselotte, eines werden wir niemals ändern: Wir Frauen sind es nun einmal, die die Kinder gebären.«

»Aber die Versorgung und die Erziehungsarbeit kann man aus der Hand der Frauen nehmen. Staatliche Einrichtungen könnten das übernehmen!«

Lina warf ihrer Diskussionspartnerin einen entsetzen Blick zu, kam aber nicht zu Wort.

»Genau das ist es, was unsere proletarische Frauenbewegung von der euren unterscheidet. Ihr hebt viel zu sehr eure Weiblichkeit hervor, die Zartheit und Sanftheit der Frau. Aber wir sind ebenso stark wie die Männer! Hart, durchsetzungskräftig, unnachgiebig, dominant und damit erfolgreich.«

Zu Demys Erstaunen mischte sich Klaudia Groß in die Diskussion ein. Sie war die einzige Frau in der Runde mit einem Ehering am Finger und unübersehbar schwanger. Sie schüttelte über Lieselottes aufrührerische Ansichten den Kopf. »Aber als Frau bin ich doch das Gegenüber, die zweite, ergänzende Hälfte meines Ehepartners. Ich will gar keinen Wettstreit mit ihm ausführen.«

»Unterbuttern, bevormunden und womöglich noch erniedrigen lasst ihr euch von den Ehemännern!«

»Das Ehegesetz sieht mehr Rechte für den Mann als für die Frau vor, da stimme ich Ihnen zu, Fräulein Scheffler. Vielleicht müssen wir tatsächlich dahin kommen, dass im Moment der Eheschließung nicht mehr automatisch unser Eigentum an den Mann übergeht oder er die alleinige Erziehungsgewalt über die Kinder hat. Trotzdem ist es mein Wunsch, meinem Mann ein friedliches, erholsames Zuhause zu schaffen und meinem Kind alle Liebe und Zeit zu schenken, die ich habe. Schließlich ist es mein Fleisch und Blut und nicht das des Kaiserreichs. Ich – und natürlich spreche ich da auch für meinen Gatten – möchte mein Kind so erziehen, wie ich es für gut und richtig halte. Nicht von einer fremden Person, die vom Staat Geld dafür bekommt. Diese wird das Kind niemals so tief lieben können, wie ich es tue. Und ich möchte dem Kind meine Werte und meinen Glauben vermitteln. Wo kommen wir denn hin, wenn eine oder gar mehrere fremde Personen unser Kind mit ihren Wertvorstellungen beeinflussen, die womöglich gar nicht die meinen sind? Woher will ich wissen, was sie es lehren, auf welche Weise sie sein Leben prägen? Ich möchte mein Kind prägen!« Klaudia unterbrach sich und schaute erschrocken, beinahe verstört in die schweigsame Runde. »Entschuldigt bitte. Ich sollte mich nicht so in Rage reden.«

»Wer denn sonst, meine Liebe?«, widersprach Margarete sofort. »Du bist ja diejenige von uns, die bald einen kleinen Schatz in den Armen hält. Außerdem bin ich geneigt, dir zuzustimmen: Diesen Schatz gilt es bei sich zu behalten und innerhalb des schützenden Rahmens einer Familie aufwachsen zu lassen, damit die Bindung eng und aus dem Kind ein stabiler, bindungsfähiger Mensch wird.«

»Ihr seid blind für die Realität, ihr reichen Frauen in euren schönen, behüteten Heimen! Was ist mit den Frauen, die in Armut leben, zehn bis zwölf Stunden am Tag schuften und keine Zeit für ihre Kinder haben?« Lieselotte schrie jetzt beinahe und hatte offenbar auch nicht vor, ihren Tonfall zu mäßigen.

Demy, die von einer zur anderen geblickt hatte, fühlte sich zunehmend unwohl. Sie hatte geahnt, dass die Runde mit Frauen unterschiedlicher Herkunft nicht immer harmonisch verlaufen würde, aber Lieselottes Bekanntschaft mit diesen radikalen Frauenrechtlerinnen veränderte sie zusehends. Sicher war nicht alles falsch, was sie propagierten, aber die unnachgiebige Haltung, die Härte in ihren Worten und die Kompromisslosigkeit erschreckten die junge Niederländerin zutiefst.

