Kapitel 25
Berlin, Deutsches
Reich,
Juni 1908
Nervös nestelte Tilla an der Schärpe um ihre schlanke Taille herum, während sie mit eiligen Schritten das Foyer durchschritt. Dort waren alle Vorbereitungen für ein Begrüßungsfest für sie und ihren Gatten abgeschlossen. Josephs Freunde hatten es organisiert, und der alte Meindorff, Geselligkeiten durchaus zugetan, hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass es in seinem eigenen Haus abgehalten wurde.
Die in den wuchtigen Blumenvasen arrangierten Rosen, Lilien und Jasminzweige zierten die Wände zwischen den Zimmertüren und verströmten einen berauschenden Duft. Die beiden Kristallkronleuchter an der Decke waren mit brennenden Kerzen bestückt, entlang der Wand zur Vorhalle wartete ein Büfett, das die Tischplatten beinahe durchbog, auf den Ansturm der Gäste.
Eigentlich hatte Tilla sich umziehen wollen, doch Henny hatte an der Tür geklopft und ihr mitgeteilt, sie habe sich unverzüglich in dem Kontor ihres Schwiegervaters einzufinden.
Sie war sich völlig im Unklaren, weshalb sie gerufen worden war. Unsicher ließ sie ihre Hände sinken und warf einen ängstlichen Blick auf die geschlossene Tür. Fragen bezüglich ihrer Hochzeitsreise hatte sie von Meindorff Senior sicher nicht zu befürchten. Dieses Thema würde ihm zu intim sein, vermutlich sogar zu uninteressant. Was also war so wichtig, dass er sie noch vor dem Fest in sein Arbeitszimmer zitierte?
Da sich dieses Zusammentreffen wohl nicht vermeiden ließ, hob sie die Hand und klopfte kräftig an die Tür. Sie schrak zusammen, als diese im selben Augenblick von innen geöffnet wurde. Ihr Ehemann trat beiseite und ließ sie ein.
Der Rittmeister legte ein paar Papiere zurück auf die Schreibtischplatte und deutete einladend auf die beiden Stühle vor seinem Tisch. Tilla wartete, bis Joseph ihr den einen Stuhl zurechtgerückt hatte, ehe sie sich niederließ und mit sehr geradem Rücken darauf wartete, was der Hausherr ihnen offenbaren wollte.
»Gut, dass ihr wieder in Berlin seid«, begrüßte Meindorff sie, obwohl Tilla wusste, dass er seinen Sohn schon am Vorabend bei ihrer Ankunft ausführlich gesprochen hatte. Sie selbst war erschöpft in ihr Bett gefallen.
»Neben den geschäftlichen Herausforderungen, die ich mit Joseph bereits besprach, liefert uns neuerdings Hans private Scherereien.«
Mit einem erleichterten Ausatmen sank Tilla an die Lehne ihres Stuhls. Es ging also weder um Demy, die sich wieder einmal danebenbenommen hatte, noch hatte Meindorff ihre Lügen bezüglich ihres Familienvermögens durchschaut. Probleme, die von einem der Brüder Josephs im jugendlichen Überschwang aufgeworfen wurden, gingen sie wohl kaum etwas an. Oder etwa doch?
Wollte der Rittmeister ihr die Leitung des Haushalts übertragen, wie es sich für eine Frau Meindorff gehörte? Sie wurde über geschäftliche Details nicht informiert, während sie nun aber in Familienangelegenheiten zu Rate gezogen werden sollte. Erfreut, dass sie nun endlich als volles Familienmitglied anerkannt wurde, ließ sie ihre verspannten Schultern etwas sinken.
»Hans hat sich mit einer Frau eingelassen. Das mag nun nichts Ungewöhnliches sein …« Meindorff unterbrach sich und warf Tilla einen prüfenden Blick zu, ehe er sich leise, fast verlegen räusperte. Sie ballte wütend die Hände zu Fäusten, zwang sich aber, nicht zu reagieren. Dass dieses Verhalten im Hause Meindorff nichts Außergewöhnliches war, hatte sie mittlerweile selbst herausgefunden. Sie hasste die großspurige Leichtigkeit, mit der auch der Rittmeister dieses delikate Thema behandelte. Äußerlich blieb sie ruhig und gefasst, doch brodelte in ihrem Inneren erneut ein gefährlich heißes Feuer auf.
»Nachdem mir vor zwei Wochen bekannt wurde, dass Hans eine Liaison mit einer Arbeiterin hat, die zudem ein paar Jahre älter ist als er, dachte ich mir, es könne sinnvoll sein, Hans’ Interesse am weiblichen Geschlecht frühzeitig in die richtigen Bahnen zu lenken. Also nahm ich mit ein paar Geschäftspartnern und guten Bekannten schon früher geführte Gespräche diesbezüglich wieder auf. Kurzum, seine Freundschaft mit Philippe und dessen nicht geringer Einfluss auf ihn schadet dem Ruf von Hans mehr, als ich erwartet hatte. Selbst von Männern wie Ehrenfried Ehnstein oder Anton Ahlesperg, dessen Sohn Adalbert ein nicht minder großer Luftikus ist, bekam ich auf mein Ansinnen, unsere Häuser durch eine Eheschließung zwischen Hans und einer ihrer Töchter zu verbinden, eine wenig versteckte Abfuhr. Sogar Boehmer, der seine unansehnliche Tochter Adele noch vor Wochen mit Philippe vermählen wollte, erteilte mir eine Absage.«
Die tiefe Genugtuung in Tillas Herzen ließ sie lächeln. Weshalb sollten die Männer mit ihren amourösen Abenteuern immerzu ungestraft davonkommen, während eine Frau ihr Leben lang verachtet, von der Gesellschaft gebrandmarkt und schlimmstenfalls sogar ausgestoßen und der Armut preisgegeben wurde, wenn die Nachricht über ihre Romanze oder gar über ein uneheliches Kind an die Öffentlichkeit drang? Falls sie sich von Joseph scheiden ließe, könnte sie niemals beweisen, dass er die Schuld dafür trug, was jedoch völlig gleichgültig war, denn als geschiedene Frau musste sie so oder so auf sich allein gestellt durchkommen.
»Dein Lächeln, liebe Schwiegertochter, bestärkt in mir den Verdacht, mein Vorschlag, wer eine geeignete Ehefrau für meinen Sohn wäre, könne in deinem Sinne sein.«
Tilla erstarrte. Wie sollte sie seine Worte interpretieren? Sie kannte in Berlin keine Frau, die sie gern in Hannes’ Armen sehen wollte.
»Es ist nicht ganz das, was ich mir für Hans erhoffte, aber auch keine schlechte Lösung.« Wieder zögerte Meindorff, was Tilla genug Zeit ließ, ihrem Mann einen fragenden Blick zuzuwerfen. War er in die Pläne seines Vaters eingeweiht? Wusste er mehr als sie?
Ihr Ehegatte hatte jedoch den rechten Ellenbogen auf die Armlehne seines Stuhles gestützt, dazu den Kopf auf die geballte Faust gelegt und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
»Deine Demy und Hans verstehen sich recht gut, wie es den Anschein hat. Ich halte es für angebracht, sofort mit den beiden zu sprechen, dann kann ihre Verlobung noch heute auf eurem Begrüßungsfest bekanntgegeben werden.«
Tilla drohte sich der Magen umzudrehen. Das Mädchen, für das Meindorff Heiratspläne schmiedete, war gerade einmal 14 Jahre alt; ein Kind noch, unreif und wild. Sie konnte unmöglich zulassen, dass man sie innerhalb der nächsten Wochen verheiratete! Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, als sie panisch versuchte, eine sinnvolle Ausrede zu finden.
