Kapitel 13

Berlin, Deutsches Reich,
März 1908

Philippe unterdrückte das Verlangen, die Tür zum Arbeitszimmer seines Ziehvaters zuzuschlagen. Mit energischen Schritten durchquerte er die Halle und riss die Tür zur Bibliothek auf, wo er zwei Personen gegenüberstand, mit denen er nicht gerechnet hatte: die lustige kleine Schwester von Josephs Frau und Henriette Cronberg, an die er sich nur zu gut aus seinen eigenen Kindheitstagen erinnerte. Bei seinem stürmischen Eintritt hatten sich die beiden erschrocken umgedreht.

Ein schweres Buch, das Demy auf ihrem Kopf balanciert hatte, fiel herunter, doch sie fing es reaktionsschnell auf. Einen Moment lang bedauerte Philippe, dass auch aus diesem lebhaften Mädchen eines dieser blutleeren, wohlerzogenen Püppchen werden sollte, wie es sie in den Häusern der Adeligen und des gehobenen Bürgertums zur Genüge gab.

Er hatte eigentlich erwartet, Hannes hier anzutreffen, und wandte sich zum Gehen um, überlegte es sich dann aber anders. »Entschuldigen Sie die Störung … ich möchte mich von Fräulein Demy verabschieden«, erklärte er, und Henriette nickte in seine Richtung, was er als Aufforderung verstand, dies unverzüglich zu tun.

Philippe streckte Demy die Rechte entgegen. Sie sah ihn misstrauisch an, während sich auf ihrer Nasenwurzel eine kleine Querfalte bildete. Ihre Vorsicht war in Anbetracht seines Verhaltens ihr gegenüber nur verständlich; dennoch legte sie ihre kleine Hand in seine. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«

»Danke. Bleib, wie du bist. Diesem Haus tut es ganz gut, wenn wenigstens eine Person offen sagt, was sie denkt!«

»Wann kommen Sie zurück?«

»Das steht in den Sternen, schwarzes Schäfchen.« Er überhörte Henriettes warnendes Räuspern und zwinkerte Demy verschwörerisch zu, obwohl das aufgebrachte Funkeln in ihren blauen Augen nicht zu übersehen war.

»Wie schade, dass Sie den Zeitpunkt Ihrer Rückkehr nicht vorherbestimmen können, denn dann könnte ich mich rechtzeitig auf Ihre uncharmante Gegenwart vorbereiten.«

Der Offizier grinste, als die Gouvernante sich ein zweites Mal rügend räusperte, dabei allerdings amüsiert das Gesicht verzog. Er ließ die kindliche Hand los und verbeugte sich so galant, wie sie es ihm beigebracht hatte, vor der Erzieherin. »Es war mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Frau Cronberg.« Damit deutete er über ihrer Hand einen Kuss an und fügte hinzu: »Viel Vergnügen mit dem kleinen Wildfang. Und tun Sie ihr, sich und mir einen Gefallen und lassen Sie ihr ein wenig von Ihrem Eigenwillen!«

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, hörte er, wie eines der teuren Bücher Meindorffs geräuschvoll auf den blank gebohnerten Parkettboden klatschte.

Philippe fand Hannes im Blauen Salon, wo er über eine Berliner Zeitung gebeugt dasaß und aufmerksam einen Artikel zur Eröffnung eines neuen Bierbrauereibetriebes las.

»Ein weiterer Konkurrent für die Fabrik meines Bruders«, sagte er, strich aber mit einer Handbewegung den kurzen Augenblick der Sorge beiseite. Er war nicht der Typ, der sich tiefschürfende Gedanken um irgendetwas machte. »Es war mal wieder ziemlich laut, dein Gespräch mit Vater.« Neugierig sah Hannes ihn an und rückte ihm mit der Schuhspitze einen Sessel zurecht.

Mit einem Kopfschütteln trat Philippe an die Fensterfront. Er war viel zu aufgewühlt und verärgert, um es sich bequem zu machen. Er verstand durchaus, dass der Rittmeister sich nicht nachhaltig für ihn interessierte; er wünschte nur, sein Ziehvater würde im Gegenzug auch aufhören, sich ständig in sein Privatleben einzumischen und ihn mit Regeln und Verboten einzuengen. Er war erwachsen und würde seinen Weg gehen – wohin der ihn auch führen mochte. Dafür brauchte er weder die Zustimmung noch die Ablehnung seines Ziehvaters.

»Dein Vater will mich noch immer mit einem dieser Mädchen aus seinem Bekanntenkreis verheiraten.«

»Mit Brigitte?«

Philippe brummte bei dem Gedanken an das blasse Mädchen in rosafarbenem Tüll und Seide, das sich ihm am Tage vor der Vermählung von Joseph und Tilla ungeniert aufgedrängt hatte, nur leise vor sich hin. Er erinnerte sich an den süßlichen Duft ihres Parfums, an ihre weichen Lippen und den verführerischen Körper, der sich einladend gegen seinen gepresst hatte. Ob Brigitte bewusst war, dass nicht jeder Mann, dem man sich in dieser Weise aufdrängte, an dem Punkt, den sie nicht überschreiten wollte, wieder zur Vernunft kam?

»Gebt diesen Frauen etwas zu tun«, lautete sein einziger Kommentar zu Brigitte.

»Oder Adele, dieses Mädchen, das Joseph vorgeschlagen hatte, da du dich ja hartnäckig weigerst, eine von Vaters Kandidatinnen vor den Traualtar zu führen?«

Der Leutnant taxierte seinen Freund, um zu sehen, wie ernst er seine Worte meinte. Dessen Grinsen ersparte ihm eine Antwort. »Udako«, sagte er stattdessen. Allein die Erinnerung an das dunkelhäutige Mädchen mit dem krausen Lockenkopf und ihrem umwerfend fröhlichen Lachen erwärmte sein Herz.

Hannes hob die Augenbrauen, warf die Zeitung auf den Tisch und gesellte sich neben ihn ans Fenster. Gemeinsam schauten sie hinaus in den mit bunten Frühlingsblüten geschmückten Garten. »Du hast Vater von ihr erzählt?«

»Ja, warum nicht?«

»Warum nicht?! Es wundert mich, dass man ihn nur bis ins Foyer und nicht auf der Straße gehört hat! Er akzeptiert, dass so mancher Kolonialist in Afrika eine Negerin heiratet, weil kaum Frauen aus der deutschen Heimat in das fremde Land übersiedeln wollen oder das Klima nicht vertragen. Aber du bist nur auf Zeit dort – sogar schon länger, als es deine Dienstzeit eigentlich erfordert. Du bist nicht gezwungen, eine Einheimische zu heiraten.«

»Denkst du ebenso?« Philippes Stimme klang drohend, und seine Kiefermuskeln arbeiteten, ein deutliches Zeichen dafür, dass er um Fassung rang.

»Ich war noch nie in Deutsch-Südwestafrika und habe noch keinen Neger zu Gesicht bekommen. Das Einzige, was ich mitbekommen habe, ist, dass der Aufstand in Deutschland eine Regierungskrise auslöste, was zur Folge hatte, dass der Reichstag neu gewählt werden musste12. Was soll ich also von ihnen halten?«

»Es gibt unter ihnen, ebenso wie überall auf der Welt, sympathische und unfreundliche, hilfsbereite und egoistische, treue und korrupte Menschen. Udako ist eine intelligente, liebenswerte Frau mit einem feinen Sinn für Humor. Sie durchläuft im Moment eine Ausbildung auf einer der Missionsstationen. Sie ist wunderschön und weiß sowohl ihren Verstand, als auch ihre Hände zu benutzen. Udako verdient das, was ihr Name aussagt: Respekt!«

Mit einem leichten Lächeln um die Lippen blickte Philippe auf den blühenden Magnolienbaum hinaus, dessen weiße Kerzenblüten ebenso bezaubernd waren wie die Frau, der er sein Herz schenken wollte. Erst nachdem er bemerkte, dass Hannes auf seine kleine Rede hin in Schweigen verfallen war, wandte er sich von dem hübschen Anblick ab, lehnte sich mit der Schulter an die kühle Scheibe und sah seinen Freund fragend an.