Die werdende Mutter legte beide Hände wie schützend über ihren gewölbten Leib und erwiderte, wieder beherrscht: »Uns geht es gut, Fräulein Scheffler, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Vielleicht haben Sie in dem Punkt recht, dass die Familien, denen es unmöglich ist, ihre Kinder zu Hause ausreichend zu versorgen und zu fördern, dringend der Unterstützung bedürfen. Aber deshalb können Sie Ihre Forderung nach einer staatlichen Verwahranstalt für Kinder doch nicht rigoros auf alle Familien ausweiten. Manche Frauen, womöglich sogar Frauen mit kleinem Einkommen, vertreten vielleicht auch meine Ansichten und möchten ihre Söhne und Töchter selbst aufziehen und nicht schon in frühen Jahren in die Hände Fremder geben. Dies zu differenzieren sollte doch auch ihrer Frau Dohm möglich sein!«

»Ihr wollt offenbar nichts anderes als eine unterworfene Menschenklasse sein!«, schimpfte Lieselotte, drehte sich um und verschwand beinahe wie ein Fabelwesen in der blendenden Helligkeit draußen.

»Meine Güte, was für ein Auftritt und Abgang«, seufzte Klaudia, während Demy traurig den Kopf senkte.

Ob sie Lieselotte als Freundin verloren hatte? Vielleicht hatte sie das bereits zu dem Zeitpunkt, als Lieselotte ihr das erste Mal voll Bewunderung von den Damen Dohm und Cauer erzählte und sie sich nicht unbedingt begeistert gezeigt hatte?

Was erwartete die Freundin von ihr, zumal sie doch um ihr Alter wusste? Musste sie sich jetzt entscheiden? Für oder gegen Lieselotte und ihre Brüder und für oder gegen Margarete und Lina, mit denen sie sich so wunderbar verstand?

Margarete legte ihre zarte Hand auf Demys Arm und drückte diesen leicht. »Es tut mir leid, dass dieser Nachmittag so enden muss. Wir wissen um Lieselottes schwierige Situation, und auch, dass sie vor nicht allzu langer Zeit ihre kleine Schwester verloren hat, geschuldet wohl den schlechten Verhältnissen, in denen die Familie leben muss.«

»Aber lässt man sich deswegen gleich in dieser ungehobelten Weise gehen?!«, sagte Adele, die bisher geschwiegen hatte, schüttelte den Kopf und stieß zwischen gespitzten Lippen missbilligend klingende Laute aus.

»Unser Umfeld beeinflusst unser Denken und Fühlen, letztendlich auch unsere Worte und unser Handeln. Fräulein Scheffler hat uns nie als ihre Freunde gesehen. Sie mit Sicherheit, Fräulein van Campen, womöglich auch dich, Lina und dich, Margarete. Aber uns anderen Frauen gegenüber blieb sie immer unnahbar. Sie kam nicht in unsere Häuser zu den Treffen, und das, obwohl wir alle über ihre schwierigen Verhältnisse Bescheid wussten und sie, so denke ich, ganz ungezwungen und vorurteilsfrei aufnahmen«, beleuchtete Klaudia die Situation, wobei sie ihre Hände noch immer schützend um ihren Bauch gelegt hatte.

»Womöglich erwartete sie von uns finanzielle Hilfe, die wir ihr natürlich nicht zuteilwerden ließen. Die Menschen müssen für ihr Leben Eigenverantwortung übernehmen und sich selbst eine Einkommensgrundlage aufbauen. Immer nur von Almosen zu leben bringt sie nicht voran. Ausgenommen sind davon natürlich die armen Kleinen, denen du, Lina, gemeinsam mit Margarete und Fräulein van Campen unter die Arme greifen willst«, schränkte Adele schnell ein und sah sich Beifall heischend um.

Betreten senkte Demy den Kopf. Adeles Worte waren keinesfalls unwahr, dennoch schmerzten sie Demy. Sie wusste um Herrn Schefflers vergeblichen Bemühungen, einen Arbeitsplatz zu finden, ebenso wie um die kräftezehrenden Arbeitsstunden von Frau Scheffler und Lieselotte in der Fabrik, ohne dass sie dadurch auch nur ein paar Groschen auf die hohe Kante legen konnten. Diese Familie bemühte sich wirklich redlich, doch die Umstände standen schlichtweg gegen sie.

