Kapitel 37

Windhuk, Deutsch-Südwestafrika,
August 1908

Mit einem Satz sprang Philippe aus dem Erste-Klasse-Waggon auf den provisorisch errichteten Bahnsteig hinab, wobei unter seinen Füßen eine Staubwolke aufwirbelte. Er setzte seinen Südwester-Hut auf, dessen Krempe an der rechten Seite durch einen Knopf nach oben gehalten und mit einer schwarz-weiß-roten Kokarde geschmückt war, und nahm sein Gepäck herunter. Während er die Tasche schulterte, warf er einen abschätzigen Blick auf eine Gruppe Männer, die aus dem Abteil der Zweiten Klasse zwischen dem Erste-Klasse-Waggon und den angehängten Gepäckwagen taumelten; sie schienen stark alkoholisiert zu sein.

Im Zug waren sie ihm nicht aufgefallen, wohl aber bei der Ankunft am Vorabend in Karibib41. Die kleine Stadt, eingebettet zwischen grünen Hügeln und in der Ferne in die Höhe ragenden Bergen, bestand aus nicht mehr als ein paar einstöckigen Häusern, dem Bahnhof, einem wachsenden Industriegebiet und seinen inzwischen berühmten Marmorminen.

Die meisten Reisenden wählten dort zur Übernachtung eines der Hotels in Bahnhofsnähe, Philippe jedoch war die Straße hinuntermarschiert und hatte an die Haustür eines ehemaligen Schutztruppensoldaten geklopft. Der Mann hatte vor zwei Jahren die Armee verlassen und sich in Karibib niedergelassen. Dabei hatte Philippe aus dem Augenwinkel wahrgenommen, wie sich einer der Männer aus der lauten Truppe in seiner Nähe an ein Gebäude lehnte, allerdings darauf bedacht, ihm den Rücken zuzukehren. Spät am Abend, als er mit seinem Freund eine Runde durch die Ansiedlung geschlendert war, war ihm der Mann erneut aufgefallen, ebenso heute Morgen beim Besteigen des Zuges.

Jetzt wirkte die Gruppe ruhig, beinahe verdrießlich, als sei ihnen das Geschäft des Jahres durch die Lappen gegangen. Nur einer von ihnen – Philippe war er als sein Beobachter vom Vortag gut in Erinnerung –, verließ eilig das Bahnhofsgelände und verschwand in einer der angrenzenden Straßen. Die restlichen vier Männer folgten ihm deutlich langsamer.

Da ihn dieser seltsame Zeitgenosse nicht interessierte, eilte Philippe mit großen Schritten in Richtung Boysenschanze, bog in die Schillerstraße ein und erreichte kurze Zeit später das Offizierskasino. Dort hinterlegte er sein leichtes Marschgepäck, begrüßte ein paar Bekannte, die sich über sein Aufkreuzen sichtlich überrascht zeigten, und verließ das Gebäude innerhalb weniger Minuten wieder.

In diesem Moment verschwand eine Gestalt hinter einem benachbarten Haus. Philippe blickte aus zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen über die Häuserzeile und Bäume hinweg zum Auasgebirge, das jenseits der Ebene dem Himmel entgegenwuchs und von den letzten Strahlen der abendlichen Sonne in ein rotbraunes Licht getaucht wurde.

Niemand wusste von seiner Reise hierher, ebenso wenig von seinem Vorhaben, in Windhuk Nachforschungen über die Vorkommnisse bei den nördlichen Diamantfeldern aufzunehmen. Wer also verfolgte ihn? Handelte es sich um denselben Mann wie schon in Karibib? Vielleicht hatte ihn auch nur das diffuse Licht zwischen den Häusern getäuscht, oder es waren Kinder, die in den beschaulichen, nach deutschem Muster angelegten Straßen spielten?

Philippe schob diese Überlegungen beiseite und eilte die Bergstraße hinauf. Er hatte es eilig, wollte er doch noch vor Einbruch der Dunkelheit Udako treffen. Er erreichte die weiße Treppe, die rechter Hand zum Gouvernements-Haus hinaufführte. Eine Wache trat aus dem quadratischen Wächterhäuschen und grüßte zackig.