Niemand wusste um Demys wahres Alter. Würde die Tatsache, dass Tilla gelogen hatte, um Demy mit nach Berlin bringen zu können, ihr nun zum Fallstrick werden? Irgendwie musste es ihr gelingen, das zu verhindern, notfalls mit dem Offenlegen ihres kleinen Betruges. Aber bedeutete das, dass man Demy womöglich zurück nach Holland schickte? Auch das konnte sie nicht zulassen! Musste sie nun innerhalb von Sekunden abwägen, welches das kleinere Übel war?
Demy mochte Hannes, da gab Tilla ihrem Schwiegervater recht, und vielleicht erwuchs aus dieser Zuneigung eines Tages tatsächlich Liebe. Immerhin war Zuneigung weitaus mehr, als sie selbst im Moment für ihren Ehemann empfand. Die Kleine könnte es mit der Wahl ihres zukünftigen Ehepartners weitaus schlechter treffen – das musste dem Wildfang nur entsprechend verpackt mitgeteilt werden.
Zögernd richtete Tilla sich auf und hob die Hand, als wolle sie ihrem Schwiegervater widersprechen, woraufhin der sofort die Stirn in Falten legte und sie missbilligend anblitzte. Sie kannte diesen Blick auch von seinem ältesten Sohn nur zu gut, ließ sich dieses Mal jedoch nicht einschüchtern.
»Ich stimme Ihrer Überlegung grundsätzlich zu, Herr Vater.« Mit angehaltenem Atem beobachtete Tilla, wie sich die Falten auf seiner Stirn wieder glätteten. »Allerdings möchte ich bei Demy ungern eine Entscheidung überstürzen. Diese Art von Druck könnte sie in die Rebellion treiben. Sie haben inzwischen sicher selbst erkannt, wie ungeschliffen dieser kleine Diamant noch ist und ihr dankenswerterweise eine gute Gouvernante an die Seite gestellt. Eine Verlobung sollte nicht überstürzt werden. Es wäre sicher besser, wenn die beiden das Gefühl haben, diese selbst herbeigeführt zu haben.«
Erleichtert, dass die Männer sie ohne Unterbrechung anhörten, sprach sie schnell weiter: »Hans befindet sich noch in der Ausbildung und sollte durch eine Heirat nicht abgelenkt werden. Zudem ist er mit seinen knapp zwanzig Jahren noch sehr jung, um der Verantwortung für eine Ehefrau und sich eventuell bald einstellende Kinder gerecht zu werden. Demy, ebenfalls noch in Ausbildung, sollte diese in Ruhe zu Ende bringen, vielleicht erweitert durch ihre dann veränderte Stellung und die damit verbundenen neuen Anforderungen im Hause Meindorff. Darüber müsste auch Frau Cronberg informiert werden. Zudem sollten wir ihre zarte Jugend nicht gänzlich außer Acht lassen.«
Einen quälenden Moment lang musterte der alte Meindorff sie, bis sie zu ihrem Erstaunen schließlich den Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht sah.
»Joseph, du hast eine weise Diplomatin zur Frau«, wandte er sich an seinen Sohn. Diesem entlockte die Bemerkung des Vaters lediglich einen undefinierbaren Brummton. »Ich billige deinen Vorschlag, Tilla, verlange aber, dass die Verlobung in den nächsten zwei bis drei Monaten verlautbart wird, um jegliches Gerede in der Stadt zu unterbinden. Zudem wird dies Hans zwingen, seine Beziehung zu dem anderen Frauenzimmer abzubrechen.«
Diese Bedingung ließ Tilla schwer schlucken. Mutete sie ihrer Schwester mit ihrer Entscheidung nicht dieselben grässlichen Bedingungen zu, wie sie selbst sie in ihrer Ehe ertragen musste? Aber Hannes war anders veranlagt als Joseph, das spürte sie deutlich. Er könnte ihre Schwester glücklich machen, wenn er es wollte.
»Ich werde umgehend mit deinem Vater Kontakt aufnehmen. Zwar giltst du hier in Berlin als Demys Vormund, wobei diese Vormundschaft mit der Eheschließung automatisch auch auf Joseph überging, aber wir möchten den Familienvorstand van Campen natürlich nicht gänzlich überfahren.«
Ein heißer Schauer jagte Tilla über den Rücken. Der Gedanke, dass ihr Vater über die anstehende Verlobung informiert, ja formell sogar um seine Zustimmung angefragt werden würde, war ihr bisher nicht gekommen. Er hatte Demy ohnehin nicht ziehen lassen wollen und Tilla wegen der falschen Altersangabe erhebliche Schwierigkeiten bereitet.
»Diesen Briefverkehr brauchen Sie nicht auch noch zu übernehmen, Herr Vater. Ich unterrichte meinen Vater über die für ihn sicherlich erfreuliche Entwicklung«, versuchte sie die Situation zu retten.
»Das soll mir recht sein. Und nun möchte ich euch beide nicht länger aufhalten. Die ersten Gäste werden demnächst erwartet.«
Tilla konnte es kaum erwarten, den Raum zu verlassen. Dennoch wartete sie ungeduldig, bis Joseph ihr die Tür öffnete, ehe sie aus dem Arbeitszimmer floh, das ihr wie die Höhle eines Löwen erschien.
Ob sie am besten sofort mit Demy das Gespräch suchte? Tilla schob diese Überlegung von sich, denn Demy war an diesem Abend ohnehin sehr aufgeregt, da sie Tilla zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit bei einem offiziellen Anlass zur Seite stehen sollte und sich damit überfordert fühlte. Zudem fürchtete Tilla den Augenblick, in dem sie Demy offenbaren musste, dass ihre eigene Schwester sie an einen Meindorff verschachert hatte.
***
Der Mann, vor dem Demy knickste, trug eine braune Baumwollhose, ein nachlässig in den Bund gestopftes Hemd voller Rußflecken und eine Mütze, deren Schirm halb abgerissen war. Sogar in seinem Gesicht fand sich eine Schmutzspur. Seine Begleiterin war mit einem ebenfalls zerrissenen Baumwollrock bekleidet, während ihre grauenhaft bunte Bluse offensichtlich schlampig zusammengenäht war. Auf ihrem Kopf saß ein mickriges Hütchen mit ein paar albernen Kunstblüten und an ihren Arm rasselten bei jeder Bewegung mehrere billige Schmuckreifen. Allerdings blitzte das modische Fußband, unter dem zerfetzten Rock gut sichtbar, golden auf. Demy glaubte sogar darin eingearbeitete Rubine auszumachen.
Kopfschüttelnd über diesen Aufzug wandte sich das Mädchen dem großen Foyer zu. Fröhliches Lachen und laute Stimmen erfüllten den festlich dekorierten hohen Raum, während im Hintergrund die eigens engagierten Musikanten die erste flotte Melodie zu spielen begannen. Das Klirren aneinanderstoßender Champagnerkelche und die erfreuten Ausrufe beim Anblick des reichhaltigen Büfetts zeugten von der Begeisterung der Gäste über diesen gelungenen Themenball.
