Kapitel 22

St. Petersburg, Russland,
Mai 1908

Endlich von den Ketten des Eises befreit, wälzte sich die Neva als gewaltiger, brodelnder Strom durch die Stadt in Richtung des Finnischen Meerbusens. Die Chabenski-Töchter Nina, Jelena und Katja standen mit geröteten Gesichtern an der Reling des Flussdampfers, ihre Pelzmützen tief in die Stirn gezogen und die Hände in wärmenden Muffs, und betrachteten das am Ufersaum vorbeiziehen Winterpalais mit der angrenzenden Eremitage.

»Ich habe gehört, die Anastasia Nikolajewna soll sich immer mehr wie ein kleiner Rebell und Spaßvogel aufführen.« Die siebenjährige Nina, im gleichen Alter wie die jüngste Tochter des Zarenpaares, sah erst ihre beiden Geschwister und schließlich das Kindermädchen an.

Über Ankis Lippen kam ein Seufzen. Selbst dieses Kind verstand es bereits meisterhaft, die in St. Petersburg kursierenden Gerüchte als harmlosen Gesprächsbeginn getarnt aufzugreifen.

»Sie schummelt beim Spielen und ist sehr wild. Kürzlich soll sie auf einen Baum geklettert sein und sich standhaft geweigert haben, wieder herunterzuklettern«, erzählte das Mädchen munter weiter.

Jelena, die selbst ein kleiner Wildfang war, lachte fröhlich auf und blickte noch angestrengter hinüber, in der Hoffnung, Anastasia in einem der Palastfenster zu entdecken.

Anki ließ den Kindern ihren Spaß, obwohl sich die Zarenfamilie seit dem Blutsonntag im Jahr 1905 hauptsächlich in Zarskoje Selo21 aufhielt.

»Das ist kein Verhalten für eine Großfürstin«, rügte Nina.

»Ich würde gern mal mit ihr spielen. Sie hat bestimmt viele Puppen.« Auch die zweijährige Katja wollte sich an dem Gespräch der Schwestern beteiligen. »Ihre Kleider sind immer so schön. Man kann im Palast bestimmt prima Verstecken und Suchen spielen«, plapperte sie nach, was sie wohl von ihren älteren Schwestern oder von Spielkameradinnen aufgeschnappt hatte.

Anki, die direkt hinter Katja stand, damit sie die jüngste der Schwestern im Auge haben konnte, lächelte über die Köpfe ihrer Schützlinge hinweg. Die vier Romanow-Großfürstinnen wie auch der kleine Thronfolger lebten sicherlich in noch mehr Überfluss als sie, doch im Gegensatz zu ihren Zöglingen gingen sie durch eine harte Schule.

Die Mädchen schwiegen und hingen ihren eigenen Träumen und Gedanken nach. Möwen kreisten über ihren Köpfen und die durchdringenden, schrillen Schreie der Seevögel übertönten selbst den Motorenlärm des Dampfers. Fröstelnd verbarg Anki ihre Hände in den Taschen ihres Mantels und stellte sich breitbeinig auf das Deck, um das Schwanken des Schiffs besser auszugleichen. Dabei warf sie einen prüfenden Blick auf Tilla. Ihre Schwester hatte den Windschatten der Schiffsaufbauten dem zugigen Platz an der Reling vorgezogen. Mit verkniffenen Gesichtszügen starrte sie vor sich hin, und in Anki keimte erneut Sorge auf. Offensichtlich ging es ihrer Schwester nicht gut, aber sie schien nicht bereit, mit ihr über ihren Kummer zu sprechen.

Gemächlich schipperten sie an der Silhouette der Altstadt vorbei, bis nach dem Marmorpalais die Häuser zurückwichen und der Blick auf das Marsfeld und schließlich auf den Sommergarten frei wurde. Mit einem unsanften Ruck legte das Schiff am Pier an, zugleich verstummte das laute, stampfende Motorengeräusch.

Anki bat Nina, vorsichtig über den Anlegesteg an Land zu gehen, während sie Jelena und Katja fest an der Hand nahm. Gemeinsam verließen sie den Dampfer, gefolgt von Tilla. Diese beschwerte sich halblaut über die Kälte, und Anki beeilte sich zu versichern, dass es im Sommergarten windstill und daher auch wärmer sei. Die Chabenski-Mädchen freuten sich so sehr auf ihren ersten Ausflug in den Sommergarten in diesem Jahr, dass Anki ihnen diesen Tag nicht durch ihre übellaunige Schwester verleiden lassen mochte.

Voll Vorfreude eilten die Kinder auf das wunderschöne schmiedeeiserne Tor zu und betraten den von Bäumen gesäumten und von Kanälen umgebenen Park.

»Ob die Statuen schon aus ihren Holzkisten ausgepackt wurden?«, fragte Jelena aufgeregt und fiel dabei in ihre Muttersprache zurück.

Anki räusperte sich verhalten. Sie hatte den Auftrag, mit den Mädchen deutsch zu sprechen; immerhin stammte die Zariza aus Deutschland und selbst Fürstin Chabenskis Ahnenreihe wies einen preußischen Grafen auf.

Aus ihren runden braunen Augen, die Anki an reife Kirschen erinnerten, schaute Jelena sie fragend an.

»Du beherrscht diesen Satz auch auf Deutsch, das weiß ich.«

Das Kind lächelte und zeigte eine Reihe ebenmäßiger weißer Milchzähne. In nahezu akzentfreiem Deutsch wiederholte die Fünfjährige den Satz und freute sich über das anerkennende Lächeln ihres Kindermädchens. Sollte Jelena tatsächlich eines Tages die Möglichkeit bekommen, mit Anastasia Romanow zu spielen, könnten sich die beiden einen Wettstreit in möglichst akzentfreien Fremdsprachen liefern. Ankis Freundin Ljudmila hatte ihr erzählt, die jüngste Zarentochter sei ein Sprachgenie, was sie jedoch hauptsächlich nutzte, um die Gäste ihrer Eltern nachzuäffen.

