Kapitel 35
Walvis Bay, Britisches
Kolonialgebiet,
August 1908
»Sie reisen demnach nach Windhuk hinauf?« Mary Stott schaute Philippe nicht halb so interessiert an wie Jennifer Howell, obwohl Erstere die Frage an ihn gerichtet hatte.
»Vermutlich nur für ein paar Tage. Es gilt, einige Details zu klären, ehe ich meine Arbeit bei den Diamantfeldern sinnvoll fortführen kann.«
»Deine Zeiteinteilung, Philippe, ist einfach perfekt. Wir begehen hier ein kleines familiäres Verlobungsfest und schon stehst du vor der Tür.«
Philippe blickte an seinem Freund vorbei durch die offen stehende Eingangstür auf den taghell erleuchteten Wohnraum der Howells. Die Festtagskleider und der Schmuck der Damen strahlten beinahe mehr als die unzähligen Lampen und Kerzen. Champagner schimmerte in geschliffenen Kristallgläsern, deren hoher Klang, wenn die Festgäste miteinander anstießen, bis hinaus auf die Terrasse drang. Der Geräuschpegel aus den Stimmen der sich unterhaltenden Menschen war wie ein stetes Murmeln, das sich harmonisch in den Rhythmus der am Strand aufschlagenden Wellen einfügte.
»Kleines Fest?«, lästerte Philippe.
In einer hilflosen Geste hob John beide Hände. »Die Familie Stott hat selbst hier in der Kolonie eine nicht zu verachtende Anzahl an Verwandten. Oder denkst du, ein paar Besucher haben sich heimlich eingeschmuggelt?« Schmunzelnd ergriff er Mary um die Taille und zog sie an sich.
Seine Verlobte lächelte zu ihm auf und flüsterte, laut genug, dass sowohl Philippe als auch Jennifer es hörten: »Ich musste einfach diese und jene Familie ebenfalls einladen. Schließlich bin ich so glücklich, und an diesem Glück möchte ich viele Menschen teilhaben lassen!«
Ein schwarzes Mädchen huschte mit einem Tablett voller Gläser vorbei, und den beiden Männern gelang es, jeweils zwei Kelche zu ergreifen, bevor das Dienstmädchen entschwand.
Philippe reichte Jennifer ein Glas, während John seine Verlobte mit Champagner versorgte.
»Auf die Liebe!«, brachte Philippe einen Toast aus und hob sein Glas. Während er das strahlende Paar ansah, drifteten seine Gedanken zu Udako ab. Erneut überfiel ihn eine schmerzliche Sehnsucht nach ihr. Nach nur einem Schluck stellte er den Kristallkelch auf die Brüstung der Aussichtsplattform.
Während Mary und Jennifer vor der Kälte nach drinnen flohen, gesellte sich John neben Philippe an die Umfriedung. Wie schon bei ihrem letzten Zusammentreffen auf der Terrasse blickten sie über den Ozean in die Dunkelheit. Diese hatte die Vielzahl an Vogelstimmen zum Verstummen gebracht und verbarg die filigranen Flamingos entlang des Küstenstreifens vor ihren Blicken.
»Wurdest du abkommandiert?«
»In Windhuk weiß niemand über mein Kommen Bescheid. Einer meiner Unteroffiziere hat einen guten Hinweis gegeben, dem ich unverzüglich nachgehen will.«
»Dann weiß niemand von deiner bevorstehenden Fahrt nach Windhuk?«
»Nur mein Stellvertreter. Aber ich habe noch eine Bitte an dich, John.«
»Der britische Spion für die innerdeutschen Probleme der Kaiserlichen Schutztruppe steht zur Verfügung«, spottete John gut gelaunt. »Noch, zumindest. In zwei Wochen reisen Mary und ich nach England ab.«
Philippe hatte das geahnt, immerhin mussten sich die beiden weitverzweigten Familien kennenlernen. Er unterdrückte ein Grinsen. Wenigstens das blieb ihm erspart, denn Udako hatte keine Verwandten mehr und seine waren durch viele Kilometer Sand und aufgewühlte Wellen von ihnen getrennt.