»Im Offizierskasino sagte man mir, ich könne Oberstleutnant von Estorff bei Gouverneur von Schuckmann finden.«

»Der Herr Oberstleutnant ist im Haus, Herr Leutnant.«

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprang Philippe die erste Treppe hinauf, eilte über den kleinen Querweg und nahm in ebenso hoher Geschwindigkeit auch die nächsten Stufen, bis er vor dem stattlichen Kolonialgebäude stand. Während er die überdachte Veranda zwischen den beiden Gebäudeteilen betrat, drehte sich die metallene Wetterfahne auf der Turmspitze des schmucken Hauses in einem schrillen Quietschen im leichten Wind.

Philippe meldete sich über einen zweiten dort postierten Wachposten an, und Oberstleutnant von Estorff ließ nicht lange auf sich warten. Die Dielenbretter knarrten, als sein Vorgesetzter zu ihm trat.

»Meindorff? Stehen Sie bequem! Mich erreichte keine Nachricht darüber, dass Sie und Ihre Spezialtruppe zurückkommen wollen.«

»Das war durchaus beabsichtigt, Herr Oberstleutnant.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen trat der Mann an die Holzbrüstung. Philippe folgte ihm und lehnte sich seitlich gegen einen der Pfeiler, der die Überdachung stützte.

»Reden Sie«, wurde er aufgefordert und Philippe erklärte in knappen Worten, weshalb er ohne vorherige Ankündigung nach Windhuk zurückgekehrt war. Dabei sah er zu, wie der Oberstleutnant mehrmals mit der linken Hand an seinem borstigen, nach beiden Seiten gut vier Zentimeter über die Wangen hinausragenden Oberlippenbart zupfte und sich schließlich über den kurzen, ebenfalls mit grauen Haaren durchsetzten Vollbart strich.

»Wie gut, dass Gouverneur von Schuckmann so viel von Ihnen hält und Sie mit weitreichenden Rechten ausgestattet hat. Ohne Ihre lobenswerte Selbstständigkeit und Ihre Fähigkeit, auch Untergebene in die Entscheidungen einzubeziehen, hätten wir vermutlich demnächst einen Krieg und bis auf die Zähne bewaffnete Partisanen da oben an der Küste. Sie werden es in der Kaiserlichen Armee weit bringen, junger Mann.«

»Danke, Herr Oberstleutnant.«

»Geben Sie mir ein paar Minuten. Ich trage die Angelegenheit dem Gouverneur vor. Aber kommen Sie herein und lassen Sie sich eine Erfrischung und eine Mahlzeit reichen.«

»Danke, Herr Oberstleutnant, wenn Sie erlauben, ziehe ich es vor, hier draußen zu warten.«

»Wie Sie möchten.«

Philippe drehte sich, ohne sich dabei von der Säule abzustoßen, während er dem Mann mit den Augen folgte.

So umsichtig von Estorff wirkte, so unbarmherzig war seine Geschichte in diesem afrikanischen Staat. Im Nama- und Herero-Krieg war von Estorff, seinerzeit Bataillonskommandeur des 1. Feldregiments, vom damaligen Generalleutnant Lothar von Trotha dazu aufgefordert worden, die flüchtenden Menschen und ihre Tierherden in der fast wasserlosen Omaheke-Wüste immer wieder von den wenigen vorhandenen oder mühsam gegrabenen Wasserlöchern zu verjagen. Tausende verdursteten elendig und die Völker schrumpften auf eine verschwindend kleine Zahl zusammen, die man schließlich in Konzentrationslager steckte. Inzwischen waren sie durch die Kolonialgesetze dazu verpflichtet zu arbeiten. Wer ohne eine gültige Arbeitskarte erwischt wurde, landete in Gefangenschaft.

Während Philippe wartete, wanderte die Sonne den Bergspitzen entgegen. Am Himmel entflammte ein Farbenspiel aus Rot-, Orange-, Gelb- und Violetttönen, dem der Offizier allerdings gerade nichts abgewinnen konnte, denn Oberstleutnant von Estorff und Gouverneur von Schuckmann ließen sich für seinen Geschmack bei ihrer Besprechung viel Zeit.

