Kapitel 26

Zwischen Tsondap und Empfängnisbucht,
Wüste Namib, Deutsch-Südwestafrika,
Juni 1908

Die zwischen den Zelten knisternden Feuer warfen ein schwaches, unruhiges Licht auf die Zeltplane, und in diesem sah Philippe, dass sich ihm eine weibliche Gestalt näherte. Erst als sie sich über ihn beugte, bemerkte er ihren unbekleideten Zustand. Philippe verharrte abwartend. Bei dem Eindringling konnte es sich nur um die eigentliche Bewohnerin des Zeltes handeln, die vielleicht etwas aus ihrem Besitz holen wollte.

Noch ehe Philippe irgendetwas tun konnte, lag das Mädchen schon auf ihm und presste ihren kindlichen Körper gegen den seinen. Mit einer behutsamen Bewegung legte er die Pistole, die er zuvor ergriffen hatte, aus der Hand.

»Das ist zwar ein verlockendes Angebot, Mädchen. Aber ich möchte, dass du wieder aufstehst.«

Das Mädchen rollte sich von ihm hinunter und huschte in die andere Ecke des Zeltes. Am Rascheln des Stoffs hörte er, dass sie sich eilig anzog. Ob sie die ganze Zeit über dort hinten in der dunklen Ecke gekauert und darauf gewartet hatte, dass er sich zum Schlafen niederlegte?

Als er die junge Afrikanerin in einem halbwegs bekleideten Zustand wähnte, erhob er sich, schlüpfte in seine Hose und seine Stiefel und ging zum Zelteingang hinüber.

»Und jetzt raus mit dir.«

»Bitte nicht Diacamp verraten!«, flehte sie ihn mit dünner Stimme in bruchstückhaftem Deutsch an.

»Es ist ja nichts passiert«, erwiderte er in Nama.

Das Mädchen schwieg lange, ehe sie ganz dicht vor ihn trat. Philippe musterte die vom Feuerschein unruhig beleuchtete Gestalt und bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte.

»Du bist kein deutscher Fremder, der Geld bringt, nicht?« Ihr Nama war dialektgefärbt. Vermutlich war ihre eigentliche Muttersprache die der Damara.

»Das braucht dich nicht zu interessieren. Du behältst dein Geheimnis und ich meines.«

»Ich wünschte, du würdest mich hier wegbringen.«

»Du bist nicht freiwillig hier?«

»Tatse30. Er sagte meinem Vater, er brauche jemanden für seine Wäsche und das Essen.«

Unwillig brummte Philippe vor sich hin. Dass dieser Diacamp das Mädchen nicht für seinen mageren Haushalt brauchte, war ihm sofort klar gewesen. Aber ging ihn das etwas an? Er durfte seine Tarnung nicht gefährden, um dem Wunsch dieses betrogenen Kindes nachzukommen, sosehr ihn das Ganze auch anwiderte.

Geschickt öffnete er die unteren beiden Verschnürungen des Zelteingangs und bedeutete ihr, sie solle dort hindurchkriechen. Das Mädchen tat es, ohne ihn ein weiteres Mal um Hilfe zu bitten.

***

Noch vor Sonnenaufgang war Philippe auf den Beinen und beobachtete, wie Stichmann in Begleitung mehrerer bis an die Zähne bewaffneter Männer mit einer Ochsen- und Pferdekarawane in Richtung Walvis Bay davonzog. Glutrot schob sich die Sonne über den Horizont hinweg, schien erst den Himmel und anschließend den Wüstensand in Flammen zu setzen. Käfer, Echsen und Schlangen verschwanden vor den Hufen der Zugtiere flink in ihren Verstecken. Hoch über ihm, an einem Himmel, dessen Farbe von einem fahlen Gelbton ins Blaue wechselte, kreiste ein Ohrengeier.