Prompt erkundigte sich Jelena: »Sagst du ihn mir auf Niederländisch?«

Da sie ihren Spaß an der Lernfreude des Kindes hatte, wiederholte Anki den Satz in ihrer Muttersprache, und Jelena sprach ihn mühelos nach. Ihre beiden Schwestern kicherten belustigt über die fremd klingenden Worte.

Während unter ihren Schuhen bei jedem Schritt der Kies knirschte, blitzte über ihnen die Sonne durch die Äste, an denen sich die ersten grünenden Knospen zeigten. Auf den Wiesenflächen, an vielen Stellen noch unansehnlich braun, streckten zarte weiße Schneeglöckchen und violette, gelbe und weiße Krokusse die Köpfe hervor. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis nach dem eisigen Winter die Natur beinahe explosionsartig zum Leben erwachte.

Ihrem Temperament entsprechend, begrüßte Jelena die Farbtupfer mit überschäumender Begeisterung. Die kleine Schar zog es zum Schwanenkanal hinüber, dort stellen sie aber enttäuscht fest, dass die Schwäne noch nicht in den Norden zurückgefunden hatten. Dafür entdeckten die Mädchen jubelnd die erste der antiken italienischen Marmorstatuen, die nach dem Winter aus ihren schützenden Holzkisten befreit worden waren.

Immer weiter zog es sie in den Park hinein, vorbei an noch wasserlosen, wie erstarrt wirkenden Springbrunnen, Denkmälern und Sitzgelegenheiten.

»Bitte, Fräulein Anki, singen Sie mit uns noch einmal das Frühlingslied«, bat Jelena, und Katja fiel begeistert in ihre Bitte mit ein.

Anki lachte und stimmte die Mozart-Melodie zu dem Lied »Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün« an. Die drei Mädchen und auch Tilla sangen lauthals mit. Bei der zweiten Strophe ergriff Jelena Katja an den Händen und die beiden tanzten vergnügt weitersingend im Kreis herum. Die Röcke unter den Mänteln wirbelten auf und wirkten wie die bunten, sich der wärmer werdenden Sonne entgegenstreckenden Blüten, von denen sie sangen.

Bis zum fünften Vers hatten sich etliche Zuschauer bei ihnen eingefunden. Damen mit ihren Begleiterinnen schwenkten fröhlich ihre Sonnenschirme im Takt der Musik, drei Mädchen und ein Junge, einfach, aber sauber und ordentlich gekleidet, drehten sich ebenfalls im Kreis, und mehrere Herren mit Zylindern und vornehmen Gehröcken unter den Kaschmirmänteln standen dabei und betrachteten lächelnd die muntere Schar.

Ein Uniformierter näherte sich eilig, blieb aber im Hintergrund, als er die fröhliche Runde und die tanzenden Kinder sah.

»Noch ein Lied! Noch ein Lied!«, bettelten Jelena und Katja in Deutsch und die hinzugekommenen Kinder riefen: »Pozhalujsta, pojte dalshe2

Sich plötzlich der Aufmerksamkeit bewusst werdend warf Anki einen unbehaglichen Blick in die Runde. Sie wollte nicht im Mittelpunkt stehen, doch ihre Schützlinge ließen ihr keine Wahl, denn sie stimmten bereits, wenn auch nicht ganz richtig, »Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt« an. Anki war mit einer wunderschönen Stimme gesegnet und half, die richtige Tonlage zu finden, und schon tanzten die Kinder, diesmal alle gemeinsam, um eine Marmorstatue.

»Die Bäu’rin, die Mägde, sie dürfen nicht ruh’n.
Sie haben in Haus und Garten zu tun.
Sie graben und rechen und singen ein Lied.
Sie freu’n sich, wenn alles schön grünet und blüht.
So geht unter Arbeit das Frühjahr vorbei.
Da erntet der Bauer das duftende Heu.
Er mäht das Getreide dann drischt er es aus.
Im Winter da gibt es manch fröhlichen Schmaus.«

Die erwachsenen Zuschauer klatschten, während die Kinder sich wieder losließen und einander atemlos betrachteten, als bemerkten sie erst jetzt, dass sich einfache Arbeiterkinder gemeinsam mit der Aristokratie des Landes vergnügt hatten. Die Arbeiterkinder grinsten verlegen und rannten dann davon, wobei sich das eine oder andere Kind noch mehrmals nach Nina, Jelena und Katja umwandte.

Da die Zuschauer sich ebenfalls zerstreuten, zog auch der Uniformierte von dannen. Zurück blieben die fünf Sängerinnen und zwei junge Männer. Diese saßen trotz des kühlen Wetters auf der Wiese und hielten Lehrbücher in den Händen. Der kräftigere der beiden Männer, Anki vermutete in ihm und seinem Begleiter Studenten, erhob sich und trat neben sie.

»Sind Sie nicht etwas zu mutig, junge Dame?«, sprach er sie an, und Anki glaubte einen schwachen süddeutschen Dialekt herauszuhören.