Der Duft von gegrilltem Fleisch zog den Hügel hinauf, und Philippes Magen protestierte hörbar. Seit dem frühen Morgen, vor der Abfahrt in Karibib, hatte Philippe nichts mehr zu sich genommen. Die Zikaden legten an Lautstärke zu, ein deutliches Zeichen dafür, dass bald die Dunkelheit hereinbrechen würde. Ungeduldig trat Philippe mit der Stiefelspitze gegen die Holzlatten der Brüstung und drehte sich ruckartig um, als hinter ihm die Tür aufschwang.

Von Estorff trat heraus und reichte ihm ein Papier mit den Worten: »Sie erhalten Zugang zu sämtlichen aktuellen Befehlen, Protokollen und zum Archiv. Weiterhin dürfen Sie in Absprache mit Ihrem Vorgesetzten Soldaten zur Hilfe hinzuziehen, ohne dass dieser den Hintergrund Ihrer Nachforschung zu erfahren braucht. Details stehen in Ihrem neuen Befehl, Meindorff. Ich erwarte, solange sie in Windhuk sind, jeden Abend einen mündlichen Bericht.«

Er wartete, während Philippe das Schreiben überflog, dann sagte er: »Machen Sie voran, erzielen Sie Fortschritte, Leutnant. In Walvis Bay lachen die englischen Kommandeure über uns. Zudem will von Schuckmann während seiner Gouverneurszeit weder einen Aufstand innerhalb der Kaiserlichen Schutztruppe noch einen zwischen den Diamantschürfern. Und die Verdächtigungen, dass irgendwelche Engländer die Schürfstellen überfielen, müssen ohnehin schnellstens vom Tisch. Die politische Lage ist angespannt genug.«

Philippe grüßte vorschriftsmäßig, ehe er die Stufen abwärts in Angriff nahm und zu den Verwaltungsgebäuden hinüberlief.

Vielleicht dauerte es nur ein paar Minuten, die Unterlagen über die Einsatzpläne der in der Namib patrouillierenden Soldaten und deren Meldegänger zu überprüfen. Wenn alles glatt lief, erfuhr er gleich den Namen des Mannes, der hinter den Überfällen steckte. Und dann konnte er endlich Udako sehen!

***

Mit seinen frisch ausgestellten Papieren war es ein Leichtes, in der Schreibkammer an die entsprechenden Akten zu gelangen.

Philippe legte die Unterlagen auf dem Fenstersims ab, wo von draußen noch ausreichend Licht zum Lesen in den Raum fiel, und blätterte durch die Aufzeichnungen der vergangenen Wochen. Dabei stieß er immer wieder auf ein und denselben Namen.

Die genannte Person war mehrmals beauftragt worden, die in Windhuk ausgestellten Befehle in die Telegrafenstube zu bringen, damit sie von dort zu den im Norden der Diamantfelder eingesetzten Schutztruppen weitergeleitet wurden. Der Soldat hinter dem Namen war ihm kein Unbekannter: Karl Roth.

Hastig fertigte Philippe ein paar Notizen an, steckte diese ein und warf den Aktenordner zurück auf den Schreibtisch. Mit wütenden Schritten verließ er das Gebäude. Man hatte den Bock zum Gärtner gemacht, und er selbst hatte Roth das Kommando über seine Wüstentruppe erteilt! Er konnte nur hoffen, dass der gewiefte und aufmerksame Akia vorsichtig agierte, falls Roth in Philippes Abwesenheit versuchte, die Gelegenheit zu weiteren Untaten zu nutzen. Er musste auf jeden Fall dringend zurückreisen, denn sollten Akia und seine Männer Roths Tun durchschauen und sich ihm in den Weg stellen, würden sie wohl ebenso gnadenlos niedergemetzelt werden wie Wilhelm.

Der nächste Zug fuhr jedoch erst am folgenden Morgen in Richtung Küste ab. Somit blieb ihm immerhin noch Zeit, um Udako zu treffen.