»Behältst du während meiner Abwesenheit bitte diesen Diacamp-Bücherwurm ein wenig im Auge?«
»Worum geht es?«
»Er mietet für seine Trecks in die Wüste immer bei demselben Kerl Wagen und Tiere an. Vielleicht kannst du diesen Mietstallbesitzer dazu bringen, dir zu melden, falls Stichmann wieder einmal in die Namib zieht. Ich möchte nicht, dass sie einen weiteren potenziellen Investor zum Schürfplatz der Diacamp schleifen und dadurch auch in Gefahr bringen. Dieser Claim gibt zwar Diamanten her, allerdings nicht in der Menge und in der Größe, wie van Campen vorgibt.«
»Sollte ich also von einem Treck zu diesem lausigen Schürfplatz erfahren, versuche ich herauszufinden, ob Stichmann von einem Ausländer begleitet wird. Falls ja, wäre es in deinem Sinne, wenn ich diesen Mann auf den klitzekleinen Fehler dieser Unternehmung hinweise?«
»Damit wäre mir sehr geholfen.«
»Und aus wessen Tasche finanziere ich die vermutlich nicht ganz freiwillig zu bekommende Gefälligkeit des Mietstallbesitzers?«
»Du könntest ja deinen zukünftigen Schwiegervater darauf ansprechen«, witzelte Philippe.
»Eine durchaus sinnvolle Verwendung für die Mitgift.«
»Dann sind wir uns einig.« Philippe versprach, die anfallenden Kosten bei Johns Vater zu begleichen, falls John bis dahin Afrika verlassen hatte und wollte sich verabschieden.
»Du darfst unmöglich schon gehen. Im Salon warten mehrere ausgesprochen faszinierende Damen begierig darauf, dass der schmucke uniformierte Deutsche sie zum Tanz auffordert.«
»Dann werden sie mit einem Uniformierten der britischen Armee vorlieb nehmen müssen.«
»Gibt es keine Möglichkeit, dich umzustimmen?«
»Nein, John. Sei ein Freund und lass mich in Ruhe meine Reisevorbereitungen treffen.«
Der Brite kratzte sich im Nacken. »Diese Udako hat dir ziemlich den Kopf verdreht. Gut so. Allerdings frage ich mich allmählich, wie du in Preußen zu deinem liederlichen Ruf gekommen bist.«
Auf Johns lauernden Blick hin zuckte Philippe nur knapp mit der Schulter.
»Eine sichere Reise wünsche ich dir, Preuße!«
»Sollte ich länger als geplant fort sein, wünsche ich dir und deiner Verlobten bereits jetzt eine reibungslose Überfahrt und gute Nerven.«
Nach einem kräftigen Händedruck verließ Philippe die Terrasse über die Außentreppe und vermied dadurch weitere Begegnungen mit den Feiernden. Unten auf der Küstenstraße angekommen blickte er zurück. Über ihm, mit dem Halbmond im Rücken, sah er die Silhouette von John, der ihm nachblickte.
Weshalb zog es den Bräutigam nicht schnell zu seinen Gästen und vor allem zu seiner bezaubernden Verlobten? Trieb John erneut das Säbelrasseln des Deutschen Reiches, der Österreicher, der Franzosen, der Russen und die Unruhen in den baltischen Staaten um? Befürchtete er aus diesem Grund, seinen deutschen Freund für lange Zeit nicht wiederzusehen? Philippe konnte nicht ahnen, wie recht sein Freund mit dieser Vermutung behalten sollte …
Obwohl er annahm, John könne ihn in der dunklen Straße nicht sehen, hob er zum Abschied noch einmal grüßend die Hand. Entgegen seiner Vermutung erwiderte John den Gruß, wandte sich daraufhin ab und verschwand im Haus.