»Was meinen Sie?«

Der Student lächelte, und Anki starrte fasziniert auf die Grübchen in seinen Wangen. Sein Lachen konnte nicht anders als hinreißend genannt werden, und seine braunen Augen blitzten dabei fröhlich. »Sie lassen die Chabenski-Töchter mit Arbeiterkindern tanzen und bringen ihnen Lieder bei, deren Texte von der schweren Arbeit der Bauern sprechen?«

Mit einem prüfenden Blick hinüber zu den Mädchen erwiderte sie: »Ich singe mit ihnen ja keine revolutionären Lieder, sondern deutsches Liedgut. Und die Bauern in den Versen jammern weder über ihr schweres Leben, noch greifen sie die bessergestellte Klasse an.«

»Sie wissen demnach, worauf ich hinauswill?«

»Natürlich«, gab Anki zurück und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie wusste von den revolutionären Umtrieben in der Bevölkerung, die jedoch weniger vonseiten der Bauern als vielmehr von den Arbeitern und den Studenten ausgingen, gesteuert durch eine Spitze, die sich größtenteils im Ausland im Exil befand.

»Geben Sie Acht, dass Sie mit Ihrem Tun nicht negativ auffallen und Ihre schöne Stimme, wie auch die ihrer Freundin, dann nur noch im eisigen Sibirien zu hören sein wird.«

Ihre Antwort war lediglich ein knappes Nicken, denn die Kinder und Tilla näherten sich ihnen neugierig. Anki wollte sich nicht in ihrem Beisein mit dem Deutschen über dieses Thema unterhalten.

»Wer ist das denn?«, fragte Jelena keck und blinzelte gegen die Sonne zu dem Fremden hinauf.

Auch in Tillas Blick lag unverkennbares Interesse am Gesprächspartner ihrer Schwester. Dieser verbeugte sich in Richtung der jungen Frau und der Mädchen, wobei ein Lächeln seine Lippen umspielte. »Erinnern Sie sich nicht an mich, Prinzessin Jelena Iljichna?«

Das Mädchen kniff in dem Versuch, gegen die tief stehende Sonne besser sehen zu können, ein Auge zu, schüttelte aber dennoch den Kopf, sodass die Haare unter der Pelzmütze hervorrutschten.

»Wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen.« Der Mann wandte sich zu Anki und streckte ihr seine schmalgliedrige Hand entgegen.

»Robert Busch. Ich lebe seit ein paar Jahren mit meinen Eltern und meinem Bruder Oskar«, er deutete auf den noch immer in sein Buch vertiefen Mann, »in St. Petersburg.«

»Ach, Herr Busch! Sie waren mit Dr. Botkin bei uns, als ich im letzten Jahr, kurz vor unserer großen Reise, krank wurde, nicht wahr?«

»Richtig, Prinzessin Jelena Jejichna. Ich bin sehr froh, Sie so munter zu sehen!«

Anki lächelte, als sie Jelenas Strahlen sah. Zwar verwunderte es sie, mit welcher Selbstverständlichkeit dieser deutsche Student eine Fünfjährige siezte, doch war das durchaus angebracht, wie sie wusste. Ihr hingegen hatte Fürstin Chabenski ausdrücklich erlaubt, die Mädchen zu duzen und die gebräuchliche Anrede »Prinzessin« für die Fürstentöchter beiseitezulassen. Der Student wusste offensichtlich genau, wie er sich dem russischen Adel gegenüber angemessen zu verhalten hatte. Vermutlich war diese Kenntnis der Etikette eine Voraussetzung dafür, um mit Dr. Botkin, immerhin seit drei Jahren einer der Leibärzte der Zarenfamilie, als einer seiner Assistenten die Häuser der höhergestellten Patienten betreten zu dürfen.

»Wenn Sie mir jetzt noch Ihren Namen verraten, Fräulein …?« Die Worte rissen Anki aus ihren Überlegungen. Entschuldigend lächelte sie ihn an und ergriff endlich die dargebotene Hand, um sie sich kräftig drücken zu lassen.

»Anki van Campen.«

»Sie sprechen ein gepflegtes Deutsch, aber Ihr Name klingt vielmehr nach …«

»… den Niederlanden, ja. Die Familie Chabenski bereiste vor etwas mehr als einem Jahr meine Heimat. Dort verstarb unvermutet das Kindermädchen. Da Fürstin Chabenski ohnehin Wert darauf legt, ihren Kindern neben dem Russischen und Französischen auch die deutsche Sprache nahezubringen, war sie gern bereit, mich als neue Njanja23 für die drei Mädchen mitzunehmen.«

Anki, immer darauf bedacht die Kinder im Blick zu behalten, drehte sich von dem Studenten fort, als der Tilla begrüßte. Die zwei kleineren Mädchen spielten unter den Bäumen, und da zu dieser Jahreszeit das Grün erst verhalten spross, konnte Anki sie aus der Entfernung gut beaufsichtigen; Nina hatte sich nur ein paar Schritte entfernt.

Als Anki sich wieder Robert zudrehte, trat dessen Bruder herbei, nickte den Frauen knapp zu und drückte Robert seine Bücher in den Arm, die er im Gras vergessen hatte.

»Wir müssen los.« Oskars Stimme klang auffällig hoch, beinahe so, als sei er noch nicht im Stimmbruch gewesen. Der Student verabschiedete sich, winkte den drei kleinen Fürstinnen zu und verschwand mit seinem Bruder zwischen den Bäumen.

In der Hoffnung, Tilla würde endlich aus ihrer schweigsamen Grübelei erwachen und mehr als nur ein paar Höflichkeiten mit ihr austauschen, ließ Anki die Mädchen noch länger spielen. Doch schließlich rief sie, enttäuscht über das hartnäckige Schweigen ihrer älteren Schwester, die Kinder zu sich, damit sie das nächste Dampfschiff zurück in die Altstadt nehmen konnten.

Auf dem Weg am Schwanenkanal entlang gesellte sich Nina neben sie. Anki sah sich um und erblickte das Nesthäkchen an der Hand von Tilla. So schenkte sie dem ältesten Mädchen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Kannten Sie den Arzt?«, fragte Nina.