Tilla kam in einer erbärmlichen Verkleidung auf Demy zu. Die von ihr gewählte Garderobe stellte noch deutlicher heraus, wie dünn und blass ihre Schwester aussah. Die Ringe unter ihren traurig blickenden Augen hatte Demy ihr, wie Henriette es ihr beigebracht hatte, sorgfältig überpudert.
»Demy, du hattest unrecht. Sieh nur, die anderen Gäste tragen zerrissene Kleidung und kräftig aufgetragenen Schmutz an sich.«
»Die Menschen in den Straßen Berlins mögen arm sein, Tilla, sie sind aber dennoch nicht gänzlich verwahrlost. Die meisten von ihnen geben sich große Mühe, ihre Kleidung sauber zu halten, und waschen sich, selbst wenn sie einen Waschraum mit vierzig oder mehr Personen teilen. Es ist geschmacklos genug, oder vielleicht auch lächerlich, dass der Geldadel einen Ball feiert, bei dem man sich als arme Mitbürger verkleidet. Aber deswegen müssen die Leute nicht …«
»Demy, bitte. Ich habe Kopfschmerzen und ich bin müde. Erzähl mir morgen, was dir an dem Fest nicht gefallen hat, das Josephs Freunde zu Ehren unserer Rückkehr ausrichten.«
»Du gehörst ins Bett und hast ein paar Tage Schlaf nötig, nicht diesen Ball. Hat dein Mann dich über die Pyramiden von Gizeh gejagt und dich den Mississippi hinunterschwimmen lassen?«
»So etwa.« Mit zusammengekniffenem Mund schaute Tilla sie tadelnd an, ehe sie ihr den Rücken zudrehte und sie bat, die Nähte ihrer Bluse zu überprüfen, da sie den Eindruck hatte, diese lösten sich auf.
»Nein, mit den Nähten ist alles in Ordnung. Die Bluse ist nur viel zu weit für dich. Du bist schrecklich mager geworden. Hast du das Essen im Ausland nicht vertragen?«
»Aber natürlich.«
Demy rümpfte ihre Nase. Sie hatte sich auf die Rückkehr ihrer Schwester gefreut und erwartete begierig ihre Berichte über die Länder, Städte und Menschen, die sie und ihr Mann auf der mehrwöchigen Reise kennengelernt hatten. Tilla jedoch sah nicht nur schlecht aus, sie schien sich auch so zu fühlen und zog sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf ihr Zimmer zurück und wollte ungestört sein. Ob es während der letzten Wochen Probleme gegeben hatte? In einem der von ihnen bereisten exotischen Länder? Oder zwischen ihr und ihrem Ehemann? Oder war Tilla schwanger?
Demy nahm sich schweren Herzens vor, sich in Geduld zu üben. Sie hielt sich am Rande der Tanzfläche auf und beobachtete, wie sich die zerlumpten Damen und Herren auf ihrem Arme-Leute-Ball königlich amüsierten und den erlesenen Speisen und Getränken zusprachen. Das Orchester spielte zwischen Wiener Walzern und temperamentvollen ungarischen Tänzen auch in Demys Ohren unschöne preußische Märsche. Sie fand es auch viel schöner, die Herrschaften Walzer tanzen zu sehen, wenn diese ihre vornehmen schwarzen Fracks und die im Licht der Kerzen funkelnden und schimmernden Festkleider und passenden Schmuck trugen, als in der heutigen Verkleidung.
Verstohlen drückte Demy sich mit dem Rücken gegen den Samtvorhang vor einer der Fensternischen und hoffte, bei dem fröhlichen Trubel halbwegs unsichtbar zu sein. Henriettes Lehrstunden weihten sie zwar zügig und gut in die Tätigkeiten und Geheimnisse eines hochgestellten Dienstmädchens ein, dennoch fühlte sie sich jetzt gerade zu sehr als das, was sie war: viel zu jung für dieses Fest.
In einer Traube von munteren Freunden näherte sich ihr Joseph Meindorff der Jüngere, den sie seit der Ankunft am Vortag noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
»Was du versäumt hast? Nichts, würde ich sagen«, erklärte ihm jemand laut lachend.
Ein anderer Mann schlug Joseph kräftig auf die Schulter. »Was erzählst du da? Im April fand ein Fußballspiel zwischen dem deutschen Kaiserreich und der Schweiz statt. Wir haben drei zu fünf verloren. Und in London wurden die neunten Olympischen Spiele abgehalten. Ich war dort und muss sagen: Es war großartig! Es wurde eigens ein neues Stadion erbaut.«
»Nachdem du wieder abgereist warst? Kannst du dich nicht mal im Ausland benehmen?« Die Männer lachten rau und prosteten Joseph zu.
»Mir kam zu Ohren, in Ägypten müssten sie jetzt neue Pyramiden bauen …«, gab der Uniformierte namens Adalbert launig zurück.
Joseph grinste über den Seitenhieb auf seine Kosten und stellte einem vorbeieilenden Diener sein geleertes Glas auf das silberne Tablett.
So unauffällig wie möglich trat Demy ein paar Schritte beiseite und versteckte sich in der Fensternische. Der Wind spielte mit der kostbaren Spitzengardine, während im Park unzählige Fackeln munter vor sich hin flackerten und die Stauden, Rosenbüsche und Zierbäume in ein geisterhaftes Licht tauchten.
Wie gerne wäre sie jetzt dort unten an der frischen Luft spazieren gegangen, umgeben von duftenden Rosen und nächtlichem Frieden, statt sinnlose Unterhaltungen anhören zu müssen und eitle Menschen um sich zu haben. Ihre Aufgabe jedoch war ständige Erreichbarkeit und Fürsorge für Tilla.
»Gibt es auch Neuigkeiten außerhalb des beschränkten Horizonts dessen, was Adalbert interessiert?«, hakte Joseph nach.
»Unser Berliner Universitätsrichter Daude hat ein Urteil gefällt, dass Juden kein Satisfaktionsrecht besitzen. Du darfst jetzt also getrost jedem Juden die Frau ausspannen oder ihn beleidigen.«
»Das ist für Joseph doch uninteressant.«
»Mir scheint, ich habe euch hier gefehlt.«
»Richtig, es war so gut wie nichts los«, mischte sich eine süffisant klingende Männerstimme in das Gespräch ein. »England hat einen neuen Premierminister, Asquith. Für Sie interessant ist aber eher der neue Handelsminister, ein gewisser Winston Churchill. Das dänische Parlament hat ein neues Wahlrecht eingeführt. Dort dürfen jetzt auch Frauen wählen, zumindest diejenigen, die selbst oder deren Männer Steuern zahlen. Zwei Wochen später hatten wir hier wieder Demonstrationen gegen das Dreiklassenwahlrecht und in Frankreich besaß eine Frau den Nerv, für Gemeinderatswahlen zu kandidieren. Dabei sind auch dort die Frauen nicht mit dem Wahlrecht ausgestattet. Und neuerdings ist bei uns in Preußen die Mitgliedschaft von Frauen in politischen Parteien und Vereinen erlaubt.«
Um einen Blick auf den auffällig arrogant klingenden Sprecher zu erhaschen, spickte Demy an dem dunkelbraunen Samtvorhang vorbei, der die Fensternische umrahmte und oberhalb dieser kunstvoll gerafft war. Der Mann war etwas älter als die Umstehenden und schien gut informiert zu sein, doch die überhebliche Stimme, mit der er die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen und Bestrebungen der Länder und ihrer darin lebenden Bürger umriss, stieß sie ab. Die ganze Zeit über hielt er sich militärisch aufrecht, und mit seinen hinter dem Rücken verschränkten Händen und dem hoch erhobenen Kopf wirkte an ihm selbst die Verkleidung beinahe majestätisch. Allerdings hob er sich ohnehin durch eine einwandfreie Garderobe, die viel mehr zu einem Oberschullehrer als zu einem Arbeiter passte, von der Masse der anderen Gäste ab.