***

Karl ärgerte sich noch immer über die vertane Chance, Meindorff in Karibib zu überwältigen. Wenn er geahnt hätte, dass der Mann dort bei einem Bekannten übernachten würde, hätte er diesbezüglich seine Pläne angepasst. Nun aber war er gezwungen, dem Leutnant bis nach Windhuk zu folgen, was schwerwiegende Probleme für ihn aufwarf. Zum einen war er hier kein Unbekannter, wenngleich er sich nichts vormachte: Ein Großteil der Soldaten, vor allem die Neuankömmlinge, kannten sein Gesicht nicht, anders als das bei Meindorff der Fall war. Die Gefahr, erkannt zu werden, bestand dennoch. Zudem blieb er dem Wüstencamp weitaus länger fern als geplant, was für ein möglicherweise später benötigtes Alibi ausgesprochen abträglich war.

Vorsichtig spähte er um die Ecke eines Gebäudes gegenüber der unfertigen Kirche und beobachtete, wie Meindorff ein Paket entgegennahm. Ob es ihn zur Missionsstation zog?

Karl, der dort Udako vermutete, stieß keuchend die Luft aus. Seine Wut auf Meindorff mischte sich mit seiner verzehrenden Begierde nach der Frau zu einem berauschenden und zugleich zerstörerischen Schmerz.

Ein verzerrtes Grinsen entstellte seine Gesichtszüge, als er beobachtete, wie Meindorff tatsächlich in Richtung Missionsstation hinausritt. Der Weg zur Missionsstation war nicht weit, führte jedoch durch eine unwegsame Hügellandschaft. Das Gebiet war unübersichtlich und einsam, sodass Meindorff keine Hilfe von der Schutztruppe erwarten konnte, sollte er auf dem Weg Opfer eines Überfalls werden. Der Leutnant besaß zwar ein Pferd, doch zu Fuß konnte man in direkter Linie über die Erderhebungen klettern und war so viel schneller als auf dem Reitpfad.

Karl zögerte keine Sekunde. Er riss sich den Hut vom Kopf und rannte zu der billigen Pension, in der er sich und die fünf Männer einquartiert hatte, die üblicherweise die Transporte der Diacamp bewachten. Polternd stürmte er in ihr Zimmer und stellte erleichtert fest, dass sie sich an seine strikte Anweisung, die Finger vom Alkohol zu lassen, gehalten hatten.

Nur wenige Minuten später liefen sie, die Patronengürtel um die Hüften geschlungen und die Karabiner in der Hand, am Lazarett und dem Friedhof vorbei. Auf ihrem Weg in Richtung Kinderheim passierten sie zuerst einige noch im Bau befindliche Kolonialhäuser, dann ein paar Lagerschuppen und primitive Unterkünfte.

Als sie den ersten mit Gras und Bäumen bewachsenen Hügel überquert hatten, erkannten sie vor sich, nur rund hundert Meter entfernt, einen einsamen Reiter: Leutnant Meindorff.

***

Die Hufe der Stute klopften dumpf auf dem festgetretenen unebenen Weg und wurden vom Knarren des Sattels begleitet. Nach einer Biegung des Pfades öffnete sich die Ebene vor Philippe. Unmittelbar vor dem Haupthaus flackerten zwei muntere Lagerfeuer, um die herum sich mehrere Personen scharten. Vermutlich bekamen die Kinder eine Abendgeschichte vorgelesen, ehe sie zu Bett mussten. Da die Abendtemperatur im Umland des über 1600 Meter hoch gelegenen Windhuk deutlich unter zehn Grad Celsius gefallen war, freute sich Philippe auf die wärmenden Feuer.

Das Paket für den Missionar Bernhard Walther mit einer Hand vor sich balancierend suchte er mit den Augen nach der zarten Gestalt Udakos. Ob sie bei den anderen am Feuer saß? Freudige Aufregung bemächtigte sich seiner, sein Herz klopfte laut. Längst schon hatte er beschlossen, sich von Bernhard erklären zu lassen, was genau Udako am christlichen Glauben als so wichtig erachtete. Für sie war er sogar bereit, den Graben zu überwinden, der sich bisher zwischen Gott und ihm auftat.