»Nein, wir sind uns noch nie begegnet.«

»Ich denke, Mutter mag es nicht, wenn Sie so viel von uns preisgeben.«

Verständnislos zog Anki die Augenbrauen in die Höhe.

»Er war doch ganz offensichtlich weder Russe, noch gehörte er unserer Gesellschaftsschicht an«, fuhr Nina fort. »Wer weiß schon, wer er ist und was er wirklich im Schilde führt? Es ist ein Jammer, dass der Sommergarten jetzt allen halbwegs ordentlich gekleideten Personen offensteht.«

Anki holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Sie kannte diese Klagen bereits aus diversen Gesprächen bei verschiedenen Anlässen im Haus der Chabenskis. Nicht einmal Fürstin Chabenski ging auf Bemerkungen dieser Art ein. Tatsächlich genoss die Adelige ihre Stellung und lebte die Traditionen der russischen Kultur mit Hingabe, doch aus so manchen ihrer Handlungen hatte Anki schon früh herausgelesen, dass sie, anders als viele ihrer Freundinnen und Verwandten, das autokrate System Russlands durchaus kritisch hinterfragte. Die Fürstin hielt sich keinesfalls für besser als ein ehrlicher Kaufmann oder ein armer Bauer. Wie kam wohl Nina zu dieser hochmütigen, elitären Einstellung?

»Viele Häuser des Adels verfügen zumindest über einen kleinen Garten, manche sogar über parkähnliche Anlagen, aber das einfache Volk hat meist nur winzige Wohnungen ohne Grün«, versuchte Anki beschwichtigend zu erklären. »Es tut allen Menschen gut, die Schönheit und Stille der Gartenanlagen zu genießen, das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter zu hören oder die schönen Schwäne beobachten zu können. Weshalb sollte man ihnen diese kleine Freude nicht gestatten?

»Weil sie neidisch werden auf das, was unser ist, und es an sich reißen wollen. Diese Kreaturen muss man von uns fernhalten!«

Sprachlos starrte Anki eine Weile auf sie hinunter. »Wer sagt das?«, hakte sie nahezu tonlos nach.

»Raisa schrieb es mir!«

Anki seufzte leise auf, als ihr die Zusammenhänge klar wurden. Raisa Wladimirowna Osminken war Ninas neueste Freundin. Die zwölfjährige Tochter eines Moskauer Barons hatte mit ihrem Vater den vergangenen Winter in St. Petersburg verbracht, wobei das ungleiche Paar bei jedem der saisonalen Feste erschienen war, für das sie Einladungen erhalten hatten. Auch Fürstin Chabenski hatte Vater und Tochter gern in ihrem Haus willkommen geheißen, wollte sie dem Besuch aus Moskau doch den lange andauernden geschäftlichen Aufenthalt in der für sie unbekannten Stadt verschönern.

Die Freundschaft zwischen der älteren Raisa zu ihrem noch kindlichen Schützling war Anki ein Dorn im Auge gewesen. Sie hatte sich jedoch darauf beschränkt, die zwei aufmerksam zu beobachten. Immerhin war die Hoffnung, dass Raisa sich bald Gleichaltrigen zuwenden würde, nicht unbegründet gewesen. Zu Ankis Missfallen hatte sich die Bindung zwischen den beiden jedoch vertieft, sodass sie nun, da Raisa zurück in Moskau war, sogar einen regen Briefwechsel aufrechterhielten.

»Raisa hat nur für ein paar Wochen lang in St. Petersburg gewohnt. Ich vermute einmal, sie weiß nicht viel über das Leben hier.«

»Raisa weiß eine ganze Menge!«, protestierte das Mädchen.

Diesen Verdacht hegte Anki allerdings auch. Und ein Großteil von ihrem Wissen war mit Sicherheit nicht für die Ohren und die Seele einer Siebenjährigen geeignet.

In dem Versuch, Nina zum Nachdenken über ihre eigene Aussage zu bewegen, fragte sie: »Hat dir der Nachmittag im Park nicht gefallen?«

Ihr Schützling zögerte einen Moment, ehe sie zugab: »Doch, Fräulein Anki. Es war schön, endlich einmal wieder auf der Neva zu fahren, auch wenn es sehr kalt war. Und das Singen und Tanzen hat mir ebenfalls Freude bereitet.«

Kurz vor dem Flussufer ergriff Anki vorsorglich Jelenas Hand, um das übermütige Mädchen in ihrer unmittelbaren Nähe zu behalten.

»Schön, Nina, dass das Tanzen dir Freude bereitet hat«, setzte sie das begonnene Gespräch fort. »Es war aber vor allem deshalb schön und lustig, weil ihr nicht nur zu dritt, sondern zu mehreren wart, nicht wahr?«

Die kleine Prinzessin schob mit einer Hand ihre Pelzmütze nach hinten und sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Sie meinen die Arbeiterkinder?«

»Von ihnen spreche ich, ja.«

»Sie waren sauber, ordentlich und höflich. Und nachdem wir mit dem Tanzen fertig waren, wussten sie, was sich gehört und eilten davon. Ich weiß von Raisa aber, dass wohlerzogene Arbeiterkinder die Ausnahme sind. Viele Eltern vernachlässigen ihre Kinder schrecklich, geben ihnen zu wenig zu essen, keine Schulbildung, keine einwandfreie Kleidung …«

Das tiefe Horn des Neva-Dampfers hallte über den Fluss und unterbrach den Redefluss des Mädchens, worüber Anki Dankbarkeit empfand. Während sie gemeinsam das Anlegemanöver beobachteten, beugte sie sich zu Nina hinunter und sagte verhalten, da sie von den umstehenden Damen und Herren nicht gehört werden wollte: »Manche Eltern haben nicht die Möglichkeiten dazu. Sosehr sie sich auch anstrengen, arbeiten und sparen, ihnen bleibt oftmals nicht einmal genug zum täglichen Leben.«

»Das ist traurig!«, erwiderte Nina, und für einen kurzen Augenblick sah Anki etwas wie Verständnis in ihrem Blick, bevor die kindliche Begeisterung über die neuerliche Schifffahrt beides fortwischte.

