Kapitel 17

Windhuk, Deutsch-Südwestafrika,
Mai 1908

Nachdem der Sommer und damit die Regenzeit vorüber waren, brach im Mai allmählich der deutlich kühlere Winter an. Dieser Jahreszeitenwechsel war auf dem zentralen Hochplateau vor allem in den Nächten zu spüren, in denen es teilweise bis unter zehn Grad abkühlte.

Fröstelnd stand Udako vor der Missionsstation und blickte zu dem klaren, funkelnden Sternenhimmel hinauf, der sich weit über die Steppe breitete und an den in weiter Ferne als verschwommener Umriss zu erahnenden Gebirgszügen befestigt zu sein schien. Bis auf das Rascheln der gezackten Kameldornblätter und des harten Steppengrases herrschte vollkommene Stille. Nicht einmal der Ruf eines Wildtieres drang bis zu der einsamen Gestalt vor; selbst die Zikaden hielten sich an diesem Abend mit ihrem durchdringenden Zirpen zurück.

Udako war hier herausgekommen, um ihren Gedanken nachzuhängen. Für sie war es kaum vorstellbar, dass es in diesem Land einmal eine Zeit ohne die deutsche Schutzherrschaft gegeben hatte. Alte Leute wie Ana konnten noch davon berichten, wie die Eroberer damals angekommen waren, doch Udako kannte ihre Heimat nicht anders. Manche Deutschen behandelten die Einheimischen wie ihresgleichen, aber es gab auch die anderen, die Spekulanten, deren vorrangiges Ziel es war, so viel Profit wie möglich aus dem Land und der Bevölkerung herauszuschlagen. Diese Art ging gewissenlos über Leichen. Und dann waren da natürlich die Soldaten des weit entfernt lebenden deutschen Kaisers. Er hatte sie zum Schutz der deutschen Siedlungen in sein neu erobertes Reich geschickt. Diese fremden Männer waren Krieger und hatten das blutig unter Beweis gestellt. Die meisten Soldaten waren heute noch überzeugt davon, dass sie für eine gute Sache gekämpft hatten.

Nun, nach den kriegerischen Auseinandersetzungen, sorgten die Uniformierten für die Einhaltung der von den Deutschen aufgestellten Regeln, die allerdings vor allem dazu dienten, dass die schwarzen Völker sich unterordneten und das Leben für die weißen Siedler angenehm verlief. Noch immer gab es hin und wieder Übergriffe von aufständischen Gruppen, die sich jeglicher Kontrolle durch die Schutztruppe entzogen.

Morenga war noch im September 1907 von der britischen Kapppolizei getötet worden, und erst im März dieses Jahres hatte Simon Kopper weitere Aufständische um sich versammelt, woraufhin es auf britischem Gebiet zu einem Gefecht kam. Die überlebenden Nama mussten sich tief in die Kalahari16 zurückziehen, wo sie bis heute lebten. Auch Abraham Rohlfs, ein Unterführer Morengas, scharte noch eine Gruppe Rebellen um sich und verübte weiterhin Überfälle auf deutsche Siedler. Dabei hatten sie ohnehin keine Chance mehr, sich der ungeliebten Eindringlinge zu entledigen. Ihre Attacken waren nur kleine Nadelstiche gegen die Besatzer, das hatte Philippe Udako erklärt und dabei deutlich gemacht, wie differenziert er die Kolonialbestrebungen nicht nur der Deutschen, sondern auch der Franzosen, der Engländer und aller anderen Kolonialmächte sah.

Philippe … Udako lächelte beim Gedanken an ihn. Im Licht der Sterne hob sich das Weiß ihre Zähne und ihrer Augen auffällig von ihrem dunklen Gesicht ab. Ein sehnsüchtiges Ziehen breitete sich in ihr aus, steigerte sich zu einem körperlich spürbaren Schmerz. Sie vermisste den deutschen Leutnant mehr, als es gut für sie war. Es gab viele Frauen, die sich mit den Besatzern einließen. Einige von ihnen lebten trotz des aufgehobenen Ehegesetzes noch immer mit ihnen zusammen und zogen die gemeinsamen Kinder auf. Doch aus ihrer neuen Herzenshaltung erwuchs ein Problem zwischen ihr und Philippe.