Dieser grinste spöttisch. »Du klingst verliebt, alter Casanova. Dass ich das noch erleben darf!«

Gleichfalls mit einem Lächeln auf den Lippen zog Philippe seine linke Schulter in einem kurzen Zucken nach oben. »Du würdest sie mögen. Nicht so, wie du die arme ins Haus geschmuggelte Kleine magst oder wie du vermutlich Edith mögen wirst, solltest du dich nochmals mit ihr treffen. Aber auf eine Art, die ich dir zugestehen würde.«

»Vater wird einer solchen Verbindung niemals zustimmen, das weißt du.«

»Dein Vater weiß nicht alles. Er glaubt mir auch nicht, dass wir auf einen Krieg zusteuern. Ich hingegen bin davon überzeugt. Weshalb sollte ich dann in einer so persönlichen Sache auf ihn hören?«

»Krieg, Philippe? Bis jetzt konnten noch alle Streitigkeiten in den Kolonien durch diplomatische Gespräche friedlich gelöst werden.«

»Weshalb schaut jeder, wenn ich das Wort Krieg ausspreche, nach Afrika oder in eine der anderen Kolonien?«

»Wohin denn sonst?«

»Zuerst einmal in das eigene Land. Ihr Großbürgerlichen seid wie unser Adel so tief in eurer kleinen, elitären Welt gefangen und merkt nicht, wie es im einfachen Volk brodelt – und das, obwohl wir keine reine Monarchie mehr sind. Vielen Menschen im Kaiserreich geht es erschreckend schlecht. Gleichzeitig haben sie aber immerzu euren Prunk und euren Wohlstand vor Augen. Die Menschen, selbst die Frauen der Arbeiterklasse, sind mündiger, offener, mutiger als noch vor zehn Jahren. Sie wollen ihr Leben selbst bestimmen, fordern Gerechtigkeit und Gleichheit. Der Kaiser kommt durch die Eulenburg-Affäre13 und die damit verbundenen Vorwürfe, von einer Kamarilla aus Homosexuellen umgeben zu sein, derzeit ohnehin nicht gut weg. Das ändert sich auch nicht, wenn sie Maximilian Harden mit einem Urteil wegen übler Nachrede wegsperren.« Philippe warf dem schweigsamen Hannes einen bedeutungsvollen Blick zu. »Und was die Krisen außerhalb des Kaiserreichs betrifft, Hannes, wirf mal einen Blick hinüber nach Frankreich, nach England oder nach Russland. Deutschland ist eine Großmacht geworden! Sowohl was den Maschinenbau als auch die Entwicklung in der Chemie angeht. England fühlt sich aufgrund der zunehmenden deutschen Präsenz auf den Meeren in seiner Führungsrolle als Seemacht bedroht. Der Reichstag hat erst letztens ein neues Flottengesetz angenommen. Bis 1911 sollen vier statt zwei Schlachtschiffe nach dem englischen Vorbild gebaut werden. Wir haben wild wuchernde Bündnisse hin und her, unter anderem auch mit den Habsburgern, und die provozieren ununterbrochen Unruhen auf dem Balkan, ohne ihre militärischen Ressourcen auszuweiten, ihre Militärstrukturen zu erneuern oder beim Wettlauf um die modernen Techniken mithalten zu können. Kaiser Wilhelm trifft sich in diesen Tagen mit dem italienischen König Viktor Emanuel III., um sich der Bündnistreue des Dreibund-Partners zu versichern. Und vielleicht käme dem russischen Zaren ein Krieg gerade recht, könnte er dadurch doch den im Untergrund arbeitenden Revolutionären die Suppe versalzen, weil sein unzufriedenes Volk auf Kriegsschauplätzen beschäftigt ist.«

»Du übersiehst bei alledem aber eines«, ergriff Hannes das Wort. »Die deutschen, britischen und russischen Herrscherhäuser sind allesamt eng miteinander verwandt.«

»Du meinst, wir könnten getrost mit Frankreich einen Krieg anfangen, ohne mit der Intervention der Briten oder der Russen rechnen zu müssen?«

»Sollten sie denn Interesse daran zeigen, ihren Blutsverwandten in den Rücken zu fallen?«

»Gab es in der Geschichte nicht genug Brudermorde, nicht ausreichend Kriege naher Verwandter gegeneinander? Und nicht immer gibt es eine Elisabeth von Portugal, die unbewaffnet zwischen die Armeen ihres Mannes König Dionysius von Portugal und ihres Sohnes Alfons IV. reitet, um eine Schlacht zwischen Vater und Sohn zu verhindern.«

»Und wenn schon. Wenn wir so eine Großmacht sind, wie du sagst, was sollte uns dann im Kriegsfalle passieren?«

»Du besitzt mittlerweile dieselbe Überheblichkeit und Arroganz wie deine sonstige Sippschaft.«

»Zu der du übrigens auch gehörst, Philippe Meindorff

»Ich bin doch nur das schwarze Schaf!« Philippe grinste schief, was Hannes veranlasste, ihm kameradschaftlich auf die Schulter zu klopfen.

»Genau, und deshalb darfst du auch unken und uns später die Schuld in die Schuhe schieben, sollte es in naher Zukunft ein paar Scharmützel zwischen der deutschen kaiserlichen Armee und ein paar Franzosen, Briten oder Russen geben.«

»Ein oder wäre noch überschaubar, ein und, was ich aufgrund der vielen Bündnisse eher befürchte, könnte einer Katastrophe gleichkommen.«

»Du siehst zu schwarz. Gehe zurück in das heiße Afrika, hab ein bisschen Spaß dort, und du wirst sehen, deine Sorgen lösen sich in Luft auf.«

Philippe schwieg betroffen, glaubte er doch eine Spur von Enttäuschung in Hannes’ Stimme wahrzunehmen. Es war demnach so, wie er vermutete: Die Jugend dieses Landes fühlte sich bereit für einen Krieg. Doch er hatte in Afrika in dessen hässliches Gesicht schauen müssen und war keineswegs auf eine Wiederholung der Erlebnisse aus …

***

Ein lauer Wind brachte die Äste der Parkbäume in Bewegung und das Rascheln ihrer noch jungen Blätter klang wie eine geflüsterte Warnung, vorsichtig zu sein. Demy warf einen prüfenden Blick in den Garten und einen zweiten in Richtung der Fenster des herrschaftlichen Stadthauses. Die Sonne spiegelte sich in ihnen, sodass es ihr unmöglich war zu erkennen, ob jemand hinter den Glasscheiben stand und sie beobachtete. Einen Augenblick zögerte sie noch, ehe sie sich zwischen ein paar Haselnusssträuchern hindurchdrückte. Eine Amsel floh aufgebracht zeternd.

Das Mädchen lief auf dem schmalen Pfad zwischen den Büschen und der Grundstücksmauer entlang bis zu der Stelle, an der ihr ein paar aus der Mauer gebrochene Steine die Möglichkeit boten, hinaufzuklettern und auf der anderen Seite auf einen schmalen Wiesenstreifen hinunterzuspringen.