Anki beobachtete das Kind und fragte sich, welche Charaktereigenschaften sich bei diesem Mädchen und ihren Geschwistern in der Zukunft herauskristallisieren würden. Sie hoffte, einen gewissen Einfluss auf sie auszuüben, damit sie ihr Glück begriffen und bereit waren, es mit anderen zu teilen. Bei dieser Überlegung warf sie einen Blick in das Gesicht ihrer Schwester. Deren Glück standen momentan wohl gewaltige Widrigkeiten entgegen. Doch da Tilla sie nicht an ihrer Trauer und ihrem Schmerz teilhaben ließ, sah sie sich außerstande, ihr zu helfen.

***

Durchgefroren, aber glücklich kehrten Anki und die drei Mädchen in Begleitung der weiterhin in sich versunkenen Tilla in das prachtvolle Haus an der Mojka zurück.

Das Verhalten ihrer Schwester beunruhigte Anki immer mehr. So kannte sie die sonst oft sehr bestimmende, kontaktfreudige Tilla überhaupt nicht. Natürlich war sie ihrer guten Erziehung entsprechend niemals vorlaut oder übermäßig aufdringlich gewesen, aber das fast verbissene Schweigen, das sie jetzt an den Tag legte, war Anki vollkommen fremd.

Jakow, bekleidet mit einer schwarzen, mit Goldtressen und -litzen besetzten Livree, schloss hinter ihnen die Tür, und noch ehe er den Mädchen die Mäntel, Muffs, Mützen und Handschuhe abnahm, wandte er sich an Anki. »Sie haben Besuch, Sudarynja24

Der ältere Herr deutete auf die geschlossene Tür des kleinen Besuchszimmers.

»Mädchen, bitte geht in eure Zimmer und sagt Marfa, sie soll euch beim Umkleiden für das Abendessen helfen. Ich komme sofort nach. Tilla, Jakow wird dich in den Weißen Salon führen. Ich bin sicher gleich wieder bei dir. Dann unterhalten wir uns noch eine Weile.«

Eilig pellte Anki sich aus ihrem Mantel, reichte ihn Jakow und trat über den im Blumenmuster angelegten mehrfarbigen Parkettboden des Foyers zur Tür des Besuchszimmers. Neugierig darauf, wer sie besuchen wollte, öffnete sie schwungvoll die Tür – und erstarrte.

Vor dem sanft flackernden, leise prasselnden Feuer im Kamin saß Rasputin. Er hatte seine Füße mitsamt den schmutzigen Stiefeln auf die Sitzfläche des zweiten Sessels gelegt, die Hände vor seinem Bauch gefaltet und nahm nicht einmal den Blick von den Flammen, obwohl er gewiss das Öffnen der Tür gehört hatte.

»Grigori Jefimowitsch«, sprach sie ihn an und trat ein paar Schritte in den Raum, der mit dunklem Nussholz getäfelt war, wobei sie die Tür bewusst offen stehen ließ. Winzige Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, da die Erinnerung an die Begegnung vor dem Bobow-Anwesen wie ein heiß aufflackerndes Feuer über sie hereinbrach. Nur die Höflichkeit einem älteren Herrn gegenüber untersagte es ihr, augenblicklich die Flucht zu ergreifen.

Endlich wandte der Mönch seinen Kopf und schaute sie unter seinem zottigen Haarschopf an. Anki ballte hinter dem Rücken ihre Hände zu Fäusten. Alle ihre Muskeln verspannten und ließen sie erzittern. Sein Blick hatte etwas schrecklich Beunruhigendes an sich!

»Ljudmila Sergejewna umgibt sich mit einer Frau, die nicht gut für sie ist. Du bist nicht gut für sie, Anki, denn du verweigerst dich Gott und mir. Glücklich ist der Mensch, der nicht auf den Rat der Gottlosen hört und sich nicht am Leben der Sünder ein Beispiel nimmt. Du machst Ljudmila unglücklich und Gott sagt, sie soll sich nicht mit Spöttern abgeben. Da ich meine kleine Freundin nicht unglücklich wissen möchte, sie dich aber nicht dem Teufel preisgeben will, muss ich dir um ihretwillen zeigen, was Gottes Liebe bedeutet.«

»Ich weiß sehr wohl, was Gottes Liebe für mich bedeutet«, widersprach Anki, deren Stimme in ihren eigenen Ohren zu zaghaft klang. Dieser Mann machte ihr Angst. Rasputin erhob sich und kam auf sie zu.

Sie blieb stehen, wo sie war. Wie gerne wäre sie geflohen, hätte diesen Raum verlassen und die Tür hinter sich zugeknallt, doch die graublauen Augen des Mannes hielten sie gefangen.

»Wenn du auf mich hörst und tust, was ich dir zu tun auftrage, wirst du befreit sein von der Sünde. Ich kann das Dunkle wegnehmen, das in dir und um dich herum ist. Daraufhin wirst du voller Freude den Willen des Herrn tun und Jahr für Jahr reiche Frucht tragen.«

Der Mann war ihr inzwischen so nahe gekommen, dass sie die grässlichen Ausdünstungen seines ungewaschenen Körpers und der schmutzigen Kleidung riechen konnte. Sein Lächeln war abstoßend. Mit Mühe gelang es ihr, den Blick zu senken und in Richtung Tür zurückzuweichen.