Der Schmerz in ihr nahm zu, raubte ihr beinahe den Atem. Ihr war bewusst, dass Philippe sich bereits viel länger in Afrika aufgehalten hatte, als er es musste. Und nun befand er sich seit über drei Monaten auf Heimaturlaub. Lange genug, um sie zu vergessen, um eine andere Frau kennen und lieben zu lernen, um seinen Entschluss, zu ihr zurückzukehren, über den Haufen zu werfen.

Ein Rascheln im Gras und leise Schritte ließen Udako herumfahren. Auch hier, nahe der Niederlassung und des Verwaltungssitzes Windhuk, gab es Raubtiere; sowohl vier- als auch zweibeinige.

Erleichtert atmete sie auf, als sie im Halbdunkel die schmale Silhouette von Benjamin erkannte. Der Junge blieb ein paar Schritte von ihr entfernt stehen und sah sie schweigend an. Noch immer sprach Benjamin mit niemandem – nur mit ihr, und selbst dann brachte er nur ein paar knappe Sätze zustande. Manchmal gelang es ihm lediglich, ein einziges Wort über seine Lippen zu quälen. Nachts schüttelten ihn grauenhafte Albträume, und nicht selten verbrachte Udako Stunden an seinem Lager, bis er endlich wieder eingeschlafen war. Doch genau diese Zuneigung, die Zeit, die sie für ihn opferte, ohne jemals eine Reaktion von ihm einzufordern, brachte allmählich die Mauer aus Furcht, Widerstand und Zorn zum Einsturz. Vermutlich trugen auch die innigen Gebete von Bernhard Walther, dem Missionar, dazu bei.

»Benjamin, du solltest längst schlafen.« Ihre ersten Worte in der nächtlichen Stille erschienen ihr selbst wie Donnerhall und ließen auch das Kind zusammenzucken. »Kannst du nicht einschlafen?«

Benjamin schüttelte den Kopf, und Udako warf einen letzten Blick zum weiten nachtblauen Himmelszelt. Sie vergrub ihre Sehnsucht und den Wunsch, Philippe möge schnell zurückkehren, tief in ihrem Inneren und ging zu dem Jungen hinüber. Ohne ihn zu berühren, denn das gestattete er ihr noch immer nicht, hockte sie sich vor ihm hin.

»Hast du schlecht geträumt?«

»Du warst nicht da«, flüsterte er.

Für einen aufregenden Moment glaubte sie, er würde sich Trost suchend gegen sie lehnen, was er dann aber doch nicht tat. »Und da hast du mich gesucht? Das freut mich, aber eigentlich solltest du das Haus nicht verlassen.«

Benjamin nickte und wandte sich gehorsam um, wobei sein Blick den ihren suchte und wortlos darum bettelte, dass sie ihn zurückbegleitete. Obwohl sie gern noch eine Zeit lang hier draußen in der freien Steppe geblieben wäre, um zu beten und um an Philippe zu denken, tat Udako ihm den Gefallen. Gemeinsam näherten sie sich dem Kral, der Umfriedung aus Dornengebüsch, in der ihre Nutztiere lebten.

Udakos Haut kribbelte, als sie eine federleichte Berührung an ihrer rechten Hand verspürte. Täuschte sie sich oder war das Kind dabei gewesen, ihre Hand zu ergreifen? Die junge Nama ging weiter, als ob nichts geschehen sei, doch in ihrem Herzen erklang ein fröhliches Lied.

Benjamin würde sich mit der Zeit öffnen, das wagte sie nun zu hoffen. Erst ihr, dann auch den Kindern und anderen Erwachsenen hier im Heim. Womöglich war es noch ein langer Prozess bis dahin, aber die verletzte Seele des Jungen hatte die Chance zu heilen … so wie es auch die ihre getan hatte.

