Kapitel 18

Bogenfels, Elisabethbucht, Deutsch-Südwestafrika,
Mai 1908

Mit gewaltigem Donnern schlugen die Wellen des Atlantiks gegen die hoch aufragenden Kalkfelsen. Weiße Gischt spritzte auf und der Geruch von Tang und Salz erfüllte die Luft. Ein böiger Wind fegte über den Ozean, zerrte an der Kleidung von Philippe und seinem Begleiter und zwang sie, sich nah an den Felsen zu halten, um sich vor seiner wütenden Kraft zu schützen.

Der Brite hatte seinen Hut abgenommen und Philippe, ohnehin etwas nachlässig, was seine Schutztruppen-Uniform anbelangte, hatte die Kopfbedeckung von vornherein in seiner Unterkunft in Lüderitz gelassen. Vor zwei Tagen war er mit dem Zug von Windhuk über Aus und Keetmanshoop bis Lüderitz gereist, um seinen neuen Auftrag anzutreten17.

Philippe blickte auf den über fünfzig Meter hohen Bogenfelsen, das Schmuckstück der Elisabethbucht südlich von Lüderitz. Durch den in Gischt gehüllten Bogen hindurch sah er den wild schäumenden Ozean und wünschte sich Udako an seine Seite. Die einsame Bucht mit ihren bizarren Felsformationen, vor allem aber dieser wie von Menschenhand erschaffene Torbogen, hätte ihr sicher sehr gefallen. Andererseits – hier, nahe der Lüderitzbucht, waren während des Eingeborenenaufstandes zwischen 1904 und 1906 rund 2000 Orlam- und Namakrieger mit ihren Familien in Konzentrationslagern interniert gewesen, und wegen der miserablen Hygiene- und Witterungsverhältnisse hatte nur eine erschreckend geringe Anzahl von ihnen überlebt. Dass die Konzentrationslager ins geschütztere Landesinnere verlegt worden waren, ging auf eine Initiative im Land tätiger Missionare zurück. Die in Lüderitz lebenden Menschen waren zu diesem Zeitpunkt noch per Schiff mit Trinkwasser aus Kapstadt beliefert worden, inzwischen stellte ein Kondensator die Süßwasserversorgung sicher.

Ein Seufzen entrang sich Philippes Kehle. Er hatte gehofft, einige Zeit mit Udako verbringen zu können, doch direkt nach seiner Ankunft in Windhuk und dem verwirrenden Gespräch mit ihr war er von Oberstleutnant von Estorff abberufen worden. Auf die Bitte von Gouverneur von Schuckmann schickte dieser Philippe in Begleitung eines Trupps Soldaten mit einem Sonderauftrag an die raue Küste. Von der Lüderitzbucht bis fast zur britischen Walvis Bay18 hinauf hatte es vor Kurzem erstaunliche Diamantenfunde gegeben, nachdem Bahnmeister Strauch angeblich bei Arbeiten für die Bahnlinie Lüderitzbucht – Keetmanshoop auf die ersten der wertvollen Steine gestoßen war. Allerdings nannte man unter der Hand einen schwarzen Streckenarbeiter, Zacharias Lewala, als eigentlichen Entdecker der ersten Diamanten.

Rasend schnell verbreitete sich die Nachricht über Deutsch-Südwest hinaus und immer mehr Männer – darunter neben Geschäftsleuten und Spekulanten auch auf das schnelle Geld versessene Abenteurer – überschwemmten das Gebiet, um sich Schürfrechte entlang der Atlantikküste zu sichern. Dabei kam es vermehrt zu Unruhen um die provisorisch errichteten Diamantminen. Zwar waren deutsche Schutztruppen vor Ort, doch von Schuckmann hegte offenbar den Verdacht, dass einige Soldaten sich inzwischen weitaus mehr für die Diamanten als für die ihnen übertragenen Aufgaben interessierten. Er witterte Korruption und Bestechlichkeit.

Nun fand Philippe sich inmitten einer kargen felsigen Landschaft umgeben vom Meer auf der einen und vom Wüstensand der Namib19 auf der anderen Seite wieder, während in seinem Inneren die Sehnsucht nach Udako wühlte.

»Du hattest also drei Monate Heimaturlaub und warst nur ein paar Tage bei deiner Familie in Berlin? Wo hast du dich denn sonst noch herumgetrieben?« John Howell riss ihn aus seinen Überlegungen. Der Brite kletterte auf einen Felsvorsprung und drehte sich zu ihm um, wobei er sich gegen den Wind anstemmen musste.

Philippe schaute zu seinem Freund auf und entgegnete mit schiefem Grinsen: »Kanada, England, Frankreich.«

»Du bist und bleibst ein Herumtreiber«, lachte John und deutete mit dem Kopf in Richtung ihrer Pferde. Es war an der Zeit, den Rückweg anzutreten.

»Das willst aber nicht ausgerechnet du mir zum Vorwurf machen?«

John schmunzelte, sprang von dem Felsbrocken herunter und gesellte sich wieder zu Philippe. Der Wind im Rücken trieb sie vorwärts. Sie kletterten über den unruhigen, schroffen Küstenboden, immer darauf bedacht, dass ihre Füße nicht in eine der mit Sand und Meerwasser gefüllten Spalten rutschten.