»Und Sie sind zurück aus Athen, oder war es Peking, wohin Sie Adalbert, allerdings nicht diesen Lump hier, sondern den königlich-kaiserlichen Prinzen, bei seinen Repräsentationspflichten begleitet hatten, Herr Willmann?«
Die Gereiztheit in Josephs Stimme spiegelte seine offensichtliche Abneigung gegen den vorherigen Sprecher wider. Trotz der ausgelassenen Stimmung im Hintergrund lag zwischen den beiden Herren ein deutlicher Misston in der Luft.
»Nur für den Augenblick, Meindorff. Es stehen weiterführende Gespräche über geschäftliche Verbindungen meines Unternehmens mit den Griechen an. Ich wohne diesem Ball heute nur bei, um meiner Verlobten einen Wunsch zu erfüllen.«
»Ihrer Verlobten? Gratuliere. Wer ist die Glückliche?«
»Brigitte Ehnstein. Wir begehen nächste Woche unsere Verlobung mit einem großen Fest. Die Einladungen sind bereits zugestellt.«
Demy amüsierte sich über Josephs säuerliches Gesicht. Dass er nichts von der Verbindung zwischen diesem Herrn und der jungen Dame in Rosa gewusst hatte, die Demy mit Philippe im Treppenhaus der Meindorffs angetroffen hatte, machte allen Anwesenden deutlich, dass er keine Einladung erhalten hatte.
Willmann grüßte mit einem herablassenden Nicken und ließ die Gruppe stehen.
»Willmann heiratet eine Ehnstein. So machen die das seit jeher. Dadurch bleibt das Geld sicher in der eigenen Familie. Weiß jemand, ob es sich bei der kleinen Brigitte um eine Cousine ersten oder zweiten Grades von Willmann handelt?«, fragte der fröhliche Adalbert in die Runde.
»Frag das die Frauen. Sie wissen über derartigen Kram immer bestens Bescheid«, knurrte Joseph und ging mit großen Schritten davon.
Da sie nicht des Lauschens bezichtigt werden wollte, drehte Demy sich flugs dem Fenster und dem friedlichen Anblick des Parks zu. Allerdings dauerte es nur ein paar Minuten, bis sich ihr eilige Schritte näherten, sie jemand an den Schultern ergriff und herumdrehte.
»Hallo, kleine Demy! Du siehst auf diesem Ball so … so normal aus!«, lachte Hannes ausgelassen und strich sich mit einer hastigen Bewegung einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Ich habe mir alle Mühe gegeben, dem Motto gerecht zu werden und bin als ganz gewöhnliches Mädchen erschienen. In einem meiner Röcke und einer passenden Bluse. Aber wie ich sehe, hast du etwas mehr Aufwand betrieben. Das sieht mir nicht nach der Uniform eines Offiziers in Ausbildung, sondern nach der eines schlichten Soldaten aus.«
»Ich mag deine unverblümte Art. Und deshalb bist du die Erste, der ich heute Abend meine Begleiterin vorstelle.« Voll jugendlichen Überschwangs trat Hannes aus der Nische und zog hinter dem Samtstoff eine Frau hervor. Deren Wangen waren vor Aufregung gerötet und sie warf Demy einen unverkennbar ängstlichen Blick zu.
»Kleine, das ist Edith Müller aus Magdeburg und dies, liebe Edith, ist Demy van Campen, die Halbschwester der Frau meines Bruders und in jedem Fall ein feiner Kerl.«
»Guten Abend, Fräulein Müller.« Demy grüßte die Fremde mit einem Kopfnicken und musterte sie dabei neugierig. Die Gesichtszüge von Hannes’ Begleiterin wirkten klar und aufrichtig, wobei sie landläufig wohl nicht als Schönheit bezeichnet werden würde. Dafür war sie zu mollig und kaum größer als Demy, obwohl Edith einige Jahre älter war. Edith wirkte sehr sympathisch, nur wunderte Demy sich, dass sie ihren Namen noch nie gehört hatte, der hier im Haus gewiss gelegentlich gefallen sein musste.
»Guten Abend, Fräulein van Campen. Hannes meinte, ich solle mich heute Abend an Sie halten. Sie könnten mir erklären, was von mir erwartet wird.«
»Gern«, sagte Demy und lächelte die nervöse Frau an, dann wandte sie sich mit in Falten gelegter Nase und fragend erhobenen Augenbrauen zu Hannes. Das Zucken um seine Mundwinkel verriet ihr seine Nervosität, obwohl er ansonsten ein fröhlicher Zeitgenosse war und diese gesellschaftlichen Zusammenkünfte von Kind an kannte. Er beugte sich zu Demy hinunter und flüsterte: »Dieser Ball bietet für mich die einfachste Möglichkeit, Edith einzuführen. Ich dachte, heute sehen unsere Bekannten und Verwandten alle gleich aus, doch nun fürchte ich, Edith ist weitaus nobler gekleidet als viele der anwesenden Damen.«
»Die passende Garderobe ist nicht das eigentliche Problem, das dich umtreibt, nicht wahr?«, zischte Demy. Noch immer durchsuchte sie in ihrem Gedächtnis Fräulein Cronbergs Ausführungen darüber, welche Partien zwischen den unverheirateten jungen Leuten innerhalb des exklusiven Zirkels in nächster Zeit erwartet wurden. Und in Verbindung mit Hannes waren viele Namen gefallen, niemals jedoch »Edith Müller«.
»Dein Scharfsinn ist bemerkenswert«, raunte Hannes ihr zu.
»Mag sein, aber dein Tun heute grenzt an Dummheit. Du kannst doch diese arme Frau nicht einer ganzen Horde rein wirtschaftlich denkender Industrieller auf einmal aussetzen!« Demy presste erschrocken eine Hand vor den Mund. »Entschuldige bitte. Das war respektlos.« Der Getadelte schüttelte nur den Kopf, was Demy veranlasste, fortzufahren: »Ich bin fremd in Berlin, und dies ist erst der zweite Ball, den ich als Tillas Begleiterin besuche. Aber ich stehe dabei stundenlang gelangweilt herum und höre mir die Unterhaltungen der Gäste an. Sie dulden wohl schwerlich jemanden in ihren Kreisen, der nicht von jeher zu ihnen gehört!«
»Demy, ich dachte, du würdest mir Mut machen und mir helfen. Zumindest was deine Schwester betrifft …«
»Ich denke, Tilla ist dein geringstes Problem. Aber dein Vater und dein älterer Bruder …? Wäre es nicht besser, du bringst das arme Fräulein Müller ganz schnell hier weg und versuchst später in Ruhe mit deiner Familie ein Gespräch über deine Zuneigung zu einer sympathischen, aber nicht deinem Stand entsprechenden Frau zu führen?«
»Du übertreibst!«
Das Mädchen presste unschlüssig die Lippen aufeinander und warf einen Blick zurück auf die nervös wartende Frau im Fenstergiebel.