Die drückende Schwere, die bisher auf Udako gelastet hatte, löste sich auf wie Frühnebel unter den ersten Sonnenstrahlen. Sollte Philippe sein Versprechen brechen und nicht zu ihr zurückkehren, so hatte sie in diesen Waisenkindern eine erfüllende Aufgabe gefunden, und das war weit mehr, als viele Frauen ihres Volkes im Moment hatten.

***

Philippe band seine Stute an den Rinderpferch und seine hellen Augen suchten die Umgebung des Seitentales ab. Im Gemüsegarten des Waisenhauses kauerten einige Kinder, die mit ihren kleinen Händen sorgfältig das Unkraut zwischen den Nutzpflanzen herauszupften. Die Erde, noch nass von einem um diese Jahreszeit eher seltenen nächtlichen Regenguss, begann unter den ansteigenden Temperaturen zu dampfen, und ein kräftiger, erdiger Geruch breitete sich aus. Kinderstimmen, das Muhen der drei Kühe in ihrem Kral und ferner Gesang einer Gruppe von Schülern erfüllte die Luft.

Endlich war er wieder in Afrika, diesem bezaubernden, noch immer aufregend fremdartigen Land! Mit einem zufriedenen Lächeln ließ der junge Mann das Pferd stehen und machte sich auf die Suche nach Udako.

Die Nama-Frau wurde seit einiger Zeit von dem hier ansässigen Missionar Bernhard Walther unterrichtet, weshalb Philippe annahm, sie würde sich auch an diesem Tag auf der Station aufhalten. Sein Herz klopfte vor Vorfreude kräftig in seiner Brust. Es war über drei Monate her, seit er Afrika verlassen und somit Udako zuletzt gesehen hatte, und in dieser Zeit war ihm immer stärker bewusst geworden, wie viel die junge Frau ihm bedeutete, wie stark ihm ihre Gegenwart, ihre Gespräche, ihr fröhliches Lachen und der eindringliche Blick aus ihren dunklen Augen fehlte. Aus einer anfänglichen Unruhe war eine tiefe Sehnsucht nach ihr geworden, und während der Schiffsreise zurück auf den Schwarzen Kontinent ein fast körperlich spürbarer Schmerz.

Der heisere Schrei eines über dem Kinderheim seine Kreise ziehenden Schwarzen Milans ließ nicht nur die im Garten arbeitenden Kinder, sondern auch Philippe den Kopf heben. Hoch am wolkenlosen blauen Himmel breitete das Tier seine weiten Schwingen aus und glitt im Aufwind mühelos dahin, unberührt von den Sehnsüchten und Wünschen der Menschen.

Fasziniert beobachtete Philippe, wie der Raubvogel unter minimaler Veränderung seiner Flügel- und Schwanzstellung eine zweite Kurvenbahn einleitete, und sofort wanderten seine Gedanken zu den Flugzeugen, die er zu Gesicht bekommen hatte.

»Philippe?«

Udakos Stimme riss ihn in die Gegenwart zurück – in ihre Gegenwart! Ein glückliches Lächeln breitete sich auf seinem jetzt bärtigen Gesicht aus. Die Frau, der die ganze Liebe seines einst getriebenen Herzens galt, stand in der Tür des Hauptgebäudes. Sie hielt einen schmächtigen Jungen an der Hand, und in ihrem Gesicht mit dem für die Nama typischen beinahe schwarzen Hautton mit rötlichem Einschlag spiegelte sich die Freude über seinen Anblick.

Der Wind brachte ihre leichte Bluse zum Flattern und darunter zeichnete sich ihr perfekt geformter Körper ab. Udako und er sahen sich lange in die Augen. Die Anwesenheit der Kinder war vergessen, ihre Stimmen nahm Philippe kaum mehr wahr. Nichts war wichtig außer Udako. Spürte auch sie diese innige Verbundenheit zwischen ihnen? Ein Gefühl der Nähe, das ihn nicht einmal in weiter Ferne verlassen hatte? Ob sie ihm ansah, wie sehr es ihn danach drängte, sie in die Arme zu ziehen, ihr Gesicht mit seinen Lippen zu liebkosen und sie niemals wieder loszulassen?