Auch hier gewährten einige Büsche ihr einen perfekten Schutz vor den Blicken der Passanten. Diesmal war sie bei Weitem nicht mehr so aufgeregt wie noch vor einer Woche, als sie das erste Mal diesen Weg benutzt hatte, um ungesehen das Grundstück zu verlassen. Zufrieden strich sie ihr einfaches Kostüm glatt und eilte am Schloss Charlottenburg vorbei zu ihrem Treffpunkt am Teich.

Lieselotte saß bereits neben der Fußgängerbrücke im Gras und starrte mit düsterer Miene vor sich hin. Der Fluss plätscherte nach den Regenfällen der vergangenen Tage nahezu wild durch sein Bett, während das nach dem Winter noch braune Schilf sanft vor und zurück schwankte. Ringsum blühten die Bäume und Büsche in herrlichem Weiß, Gelb und Rosa und verströmten einen angenehmen Duft.

Von den Kindern war keines zu sehen, was Demy erstaunte. Mit großen Schritten eilte sie zu ihrer Freundin, die ihr heute nicht mehr als ein gequältes Lächeln zur Begrüßung schenkte.

»Wo sind denn deine Brüder und die Mädchen?« Atemlos ließ sich Demy neben der Freundin ins Gras fallen.

»Die Schule hat wieder begonnen. Willi und Peter haben Unterricht.«

Fragend hob Demy die Augenbrauen. Auch Lieselotte hatte sich auf den Schulbeginn gefreut; sie wollte ihren Horizont erweitern und unabhängig werden.

Nun schlug Lieselotte aufgebracht mit den Fäusten auf das sorgsam gekürzte Gras der Parkanlage ein. »Ich darf nicht auf das Gymnasium gehen. Dort unterrichten sie nur die Elite. Mir fehlt es an Grundwissen und an den finanziellen Mitteln.« Lieselottes Stimme klang mühsam beherrscht, doch der in ihre Augen tretende Glanz verriet, wie nahe sie den Tränen war.

»Die Mittelschule …?«

Lieselotte unterbrach sie sofort. »Das können wir uns auch nicht leisten. Außerdem wird in den Landschulen, wie ich sie besucht habe, ausschließlich Religion, Lesen, Rechnen und Geschichte unterrichtet, wobei unser Geschichtsunterricht sich im Grunde bloß um Bismarck drehte und uns die Liebe zum preußischen Staat und zum Soldatentum eingetrichtert wurde. Ein Witz, vor allem für uns Mädchen.«

Demy sah die Freundin mitfühlend an und diese redete weiter: »Hier in der Stadt vermitteln die Lehrer Grundlagen der Naturwissenschaften, Zeichnen und mehr. Ich habe davon keine Ahnung und würde vermutlich selbst auf der Volksschule nicht mithalten können. Aber für die bin ich ohnehin zu alt.«

Lieselotte verstummte heftig atmend, und Demy schwieg verwirrt. Ihre Freundin war so anders als die jungen Frauen, die sie kannte. Sie hatte einen unbändigen Lernwillen in sich, wollte Wissen ansammeln und im Leben vorankommen, dabei aber keinesfalls eine Ehe eingehen, um den Rest ihres Lebens Hausfrau und Mutter zu sein. Es war einfach nicht fair, dass ausgerechnet ihr eine gute Schulbildung verwehrt blieb, während andere Mädchen, deren vorrangiges Ziel es war, baldmöglichst einen angesehenen, reichen Ehemann zu heiraten, sich durch den Unterricht quälten.

Demys Schulausbildung war abgebrochen worden, als Tilla darauf bestanden hatte, sie mit nach Berlin zu nehmen. Inzwischen erhielt sie bei Henriette und den von ihr engagierten Lehrern einen hochqualifizierten Unterricht, der ihr sehr viel Freude bereitete. Dennoch war ihr Lebensweg durch Tillas egoistische Handlungsweise im Prinzip vorgezeichnet, denn sie würde wohl zeitlebens Tillas Anhängsel bleiben, es sei denn, sie fand einen Ehemann und bekam eigene Kinder.

Demy zwang sich in die Gegenwart zurück. Ein filigraner Zitronenfalter flatterte um ihre ausgestreckten Beine. Im Teich schnatterten ein paar Enten aufgeregt mit den Flügeln schlagend, da sich ihnen das Schoßhündchen einer im Park flanierenden Dame näherte.

»Vielleicht kannst du mit mir gemeinsam meinen Unterricht besuchen«, murmelte sie nachdenklich.

Ihre Freundin lachte hell auf. »Du träumst wohl! Unmöglich kann ich das Haus betreten, in dem du für eine gnädige Frau arbeitest, und dort deinem Unterricht beiwohnen. Zumal es schon erstaunlich genug ist, dass du überhaupt Unterricht erhältst, denn diesen Leuten ist es doch viel lieber, wenn wir einfachen Leute dumm und einfältig bleiben. Dadurch sind wir viel leichter zu beherrschen.«

»Nein, diese Familie ist nicht so schrecklich!« Missbilligend runzelte Demy die Stirn, denn immerhin sprach Lieselotte von ihrer Schwester, was sie ihr aber nicht verraten durfte.

Die Ältere ergriff ihre Hand und drückte sie. »Demy, ich weiß, du meinst es gut. Dafür danke ich dir. Vermutlich suchen meine Eltern einen Arbeitsplatz in einer der Fabriken für mich. Dann arbeite ich zwölf Stunden oder mehr am Tag und habe gar keine Zeit für Unterricht.«

»Und wenn ich dich unterrichte? Abends oder an den Sonntagen? Ich könnte dir einfach alles beibringen, was ich lerne, und auch deinen Brüdern zusätzlichen Unterricht erteilen. Vielleicht gelingt es ihnen dann später, eine höhere Schule zu besuchen?«

»Du willst mich unterrichten? Du bist drei Jahre jünger als ich!« Lieselotte sah sie beinahe vorwurfsvoll an, was Demy leicht mit den Schultern zucken ließ. Mit Sicherheit war ihre Schulbildung besser als die eines ehemaligen Bauernmädchens, zumal sie zurzeit Unterricht auf ausgesprochen hohem Niveau erhielt. Wenn das Altersproblem Lieselotte daran hinderte, auf ihr Angebot einzugehen, war es mit ihrem Lerneifer wohl doch nicht so weit her.

»Ich überlege es mir. Aber das Angebot für Willi und Peter finde ich gut. Sie hätten am Spätnachmittag Zeit. Nur bezahlen kann meine Familie dir den Unterricht leider nicht.«

»Davon war auch nie die Rede. Dann ist das also abgemacht. Nur, wo treffen wir uns?« Demy war nicht erpicht darauf, tagtäglich durch das Scheunenviertel zu spazieren, und vor einer erneuten Begegnung mit dem Vater der Kinder fürchtete sie sich regelrecht.

»Jetzt im Sommer kommen die Jungs einfach hierher«, überlegte Lieselotte laut. »Falls es regnet, reicht der überdachte Eingangsbereich des Mausoleums als Schutz. Für die kälteren Tage finde ich noch einen passenden Raum.«

»Die Kinder sollen allein bis zum Charlottenburger Schlosspark gehen?«

Das ältere Mädchen lachte über Demys Entsetzen. »Sie sind häufig in der Stadt unterwegs. Das sind keine behüteten und bewachten kleinen Adeligen. Was sollte ihnen denn passieren? Die einzige Gefahr sind die rücksichtslos fahrenden Reichen in ihren Automobilen und die Polizisten, die Kinder in alter Kleidung von vornherein für Diebe halten.«

Unangenehm berührt schwieg Demy. Vermutlich hatte ihre Freundin recht. Menschen in ärmlicher Garderobe wurden von den Polizisten besonders im Auge behalten, die Bessersituierten der Berliner Bevölkerung nahmen sie dagegen gar nicht wahr. Dies war einer der Gründe, weshalb Demy neuerdings ihre schicken Ensembles mied, dem Unwillen des alten Meindorff zum Trotz. In ihrem einfachen Rock und der unauffälligen Bluse fühlte sie sich vor einer Entdeckung durch etwaige Geschäftsfreunde der Meindorffs sicher. Obendrein begegnete sie dem Hausherrn so selten, dass er ihre Weigerung, sich dem Ansehen des Hauses angemessen zu kleiden, noch gar nicht bemerkt hatte.