Sie selbst verspürte dem Patriarchen der Meindorffs gegenüber einen gewaltigen Respekt, wenn nicht sogar Furcht. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Hannes von ihm die Erlaubnis erhielt, eine einfache Arbeiterin zu heiraten. Und sein Ansinnen, sie auf dem Fest unter all die Industriellen, Professoren, Architekten, Juristen und Militärs einzuschmuggeln, barg die Gefahr, zu einem unüberschaubaren Skandal zu eskalieren. Allerdings konnte sie für Hannes nicht mehr tun, als ihn zu warnen. Hierbei handelte es sich um seine Familie und seinen Bekanntenkreis, und demnach war es seine Entscheidung, wie er in dieser Sache vorging.
»Ich stehe zu dir, Hannes, das weißt du. Aber ich zähle hier nicht.«
»Für mich schon, kleine Demy.«
Das Mädchen schüttelte temperamentvoll den Kopf. »Überleg es dir noch mal. Und vor allem, besprich dich mit deiner ängstlichen Freundin«, raunte sie ihm zu.
»Wir möchten heiraten. Eines Tages muss ich sie meiner Familie vorstellen.«
Wieder wandte Demy sich um. Die Kristallprismen an den Kronleuchtern reflektierten den flackernden Kerzenschein in einem vielfarbigen Licht, sodass die hellbraune Farbe der Wand wunderschön zur Geltung kam und die weißen Stuckverzierungen deutlicher hervortraten als bei Tage. Durch die mehrfach unterteilten Fenster drang der unruhige Feuerschein der Fackeln herein, und davor stand Edith wie ein unscheinbarer schwarzer Schatten, ein Fremdkörper in dieser gleißenden Welt aus Macht und Prunk.
»Hannes! Ich wusste nicht, dass du hier bist! Endlich ein Lichtblick in dieser politisierenden Männergesellschaft!«, rief eine Stimme gegen die Tanzmusik und den Geräuschpegel der Gäste an.
In dem Sprecher erkannte Demy diesen Adalbert Ahlesperg. Er stürmte auf Hannes zu und schüttelte ihm erfreut die Hand. »Ein Fest ohne dich ist immer eine furchtbar ernste Angelegenheit. Du bist so erfrischend und heiter. Deinen zynischen Adoptivbruder hast du aber diesmal vergessen?«
»Der treibt sich in Deutsch-Südwest herum.«
»Macht er dort die Betten schöner Damen unsicher?« Adalbert lachte, bevor er Demy einen Blick zuwarf. Er wusste sichtlich nichts mit ihr anzufangen, grüßte sie jedoch mit einer formvollendeten Verbeugung. Demy wollte schon knicksen, wie ihre Lehrerin es ihr beigebracht hatte, doch beseelt von dem Wunsch, ihn von Edith abzulenken, gönnte sie ihm lediglich ein knappes, gnädiges Nicken und stellte sich als Tillas Schwester vor.
Nun war es an Hannes, belustigt auflachen. Dies verging ihm aber schnell, als Adalbert trotz Demys Bemühungen Edith entdeckte und zu ihr in die Nische trat.
Demy rümpfte entsetzt die Nase. Dieser Witzbold war mit Sicherheit nicht der Richtige, um Edith in dieser illustren Runde einen guten Start zu ermöglichen! Da Hannes’ Freundin nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte, tat die Frau das Einzige, das ihr einfiel: Sie ahmte Demys hoheitsvolles Nicken nach.
»Warum hat Hannes Sie denn hier versteckt, schöne Fremde?«, forschte Adalbert nach. Da weder Demy noch Edith reagierten, wandte der Mann sich wieder um. »Sag schon, Hannes, wer ist die Dame? Eine entfernte Rathenau-Verwandtschaft? Das wäre ein Clou! Oder kommt sie aus einer schwäbischen Industriellenfamilie? Daimler? Du magst doch deren Automobile so. Willst du uns nicht bekanntmachen? Hat Philippe deine guten Manieren mit in das wilde Afrika genommen?«
»Ja, äh … das ist Edith.« Hannes’ Hilfe suchender Blick zog Demy den Magen zusammen. So hatte er sich die Einführung seiner Verlobten in die Gesellschaft mit Sicherheit nicht vorgestellt.
»Edith … und weiter? Nun mach es doch nicht so spannend.« Adalbert ließ Hannes weder eine Chance zum Nachdenken noch zum Antworten. »Ich hab’s, sie ist eine Tochter eurer Verwandten aus Hamburg! Elisabeth, nicht?«
»Nein, einfach nur Edith. Edith Müller.« Die junge Frau übernahm das Ruder und trat entschlossen aus der Nische hinaus in den Lichtschein.
Demy war etwas überrumpelt von ihrem Frontalangriff, zugleich aber erleichtert, dass die Frau nicht zu einem abstrusen Täuschungsmanöver griff, um sich aus der heiklen Situation zu winden. Nicht weniger überrascht als sie starrte Adalbert die Fremde an, und Demy konnte fast sehen, wie es hinter seiner hohen Stirn arbeitete.
Nach einem unangenehm lange anhaltenden Schweigen packte Adalbert Hannes am Uniformrock und zog ihn ein paar Schritte beiseite. Allerdings nicht weit genug, als dass den beiden Frauen die aufgebrachte Unterhaltung entging, obwohl die nach einer kurzen Pause erneut einsetzenden Klängen des Orchesters sie überdeckten.
»Bist du des Teufels? Keiner der Männer, nicht einmal der dreiste Philippe hat es je gewagt, eine seiner Freundinnen mit auf einen Ball zu schleppen. Und du tauchst hier mit diesem … Mädchen auf.«
»Dieses Mädchen ist …«
»Hans!«
Demy schloss vor Schreck die Augen. Die Falten auf ihrer Nase vertieften sich und sie rang die Hände. Wie aus dem Nichts erschien der Rittmeister neben den beiden Männern. »Was hat das zu bedeuten?«
»Herr Vater!« Der Schreck ließ den Kadetten erbleichen.
Auch Demy wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Das Familienoberhaupt musste sich unbemerkt in der nebenan liegenden Fensternische aufgehalten und zumindest die Diskussion zwischen den beiden Freunden mitangehört haben.
»Schick augenblicklich dieses Flittchen weg!« Meindorffs Stimme klang wie Donnergrollen. Dennoch vernahm Demy den halb erstickten Schreckenslaut, den Edith ausstieß.
Demy verspürte großes Mitleid mit der Frau, die von dem Vater des Mannes, den sie liebte, dermaßen herablassend behandelt und beschimpft wurde. Welcher Aufruhr der Gefühle mochte jetzt in ihr toben? Und in Hannes?