Förderten Hoffnungslosigkeit und Armut radikales Gedankengut? Vielleicht nicht bei jedem Menschen, aber doch bei denjenigen, die dazu eine Veranlagung mitbrachten oder denen ein anderer Halt im Leben fehlte – wie der Glaube an Gott oder eine starke Bindung innerhalb der Familie …

Demy seufzte. Wie schwer mochte das Vertrauen auf Gottes Hilfe angesichts von Hunger, Enttäuschungen, Ausweglosigkeit und erst recht nach dem Tode einer geliebten Schwester zu glauben sein?

»Was tun wir jetzt?« Margaretes Worte durchbrachen die Stille, rückten das Zirpen der Grillen und Singen der Vögel wieder in den Hintergrund.

»Ich werde mich nicht bei ihr entschuldigen«, ließ Lina verlauten. »Ich blieb ruhig und sachlich. Sie war diejenige, die laut und ausfällig wurde.«

»Sie passt nicht zu uns und hat uns heute verbal angegriffen. Am besten, wir schließen sie aus unserem Kreis aus.«

»Aber Adele, damit bekräftigen wir doch ihre Vorurteile, die sie gegenüber den Bessersituierten – die wir nun einmal sind – ohnehin schon pflegt«, widersprach Margarete und schaute bittend in die Runde.

»Überlassen wir ihr die Entscheidung, was sie tun will«, schlug Klaudia vor. »Wir laden sie weiterhin ein; Fräulein van Campen könnte ihr die nächsten Termine sicher übermitteln. Dann liegt es an ihr zu reagieren.«

Wenngleich sie sich schrecklich fühlte, nickte Demy bekräftigend. Fühlte Lieselotte sich von ihr verraten, weil sie mehr Zeit mit Margarete und Lina verbrachte als mit ihr – ihrer ersten Freundin in Berlin? Demy war zunehmend verunsichert und fühlte sich zwischen zwei Welten hin und her gerissen. Sollte sie nun vermittelnd eingreifen oder sich zwischen der gemäßigten, bürgerlichen Frauenrechtsbewegung und der eher radikalen proletarischen entscheiden? Mit Sicherheit würden die von den Frauen diskutierten Themen und eingeforderten Veränderungen auch für sie eines Tages relevant werden, aber momentan fühlte sie sich so weit entfernt davon, wie es der Mond von der Erde war.

Ihr war schmerzlich bewusst, dass der Spagat zwischen wohlerzogener Dame und Schülerin und zwischen ihren Freunden in der Arbeiterschaft und unter den Industriellentöchtern, verbunden mit ihren kleinen Geheimnissen, an ihren Kräften zehrte. Sie schloss für einen Moment die Augen und sehnte sich nach Hause zurück, in das behütete Leben auf dem Gutshof. Sie vermisste ihren Vater, der ein sicherer Hafen für sie gewesen war, ebenso wie ihr Feddo und Rika und ihre Schulkameraden, das Meer und ihre verlorene Kindheit fehlten.

Sobald Tilla von ihrer Hochzeitsreise zurückkehrte, würde sie sie erneut bitten, nach Hause zurückkehren zu dürfen. Ihre Halbschwester war jetzt eine verheiratete Frau; zu welchem Zweck benötigte sie eine Gesellschafterin? Ihr Mann konnte sie doch zu allen Veranstaltungen und Treffen begleiten, oder aber eines der Dienstmädchen aus dem Hause Meindorff.

Demy hob den Kopf. Ja, sie würde nach Hause fahren. So bald wie irgend möglich!

***

Demy betrat über die Stufen zwischen dem kleinen und großen Foyer die im Dunkeln liegende weitläufige Halle und zuckte erschrocken zusammen, als durch die nur angelehnte Bibliothekstür ein eigentümliches, für sie nicht einzuordnendes Geräusch die Stille durchbrach. Besorgt rieb sie sich ihre Nase und lauschte auf die ungewöhnlichen Laute, die den Eindruck erweckten, jemand leide große Schmerzen und versuche sein Stöhnen mühsam zu unterdrücken.

Ob sie der Person zu Hilfe eilen sollte?