»Was ist mit Helene? Müssen deine Brüder nachmittags nicht auf sie aufpassen, vor allem, wenn du arbeiten gehst und keine Zeit mehr für sie hast? Sie ist zwar erst drei Jahre alt, aber ich entwerfe gern für sie Bilder zum Ausmalen oder bringe ihr Reime und Spiele bei, oder …«

»Helene ist krank.« Erneut verzog Lieselotte ihren Mund zu einem verkniffenen, abwärtsführenden Bogen.

»Sie kann die Zwillinge begleiten, sobald sie genesen ist«, schlug Demy enthusiastisch vor. Bereits jetzt freute sie sich darauf, Lieselottes Geschwister zu unterrichten. Damit würde ihr Alltag einen Sinn erhalten, und sie konnte weitergeben, was sie selbst gelernt hatte.

»Falls sie wieder gesund wird.«

Demy presste erschrocken die Lippen aufeinander und musterte ihr Gegenüber mit nachdenklichem Blick. Ging es dem kleinen Mädchen so schlecht? Die Familie Scheffler hatte doch sicher eine der hier im Deutschen Reich von Bismarck initiierten Krankenversicherungen, dank derer sie das Kind von einem Arzt behandeln lassen konnten.

»Was fehlt ihr denn?«, hakte sie mit belegter Stimme nach.

Nach einem schlichten Schulterzucken drehte Lieselotte den Kopf fort, was Demy noch mehr beunruhigte. Stand es um Helene so schlecht, dass ihre Freundin die Tränen, die ihr in den Augen brannten, vor ihr versteckte?

»Sie fiebert und hustet.«

»Dein Vater kümmert sich um sie?«

»Er ist auf Arbeitssuche.«

»Aber …« Erschrocken rümpfte Demy die Nase. »Wer ist im Moment bei ihr?«, fragte sie, entsetzt bei der Vorstellung, man könne das kranke Mädchen allein in der düsteren, muffigen Wohnung zurückgelassen haben.

»Meine Mutter.«

Demy musste nicht weiter nachfragen, denn aus Lieselotte platzte es heraus: »Sie war einen halben Tag nicht auf der Arbeit, weil Helene krank wurde und Vater nicht da war. Und schon hat dieser Halsabschneider von Arbeitgeber sie rausgeworfen!« Die junge Frau rupfte wütend Grashalme aus der Wiese und warf sie von sich, wobei die leichten Halme, gemessen an der Wut, die sie empfand, viel zu schnell und kraftlos zu Boden fielen.

»Das ist ja schrecklich. Kann ich irgendwie helfen?«

»Selbstverständlich. Beklaue deine stinkreiche gnädige Dame und gib mir das Geld, damit besorge ich Medikamente und einen besseren Arzt für Helene.«

»Lieselotte!« Entsetzt über ihre Wortwahl und über den Vorschlag sprang Demy auf die Füße.

Auch Lieselotte erhob sich und stemmte wütend die Hände in die Hüften. »Du hast keine Ahnung wie das ist, Hunger zu leiden oder krank zu sein, ohne Aussicht auf Hilfe; hart zu arbeiten ohne die Chance, jemals genug Geld zu haben, um auch nur das Notwendigste zu kaufen, nicht?«

Demy schwieg und ließ das Mädchen schimpfen. Natürlich hatte Lieselotte recht. Sie kannte diese existenziellen Ängste nicht, wenngleich sie zu Hause in Koudekerke recht bescheiden gelebt hatten. Andererseits wusste Lieselotte nichts von ihrem Leben und ihrem Hintergrund, und empfand ihren Ausbruch daher als nicht gerechtfertigt. Aber vermutlich meinte Lieselotte ohnehin weniger sie selbst als das, was sie oder die Meindorffs verkörperten: Reichtum, Macht und das Bestreben, beides zu vermehren, ohne zu prüfen, auf wessen Kosten dies geschah.

Lieselotte versank in grüblerisches Schweigen. Eine Gesellschaft älterer Damen hatte sich zwischenzeitlich eilends entfernt, während eine Mutter ihre beiden Kinder besorgt an der Hand nahm und sie vom Teich fort in Richtung Mausoleum führte. Lieselottes Gefühlsausbruch sorgte für Aufsehen.

»Entschuldige, Demy. Du kannst ja nichts für unsere Misere. Du bist gut untergekommen. Sei froh darüber!«

Sie war keinesfalls froh über den Umstand, in Berlin gestrandet zu sein, doch schwieg Demy sich darüber aus. Im Vergleich zu den Schefflers ging es ihr tatsächlich ausgesprochen gut. Sie nahm sich fest vor, den Meindorffs und Tilla gegenüber etwas mehr Dankbarkeit an den Tag zu legen.

»Wir machen das mit dem Unterricht für die Jungen so wie besprochen, ja?« Lieselottes Tonfall und der Blick in ihren grauen Augen war bittend. Fürchtete sie, Demy könnte ihr Angebot nach ihrem Gefühlsausbruch zurückziehen? Demy verstand den Wunsch Lieselottes, dass zumindest ihren Brüdern einmal ein besseres Leben beschieden sei, als es ihre Eltern und sie selbst momentan lebten.

Demy straffte die Schultern. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um dem munteren Willi und dem schüchternen Peter dies zu ermöglichen! »Versprochen. Ich treffe Willi und Peter morgen Nachmittag hier. Am besten gehe ich sofort zurück und bereite den Unterricht vor.«

»Wenn ich Arbeit gefunden habe, können wir uns nicht mehr häufig sehen.«

Demy nickte traurig; sie mochte Lieselotte. Ihre Andersartigkeit, ihre Intelligenz und ihre Ehrlichkeit ebenso wie die Fürsorge, die sie ihren Geschwistern gegenüber an den Tag legte, gefielen ihr. Trotzdem konnte Demy mit ihren aufrührerischen, teilweise unfreundlichen Bemerkungen über diejenigen, denen es gesellschaftlich und finanziell besser ging als ihr und ihrer Familie, wenig anfangen. Lieselottes provozierende Äußerungen verletzten sie manchmal mehr, als sie zugeben wollte, nicht zuletzt, weil sie weder ihre noch die Situation Lieselottes zu ändern vermochte. Vielleicht aber war sie im Kleinen erfolgreich und konnte den beiden Scheffler-Zwillingen eine bessere Zukunft ermöglichen. Und dies allein dadurch, dass sie ihnen Wissen vermittelte, das in den hiesigen Schulen für Arbeiterkinder nicht vorgesehen war.

Es war diese Aussicht, die Demy mit unbändiger Vorfreude erfüllte, auch wenn sie wusste, dass im Hause Meindorff nie jemand etwas von ihrem Unterricht für Arbeiterkinder aus dem Scheunenviertel erfahren durfte. Mit ihrer Entscheidung nahm Demy weitere Geheimniskrämereien auf sich, obwohl Tilla ihr für ihren Geschmack bereits genug davon aufgebürdet hatte.