Laute Stimmen in seinem Rücken veranlassten Philippe, sich wieder dem Lager zuzuwenden. Die Arbeiter waren bereits wieder beschäftigt, siebten, wuschen und sortierten, während Diacamp mit weit ausholenden wütenden Schritten durch das Lager stampfte und jede Zeltplane aufriss, als suche er etwas oder jemanden.

Da er beim Ankleiden das Fehlen seiner nicht gerade gut gefüllten Geldtasche bemerkt hatte, grinste Philippe wissend vor sich hin. Er hatte dem Mädchen nicht helfen wollen, was dieses dazu bewogen hatte, sich bei ihm ein Hilfsmittel zu beschaffen … und dank der inzwischen recht zuverlässig funktionierenden Eisenbahnverbindung würde sie schnell weit fortkommen – vorausgesetzt, sie fand aus der Namib heraus.

Bei der offenen Überdachung für die Pferde traf Philippe auf den tobenden Mann. »Dieses undankbare Stück hat mir mein Kamel gestohlen! Glaubt sie, sie kommt damit durch? Jeden Pfennig treibe ich bei ihrem Vater wieder ein.«

»Ich nehme an, Sie schulden dem Vater noch Geld für die Haushaltsarbeiten seiner Tochter. Und für weitere Dienste, die sie Ihnen leisten musste.«

Ein Blick aus wütend blitzenden Augen traf ihn, den Philippe gelassen erwiderte. »Sind Sie zu einem Entschluss gekommen?«, hakte der Mann nach, offenbar nicht gewillt, weiter auf das Thema einzugehen.

»Das bin ich. Wenn Sie mir zeigen, wo Stichmann die zur Unterzeichnung vorbereiteten Papiere hinterlassen hat, machen wir die Sache fest.«

»Kommen Sie. Sie liegen in meinem Zelt.«

Philippe hätte nach dem kargen Abendbrot gern gefrühstückt, nahm jedoch an, dass das in Diacamps Lager nicht üblich war. Da er einen ausreichenden Vorrat an Biltong31 in seiner Satteltasche wusste, folgte er dem großen Mann in dessen Zelt. Dort unterzeichnete er die Papiere, nachdem er sie überflogen hatte.

»Sobald ich in der Heimat bin, erhalten Sie die Geldanweisung«, sagte er, wohl wissend, dass es nie dazu kommen würde.

»Stichmann meinte, Sie hegen den Wunsch mitzuarbeiten? Dabei sehen Sie mir nicht aus wie ein Mann, der sich gern die Hände schmutzig macht.«

»Das täuscht. Ich bin es durchaus gewohnt, kräftig hinzulangen.«

Ein kurzes, kaum merkliches Zucken um die Mundwinkel seines Gesprächspartners war der Beweis dafür, dass dieser die versteckte Drohung in seinen Worten verstand. »Dann nur zu. Vielleicht sieben Sie ja einen großen Brocken aus dem Sand.«

»Den ich natürlich behalten würde.«

»Natürlich!« Diacamps Antwort glich einem Donnergrollen.

Philippe ließ ihn ein paar Schritte in Richtung Schürfstelle gehen, bevor er ihm nachrief: »Auf ein Wort noch.«

Widerwillig drehte der Gerufene sich um.

»Ihr Name. Sie wollten ihn mir nach meiner Unterschrift nennen?«

»Erik van Campen.«

***

Ausgerechnet diesen Karl Roth hatte Oberstleutnant von Estorff zum Unteroffizier ernannt und mit ein paar Männern Philippes Kommando unterstellt. Die Beförderung war prinzipiell sicher sinnvoll, immerhin war Roth seit zweieinhalb Jahren bei der Kaiserlichen Schutztruppe, während die anderen völlig grüne Jungs waren. Philippe traute dem etwa gleichaltrigen Mann jedoch nicht, zumal er den Verdacht hegte, Roth sei der Schläger gewesen, der ihm in Magdeburg aufgelauert hatte. Roths Abneigung ihm gegenüber, deren Ursprung er nicht kannte, beruhte mittlerweile auf Gegenseitigkeit.