Ob sie ihm heute erlauben würde, sie zu umarmen, sein Gesicht in ihrem herrlich süß duftenden schwarzen Haar zu vergraben und ihn dadurch für ein paar Minuten alles vergessen lassen?

Ein Knall zerriss die friedliche Kulisse. Philippe, bis eben noch den aufregenden Gedanken an Udako erlegen, schrak zusammen. Beim linken Feuer kippte eine kleine Gestalt zur Seite. Kinder sprangen auf, schrien, rannten durcheinander. In den Felsen hinter sich nahm Philippe Unruhe wahr. Beschimpfungen. Flüche.

Beim Aufblitzen des zweiten Mündungsfeuers warf Philippe sich vom Pferd und schlug hart auf dem Boden auf. Sandstaub hüllte ihn ein, während sein Pferd getroffen zur Seite taumelte. Weitere Schüsse peitschten über ihn hinweg, wirbelten neben ihm die rote Erde auf.

Er rollte sich hinter einen Affenbrotbaum und suchte mit den Augen nach dem Versteck der Angreifer, aber ihre Waffen schwiegen nun. Entschlossen sprang er auf und rannte hinüber zum Haus, vor dem ein heilloses Durcheinander herrschte.

»Die Feuer löschen!«, brüllte er und warf seine Uniformjacke auf die Flammen, bevor er mit beiden Händen Sand und Geröll daraufschaufelte. Bernhard tat es ihm gleich und so fielen auch die Feuerzungen des anderen Lagerfeuers in sich zusammen, züngelten noch einmal in die Höhe, als kämpften sie verzweifelt um ihr Leben und erloschen dann.

»Die Kinder ins Haus, sofort!«

Philippe hörte Erwachsenenstimmen, die die Kinder antrieben, Weinen, Schreien und verängstigte Hilferufe auf Nama und Herero. Eine reglos auf dem Boden kauernde Gestalt zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er sprang über das nur noch zaghaft glimmende Feuer und packte die Frau unter den Armen. Sie hob den Kopf. Udako!

Tränen liefen über ihr Gesicht und glänzten im fahlen Sternenlicht wie Diamanten auf. In ihren Armen hielt sie den leblosen Körper eines kleinen Jungen. »Er ist tot«, hauchte sie.

»Geh ins Haus, sofort!«

»Wer schießt da?«

»Ich weiß es nicht. Geh sofort rein.«

»Nicht ohne Benjamin«

»Ich bringe ihn. Lauf jetzt!« Philippe sah sich gehetzt um. Wie schnell luden die Schützen nach? Befanden sie sich noch an derselben Stelle oder verteilten sie sich um das Gelände?

Nicht eben sanft nahm er den schlaffen Körper des etwa Fünfjährigen auf die Arme und folgte Udako zur Tür des Waisenheims. In dem Augenblick, als die Nama die Tür erreichte, eröffneten die Angreifer erneut das Feuer. Ein heißer Schmerz jagte durch Philippes linken Oberarm. Er stieß Udako derb vorwärts, die daraufhin in das sichere Innere der Holzbarracke taumelte. Geistesgegenwärtig verrammelte der Missionar hinter ihnen die Tür.

Philippe legte den toten Jungen zurück in Udakos Arme und riss seine Pistole aus dem Holster. »Wie viele Waffen besitzen Sie, Walther?«

»Waffen, Herr Leutnant? Wir sind eine Missionsstation mit einem Waisenheim. Hier finden Sie nicht eine Schusswaffe. Das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, sind Küchenmesser.«

»Dann holen Sie die. Verteilen Sie sie an die Erwachsenen und die älteren Kinder.«

»Wer beschießt uns? Aus welchem Grund?«, stieß Bernhard Walther, ein Mann in den Fünfzigern mit sanftem Gemüt und einem feinen Humor, fassungslos aus und blickte Philippe entsetzt an.