***

Zurück an der Grundstücksmauer des Meindorff-Anwesens sah Demy sich prüfend um, und als sie sicher war, dass ihr niemand zuschaute, kletterte sie wie ein Eichhörnchen von einem kräftigen Ast auf die Mauer hinauf. Sie schwang die Beine hinüber und sprang ohne zu zögern. Geschickt landete sie hinter den kalten, feuchten Steinen im Schutz der Büsche, die ein sanftes Rascheln von sich gaben, als sie durch die Zweige strich. Zufrieden mit ihrer unentdeckten Rückkehr huschte sie über den Pfad und verließ zwischen den beiden Haselnusssträuchern ihren geheimen Weg in die Freiheit.

Doch zu ihrem Schrecken sah sie sich plötzlich Henny gegenüber. Das Dienstmädchen schaute sie nach einem kleinen Aufschrei mit unverhohlener Neugier fragend an. »Fräulein van Campen?«

»Guten Tag, Henny«, stotterte Demy und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Wie sollte sie der Frau erklären, woher sie kam, ohne ihren Fluchtweg zu verraten?

Henny tat, als finde sie es keinesfalls eigenartig, dass das junge Fräulein wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. Sie knickste und versteckte ihre Verwunderung hinter für sie ungewöhnlich vielen Worten: »Kann ich etwas für Sie tun? Möchten Sie den Spätnachmittag im Garten verbringen? Ich hole Ihnen gern einen Stuhl, ein Buch oder einen Stickrahmen und eine Erfrischung.«

»Danke, Henny. Ich gehe hinein.« Demy wollte sich hastig entfernen, überlegte es sich dann jedoch anders und drehte sich nochmals nach der Bediensteten um. Dabei sah sie, wie diese bereits die Zweige der beiden Sträucher auseinanderbog, zwischen denen sie so unverhofft vor ihr aufgetaucht war.

»Henny?«

Das Dienstmädchen schrak sichtlich zusammen. »Ja, Fräulein van Campen?«

Nach einem kurzen Innehalten zog Demy es vor, nicht sofort mit ihrer spontanen Idee vorzupreschen. »Arbeitest du gern hier im Haus?«

»Selbstverständlich, Fräulein van Campen.«

»Würdest du die Frage ebenso begeistert beantworten, wenn ich jemand wäre, der nichts mit diesem Haushalt zu tun hat?«

Hennys Zögern verriet mehr als jede Antwort.

Demy entschied, den Schritt zu wagen und sich eine Verbündete zu suchen. Diese Henny war noch jung, wohl kaum älter als Lieselotte. Außerdem hatte Demy sie bei mehr als einer Gelegenheit heimlich aus der Bibliothek huschen sehen. Ob das Mädchen gern las oder nach Bildung strebte, konnte sie allerdings nicht mit Sicherheit sagen.

»Setzt du dich bitte zu mir?«, fragte sie und ließ sich in das kurz geschnittene Gras fallen.

»Ich hole Ihnen lieber einen Stuhl.«

»Blödsinn, dieser Rock ist robust. Außerdem saß ich vorhin schon auf einer Wiese, wenn auch im Schlosspark. Nur du solltest auf deine Kleidung achtgeben. Nicht, dass du Ärger mit Frau Degenhardt bekommst.«

Das Dienstmädchen ließ sich neben Demy nieder, wenngleich sie mehrmals einen ängstlichen Blick zu den Fenstern des Haupthauses hinüberwarf.

»Ich komme gerade aus dem Schlosspark beim Schloss Charlottenburg. Ab morgen unterrichte ich dort einige Arbeiterkinder.« Nach dieser Offenbarung atmete Demy tief durch und versuchte, das aufgeregte Kribbeln in ihrem Körper zu ignorieren. Sollte Henny ihr wider Erwarten nicht wohlgesonnen sein, könnte Demy sich mit diesem Geständnis erheblichen Ärger einhandeln. Aufs Äußerste gespannt wartete sie auf eine Reaktion ihrer Gesprächspartnerin.

»Das ist sehr … ungewöhnlich«, lautete Hennys erstaunt klingende Erwiderung.

»Das weiß ich, Henny. Und genau aus diesem Grund brauche ich deine Hilfe.«

»Meine Hilfe? Ich kann ganz gut lesen und schreiben. Aber in Rechnen war ich schon immer schlecht und ansonsten …«

»Ich dachte vielmehr an … an ein bisschen Rückendeckung, damit ich das Anwesen unauffällig verlassen kann oder an Schreibmaterialen herankomme, ohne dass jemand Verdacht schöpft.« Das Mädchen ließ die plötzlich sehr schweigsame Henny nicht einen Moment aus den Augen. Das Dienstmädchen war nicht dumm und kannte sowohl die Gepflogenheiten in diesem Haus als auch die vom Hausherrn eingeforderten und streng kontrollierten Benimmregeln. Ihr musste bewusst sein, dass Demys Bitte nicht ungefährlich für sie war.

»Es gibt Damen, Fräulein van Campen, die Schulkinder fördern. Sie tun dies auf offiziellem Wege.«

»Aber auf welche Art und welche Schulkinder? Betrifft ihre Förderung eine Art Stipendium oder Patenschaft für ein begabtes Musikgenie? Oder für eine ausgewählte Schülerin? Ich unterrichte die Brüder einer Freundin aus dem Scheunenviertel; ich will ihnen die Chance geben, später einen guten Abschluss zu erlangen. Meine Vision ist, dass diese beiden einen guten Beruf erlernen, vielleicht sogar studieren und dadurch für andere zu einem Segen werden, denen es nicht gut geht.« Demy holte tief Luft und stieß diese laut aus. Sie hatte sich in Rage geredet, hatte formuliert, was ihr auf dem Herzen lag.

»Es ist nichts Schlechtes daran, ein Schuster, ein Schreiner oder ein Dienstmädchen zu sein«, warf Henny mutig ein.

»Natürlich nicht. Verstehe mich bitte nicht falsch. Aber du weißt bestimmt, wie die Zukunft für die Kinder aus dem Scheunenviertel und anderen schlechten Wohngegenden Berlins ausschaut? Viele von ihnen, auch die Mädchen, werden in Fabriken regelrecht verheizt. Harte Arbeit, lange Arbeitszeiten, wenig Lohn, manches Mal sind sie giftigen Dämpfen ausgesetzt und von einem Augenblick auf den nächsten ersetzbar, da es zu viele ungelernte Arbeiter gibt«, wiederholte Demy, was sie von Lieselotte erfahren hatte. »Ich bin nicht in der Lage, diese Zustände zu ändern. Und auch diese Arbeiten müssen verrichtet werden, das weiß ich wohl. Aber ich will versuchen, zwei Burschen, die ich mag, denen ich nur das Allerbeste wünsche, eine bessere Zukunft zu ermöglichen.« Nervös verknotete Demy ihre Hände ineinander, zugleich entstanden auf ihrer Nase ein paar tiefe Falten. War es ein Fehler gewesen, Henny einzuweihen und sie um ihre Hilfe zu bitten? Mit viel Glück würde das Mädchen schweigen. Was aber, wenn sie in der Dienerschaft zu tratschen begann und schlimmstenfalls etwas bis zu den Meindorffs durchdrang?

Obwohl sie im Schatten einer ausladenden Ulme saß, wurde es Demy unangenehm heiß. Wieder einmal war sie in ihrem Tun zu voreilig, zu abenteuerlustig und zu vertrauensselig gewesen.

»Viele Damen Ihres Standes spenden und arbeiten für wohltätige Zwecke, besuchen Schulen, Waisenhäuser …«

»Henny, es tut mir leid, dass ich dich damit belästigt habe.« Beunruhigt über die Richtung, die das Gespräch genommen hatte, wollte Demy aufspringen, doch eine warme, kräftige Hand auf ihrem Arm hielt sie zurück.