Udako senkte den Blick, doch die beinahe magnetische Anziehung, die Philippe empfand, blieb bestehen. Die junge Frau ging in die Hocke, sagte etwas zu dem Kind, und der Kleine drehte sich um und zwängte sich durch einen winzigen Türspalt zurück ins Haupthaus.

Beinahe zögerlich kam sie ihm entgegen und blieb in einigem Abstand stehen. Ihre Zurückhaltung ließ Philippe stutzen. Irgendetwas an ihr erschien ihm verändert. Bei ihrem Abschied hatte sie sich in seine Arme gestürzt und ihn unter Tränen gebeten, nach Windhuk zurückzukehren. Nun wirkte sie gehemmt, reserviert. Sein Hochgefühl stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Mit einer Geste bat sie ihn, ein Stück mit ihr hinaus in die jenseits der Missionsstation beginnende Ebene zu gehen, wobei sie sich bereits abwandte, noch bevor er etwas sagen konnte.

Sie ging hinter seinem Pferd vorbei in einen in die rote Erde gestampften Fußpfad und verließ das mit Dornenhecken umfasste Gelände der Missionsstation. Hinter niedrigen, karstigen Hügeln öffnete sich eine weite, lichtdurchflutete Ebene, abgegrenzt durch die von der Sonne hell beschienenen Auasberge. Hier draußen fegte der Wind deutlich stärker über das Land, wirbelte rote Erde auf und rauschte durch den niedrigen, dürren Pflanzenbewuchs und die wenigen Bäume.

Philippe holte die Frau mit ein paar großen Schritten ein und wechselte seinen Hut mit der einseitig aufgesteckten Krempe in die linke Hand, nur für den Fall, dass sie gewillt sein könnte, seine Hand zu ergreifen. In ihm jedenfalls strebte jede Faser nach einer Berührung von Udako.

»Es gibt also tatsächlich Deutsche, die ihre Versprechen einhalten.« Aus den Augenwinkeln sah Udako ihn an, und er grinste. Zumindest war die Vertrautheit zwischen ihnen noch groß genug, dass sie es wagte, eine kritische Bemerkung bezüglich der Kaiserlichen Schutztruppe abzugeben. Endlich einmal wieder ihrem eigenwilligen Deutsch zu lauschen entlockte ihm ein wohliges Seufzen.

»Geht es dir gut, Udako?«

»Mir ging es niemals besser. Und genau das ist der Grund, weshalb ich dringend mit dir sprechen muss.«

»Ich weiß es: du hast dich in den alten Missionar verliebt und …«

»Deine Witze waren schon scharfsinniger.«

»Entschuldige.«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch schnell wandte sie sich in Richtung des entfernten Gebirgszuges ab. »In den letzten Wochen hat sich mein Leben grundlegend verändert.«

»Sicher, ich war ja nicht da …«

Eine Handbewegung von ihr unterbrach Philippes spöttische Worte. Beunruhigt schlug er sich mit seinem Armeehut gegen das Knie. Was auch immer mit Udako geschehen war, diese Veränderung hielt sie auf Abstand von ihm. Bei diesem Gespräch konnte demnach nichts Gutes für ihn herauskommen.

In seinem Inneren brodelten Schmerz, Vorwürfe und die heiße Angst hoch, erneut verlassen und verstoßen zu werden, wie Lava in der Magmakammer eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch. War es denn nicht genug, dass sein Vater kein Interesse an ihm gezeigt, seine Mutter ihn einfach verlassen und der alte Meindorff ihn zwar in seinem Haus aufgezogen, aber keinerlei Zuneigung für ihn übrig gehabt hatte, ebenso wie seine Gattin? Würde nun die einzige Frau, für die er je mehr als oberflächliche Zuneigung empfunden hatte, ihm den Rücken kehren?