Geduldig wartete Philippe, bis Roth die 15 Männer in einer Reihe aufmarschieren lassen hatte und trat dann aus seinem Zelt. Der Wüstensand knirschte unter seinen Schuhsohlen und die Sonne stach glühend vom glasklaren Himmel herunter. Zehn der Soldaten waren rekrutierte Einheimische. Sie standen nicht ganz so korrekt stramm wie die fünf Deutschen, würden sich in der unwirtlichen Umgebung, in der Philippe ihr Lager hatte aufschlagen lassen, jedoch wesentlich besser behaupten.

Er fragte jeden der Soldaten nach seinem Namen und seiner Herkunft und stellte erfreut fest, dass er im Obergefreiten Akia32 einen ortskundigen Mann an seiner Seite hatte. Somit lag es für ihn nahe, den aufgeweckten Nama auf unbestimmte Zeit zum Unteroffizier vom Dienst zu ernennen, und er nahm sich vor, ihn für die reguläre Schulung zum Unteroffizier vorzuschlagen, sobald sie nach Windhuk zurückkehrten.

Dann war es an ihm, dem neu zusammengewürfelten Zug in knappen Worten von den gewalttätigen Vorkommnissen auf den Diamantenfeldern südlich der Empfängnisbucht zu berichten. Ebenso eröffnete er ihnen seinen Verdacht, dass ein Teil der zum Schutz der Schürffelder abkommandierten Soldaten mittlerweile von skrupellosen Diamantensuchern korrumpiert worden war. Den Namen Erik van Campen erwähnte er nicht. Danach teilte er die kleine Truppe in mehrere Wachmannschaften ein.

Wenig später beugten sich Roth, zwei weitere weiße Unteroffiziere und der von Philippe frisch zu einem solchen ernannte Akia gemeinsam mit ihm über eine Karte, um die nun von ihnen abzureitenden Kontrollrouten entlang der Bucht und in der Wüste festzulegen. Diesen vieren sagte er auch, dass er momentan einen ganz bestimmten Diamantenschürfer im Verdacht hatte, und ließ ihnen gegenüber den Namen van Campen fallen.

Roth meldete sich freiwillig für die Routen, die van Campens Schürfgebiet streiften, und Philippe pflichtete ihm bei, es sei besser, ein Weißer würde sich im Ernstfall mit dem erst kürzlich in die Kolonie eingereisten Unternehmer auseinandersetzen, als dass dieser einen eingeborenen Unteroffizier womöglich aufgrund seiner Hautfarbe nicht als autorisiert betrachtete.

Die ersten beiden Trupps deckten sich mit Trinkwasser und unverderblicher Nahrung ein, kontrollierten ihre Karabiner 98 und schwangen sich auf ihre Dromedare, die die Neuankömmlinge zu Philippes Erleichterung mitgebracht hatten. Während die Reiter das provisorische Zeltlager in der unmittelbaren Nähe der sandigen Küstenlandschaft verließen, rüstete Philippe sich für einen neuerlichen Ritt zur britischen Walvis Bay. Er wollte John treffen und trug sich mit der Hoffnung, sein Freund habe in der Zwischenzeit zusätzliche Informationen für ihn beschaffen können. Zudem plante er, bei van Campens Sekretär Stichmann vorbeizusehen und ihm genauer auf die Finger zu schauen.

Der Sattel knarrte unter seinem Gewicht, als er sich auf seine Stute schwang, und der aus Westen vom Atlantik kommende Wind brachte die mageren silbrigen Grashalme zum Rascheln.

Philippe grüßte die Zurückbleibenden knapp und war in Gedanken bei zwei anderen Mitgliedern einer Familie van Campen, wobei sich ihm erneut die Frage aufdrängte, ob diese mit Erik van Campen wohl ein verwandtschaftliches Verhältnis verband.

Himmel ueber fremdem Land
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