»Du weigerst dich, dich reinigen zu lassen? Du willst nicht mit mir reden, nicht mit mir zusammen sein, nicht auf mich hören? Dann wirst du auch vor dem Gericht Gottes nicht bestehen können und keinen Platz unter den Gottesfürchtigen finden. Dein Weg wird dich ins Verderben führen, und dabei bin ich doch gekommen, um diese falschen, verlogenen und verdorbenen Menschen zu retten. Weshalb hören sie nicht auf mich, weshalb reden sie gegen mich und gegen meine liebe Mama und meinen lieben Papa?«

Verwirrt blieb Anki stehen. Sprach der Mann mit ihr? War er sich ihrer Gegenwart überhaupt noch bewusst? Seine Stimme war tiefer, lauter und eindringlicher geworden. Er hielt seine Hände wie zu einem inbrünstigen Gebet erhoben. Angst und Verwirrung packten Anki mit kalter Hand und ließen sie fröstelnd erschauern. Meinte er mit »Mama« und »Papa« die Zariza und den Zar? Ljudmila hatte ihr gegenüber angedeutet, Rasputin spräche die beiden in dieser eigenartigen Form an.

»Diese gottlosen Menschen. Ihnen wird es ergehen wie der Spreu, die der Wind verweht.«

Endlich gelang es Anki, sich von ihm abzuwenden. Als sei ein Bann gebrochen richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und nahm all ihren Mut zusammen. »Sie gehen jetzt besser, Grigori.« Widerstrebend fügte sie den in Russland als höfliche Anrede gebräuchlichen Vatersnamen hinzu, obwohl ihr das unbeschreiblich schwerfiel, da sie keinerlei Ehrerbietung diesem Mann gegenüber empfand. »… Jefimowitsch«.

Der Starez unterbrach seine flammende Rede und näherte sich ihr erneut, wohl um sie zu zwingen, ihn wieder anzusehen.

Erneut wich sie seinem Blick aus. »Sie machen mir keine Angst«, log sie in ihrer Furcht, »und ich finde es unangebracht, in welcher Weise Sie die Worte des ersten Psalms missbrauchen.«

Der Mann stieß einen heiseren Schrei aus und packte sie, um sie kräftig zu schütteln. »Weshalb denkst du, du hättest die vergebende Liebe Gottes nicht nötig? Weshalb weist du Gott zurück?«

»Sie hat Sie zurückgewiesen und nicht Gott! Und jetzt verschwinden Sie aus meinem Haus, ehe ich die Polizei rufe! Wagen Sie es nie mehr, einen Fuß in mein Haus oder in die Nähe dieses Mädchens zu setzen!« Fürst Ilja Michajlowitsch Chabenski stand breitbeinig unter der Tür. Seine Offiziersuniform saß schneidig an seinem muskulösen Körper und die Medaillen und Auszeichnungen blitzten im Licht der Kandelaber und des flackernden Kaminfeuers auf.

»Sie sind ein Diener von Mama und Papa. Wie können Sie es wagen …«

»Muss ich Hand anlegen, oder gehen Sie freiwillig, Grigori?« In der Stimme des Obersts lag eine Schärfe, die selbst Anki erzittern ließ.

Betont langsam ging Rasputin zwischen ihr und dem Hausherrn hindurch nach draußen. Wenige Augenblicke später hörte Anki, wie Jakow hinter dem Mann die Tür überdeutlich ins Schloss warf.

»Fräulein Anki, setzen Sie sich bitte.« Die Worte Fürst Chabenskis klangen bestimmt, aber nicht unfreundlich. Während Anki sich auf einem mit dunkelgrünem Samt überzogenen Hocker niederließ, verschwand der Oberst im Flur. Wenige Augenblicke später kehrte er zurück, zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich ihr gegenüber.

»Geht es Ihnen gut? Meine Frau sagte mir, dass Sie bereits vor ein paar Wochen einen unangenehmen Zusammenstoß mit diesem Unruhestifter hatten!«

»Es ist mir nichts geschehen, Hoheit. Aber Sie kamen im rechten Augenblick. Vielen Dank für Ihr Eingreifen.«

»Sie taten gut daran, die Tür offen zu lassen. Jakow hörte Sie beide und informierte mich. Er hat fortan die Anweisung, diesem Mann keinen Einlass mehr zu gewähren. Hier sind Sie vor ihm sicher«, erklärte der Fürst und rieb sich mit seiner schwieligen Hand über das Kinn, ehe er leise hinzufügte: »Ganz im Gegensatz zum Rest von Russland!«

Nadezhda trat ein, knickste und reichte Anki eine Tasse dampfenden Tees. Mit einem zaghaften Lächeln bedankte Anki sich bei dem Dienstmädchen und wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. Noch immer zitterten ihre Hände, deshalb stellte sie die Tasse samt Untertasse vorsichtshalber auf dem mit grünen Mosaiksteinchen belegten Beistelltisch ab.

»Was tun wir jetzt, Fräulein Anki? Sie haben diesem Mann mehr Widerworte gegeben, als er vermutlich in den vergangenen Jahren zusammen hier in Petersburg zu hören bekommen hat. Möchten Sie den Kontakt zu Komtess Zoraw aufrechterhalten?«

»Ljudmila ist mir eine liebe Freundin geworden«, erwiderte Anki zögernd, da sie die aufgeweckte junge Frau in ihr Herz geschlossen hatte. Allerdings bereitete ihr der Einfluss, den Rasputin seit ein paar Monaten auf Ljudmila ausübte, große Angst.