Philippe fühlte sich wieder wie ein kleiner Junge; schutz- und hilflos, und er hasste es! »Na, komm schon. Spuck es aus«, sagte er mit mehr Kälte und Vorwurf in der Stimme, als er geplant hatte.

Seine Begleiterin blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um.

Wieder spielte der Wind einladend mit ihrer Kleidung, sodass Philippe kräftig die Zähne aufeinanderbeißen musste, um sie nicht an sich zu reißen oder die Flucht zu ergreifen.

»Momentan kommst du mir vor wie dieser Waisenjunge, den du eben gesehen hast. Er hat sich lange Zeit mit Stillschweigen und Drohgebärden gegen jede Zuneigung gewehrt.« Udako neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte ihn nachdenklich. »Ich verstehe dich«, murmelte sie auf sein Schweigen hin, und für einen Moment glaubte Philippe, alles würde wieder sein wie früher. Doch dann wich sie einen Schritt zurück, als müsse sie einen Sicherheitsabstand zwischen ihn und sich bringen, während ihre Augen voller Wärme und Herzlichkeit auf ihn gerichtet blieben. »Du weißt, dass der Herr Missionar oft von dem tiefen Graben spricht, der zwischen Gott und den Menschen besteht? Und von der Brücke, die Gottes Sohn über den Graben schlug, durch das Holz des Kreuzes?«

Philippe nickte und übte sich in Geduld. Was wollte Udako ihm erklären? Die Meindorffs waren eine Familie mit christlicher Tradition. Das, was Udako in den letzten Monaten gelernt hatte, war Teil seiner Erziehung gewesen. Gott, der Schöpfer des Universums, der Heilige Geist als Geber des Glaubens, Jesus Christus als Versöhner zwischen Gott und dessen gefallener Kreatur, dem Menschen. Gottesdienste, kirchliche Feiertage, Taufen, Trauungen, Beerdigungen im Schatten des Kirchturms, all das war ihm nur zu vertraut.

Udako klatschte einmal kräftig in die Hände, wohl, weil sie bemerkte, wie wenig Aufmerksamkeit er ihren Worten schenkte. »Denkst du nicht, du solltest der Frau, von der du behauptest, du liebst sie, zumindest zuhören?«

»Entschuldige bitte, Udako. Sprich weiter.« Breitbeinig und mit im Nacken gefalteten Händen stählte er sich für die Worte, die nun kommen und sein Herz in zwei Teile zerreißen würden.

»Vor ein paar Wochen habe ich verstanden, dass dieser Jesus mich genau kennt und mich meiner Fehler zum Trotz liebt. Er ist auch für mich gestorben und hat für mich den Holzbalken, auf dem er gemartert wurde, über den Abgrund gelegt. Und ich bin hinübergegangen.«

»Das ist doch schön«, sagte Philippe vage und spürte eine Spur von Erleichterung in sich. Das war auf jeden Fall deutlich weniger heikel, als wenn sie irgendwelchen heidnischen Ritualen ihrer Vorfahren nachkommen wollte.

»Ja, das ist es. Ich fühle mich jetzt frei. Frei von dem Zwang, krampfhaft die Vergangenheit festzuhalten, frei von dem Hass auf die Soldaten, die meine Familie auf dem Gewissen haben, und frei von dem Wunsch, mich zu rächen.«

Philippe schwieg betroffen, löste aber die Hände aus dem Nacken. Obwohl er um Udakos traurige Vergangenheit wusste, war ihm nicht bewusst gewesen, welche unheilvollen Gefühle sie gegen die Kaiserlichen Schutztruppen hegte. Ob sie ihm jetzt ins Gesicht sagen würde, dass sie ihn nur als Opfer für ihre Rache ausgesucht hatte, um ihm eines Tages fürchterlich wehzutun? Ahnte sie nicht, dass sie genau das gerade tat, denn kaum etwas konnte ihn so sehr quälen wie der Verlust ihrer Liebe!