Um Hennys Lippen spielte ein Lächeln, als sie erwiderte: »Meine Mutter hat in einer Fabrik gearbeitet, bis ich die Anstellung bei den Meindorffs fand. Ja, ich weiß Bescheid. Ich begleite Sie also auf Ihre Ausflüge in den Schlosspark. Es wird ein Leichtes sein, Schreibmaterial, vielleicht auch Bücher zu beschaffen, zumal Sie ja über ein kleines Gehalt verfügen, nicht?«

»Oh, Henny, wie großartig!« Begeistert ergriff Demy die Hand auf ihrem Arm und drückte sie fest.

»Darf ich eine Bitte äußern?«

Demys Hochgefühl sackte zusammen wie ein nicht vorschriftsmäßig behandelter Hefeteig. Misstrauisch musterte sie ihr Gegenüber. Bekam sie eine Bedingung gestellt, die für sie unerfüllbar war?

»Meine Familie wohnt unweit des Scheunenviertels. Mein Vater hat eine Schreinerei. Es geht ihnen recht gut, und noch besser, seit ich hier als Dienstmädchen untergekommen bin. Meine siebenjährige Schwester besucht seit letztem Jahr die reguläre Volksschule. Ab Herbst dieses Jahres, das hat der preußische Kultusminister Konrad von Studt vergangenes Jahr erreicht, dürfen auch Frauen studieren. Der Weg dorthin ist umständlicher und länger als bei Männern, aber die Möglichkeit ist gegeben …« Henny legte den Kopf leicht schief und schaute Demy fragend an. »Ich glaube, Wilhelmine könnte es weit bringen. Sie ist ein ganz kluges Kind.«

Erleichterung durchflutete Demy wie die Sonnenstrahlen das Geäst des Baumes, unter dem sie saß. Die Mithilfe von Henny war nicht an eine unerfüllbare Forderung gebunden, sondern sie wollte, dass ihre jüngere Schwester ebenfalls in den Genuss des zusätzlichen Unterrichts gelangte.

»Deine Schwester müsste zum Unterricht in den Schlosspark kommen.«

»Meine Mutter bringt sie sicher gern hin. Ich rede mit ihr.«

»Dann ist das abgemacht.«

Verschwörerisch zwinkerte Demy dem Dienstmädchen zu, bevor die beiden sich die Hände schüttelten.

»Kennst du auch jemanden, der sich mit Krankenpflege auskennt?«, erkundigte Demy sich bei ihrer neuen Vertrauten. »Ich habe nicht viel Geld, aber vielleicht reicht es, um ein krankes Mädchen pflegen zu lassen.«

»Maria weiß eine Menge über Krankheiten und Medizin. Ihr verstorbener Mann war Arzt.«

Demy wiegte zweifelnd den Kopf. Ob sie es wagen konnte, die Haushälterin zu bitten, sie in das Scheunenviertel zu begleiten?

»Geht es um einen Ihrer Schützlinge?« Hennys Frage klang zurückhaltend, so ganz wagte sie es noch immer nicht, die geforderte unterwürfige Haltung aufzugeben.

Nach wie vor in ihre Überlegungen versunken nickte Demy.

»Maria hat nie eigene Kinder gehabt, was im Hinblick auf den frühen Tod ihres Mannes vermutlich nicht so schlecht war. Als Witwe, vor allem da kein Vermögen vorhanden war, stand sie lange Zeit auf der Schattenseite des Lebens. Erst die Anstellung hier, die ihr Frau Cronberg vermittelte, half ihr, auf die Beine zu kommen. Sie liebt Kinder.«

Demy konnte ihr Glück kaum fassen und fragte sich, weshalb sie nicht selbst darauf gekommen war. Maria hatte sich mit so viel Hingabe um den kleinen Findling Nathanael gekümmert, bevor der Kutscher Bruno ihn ins Heim brachte. In ihr würde sie womöglich eine zweite Verbündete finden, wenngleich ihr der Kontakt zu den Bediensteten eigentlich untersagt war. Diesen warnenden Gedanken schob Demy erfolgreich beiseite. Sie wollte Maria zumindest fragen, was für ein Kleinkind mit Fieber und Husten getan werden konnte!

»Ich gehe sofort zu ihr!«, entschied sie in ihrem üblichen Überschwang, sprang auf, raffte ihren Rock in die Höhe und rannte über die Wiese zum Haus.

***

Mit schwingendem Kleid eilte Demy durch den düsteren Torgang, bevor sie sich ungeduldig nach Maria umsah. Die Haushälterin der Meindorffs keuchte, als sie endlich den Hinterhof erreichte. Sie hatte einiges an Körperfülle mit sich herumzuschleppen, seit sie als Herrin über den Haushalt der Meindorffs nicht mehr tagtäglich viele Male durch die Flure und die Treppenhäuser lief, sondern andere anwies, dies zu tun. Aus diesem Grund war es um ihre Kondition nicht eben bestens bestellt.

Das Mädchen ließ der älteren Frau Zeit, wieder zu Atem zu kommen.

»Meine Güte, Fräulein van Campen. Sollte der Herr Rittmeister je erfahren, wo Sie sich herumtreiben …!«, japste Maria, und die Andeutung genügte, um Demy einen unangenehmen Schauer über den Rücken zu jagen. Meindorffs Zorn würde fürchterlich sein, wenn er erfuhr, wozu sie die Haushälterin da verleitete. Und wie er erst reagieren würde, wenn zu ihm durchdrang, dass Maria die eventuell benötigten Pflegeutensilien kurzerhand aus den gut gefüllten Vorratskellern der Meindorffs entnommen hatte, darunter ein Huhn für eine kräftigende Brühe und eine Flasche guten Rotweins … das wagte sich Demy nicht auszumalen.

»Jetzt geht es wieder«, schnaufte die Frau und winkte mit der Hand, um Demy dazu aufzufordern, dass sie weiterging. Diese blickte sich beunruhigt nach Lieselottes Vater um, ehe sie gemeinsam mit Maria den mit Gerümpel zugestellten muffigen Flur betrat.

»Kein gutes Umfeld für Kinder«, hörte sie die Frau unwillig murmeln.

Mit den Händen voraus tastete Demy durch den Korridor, immer in der Furcht, über etwas zu stolpern. Als sie den hinteren Teil erreichten, warf sie einen misstrauischen Blick auf die geschlossene Tür, aus der damals diese Julia Romeike getreten war. Eilig wandte sie sich nach links und klopfte gegen die derb gezimmerte Holztür.

Als sei dies ein Signal für Helene gewesen, drang ein trockener, bellender Husten zu ihnen hinaus. Es dauerte lange, bis das Mädchen sich beruhigt hatte, wobei Demy dieses eigenartige, fast wie ein Seufzen klingende Atemgeräusch gegen Ende der Hustenphase am Schmerzlichsten fand.

»Das hört sich nach Stickhusten an«, murmelte Maria und hämmerte nun ihrerseits kräftig an die Tür. Weitere Minuten vergingen, bis ihnen endlich ein winziger Spalt geöffnet wurde. Demy erkannte einen der Zwillinge, und sein Lächeln verriet, dass es sich um den zugänglicheren von ihnen handelte.