»Sie sind eine vernünftig denkende junge Frau. Ich überlasse es Ihnen, wie Sie mit Komtess Zoraw verfahren. Dennoch möchte ich Sie warnen: Sollten meine Töchter durch Ihre Freundschaft zu der Komtess in den Einflussbereich Rasputins gelangen, werde ich Maßnahmen ergreifen und Sie notfalls in die Niederlande zurückschicken. Das würde ich sehr bedauern, denn sowohl meine Frau als auch ich schätzen Sie und Ihren positiven Einfluss auf unsere Kinder. Die Angestellten dieses Hauses respektieren Sie, und die Mädchen lieben sie! Wie immer Sie sich entscheiden, Fräulein Anki: Seien Sie auf der Hut. Ich habe den Eindruck, Sie haben sich heute einen einflussreichen Feind geschaffen!«

***

Vollkommene Stille herrschte im Palais. Keine Stimmen oder Schritte ließen auf die Anwesenheit anderer Menschen schließen, was das Gefühl der Furcht in Anki noch verstärkte. Einzig das stete Ticken der wuchtigen Standuhr aus dem Foyer war bis hinauf auf die Galerie zu hören, wenngleich das gleichmäßige Geräusch Anki noch nie zuvor so deutlich aufgefallen war wie in diesem Moment. Die Balustrade der Galerie, an der Anki lehnte, schimmerte im Licht der Abendsonne in einem warmen Braunton, während die nicht beleuchteten Anteile nahezu schwarz aussahen.

Die junge Frau verharrte gegenüber der geschlossenen Tür zum Weißen Salon und atmete mehrmals betont tief durch. Mit den Händen strich sie unruhig über ihren cremefarbenen Faltenrock. Sie war verstört, fühlte sich gedemütigt, und die Kälte in ihrem Inneren signalisierte ihr ihre Furcht vor Rasputin. Mit dem Gedanken, dass er von Jakow nie wieder eingelassen werden würde, versuchte sie sich zu beruhigen, doch es mochte ihr nicht gelingen.

Rasputin war ein Mann mit mächtigen Gönnern und sollte besser von niemandem unterschätzt werden. Zudem lebte er wie sie in St. Petersburg, bewegte sich frei in der Stadt und war in den heruntergekommenen Gegenden ebenso anzutreffen wie in den vornehmsten Adelshäusern, bis hin zum Zarenpalast. Wie hoch standen wohl ihre Chancen, dass dies heute ihre letzte Begegnung gewesen war?

Leise aufseufzend stieß sich das Kindermädchen von der Brüstung ab und öffnete die Tür, die sie nun lange genug angestarrt hatte. Tilla stand in dem gemütlichen, ohne viel Pomp eingerichteten und hauptsächlich in weiß gehaltenen Raum an einem der Fenster und blickte auf den Kanal hinunter. Sie hatte weder das von Nadezhda bereitgestellte Gebäck noch den Tee angerührt.

Bei Ankis Eintreten drehte sich Tilla zu ihr um. Ihr Gesicht war auffällig bleich, ihre Augen flackerten unruhig. »Deine Schützlinge sind wirklich niedlich. Ich freue mich, dass du es so gut getroffen hast: respektable Arbeitgeber, die dir offensichtlich völlig vertrauen, aufmerksame Bedienstete mit einem klaren Blick dafür, dass du nicht ihresgleichen bist. Jetzt fehlt nur noch ein strammer junger Mann, vielleicht sogar aus dem Adel stammend und voller Bewunderung und Zuneigung für dich …«

Eher verlegen als erfreut lächelte Anki und setzte sich auf einen weißen Holzstuhl vor den Kamin, dessen Sims mit einer bunten Tabakdosensammlung geschmückt war. »Ich lasse mir damit lieber noch etwas Zeit. Immerhin bin ich erst siebzehn und möchte noch ein paar Jahre meine eigenen Entscheidungen treffen und zudem für die Chabenski-Mädchen da sein.«

»Glaubst du denn, die Frau ist in der Ehe vollständig von den Entscheidungen des Ehemannes abhängig?«

Anki wich Tillas strengem Blick aus. Sie wollte ihre Schwester nicht demütigen, glaubte sie doch, genau die von ihr gefürchtete Bevormundung vonseiten Josephs erspürt zu haben.

»Ich weiß nicht, wie das in Deutschland gehandhabt wird, liebe Tilla. Vermutlich kommt es auf den Ehemann selbst an, nicht?«, erwiderte sie ausweichend.

Ihre Schwester blickte erneut aus dem Fenster, wobei Anki sich fragte, ob es dort viel zu sehen gab. Die Strahlen der Sonne reichten längst nicht mehr über die Häuser und Türme hinweg; in St. Petersburg breiteten sich die abendlichen Schatten aus, legten sich zwischen die Gebäude und Mauern und verbargen selbst die prunkvollsten Fassaden, erhabensten Säulen und ansehnlichsten Brücken, Statuen und Parkanlagen hinter tristem Schwarz.

Wehmütig betrachtete Anki den ihr zugewandten Rücken. In ihrem modernen himmelblauen Spitzenkostüm mit der weißen, mit Seidenrosen verzierten Schärpe sah Tilla wunderschön aus, dennoch gefielen Anki weder ihre hängenden Schultern noch ihre blasse Gesichtsfarbe und die dunklen Ringe unter ihren Augen.

Wie schon während des Nachmittags setzte sich ein Ziehen in Ankis Magengegend fest. Bisher war Tilla immer diejenige gewesen, die sich um ihre jüngere Schwester gekümmert hatte. Nun wirkte sie selbst, als bräuchte sie Hilfe. Tilla war frisch verheiratet und auf ihrer Hochzeitsreise. Sollte eine jungvermählte Frau nicht vor Lebensfreude und Glück förmlich sprühen?

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, wagte Anki leise zu fragen.

Sie wartete darauf, dass Tilla sich wieder zu ihr umdrehte. Entweder, um ihr zu berichten, wo es ihr fehlte oder aber um ihr zu versichern, dass sie lediglich von der Reise müde, vielleicht auch krank sei. Doch nichts von alledem geschah. Abweisend wandte Tilla ihr weiterhin den Rücken zu und regte sich erst, um ihr mitzuteilen, Joseph sei in einer Kutsche vorgefahren, um sie in ihr Hotel zurückzubringen.