»Diesmal bin ich im Auftrag meines Vaters hier«, erklärte John über das Kreischen der Möwen hinweg. »Er möchte doch tatsächlich einen Teil des Kuchens für sich haben.«

»Dein Vater will sich in der Wüste auf die Suche nach Diamanten machen?«

Johns Lachen kämpfte sich gegen die donnernde Brandung und das Brausen des Windes bis zu Philippe durch. »Nein, er will mehr Diamantentransporte über seine Geschäftsstelle in der Walvis Bay abwickeln. Und das so bald, dass er von dem Kuchen noch ein ordentliches Stück abbekommt, bevor euer Kaiser Wilhelm seinem Vetter, unserem Bertie, den Krieg erklärt.«

Philippe nahm die Hände zu Hilfe, um sich auf einen gewaltigen Felsbrocken hinaufzustemmen. Dort verharrte er und schaute über das stahlgraue Meer bis an den in einem kräftigen Gelbton verschwimmenden Horizont. Der Wind zerrte an ihm und fuhr ihm durch die Haare. Es fühlte sich beinahe an, als sitze er wieder in einem Flugzeug; wie vor ein paar Monaten in Kanada oder vor nur wenigen Wochen in Mecklenburg. Energisch rief er sich in die Gegenwart zurück.

Sollte es tatsächlich so einfach sein, Zugang zu Informationen über die weiter nördlich gelegenen Diamantengesellschaften zu bekommen? Bot John, oder vielmehr dessen Vater, ihm diese geradezu auf dem Silbertablett an? Und zwar über das britische Kolonialgebiet, sodass seine Nachforschungen nicht versehentlich über irgendwelche dubiosen Kanäle an die Schürfer und unter Verdacht stehenden Soldaten gelangten?

Philippes erste Vermutung, er würde zwischen der Lüderitzbucht und dem Oranjefluss seinen Einsatzort finden, hatte sich nicht bestätigt. Unruhen gab es viele Kilometer weiter, in Richtung Norden, wo die wie Pilze aus dem Boden schießenden Diamantgesellschaften schürften und die Schutztruppen für Ruhe und Sicherheit sorgen sollten. Und genau in diesem Gebiet, in der Nähe der Walvis Bay, einer winzigen britischen Enklave an der Küste von Deutsch-Südwestafrika, sollte John seine Fühler nach potenziellen Kunden für seinen Vater ausstrecken? Ebenso erstaunlich fand der Leutnant die Tatsache, dass nicht nur er und ein paar andere Zeitgenossen von einem nahenden Krieg sprachen, sondern auch John und sein Vater. Andererseits hatten die Howells allen Grund, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern aufmerksam und kritisch im Auge zu behalten, schließlich saßen sie in ihrer Wahlheimat Walvis Bay im deutsch kolonisierten Gebiet wie in einer Mausefalle.

»Ich habe dich schon gesprächiger erlebt, deutscher Freund!«, spottete John. »Bist du hierher strafversetzt worden? Oder hat deine kleine Nama-Freundin dich sitzen lassen?«

Die Erwähnung von Udako jagte erneut einen schmerzhaften Stich durch Philippes Herz. Er sprang von dem Felsen hinunter und landete auf einer von glitschigen Algen bedeckten Steinplatte. Nur mit heftigem Rudern beider Arme gelang es ihm, sein Gleichgewicht zu halten, was John wiederum zu lautem Gelächter verleitete.

»Du fühlst dich in großen Höhen offensichtlich wohler als mit den Füßen auf dem Boden«, spottete er in Anspielung auf den Enthusiasmus, mit dem Philippe ihm auf dem langen Ritt von Lüderitz bis zum Bogenfels von seinen Flugversuchen erzählt hatte. »Was ist es also, Philippe? Was tust du hier?«, hakte er dann nach.

»Man hat mich für einen speziellen Auftrag an die Küste beordert«, sagte er vage.

Schweigend gingen sie weiter. Philippe nahm an, dass John mehr über seine Aufgabe erfahren wollte, doch er war im Moment nicht zu ausführlicheren Gesprächen aufgelegt. Sein Auftrag war unklar formuliert, da nur wenige Anhaltspunkte bekannt waren und der Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika kein Aufsehen um die Sicherheitslücken in seinem Zuständigkeitsgebiet wollte.

»Gut, ich verstehe. Keine Informationen an den Engländer, was deinen militärischen Auftrag betrifft. Dann erzähl mir doch einfach von der Hochzeit deines Bruders oder noch mehr über das Fliegen oder Neuigkeiten von Udako.« Erwartungsvoll sah John ihn an.

»Wie wäre es, wenn du mir stattdessen berichtest, was du in den vergangenen drei Monaten getrieben hast?«

»Auf diesen Satz habe ich gewartet!«, rief John überschwänglich aus und setzte zu einem ausführlichen Bericht über Mary Stott an, einer jungen Britin, die mit ihren Eltern und einem jüngeren Bruder erst vor ein paar Wochen in die Walvis Bay übergesiedelt war.

Himmel ueber fremdem Land
titlepage.xhtml
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_000.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_001.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_002.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_003.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_004.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_005.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_006.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_007.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_008.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_009.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_010.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_011.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_012.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_013.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_014.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_015.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_016.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_017.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_018.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_019.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_020.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_021.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_022.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_023.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_024.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_025.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_026.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_027.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_028.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_029.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_030.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_031.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_032.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_033.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_034.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_035.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_036.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_037.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_038.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_039.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_040.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_041.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_042.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_043.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_044.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_045.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_046.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_047.html
Himmel_uber_fremdem_Land__Roman_split_048.html