»Edith ist kein Flittchen, Vater«, stellte Hannes klar. Seine Stimme klang ruhig, aber gepresst. Sein Blick streifte Edith, schien sie um Verzeihung zu bitten. Demy glaubte Schmerz und Schuld in seinen Augen zu lesen und beobachtete, wie das unglückliche Paar sich an den Händen zu ergreifen versuchte, aber zu weit voneinander entfernt stand, um sich berühren zu können.
»Sie ist meine Verlobte, die ich Ihnen vorstellen wollte«, fuhr Hannes tapfer fort.
»Wenn du sie geschwängert hast, bekommt das Kind alles, was es braucht. Aber niemals den Namen Meindorff oder ein Recht darauf, sich unserem Haus oder der Familie nähern zu dürfen. Was also soll dieser Aufstand? Willst du unbedingt den Namen Meindorff in den Schmutz ziehen?« Die Stimme des Rittmeisters war leiser als gewöhnlich, hatte deshalb aber nichts von ihrer Schärfe und Kompromisslosigkeit eingebüßt. »Philippes Liebschaften konnte ich nie verhindern, aber er ist nicht mein Sohn. Dir lasse ich nichts dergleichen durchgehen! Meinetwegen habe deine Affären, aber nicht in der Öffentlichkeit.«
»Herr Vater, wir möchten heiraten!«
»Ich will dem Frauenzimmer weder vorgestellt werden, noch möchte ich sie überhaupt ansehen müssen. Und diese Verbindung schlag dir unverzüglich aus dem Kopf. Du kennst die Regeln. Schaff sie augenblicklich weg, bevor es einen Skandal gibt!«
Deutlich beherrschter wandte Meindorff sich an Adalbert. »Und Sie, junger Mann, bitte ich um der Freundschaft unserer Häuser willen, dass Sie über diesen kleinen Zwischenfall Stillschweigen bewahren.«
»Das ist Ehrensache«, beteuerte Adalbert. Seine Gesichtsmuskeln zuckten.
»Ich stehe in Ihrer Schuld.« Meindorff wandte sich zum Gehen um, doch Hannes fiel ihm in den Arm.
»Vater …«
»Nicht ein Wort mehr, Hans Joseph Anton Meindorff. Nicht ein Wort und keine Sekunde meiner Zeit mehr!«
Schockiert von so viel Härte und Kälte presste Demy die Lippen aufeinander. Selbst ihr, die sie bei dieser Auseinandersetzung lediglich die Rolle einer Zuhörerin am Rande innehatte, jagte ein eisiger Schauer über den Rücken.
Meindorffs Sohn war allerdings nicht gewillt, so schnell aufzugeben.
Demy war versucht, den unvorsichtigen Mann von seinem Vater fortzuziehen, doch sie wagte es nicht. Da spürte sie Ediths Hand auf ihrem Arm.
»Fräulein van Campen? Entschuldigen Sie bitte. Ich würde gern gehen, aber ich fürchte, ich finde den Weg nach draußen nicht. Dieses große Haus erscheint mir wie ein Irrgarten.«
Da Demy es sinnvoll fand, zumindest das Objekt der sich anbahnenden Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn in Sicherheit zu bringen, flüsterte sie zurück: »Kommen Sie.«
Mit hastigen Schritten eilte sie Edith voraus über das rautenförmig angeordnete Parkett und zwischen den Gästen hindurch. Auch in der Vorhalle hielten sich vermeintlich arme Bürgersleute auf, die ein erschreckend verwahrlostes Bild abgaben, was Demy trotz der angespannten Situation ärgerte.
Edith ließ sich von einem eigens für dieses Fest zusätzlich angestellten Bediensteten ihren leichten, taillierten Sommermantel reichen und wandte sich wieder an Demy. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Ich hätte Hannes niederschlagen sollen, solange noch die Möglichkeit dazu bestand. Das wäre Ihnen vermutlich mehr Hilfe gewesen.«
Auf Ediths Gesicht schlich sich ein gequältes Lächeln. »Hannes erzählte mir schon, mit wie viel Temperament Sie ausgestattet sind.«
»Wie konnte er Sie nur zu so einem Vorhaben überreden?«
»Es brauchte nicht viel Überzeugungskraft. Ich liebe ihn. Er hat mir gestern einen Heiratsantrag gemacht, den ich annahm. Heute sollte ich seiner Familie vorgestellt werden. Er fand die Idee ausgezeichnet, dies während eines völlig ungezwungenen Festes zu tun, nahm aber an, sein Vater sei nicht mit von der Partie.«
Demy zuckte mit der linken Schulter. Vermutlich war jede Gelegenheit die falsche, ob bei einem lockeren Fest oder in der Zurückgezogenheit des väterlichen Arbeitszimmers, wenn das Thema die mögliche Eheschließung zwischen Hannes Meindorff und Edith Müller war, überlegte das Mädchen.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie Edith.
»Es eilt ja nicht. Hannes und ich werden das Kunststück schon hinbekommen, das Einverständnis Herrn Meindorffs zu erlangen.«
Demy, die eigentlich hatte wissen wollen, wie Edith nach Hause kommen würde, seufzte innerlich auf. Ob die junge Frau da nicht von zu viel Hoffnung inspiriert war? Im Gegensatz zu Philippe hatten sich weder Joseph noch Hannes jemals ihrem Vater widersetzt. Was der ehemalige Rittmeister sagte, war Gesetz, so viel hatte sie in den vergangenen Wochen herausgefunden. Mochte es auch einige Meinungsverschiedenheiten gegeben haben, durchgesetzt hatte sich immer der Vater. Sogar als Tillas Mann den Wunsch äußerte, eine zweite Firma aufzubauen, um finanziell unabhängiger zu sein, war sein Vorhaben von seinem Vater zwar toleriert worden, da er Männer, die etwas Eigenes auf die Beine stellten, durchaus respektierte. Er hatte ihm jedoch strikt vorgegeben, in welchen Bereich er investieren sollte. Somit war eine weitere Berliner Brauerei aus dem Boden gestampft worden.
Demy hatte ihr Wissen um die familieninternen Entscheidungen, Auseinandersetzungen und Abhängigkeiten von der Haushälterin Maria und von Fräulein Cronberg, und sie war froh darüber, denn inzwischen half es ihr, mit gewissen Eigenheiten der Familie zurechtzukommen und weitaus weniger anzuecken als zuvor.
»Sie sagen ja gar nichts«, brachte Edith sich in Erinnerung.
»Hannes handelt gelegentlich wie ein unbeschwerter, fröhlicher Junge. Ich fürchte nur, in dieser Angelegenheit wird er sich das erste Mal in seinem Leben richtig …«
»Sie sehen keine Chance?« Auf den erstickten Aufschrei hin hob Demy den Kopf und betrachtete das erschrockene Gesicht ihrer Gesprächspartnerin. Im Gegenlicht der Fackeln sah sie eine einzelne glitzernde Träne über ihre Wange rollen.
»Ich würde Ihnen gern sagen, Sie sollen die Hoffnung nicht aufgeben, aber ich kann es nicht. Hannes hat schon zu viel davon in Ihnen geweckt.«
Als wolle sie die Erinnerung an diesen Abend abwischen, strich Edith sich mit beiden Händen über das Gesicht und wandte sich dann zum Gehen.