Grübelnd sah Demy an sich hinunter. Sie trug, da sie einer offiziellen Einladung der Barnas gefolgt war, eines ihrer besseren Kleider, doch nach dem Literaturkreis hatte sie sich noch mit ihren Schülern im Park getroffen und mit ihnen auf der Wiese gesessen, und nun wies der helle Rock ein paar unschöne Flecken und Falten auf. Auch ihre Schuhe, in denen sie bei einem fröhlichen Spiel mit den Kleinen dem Teich zu nahe gekommen waren, offenbarten, dass sie sich wieder einmal nicht wie eine Dame, sondern eher wie ein jugendlicher Wildfang benommen hatte. Ob sie in diesem Zustand jemandem aus dem Hause Meindorff gegenübertreten sollte? Allerdings … Demy unterbrach ihre Überlegungen, denn den eigentümlichen Lauten folgte ein heftiges Poltern, als fielen einige der wertvollen Bücher zu Boden.

Unsicher, aber durchaus gewillt, der Person in der Bibliothek zu Hilfe zu eilen, trat sie näher.

Der unterdessen eingetretenen Stille folgten eilige, sich der Tür nähernde Schritte, und Demy schrak zurück, als diese aufgestoßen wurde. Henny, dank ihrer roten Haare selbst im Halbdunkel nicht zu verwechseln, erschien im schmalen Band des durch die Tür fallenden Lichtscheins. Sie verließ fluchtartig den Raum und verschwand, schneller noch als Demy reagieren konnte, in der Dunkelheit des Saales.

Während das Mädchen durch die offene Tür sah, wie Meindorff sich erst die Hosenträger über die Schultern schob und dann in sein Jackett schlüpfte, öffnete und schloss sich die Tür zum Bedienstetentrakt. Das Dienstmädchen war fort.

Grübelnd rieb Demy mit dem Zeigefinger über die Furchen auf ihrem Nasenrücken. War der Rittmeister verletzt und hatte Henny gerufen, damit sie seine Wunde versorgte? Aber weshalb in der Bibliothek? Und warum auf diese fast heimlichtuerisch anmutende Weise, zumal für so etwas Maria oder ein Arzt wesentlich befähigter gewesen wären?

Verstört wandte Demy sich ab. Henny hielt sich des Öfteren in der Bibliothek auf. Ob das nicht erlaubt war? War sie von Meindorff dabei ertappt und gezüchtigt worden? Noch immer nachdenklich ging sie auf die in der Wandvertäfelung eingelassene Tür zu und hatte sie fast erreicht, als eine Stimme im scharfen Befehlston sie zusammenzucken ließ.

»Demy van Campen? Komm sofort hierher!«

Für einen Moment schien ihr Herzschlag auszusetzen. Ihr erster Gedanke war, so zu tun, als habe sie Meindorff nicht gehört, und die Flucht zu ergreifen. Aber die Stimme eines ehemaligen Offiziers der Kaiserlichen Armee war im Grund von niemandem zu überhören, vermutlich nicht einmal von einem fast tauben Menschen.

Mit weichen Knien und angehaltenem Atem drehte sie sich um und folgte zögernd seiner Aufforderung. Dachte der Rittmeister, sie habe an der Tür gelauscht und kannte nun sein Geheimnis – was auch immer das war?

»Guten Abend, Herr Rittmeister«, grüßte sie höflich, doch auch mit einer Spur Aufmüpfigkeit in der Stimme.

»Abend, ja!? Deine Verabredung mit der kleinen Barna muss seit Stunden zu Ende sein. Wo treibst du dich herum? Schicklichkeit, Pünktlichkeit und in der Öffentlichkeit angemessenes Benehmen scheinen dir noch immer fremd zu sein!« Mit diesen Worten deutete er auf ihre verschmutzten Schuhe, mit denen sie nun leider genau im Lichtkegel der Lampe aus der Bibliothek stand.

Erschrocken über seinen barschen Tonfall und die Tatsache, dass er über ihre Verabredung Bescheid wusste, runzelte Demy die Stirn. Bisher hatte sie angenommen, er interessiere sich nicht weiter für sie. Hatte er sie im Park mit den Kindern gesehen? Oder war sie von einem seiner Bekannten beobachtet und an ihn verraten worden? Verlor sie nun ihre kleine »Schule«, das Einzige, was ihr wirklich Freude bereitete und wobei sie sich nützlich vorkam?