Udako verschränkte die Arme vor ihrem Körper, und Philippe wurde den Verdacht nicht los, sie habe ihr Gespräch unterbrochen, weil sie betete. Er respektierte das, wenngleich es ihn auch irritierte. Schließlich straffte Udako die Schultern und sah ihm wieder offen ins Gesicht. »Ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein, es sei denn …«

»Moment, Udako!« Philippe unterbrach sie barsch, was ein missbilligendes Zusammenziehen ihrer Augenbrauen zur Folge hatte.

Entschuldigend zog er die Schultern in die Höhe. »Ich wollte dich heute bitten, meine Frau zu werden und mit mir nach Kanada zu ziehen, und jetzt kommst du und …«

Auf Udakos Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, so hell wie die afrikanische Sonne, was Philippe erst recht aus dem Konzept brachte. Sie sah ja so aus, als freue sie sich über sein Geständnis!

»Damit erfüllst du eine meiner beiden Bedingungen ja bereits! Ich möchte den Schutz einer Ehe, damit unsere Liebe gut aufgehoben ist.« Udakos Stimme zitterte. Ihr Nama-Akzent war in diesem Augenblick so stark ausgeprägt, dass er Mühe hatte, sie zu verstehen, zumal sich einige Klick-und Schnalzlaute in ihre Worte schummelten.

Endlich löste sich seine Erstarrung und er trat dicht vor sie. Noch immer lag dieses wunderschöne Lächeln auf ihrem dunklen Gesicht, aber er nahm sie schweren Herzens noch nicht in die Arme, denn immerhin hatte sie von einer zweiten Bedingung gesprochen.

Auch sie kämpfte sichtlich mit ihren Gefühlen und wich etwas zurück, während sie nervös ihre Finger knetete. In Philippes Augen wirkte sie unendlich verletzlich. Dennoch wartete er ab, hoffte, war beinahe versucht, ebenfalls zu beten. Udakos zweiter Wunsch war vielleicht für ihn nicht so leicht erfüllbar wie ihr erster.

»Ich heirate dich, Philippe, sobald du mir sagst, dass du meinen neuen Glauben nicht nur akzeptierst, sondern ihn teilst.«

Eine Glocke klang von der Station über die Grasfläche, und Udako wandte den Kopf in die Richtung des Waisenhauses. Fast euphorisch öffnete Philippe den Mund, um ihr weitreichende Versprechungen hinsichtlich ihres Wunsches zu geben, doch sie hob Einhalt gebietend ihre Rechte.

»Mach dir bitte ernsthaft Gedanken darüber. Nimm dir am besten ein paar Wochen Zeit dafür!«

»Das brauche ich nicht.«

»Ich wünsche es mir aber«, erwiderte sie mit fester Stimme, drehte sich um und eilte in Richtung Station davon.

Nachdem er sie eingeholt hatte, ergriff Philippe sie am Handgelenk.

»Der christliche Glaube ist doch nichts Neues für mich, Udako.«

Sie unterbrach ihn sofort, entzog ihm sogar ihre Hand. »Das weiß ich, aber ich bin mir nicht sicher, wie tief er in deinem Herzen verankert ist. Darüber sollst du nachdenken.«

Erneut legte er ein paar Meter im Laufschritt zurück, damit er sich wieder an ihre Seite gesellen konnte. Es war offensichtlich, wie unumstößlich Udako ihren Standpunkt vertrat und das einforderte, was ihr Name bedeutete: Respekt.

»Ich muss gleich zu Gouverneur von Schuckmann und Oberstleutnant von Estorff. Sie sprachen von einem speziellen, längerfristigen Auftrag für mich. Ich werde mir die Zeit also nehmen.«

»Danke, Philippe.« Udako lächelte ihn schmerzhaft betörend an, huschte an seinem Pferd vorbei und verschwand im Inneren des Gebäudes.

Himmel ueber fremdem Land
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