»Dürfen wir bitte eintreten, Willi? Frau Degenhardt möchte gerne nach Helene sehen.«

»Ist sie eine Ärztin? Es war schon ein Herr Doktor da.«

»Nein, Willi. Aber ihr Mann war Arzt. Sie weiß über viele Erkrankungen gut Bescheid und möchte helfen.«

Der Bursche zögerte noch immer, die Tür freizugeben, was Demy ihm nicht verdenken konnte. In den Gassen dieses Stadtteils trieb sich allerhand zwielichtiges Gesindel herum. Also ging Demy in die Hocke und raunte ihm zu: »Du kennst mich doch. Und es kostet auch nichts.«

»Peter und ich sind allein da. Vater hat uns verboten, jemanden reinzulassen.«

Doch noch während er die Worte aussprach, trat Willi zurück. Letztendlich überließ er es Demy, die Tür aufzustoßen.

Maria trat noch vor dem Mädchen in die klamme, dunkle Wohnung. Die kleine Helene lag auf dem Sofa hinter dem rustikalen Esstisch. Ihr vor Schweiß glänzendes zartes Gesicht wies eine hochrote Farbe auf, feuchte Haarsträhnen hingen ihr wirr ins Gesicht. Ihren Oberkörper bedeckte weder Kleidung noch eine Decke, vermutlich, weil es dem fiebernden Mädchen zu heiß war.

Erschrocken beobachtete Demy, wie mühsam das ausgezehrte und dünne Kind atmete.

»Hustet deine Schwester mit herausgestreckter Zunge?«, fragte Maria Willi und ignorierte den verschüchterten Peter vorerst. Willis Zwilling saß zusammengekauert auf dem Boden, nahe bei den Füßen seiner Schwester, und beäugte die beiden Eindringlinge ängstlich.

»Ja.«

»Keuchhusten«, diagnostizierte Maria erneut. Ihr besorgter Blick wanderte von Peter zu Willi und schließlich zu Demy.

»Ich hatte als kleines Kind Keuchhusten«, beruhigte Demy die Frau und zog sich einen Stuhl heran, damit sie sich neben Helene setzen konnte. »Wir hatten ihn auch, da war Helene noch nicht geboren«, erklärte Willi. »Aber unser Fieber war nicht so hoch, sagt unsere Mutter. Sie ist auf dem Weg zum Arzt; sie will ihn fragen, ob er noch mal herkommt.«

»Wäre sie mal besser bei dem Kind geblieben«, murmelte Maria und betastete Stirn, Nacken und Ellenbogen des Mädchens. »Sie hat vermutlich eine Lungenentzündung und das nicht erst seit heute. Es wird wohl nicht mehr lange dauern.«

Marias Tonfall klang nüchtern, aber in ihrem Gesicht sah Demy ihren tief empfundenen Schmerz. Dies zu sehen verdeutlichte ihr was die Frau da soeben gesagt hatte.

»Wir legen kalte Wadenwickel an und …« Demys aufgeregte Vorschläge wurden von einem weiteren Hustenanfall unterbrochen. Der Brustkorb des Mädchens fiel förmlich in sich zusammen, als es versuchte, Luft zu holen. Ihre Rippen standen weit hervor, während sich ihr Oberkörper nach innen zusammenzog. Beim Anblick Helenes, die mit jeder Faser ihres Körpers um Luft rang, schossen Demy die Tränen in die Augen. Helenes Gesicht lief bläulich an. Ihre Augen schienen aus den Höhlen quellen zu wollen, obwohl sie sie geschlossen hielt, als sie mit herausgestreckter Zunge hustete und gleichzeitig verzweifelt nach Luft schnappte. Der Anfall wollte kein Ende nehmen.

Demy wollte der Kleinen so gern helfen, konnte aber nichts für sie tun. In ihrer Hilflosigkeit griff sie nach Helenes verkrampften Fäusten und umklammerte diese. Endlich kam das erlösende Einatmen, als der Anfall endete, doch Helene war zu entkräftet, um die Erleichterung überhaupt noch zu verspüren. Ihre Augen blieben weiterhin geschlossen. Wie ein Vögelchen mit gebrochenen Flügeln lag sie da, ergeben in ihr Schicksal.

Peter begann, leise Wimmergeräusche auszustoßen. Ahnte er den nahen Tod? Litt er noch viel mehr mit seiner jüngeren Schwester, als Demy es tat?

Maria hatte das Ende des Anfalls abgewartet, bevor sie mit lautem Schaben den Tisch beiseitezerrte, sich ebenfalls einen Stuhl nahm und sich neben die Kleine setzte. Mit beiden Händen tastete sie behutsam den zarten Körper ab, der zerbrechlicher anmutete als eine Blüte.

»Arme kleine Blume«, flüsterte sie und griff nach der Schüssel und dem Tuch, mit dem sie zärtlich das glühende Kindergesicht wusch.

Maria sagte nichts darüber, dass hier viel zeitiger ein Arzt hätte geholt werden müssen und Helene in ein Krankenhaus gehörte. Sie wusste um die aussichtslosen Lebensumstände der Familien, die im Scheunenviertel wohnten.

»Fräulein van Campen, das Kind kann Sie noch hören. Können Sie vielleicht ein Gebet sprechen? Ich halte eigentlich nicht viel davon, aber in dieser Situation …«

Es bedurfte keiner zweiten Aufforderung an Demy. Sie rutschte vom Stuhl und kniete sich auf den kalten Boden. Als sie ihren Kopf neben Helenes auf das fleckige Polster der Couch legte, hielt sie immer noch die nun schlaffen Fäustchen mit ihren Händen umklammert. Allein, es wollten ihr keine Worte über die Lippen kommen. Was sollte sie beten, im Angesicht des Todes eines Kindes, das sein Leben eigentlich noch vor sich haben, das mit seinen Freunden und Geschwistern über Wiesen laufen, spielen und singen sollte?

Die Strophe eines Liedes, das Anki früher häufig gesungen hatte, kam ihr in den Sinn, und ohne lange zu überlegen, sagte sie die Worte halblaut in Helenes Ohr: »Jesus, geh voran, auf der Lebensbahn! Und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen; führ uns an der Hand bis ins Vaterland14

Sie lächelte unter Tränen zu Peter hinüber, der einen Großteil der Worte mitgesprochen hatte. Wenn er das Lied kannte, nahm sie an, dass es Helene ebenfalls vertraut war.

Noch immer beide Hände der Kleinen umfassend legte Demy nun den Kopf auf die harte Kante des Möbelstücks, um Peter anzuschauen. Der verschüchterte Junge kauerte nahe bei ihr und ließ seine Schwester nicht aus den Augen, in denen tiefer Schmerz zu lesen war.

Als Demy bemerkte, dass der nächste Hustenanfall ausblieb, hob sie den Kopf.

Helenes Gesicht war fahl und ihre vollen Lippen farblos. Ihre Brust hob und senkte sich nicht mehr.

Fragend ging Demys Blick zu Maria, die ihr mit feucht schimmernden Augen zunickte, um ihre unausgesprochene Frage zu beantworten. Das kleine Mädchen war tot. Gestorben, so hoffte Demy, mit den tröstlichen Worten im Ohr, dass sie in eine andere, bessere Welt hinübergeführt würde.

Behutsam legte Demy Peter eine Hand auf den Arm. Der Junge zuckte unter ihrer Berührung erschrocken zusammen, und bevor das Mädchen ihm mitteilen konnte, dass Helenes Kampf vorbei sei, stieß die Eingangstür gegen die an der Wand lehnende Matratze.

Lieselotte stürmte herein, gefolgt von ihrer Mutter und einem älteren Herrn mit einer verkratzten Arzttasche unter dem Arm.

»Demy?« Aus weit aufgerissenen Augen schaute die Freundin sie verwirrt an, aber Maria brachte die Situation sofort unter Kontrolle. Sie stellte sich in knappen Sätzen vor und teilte der verstörten Mutter mit, dass ihre Tochter soeben verstorben sei.