»Ich begleite dich hinunter und wir planen mit deinem Mann ein Treffen für morgen.«

Ihre Schwester lächelte ihr freudlos zu und schwebte an ihr vorbei, aus der offen stehenden Tür und über die geschwungene Treppe in das Foyer hinunter. Im Eingangsbereich wurden sie bereits von Joseph erwartet, der ungeduldig mit seinem Spazierstock auf das Parkett klopfte, während Jakow Tillas Mantel brachte, um ihr beim Anziehen behilflich zu sein.

»Verabschiede dich gleich richtig, liebe Tilla. Wir verlassen die Stadt. Unser Gepäck befindet sich bereits in der Droschke.«

»Aber Joseph, wir wollten doch erst in zwei Tagen in Richtung Krim abreisen. Unser Schiff legt nicht vor nächster Woche ab.«

»Manchmal ändern sich Pläne eben kurzfristig«, lautete seine knappe, nicht eben freundlich vorgebrachte Begründung. Eilig fügte er hinzu: »Ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann und deshalb natürlich viel mehr darauf eingestellt, kurzfristige Änderungen hinzunehmen als du, liebe Tilla. Die Mühe des Packens habe ich dir mithilfe einer Hotelangestellten abgenommen, sodass du dich ganz beruhigt in die Droschke in Richtung Nikolajbahnhof setzen kannst.«

»Entspannt? Wie kann ich entspannt sein, wenn geplant war, ein paar Tage in dieser herrlichen Stadt und bei meiner Schwester zu verbringen? Was veranlasst uns, wie Diebe auf der Flucht alle Pläne über den Haufen zu werfen?«, begehrte Tilla auf.

Joseph beachtete ihren Einwand nicht, sondern winkte Jakow, damit er seiner Frau endlich in den Mantel half, während er sich an Anki wandte. »Es war reizend, Sie kennenzulernen, Cousine Anki. Wir statten Petersburg gewiss eines Tages wieder einen Besuch ab. Und natürlich heißen wir Sie jederzeit gern in Berlin willkommen!«

Obwohl es unhöflich war, ließ Anki den Mann einfach stehen; nicht nur, weil sie sein Verhalten vollkommen unangebracht fand, sondern hauptsächlich, weil sie befürchtete, er würde ihr nicht einmal genug Zeit lassen, um sich richtig von Tilla zu verabschieden. Diese schlüpfte in ihren Mantel und nahm dann Anki in den Arm. Beschämt flüsterte sie: »Entschuldige bitte. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist.«

»Schade, dass du schon gehen musst. Aber ich wünsche dir und deinem Mann noch eine wunderbare Reise.«

Sie spürte, wie Tilla sich in ihren Armen versteifte und warf einen missbilligenden Blick auf den wartenden Mann, der schon wieder voll Ungeduld dazu übergegangen war, mit dem Stock auf den Boden zu klopfen. Was mochte nur zwischen ihm und Tilla vorgefallen sein?

»Grüß mir die kleine Demy herzlich, wenn du zurück in Berlin bist, ja?«

»Sicher, Anki«, erwiderte Tilla zerstreut und löste sich aus ihrer Umarmung. Mit einem letzten mühsamen Lächeln verließ sie das Haus.

Kaum war sie eingestiegen, hörte Anki auch schon, wie Joseph mit dem Spazierstock ruhelos gegen die Kutschenwand klopfte. Der Fahrer setzte das Gefährt zügig in Bewegung, und es wurde innerhalb von Sekunden von der Dunkelheit verschluckt.

Erst das zurückhaltende Räuspern von Jakow riss Anki aus ihren düsteren Überlegungen um die überstürzte Abreise und den frostigen Umgang des frisch vermählten Paares. Sie stand noch immer vor dem mächtigen Portal, und da sie keinen Mantel trug, fror sie entsetzlich.

»Danke, Jakow«, murmelte sie und drückte im Vorbeigehen leicht seinen Arm. Mit so ungestümen Schritten, dass der Faltenrock entrüstet um ihre Beine wirbelte, durchmaß sie das Foyer und eilte die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Der Butler löschte unterdessen einige der elektrischen Lichter in der Halle, und als sie oben auf der Galerie angelangt war, lag der Festsaal unter ihr in tröstlichem, weichem Licht.

Wie schon zuvor trat sie an die Brüstung. Ohne die grelle elektrische Beleuchtung traten die goldenen Schmuckfarben und die Stuckornamente ebenso wie die edlen Möbel und wertvollen Gemälde dezent hervor. Erst jetzt, im Schein der Kerzen, zeigte der Raum seine erlesene Pracht. Vielleicht war sie besser beraten, wenn sie nicht überall zu genau hinsah, überlegte die junge Frau. Immerhin konnte sie nicht jedem Menschen helfen. Hatte sie mit den ihr anvertrauten drei Mädchen nicht genug Verantwortung übernommen? Dazu kamen ihre Freundschaft mit Ljudmila und die damit verbundene Sorge um deren Umgang mit diesem schrecklichen Rasputin.

Tilla und Joseph mussten weit von ihr entfernt ihr eigenes Leben und somit auch ihr eigenes Glück gestalten. Sie hatte keine Möglichkeit, ihrer Schwester dabei zu helfen – ja vermutlich nicht einmal das Recht dazu.

Trotz dieser Erkenntnis blieb der bohrende Schmerz in ihrem Herzen, denn sie wünschte ihrer Schwester, dass sie mit ihrem Mann glücklich wurde.

Himmel ueber fremdem Land
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