»Wissen Sie, wie Sie nach Hause kommen?«
»Ich gehe zur Straßenbahn und fahre zum Bahnhof.«
Demy warf einen prüfenden Blick zum Himmel, wo sich zwischen ein paar dunklen Wolken nur vereinzelte Sterne zeigten, doch sie schwieg, war sie doch nicht in der Position, der verzweifelten Frau eine Begleitung oder gar eine Kutsche zur Verfügung zu stellen.
***
Kaum zurück im kleinen Foyer kam eine rotwangige Henny auf Demy zu und ergriff sie am Arm, ließ sie aber schnell wieder los, als ihr klar wurde, dass sie gesellschaftlich hochstehende Zuschauer hatten.
Demy warf ihr einen bestürzten Blick zu. Was hatte Henny so aufgewühlt? »Sie werden gesucht, Fräulein. Der Herr Rittmeister sah sehr wütend aus, als er den Herrn Hans in sein Arbeitszimmer rief. Gleich darauf veranlasste er die Suche nach Ihnen.«
Ein flaues Gefühl breitete sich von Demys Magen in ihre Beine aus, und sie suchte mit der Hand Halt an Hennys Schulter. Ging der Patriarch davon aus, sie habe von Hannes’ Plänen gewusst, ihm gar dabei geholfen, Edith ins Haus zu schmuggeln? War er so aufgebracht, dass er für eine Zurechtweisung nicht einmal das Ende des Festes abwarten wollte?
»Gehen Sie bitte, Fräulein. Den Herrn Rittmeister warten zu lassen verbessert seine Laune nicht.«
Bei dem Gedanken, dass Henny mit großer Wahrscheinlichkeit wusste, wovon sie sprach, blickte sie gehetzt in Richtung des überfüllten Saals, aus dem noch immer Tanzmusik und fröhliche Stimmen in den Eingangsbereich herunterhallten. Sie verharrte auf der Stelle, wobei sie einmal mehr die Nase kraus zog.
Wovor fürchtete sie sich eigentlich? Das Schlimmste, was Meindorff tun konnte, war, sie zu entlassen und zurück in die Niederlande zu schicken, ohne dabei zu ahnen, dass er ihr damit einen großen Gefallen tat. Vielleicht sollte sie es mit ein paar entsprechenden Worten sogar darauf anlegen …?
»Ich bete für Sie«, raunte Henny ihr zu. »Weil ich nicht will, dass Sie fortgeschickt werden. Um meiner Schwester willen und auch um meinetwillen.«
Demy atmete tief durch. Nun stritt ihr geheimer Wunsch, Berlin schnellstmöglich in Richtung Koudekerke verlassen zu können, mit dem Gefühl von Freude, dass sie hier gebraucht wurde und willkommen war. Mit zitternden Knien drängte sie sich durch die Menschenmenge, bis sie vor Meindorffs Bürotür ankam. Lag es an dem Geräuschpegel hinter ihr oder an dem in ihren Ohren rauschenden Blut, dass sie keine erregten Stimmen nach draußen dringen hörte?
Das harte, ungeduldige »Herein!« auf ihr Klopfen hin war hingegen keinesfalls zu überhören. Demy drückte die verschnörkelte Klinke hinunter und schob die Tür auf. Beim Eintreten musste sie gegen den hellen Lichtschein der elektrischen Lampen im Arbeitszimmer anblinzeln. Trotzdem bemerkte sie, dass Hannes sich höflich erhob und ihr einen Stuhl zurechtschob. Sie wartete auf das knappe Nicken des älteren Meindorff als Aufforderung, sich niederzulassen.
»Der drohende Eklat, den ich Gott sei Dank verhindern konnte, zwingt mich, dieses Gespräch mit euch, das eigentlich für später vorgesehen war, unverzüglich zu führen.«
In den Ohren des Mädchens klang Meindorffs Stimme beängstigend ruhig, dennoch wagte sie weder den Hausherrn noch seinen Sohn anzusehen. Ihre Finger spielten nervös mit der winzigen Schmuckblüte an ihrem Gürtel.
»Mit Joseph und Tilla ist die Angelegenheit besprochen. Eurem Fehlverhalten heute verdanken wir jedoch den Umstand, dass auf die sinnvollen Überlegungen, die vor allem Tilla eingebracht hat, keine Rücksicht mehr genommen werden kann. Ich bin nicht in der Lage …« Der Mann stockte und machte seiner aufgestauten Wut nun doch durch einen kräftigen Fausthieb auf seinen Schreibtisch Luft.
Demy zuckte zusammen, als habe er sie geschlagen.
»Machen wir es kurz«, sagte Meindorff und unterbrach sich dann, wobei er seinen Blick auf Demy richtete. Seine warnend erhobene Hand war als deutliches Signal zu verstehen, ihm ja keine Widerworte zu geben. Weshalb dann diese quälende Gesprächspause?
»Wir sind übereingekommen, dass es allen Seiten dienlich ist, wenn ihr beide eure Verlobung bekanntgebt. Nicht in ein paar Wochen, wie ursprünglich geplant, sondern bereits in den nächsten Tagen.«
Demy erstarrte. Eine Welle aus Panik und Verwirrung drohte sie zu überrollen.
»Sollten Einwände von euch kommen, verkünde ich dieses freudige Ereignis heute noch.«
»Herr Vater, Ihr könnt mich bestrafen, aber nicht Demy. Sie hat mit der ganzen Geschichte nichts zu tun.« Bereits an der ungewöhnlich hohen Tonlage, in der Hannes sprach, war sein Schrecken deutlich zu hören.
»Sie hat allerdings etwas damit zu tun, indem sie ab sofort deine Braut ist und ich verlange, dass du sie mit dem gebührenden Respekt behandelst. Weiter ausführen muss ich das wohl nicht.«
Hatte sie die letzten Worte mehr wie durch einen Nebel hindurch wahrgenommen, schüttelte Demy nun ihre Benommenheit ab. Sie rutschte bis ganz nach vorn an die Stuhlkante und presste ihre Hände krampfhaft zusammen, um zu verhindern, dass sie irgendetwas ergriff und damit um sich warf.
»Herr Rittmeister, ich verstehe Ihren Ärger. Dieser rechtfertigt aber nicht, dass Sie …« Erschrocken hob sie den Kopf, als Hannes ihre Hände ergriff und eisern festhielt. Sie brach mitten im Satz ab und betrachtete ihre kleinen Hände in seiner großen. Was wollte Hannes ihr mit dieser vertraulichen Geste signalisieren? Dass er gewillt war, ohne Widerspruch auf die Anordnung seines Vaters einzugehen? Aber was war mit Edith und seinen Beteuerungen, wie sehr er sie liebe?
In Demys Kopf schien ein Schwarm Bienen stetig lauter zu brummen. Sollte auch sie sich fügen? Hatte sie eine andere Wahl, da dieses Thema laut Meindorff bereits mit Joseph und Tilla besprochen und eine abgemachte Sache war. Vielleicht sogar mit ihrem Vater?
Demys Schultern sackten nach vorn. War ihr eine Heimkehr für immer verwehrt, ihre Vermählung mit Hannes eine unumstößliche Tatsache? Heiße Schauer jagten durch ihren Körper, Verwirrung und Trotz drohten sie in einen Strudel aus dunklen Schatten zu ziehen. Ihr Blick wanderte erneut zu Hannes. Er nickte ihr ruhig, fast gelassen zu und drückte ihre Hand noch fester. Ihre Überraschung schlug in Widerwillen über die Art um, wie hier von Menschen, die sie kaum kannte, über ihre Zukunft entschieden wurde.