»Es sind vereinzelt Aufständische unterwegs.«

»Aber wissen sie nicht, dass hier ihre eigenen Kinder untergebracht sind?«

»Vielleicht gefällt es ihnen nicht, wenn ihren Nachkommen die Weltanschauung ihrer Unterdrücker beigebracht wird?«, mutmaßte Philippe.

Eine Glasscheibe zersprang klirrend, und das ängstliche Murmeln der Kinder wurde erneut zu Schreckensschreien. Prüfend sah Philippe sich in dem dunklen Gebäude um. Lange Tische und Bänke standen in mehreren Reihen nebeneinander, in den beiden angrenzenden Zimmern erahnte er Betten.

»Walther, die Kinder sollen sich von den Fenstern fernhalten. Immer geduckt gehen. Baut aus den Tischen und Bänken einen Unterschlupf und polstert ihn mit allem ab, was ihr findet. Matratzen, Decken, Kleidungsstücke …«

»Was haben Sie vor?«

»Ich werde sehen, ob ich ein paar von den Burschen ausschalten kann. Sehr viele sind es den Schüssen nach nicht. Nebenbei versuche ich, auf eine der Anhöhen zu gelangen, um dort ein paar Schüsse abzugeben, die hoffentlich in Windhuk gehört werden.«

Bernhard nickte ihm zu und bewegte sich erstaunlich behände geduckt davon.

Unterdessen kontrollierte Philippe seine Waffe, bevor er zur Tür huschte. Eine schmale Frauenhand legte sich auf seinen Arm. Er wandte fragend den Kopf und blickte in Udakos ängstlich aufgerissene Augen. Sie hatte das tote Kind einem älteren Mädchen übergeben, das ihn ähnlich schockiert anstarrte wie Udako.

»Gib bitte auf dich Acht. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.«

Philippe nickte und war froh, dass sie das Blut, das aus seinem Oberarm in sein Hemd lief, im Dunkeln nicht sehen konnte. Trotz der Schmerzen hob er seine Linke und legte sie an Udakos weiche, tränennasse Wange. »Ich liebe dich, Udako. Wenn das hier vorbei ist, werde ich um deinetwillen mit Herrn Walther über den Gott sprechen, der dir so am Herzen liegt.«

Ihr schmerzliches Lächeln riss ihm beinahe das Herz aus dem Leib. Philippe umfasste ihre schlanke Taille und presste sie fast grob an sich, dabei biss er vor Sehnsucht und Schmerz die Zähne zusammen. Er atmete ihren Duft ein, spürte ihr Zittern und wusste, er konnte sie nicht länger halten, obwohl alles in ihm danach schrie.

Mühsam löste er sich von ihr, öffnete die Tür einen Spaltweit und schlüpfte ins Freie. Für einen kurzen Augenblick strichen ihre Finger über die seinen, bevor sich die Tür hinter ihm schloss. Erleichtert vernahm Philippe, wie Udako den schweren Metallriegel vorlegte.

Unter dem dunklen Himmelszelt war es still geworden. Eine Feuerstelle rauchte, die Luft war erfüllt von dem beißenden Geruch seiner verkohlten Uniformjacke. Die Zikaden sangen mit hohem, schrillem Ton ihr nächtliches Lied, während aus der Savanne der Stoßlaut und das anschließende rollende Knurren eines Geparden herüberdrang.

Der Offizier tastete sich Schritt für Schritt, den Rücken gegen das raue Holz des Hauses gedrückt, in Richtung Nebengebäude. Vorsichtig schaute er um die Ecke, konnte jedoch außer ein paar Büschen, dem Brunnen und einigen Ziegen und Kühen in dem kleinen Kral nichts Ungewöhnliches entdecken. Von einer notdürftigen Deckung zur nächsten laufend, näherte er sich dem Pfad, von dem er gekommen war und von wo die Schüsse abgefeuert worden waren.

Die nächst gelegene Deckung, die ihm Schutz bot, war sein Pferd. Die Stute lag auf der Seite, ihre Beine zuckten und sie atmete schwer und laut. Selbst im kaum vorhandenen Licht sah er blutigen Schaum aus Nüstern und Maul tropfen.