Ihre Worte mochten noch so sorgfältig gewählt sein, in Lisa Schefflers Gesicht spiegelten sich innerhalb eines einzigen Augenblicks zuerst Selbstvorwürfe, dann Entsetzen und schließlich abgrundtiefe Verzweiflung wider. »Nein!«, stieß sie aus. Mit schnellen Schritten eilte sie zur Couch.

Um ihren Platz freizumachen, sprang Demy eilends auf. Die magere, verbraucht wirkende Frau, deren Haar in ihren noch jungen Jahren bereits mit Silbersträhnen durchzogen war, warf sich auf die Knie und zog ihre Tochter in ihre Arme.

Während Maria mit dem Arzt sprach, offenbar kannten die beiden sich, packte Lieselotte Demy derb am Arm und zerrte sie herum. »Was machst du mit dieser Fremden hier?«

»Wir wollten helfen. Leider konnten wir nichts mehr tun, außer mit Helene zu beten und bei ihr zu sein.«

»Das wäre Mutters Aufgabe gewesen!«, herrschte Lieselotte sie an, ließ sie los und trat mit dem Fuß gegen den erkalteten Ofen, was einen dumpfen, metallischen Ton hervorbrachte.

Überrascht von Lieselottes Zorn wich Demy bis an die offen stehende Eingangstür zurück. Sie ahnte, dass dieser Ausbruch weniger mit ihr zu tun hatte als mit dem Schmerz, den ihre Freundin empfand und der irgendein Ventil brauchte.

»Es ist so ungerecht! So ungerecht!«, stieß Lieselotte aus. »Wenn die Tochter einer Familie aus adeligem oder gutbürgerlichem Haus nur einen Schnupfen hat, versammeln sich Ärzte, Krankenschwestern und wer weiß ich noch alles. Aber hier …« Wütend hob sie die Hände, als wolle sie den ärmlichen, feuchten Raum in einer Bewegung umfassen, dann schüttelte sie resigniert den Kopf und verschwand hinter dem Vorhang. Leises Murmeln drang von dort bis in die Wohnküche. Offensichtlich versuchte der Schlafbursche, das aufgelöste Mädchen zu trösten.

Ein Geräusch hinter ihr ließ Demy herumfahren. Julia Romeike, zurechtgemacht, als ginge sie auf einen Ball, war neben sie getreten und spähte in die Scheffler-Wohnung. »Ist etwas passiert?«, fragte sie mit ihrer melodiösen Stimme.

Demy zuckte knapp mit den Schultern. »Das kleine Mädchen ist gestorben.«

»War sie es, die so gehustet hat? Das arme Kind.« Die Frau warf einen bekümmerten Blick in die ärmliche Behausung ihrer Nachbarwohnung, drehte sich dann um und stolzierte davon.

Noch verwirrter als zuvor blickte Demy Maria entgegen, die das Zimmer verließ, sorgsam die Tür schloss und ihr mit einer Hand ein Zeichen gab, dass sie den Heimweg antreten würden. Die Tees und die sauberen Tücher, ebenso wie die frische Bettwäsche hatte sie mit dem Huhn und dem Rotwein auf dem Küchentisch zurückgelassen.

Hintereinander tasteten sie sich durch den dunklen Flur bis in den grauen Hinterhof hinaus. Seine hohen, moosbedeckten Steinmauern warfen lange Schatten und erschienen dem Mädchen hoffnungslos und erdrückend. Selbst die Grashalme, die zwischen den zerbrochenen Pflastersteinen wuchsen, wirkten gebeugt, als trauerten sie um das verlorene Lachen eines Kindes. Nur der strahlendblaue Himmel, in einem Viereck zwischen den Dächern sichtbar, zeugte von Freiheit, Hoffnung und Freude.

»Das Leben hier saugt den Menschen entweder jede Lebensfreude aus dem Herzen oder es formt sie zu Kämpfern. Für eine gute, gerechte Sache, oder aber für ihre eigenen Interessen – und das ist das, was wir, denen es besser geht als ihnen, zu fürchten haben.«

Demy nickte zu Marias Worten. Sie kannte Lieselotte noch nicht lange, doch sie spürte, wie der Drang, die Lebensumstände ihrer Familie und die der Tausend anderen um sie herum zu verändern, immer mehr zunahm. Sie konnte nur hoffen und beten, dass Lieselotte sich für eine positive Richtung entschied und nicht für einen Kampf, der sie am Ende vermutlich selbst zerstören würde.

Bei diesem Gedanken kamen Demy auch der kleine Nathanael und seine Mutter in den Sinn, deren Lebensweg sie kurz gekreuzt hatte. War die Frau ebenso ein Opfer dieser düsteren, in Hoffnungslosigkeit versinkenden Hinterhöfe und all dessen, was sie verkörperten? Und der kleine Junge? Würde es ihm nicht genauso ergehen? Ein Funken des Verstehens sprang in Demys trauerndem Herzen auf. Sie war erleichtert, dass ihr rechtzeitig Ankis Lied eingefallen war. Ohnehin würde ihre Schwester wohl sagen, dass Gott sie zum richtigen Zeitpunkt an den dunklen Hofeingang geführt hatte, um dem Neugeborenen das Leben zu retten. Aber stand sie dadurch nicht auch in der Verantwortung, es zu begleiten? Und wie verhielt es sich mit der Familie Scheffler? Gehörten auch sie zu den Personen, die Gott ihr ans Herz legen wollte?

In Demy keimte erstmals der Gedanke auf, dass sie nicht einfach nur willkürlich von Tilla hierher nach Berlin verschleppt worden war. Ob dahinter etwas Größeres stand, etwas, das sie noch gar nicht sehen oder begreifen konnte? Das musste sie dringend Anki fragen, wenn sie ihr das nächste Mal schrieb.

»Können die Meindorffs nicht Lieselotte oder ihrer Mutter eine Anstellung geben, ach, am besten gleich beiden?«

Die Haushälterin lächelte auf sie herab, während sie gemeinsam durch den Torbogen auf die Gasse hinaustraten.

»Selbst wenn sie eine Stelle zu vergeben hätten, würden sie es nicht tun. Häuser wie das der Meindorffs nehmen nur gut ausgebildete und mit einem exzellenten Leumund ausgestattete Angestellte. Das können diese bedauernswerten Menschen wohl schwerlich aufweisen. Aber Ihr Wille zu helfen ehrt Sie.«

Dem Mädchen blieb nichts anderes übrig als zustimmend zu nicken. Aufgrund dessen, was sie über Marias Lebensweg wusste, fiel es ihr noch schwerer, sich von ihr siezen zu lassen. »Danke, Frau Degenhardt, für Ihre Begleitung und Hilfe.«

»Ich habe nicht viel getan. Am hilfreichsten für Helene und ihre Brüder waren vielmehr Sie. Durch Ihren Einsatz für das Kind zeigten Sie den Geschwistern, dass jemand an sie denkt. Ihre Anwesenheit spendete ihnen allen Trost, Fräulein van Campen.«

»Könnten Sie nicht einfach nur Demy zu mir sagen?«

»Sie wissen doch, das lassen die Gepflogenheiten zwischen den Angestellten der Meindorffs und den Herrschaften nicht zu.« Maria lächelte und drückte für einen kurzen Moment gutmütig ihren Unterarm. »Aber ich verstehe, was hinter Ihrer Bitte steckt. Sie sind eine großherzige junge Dame, und ich hoffe, Sie sind stark genug, um in dieser Stadt nicht zerrieben zu werden.«

Himmel ueber fremdem Land
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