Trotzig straffte sie die Schultern und hob den Kopf. Sie würde für ihre Schüler kämpfen! Zum einen, weil sie es verdienten, besser gefördert zu werden, zum anderen, weil sie nicht gewillt war, schon wieder klein beizugeben und sich ihre einzig sinnvolle Tätigkeit verbieten zu lassen. Sollte er sie doch heimschicken!

Ein klein wenig zwickte sie das schlechte Gewissen, denn natürlich hatte sie ihre Schüler vor dem Dunkelwerden entlassen. Sie selbst allerdings war noch längere Zeit im Tiergarten geblieben, um die Wasservögel zu beobachten, Steine in den Teich zu werfen und im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit endlich einmal wieder ungestüm über eine Wiese zu rennen. Womöglich war sie bei diesem unangebrachten Tun von jemandem erkannt worden?

»Heute habe ich Professor Barna getroffen und er erzählte mir eine eigenartige Geschichte von dir, Fräulein Pfister und seiner Tochter. Fräulein Barna muss kürzlich bei eurem gemeinsamen Stadtbummel verletzt worden sein. Ein Gentleman wie er äußerst natürlich keine Vorwürfe, doch drängt sich mir der Verdacht auf, dass die beiden wohlerzogenen jungen Damen nur unter deinem Einfluss auf den irrwitzigen Gedanken kommen könnten, sich in der Nähe der Alten Synagoge herumzutreiben.« Meindorff taxierte sie mit seinen dunklen, vorwurfsvoll blickenden Augen.

Noch ehe sie ein Wort der Verteidigung oder des Trotzes vorbringen konnte, fuhr Meindorff fort: »Es mag angehen, dass diese fehlgeleiteten Frauen in Hosen und mit kurz geschnittenen Haaren sich allein in Gegenden herumtreiben, die nicht einmal ehrbare Männer freiwillig betreten. Doch von der Schwester einer Frau Meindorff erwarte ich, dass sie niemals ohne Begleitung unterwegs ist und sich nicht an Orten herumtreibt, wo zügellose Kreaturen zu finden sind. Ebenso wie ich Zurückhaltung, Zucht, Höflichkeit, Freundlichkeit …« Die Schimpftiraden des Hausherrn wurden zunehmend lauter. Irgendwann lauschte Demy nur noch auf das Echo seiner Worte in der Halle und bemerkte die sich mehrmals leise öffnende und schnell wieder schließende Tür zum Nebenflügel des Gebäudes. Ihre Augen hielt sie auf das Gesicht des Schimpfenden gerichtet, dessen Gesichtsfarbe immer dunkler wurde, während sie sich fort an die tosend gegen das Ufer schlagenden Wellen der niederländischen Nordsee träumte.

Demy wurde erst wieder in die Gegenwart zurückgeholt, als der Mann vor ihr förmlich nach Luft schnappte, sich seinen linken Arm rieb, als habe er Schmerzen und sie als unerzogenes, aufmüpfiges, ihn ausblutendes Gör beschimpfte, ehe er sie auf ihr Zimmer schickte.

Umgehend folgte Demy dieser Aufforderung. Sie lief durch das Foyer und flüchtete sich hinter die Tür zu den Wirtschaftsräumen, obwohl ihr der Zutritt dort eigentlich auch untersagt war. Zitternd lehnte sie sich an die kühle Wand. Ihr Herz klopfte wild, und obwohl sie viele seiner Worte gar nicht bewusst wahrgenommen hatte, schien sein Gebrüll noch immer in ihrem Kopf widerzuhallen.