»Ich helfe dir gleich«, flüsterte er, obwohl er seine Aufmerksamkeit auf den schmalen Taldurchgang richtete. Er musste wissen, ob die Männer sich noch immer dort aufhielten.

Gebückt lief er einige Meter bis zu einem sorgsam aufgeschichteten Stapel mit Brettern und duckte sich dahinter. Sein linker Arm schien in Flammen zu stehen, doch die Anspannung und das durch seinen Körper jagende Adrenalin ließen ihn den Schmerz ignorieren.

Philippe entsicherte die Pistole 04, erhob sich leicht und schoss über die Bretter hinweg einmal in die Dunkelheit über den Hügeln. Gestein spritzte hörbar auf. Sofort zog er sich zurück; lauschte aber angespannt. Nichts geschah.

Immer in Deckung bleibend hastete er bis zum Ende des Holzstapels und musterte das Gelände, soweit das blasse Sternenlicht dies zuließ. Leer und ruhig lag der Pfad vor ihm. Die Angreifer waren nirgends zu sehen.

Misstrauisch nach allen Seiten sichernd erhob sich Philippe und rannte zum Fuß der Hügel. Unter einigen Mühen und Schmerzen erstieg er die erste Anhöhe und schoss zweimal in die Luft, in der Hoffnung, dass dies bis in die Stadt zu hören war. Obwohl die Männer offenbar geflohen waren und vorerst keine Gefahr mehr für die Station bestand, musste sofort ein Suchtrupp auf die Beine gestellt werden, um weitere Übergriffe durch die Aufständischen zu verhindern.

Das Klirren zersplitternden Glases ließ ihn herumwirbeln. Meterhohe Flammen schossen hinter dem Anbau in den nächtlichen Himmel, und eine schwarze Rauchwolke verdunkelte die Sterne. Die Flammen fraßen sich in Sekundenschnelle durch das trockene Gebälk hinüber in Richtung des Waisenhauses.

»Mein Gott, nein!«, stieß Philippe aus, als er zu rennen begann.

Vor dem Gebäude, in grelles zuckendes Licht getaucht, bewegten sich dunkle Schatten. Zwei, drei, vier der Statur nach allesamt kräftige Männer verteilten sich auf dem Vorplatz. Jemand brüllte mit sich überschlagender Stimme, sie sollten verschwinden.

Philippe gelang es nicht, den Rufer auszumachen. Er schien aber zu den Angreifern zu gehören. Wollte er seine eigenen Männer von ihrem Vorhaben abhalten?

Aus dem zerschossenen Fenster des Haupthauses quollen silbergraue Rauchwolken wie drohende Dämonen dem Himmel entgegen. Mit zusammengebissenen Zähnen registrierte Philippe, dass sich die Tür öffnete. Die Kinder und ihre Betreuer mussten fliehen, wollten sie nicht ersticken oder verbrennen.

Philippe blieb breitbeinig stehen. Er versuchte den Arm mit der erhobenen Schusswaffe durch seine zitternde, kraftlose Linke zu stützen. Durch einen lauten Zuruf machte er die lauernden Schatten auf sich aufmerksam, zielte und schoss.

Derjenige, der der Tür am nächsten stand, wurde vom Eindringen des Projektils in seine Schulter herumgeschleudert und schrie auf. Philippe sah trotz des blendenden Gegenlichts der Flammen den entsetzten Ausdruck auf seinem Gesicht. Zwei andere Angreifer wirbelten zu Philippe herum. Sie legten auf ihn an, der vierte feuerte auf die aus dem rauchgefüllten Haus drängenden Kinder.

Ein heißer Schmerz bohrte sich in Philippes Kopf. Seine Knie gaben nach. Noch während er in die Knie sank, jagte er demjenigen, der auf die Kinder schoss, eine Kugel in den Unterleib. Mühsam hielt er seinen schwankenden Oberkörper aufrecht und musste mit ansehen, wie Udako beide Arme in die Höhe riss. Sie öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei und sackte in sich zusammen.

Dann wurde es schwarz um ihn.

Himmel ueber fremdem Land
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