Wieder drückte Hannes ihre Linke und strich ihr mit seinem Daumen zart und tröstend zugleich über die Finger. Wollte er ihr Mut machen?
Demy konnte nicht mehr fassen, was um sie herum geschah. Sie mochte Hannes, aber doch eher wie einen älteren Bruder. Er nannte sie gern »Kleines«, so, wie große Brüder ihre Schwestern titulierten. Und was geschah mit Edith?
Erschrocken rief sie sich selbst zur Ordnung. Warum dachte sie überhaupt über diese Dinge nach? Sie wollte sich diese Zwangsehe doch nicht etwa schönreden? Ob es Tilla so ergangen war?
Entschlossen spannte Demy ihre Muskeln an. Sie war erst vierzehn! Vielleicht sollte sie diese nicht unwichtige Kleinigkeit dem feinen Herrn Rittmeister mitteilen! War dies nicht die richtige Gelegenheit, die Täuschung aufzudecken und dem ganzen Spuk ein Ende zu bereiten?
Meindorff kam ihr allerdings zuvor: »Eure Verlobung wird schnell bekannt gegeben, allerdings stimme ich mit Tilla überein, dass die Eheschließung nicht überstürzt folgen muss. Demy muss zunächst auf ihre neuen Aufgaben vorbereitet werden.« Der Hausherr sah von ihr zu Hannes und wieder zurück. Täuschte sie sich, oder wirkte auch er erstaunt, dass jeglicher Protest von den beiden jungen Leuten ausblieb?
Wieder verstärkte sich für einen Augenblick Hannes’ Druck auf ihre Hand, ehe er anmerkte: »Demy braucht noch Zeit. Und jetzt möchte ich gern mit ihr allein ein paar Worte wechseln.«
»Ich verstehe und überlasse euch für dieses Gespräch gerne mein Kontor.«
Ehe Demy sich auflehnen konnte, erhob sich der Mann und verließ mit großen Schritten sein Reich. Nun erst fiel die lähmende Anspannung von ihr ab. Mit einem Satz sprang sie auf die Füße und wirbelte zu Hannes herum.
»Was ist in dich gefahren?«, fuhr sie ihn an.
Hannes stand ebenfalls auf und legte sanft seinen Zeigefinger auf Demys bebende Lippen.
»Ruhig, meine Kleine. Ohne einen Plan gegen meinen Vater aufzubegehren hat wenig Sinn. Wir müssen in Ruhe überlegen, was wir nun tun.«
»In Ruhe? Hast du nicht gehört? Er will unsere Verlobung so bald wie möglich – « Wieder verschloss sein Zeigefinger ihr den Mund.
»Ich hätte da einen Plan … Dieser beinhaltet aber, dass ich die Lage und damit dich für meine Zwecke ausnutze, und das möchte ich nicht tun, wenn du nicht zustimmst. Die einzige Alternative wäre aber, dass du mich heiratest.«
»Ich kann auch von hier weggehen. Nach Hause.«
»Dein Vater hat einen Vertrag unterschrieben, der deine Anwesenheit in diesem Haus regelt. Und ich weiß nicht, inwieweit die Vormundschaft für dich auf deine Schwester oder auf Joseph übertragen wurde.«
»Das lässt sich rückgängig machen«, erwiderte Demy kämpferisch und fragte sich, ob sie sich an Lieselottes radikale Frauenrechtlerinnen wenden sollte. Aber in ihrer momentanen Situation konnte ihr ohnehin niemand helfen. Außer – Hannes vielleicht?!
»Dann lass deinen Plan hören.«
Der Kadett seufzte erleichtert auf, ergriff sie erneut an der Hand und zog sie zurück zu ihrem Stuhl, auf den sie sich schwer fallen ließ. »Mit Tillas Bitte um eine lange Verlobungszeit haben wir schon mal das Wichtigste gewonnen: Zeit.«
Demy nickte. Sie konnte sich denken, aus welchem Grund ihre Schwester auf diesem Teil der Abmachung beharrte. Selbst Tilla war nicht skrupellos genug, eine Vierzehnjährige zu verheiraten, ganz abgesehen davon, dass es schwierig werden könnte, ihr richtiges Alter vor einem Standesbeamten zu verschleiern. Allerdings wurde ihr bei Hannes’ Worten sehr schnell klar, was er damit gemeint hatte, sie für seine Zwecke ausnutzen zu wollen. Mit ihrer offiziellen Verlobung war das Thema Edith Müller erst mal vom Tisch. So konnte er sie weiterhin treffen und mit ihr Pläne für eine gemeinsame Zukunft schmieden. Wie genau diese Zukunftspläne aussehen sollten, wusste er offenbar selbst noch nicht, doch immerhin mussten sie ja nichts überstürzen.
Nach einer kurzen Denkpause erklärte Demy sich mit seinem Vorschlag einverstanden, vorerst nichts gegen die Pläne des Rittmeisters zu unternehmen. Und dies trotz der warnenden Worte, mit denen er ihr ehrlicherweise vor Augen malte, welchen Schaden ihr Ruf davontragen könnte, wenn sie als sitzen gelassene Verlobte galt. Ihr kamen diese Folgen allerdings weitaus weniger dramatisch vor, als eine Zweckehe mit Hannes eingehen zu müssen, so sympathisch sie ihn auch fand. Denn eines war ihr klar: Hannes liebte Edith von ganzem Herzen. Eine andere Frau würde keinen Platz darin finden, und eine Zweckheirat mit Hannes würde sie alle drei ins Unglück stürzen.
***
Als Demy sich von ihrem versöhnlich gestimmten und schon wieder erstaunlich gut gelaunten Verschwörer getrennt hatte, drängte sie sich zwischen den Gästen hindurch zu ihrer Schwester. Ohne darauf zu achten, dass sie Tilla mitten in der Konversation unterbrach, hängte sie sich bei ihr ein und zog sie ein paar Schritte beiseite.
»Wir sprechen uns noch, Schwesterherz!«, drohte Demy. Dem fragenden Blick ihrer Schwester begegnete sie mit wütend funkelnden Augen. »Ich gehe zu Bett. Solltest du Hilfe bei irgendetwas benötigen, kümmerst du dich gefälligst selbst darum oder fragst jemand anderen!«
Damit ließ sie ihre verblüffte Schwester stehen und floh aus dem bunten, lauten Trubel in die Zurückgezogenheit und den Schutz ihrer Kammer. In ihrem kleinen privaten Reich angekommen warf sie sich auf ihr Bett und vergoss bittere Tränen.
Wieso verfügte Tilla ständig mit der größten Selbstverständlichkeit über ihr Leben? Was dachte sie sich dabei? Niemand hatte das Recht, über ihren Kopf hinweg so lebensverändernde Entscheidungen für sie zu treffen! Wütend und verzweifelt zugleich boxte sie mit den Fäusten in ihr Kissen.
Erst viel später, in der Zwischenzeit hatte sie ihre Schwester nebenan zu Bett gehen hören, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein: »Und falls Hannes seinem Vater gegenüber einknickt … ich tue es nicht. Ich gehe meinen Weg!«