Wie erwartet verschwanden einige der dienstbaren Geister des Hauses eilig in den abzweigenden Zimmern. Nur Henny blieb zurück, den Kopf tief gesenkt, sodass ihr die roten Haare über das Gesicht fielen. »Es tut mir leid, dass Sie meinetwegen Ärger bekommen haben!«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Deinetwegen?« Das Mädchen schüttelte den Kopf, da sie nicht verstand, wie das Dienstmädchen auf diesen Gedanken kam. »Ihre Ankunft zu so später Stunde hat den Herrn Rittmeister sehr überrascht. Er will sich doch nicht mit mir erwischen lassen, obwohl das wohl in vielen Häusern so gehandhabt wird. Aber er konnte ja nicht wissen, wer sich in der Halle aufhielt und schickte mich schnell davon. Ich glaube, Männer vertragen es nicht gut, wenn man sie dabei stört. Da ließ er seine Wut eben an Ihnen aus und …«

Demy hob eine Hand und unterbrach Hennys Redeschwall. Das schamhafte Verhalten des Dienstmädchens, die Geräusche, die sie gehört hatte und der nur unzulänglich bekleidete Hausherr setzten sich in ihrem Kopf zu einem Bild zusammen. Trotz ihrer jungen Jahre verstand sie nun, was sie zuvor gehört und missinterpretiert hatte.

»Meindorff und Sie …?«

»So ist das eben, wenn der Herr des Hauses seine Bedürfnisse hat.«

»So ist das nicht!«, herrschte Demy das Mädchen an und stemmte entrüstet die Hände in die Hüfte. Ihr Vater hatte sich nie an einer der im Haus lebenden Mägde vergriffen, da war sie sich sicher! »Sie wollen das doch gar nicht, oder?«

»Natürlich nicht!«, entfuhr es Henny nicht minder laut. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Demy aufgebracht an.

»Das muss aufhören, sofort!« Zutiefst aufgewühlt wollte Demy sich umdrehen und mit geballter Wut im Bauch den alten Meindorff zur Rede stellen, wurde jedoch von einer Hand auf ihrem Arm zurückgehalten.

»Nicht, Fräulein Demy. Bitte! Sie dürfen nichts sagen. Er entlässt mich auf der Stelle. Ohne ein Empfehlungsschreiben. Ich komme ohne einen guten Leumund in keinem anderen Haushalt unter. Es sind so viele Frauen verzweifelt auf der Suche nach Arbeit. Dem Geschäft meines Vaters geht es nicht gut. Ich darf meine Anstellung nicht verlieren! Der Rittmeister hat mich in der Hand, Fräulein Demy. Aber besser das, als hungern zu müssen, das Haus einzubüßen, Wilhelmine von der guten Schule zu nehmen, Mama wieder in eine dieser grässlichen Fabriken voller Dämpfe und Gase zu schicken! Bitte!« Henny ließ sie los und sank vor ihr auf die Knie.

Erschrocken hockte Demy sich zu ihr auf den Boden und strich der schluchzenden jungen Frau tröstend über die wilde Haarpracht. Aber auch das konnte Demys Wut auf den Rittmeister nicht lindern. Weshalb war das Leben oft so ungerecht, fragte sie sich, während ihr Blick zu der schwach leuchtenden Glühlampe hinaufwanderte. Warum erlebten die einen Menschen Glück, die anderen jedoch suchten es vergeblich? War Henny glücklich? Nur weil sie eine gute Stelle hatte, weil ihre Mutter nicht mehr in der gesundheitsschädlichen Fabrik arbeiten musste und ihre begabte Schwester besser gefördert wurde als sie? Wie aber stand es um Hennys persönliches Glück?

Nach diesem ereignisreichen Tag und zu so später Stunde empfand Demy die Gedanken und Überlegungen als zu schwer, um sie zu Ende zu bringen. Vielleicht gab es darauf keine Antworten, zumindest im Augenblick, schoss es ihr noch durch den Kopf, ehe sie Henny versprach, vorerst Stillschweigen zu bewahren.

***

Mit schleppenden Schritten bewältigte Demy die Stufen hinauf in den ersten Stock, wo sie ihr Zimmer betrat und vor dem stattlichen Standspiegel verharrte.

Der Mond warf sein kaltes bläuliches Licht auf ihr Spiegelbild, das ihr verstört und traurig entgegenblickte, als sie leise sagte: »Das war also dein Tag, Demy van Campen!?« Sie holte tief Luft, ehe sie den Atem heftig ausstieß und die Schultern sinken ließ. Dann sagte sie mit schmerzlich bebender Stimme den Satz, den zu hören sie an diesem Tag vergeblich gehofft hatte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Demy.«

Himmel ueber fremdem Land
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