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Drei Tage später, 18 Uhr 30, Dâr-al-Fuâd-Krankenhaus

In tief ausgeschnittener Bluse, kurzem, engem Rock und hochhackigen Sandalen lief Nûra vor der Zimmertür auf und ab. Sie strich sich die Haarsträhnen aus den Augen und wechselte das Handy von einem Ohr zum anderen, um dem erregten Telefonat, das schon länger als eine halbe Stunde dauerte, ein wenig von seiner Hitze zu nehmen. »Sogar jetzt, wo er im Sterben liegt, lügt er noch! Ich hab in seinem Portemonnaie eine alte Rechnung für ein Doppelzimmer im Stella di Mare gefunden. Und mir hat er damals gesagt, er ist auf Dienstreise, dieses Arschloch! Und dann noch die Bilder auf seinem Handy! Ihre Zehen hat er fotografiert, der geile Bock, stell dir mal vor! Lässt mich hier sitzen und geht zu diesem Dreckstück, der Hund! Ich kann es nicht mal ertragen, reinzugehen und seine Visage zu sehen. Mein Gott, er sieht so hässlich aus. Anyway, ich hab ihn das Café auf mich und die Kinder überschreiben lassen. Und die Wohnung läuft sowieso längst auf meinen Namen.«

In dem Moment öffnete sich die Tür des Aufzugs und stoppte Nûras Redefluss. Mit einem grossen Blumenstrauss vor dem Gesicht kam ein junger Mann auf sie zu. Vor der Zimmertür blieb er stehen, liess die Blumen ein Stück sinken und fragte sie: »Guten Abend, liegt hier Walîd Bey Sultân?«

Sie nahm das Handy vom Ohr, starrte erst ihn an, dann die Blumen und suchte nach einer Karte mit dem Namen der Absenderin. »Wer schickt denn den?«

»Niemand«, antwortete er, »ich komme Walîd Bey besuchen. Er ist wie ein grosser Bruder für mich.«

Gleichgültig zeigte sie zur Tür und nahm ihr Telefonat wieder auf.

Er klopfte an, aber im Zimmer blieb es still. Nach einer Weile trat er ein. Walîd Sultân lag im Bett. Wie alle, die den Staub geschluckt hatten, hatte er stark abgenommen, und sein Gesicht war eingefallen. Sein Körper verschwand fast unter all den Infusionslösungen und den dazugehörigen Schläuchen, die aus seinen Händen ragten wie die Tentakel eines mageren Kraken. Ein EKG-Gerät zeigte schwache Ausschläge, Fahrbahnschwellen ähnlich, die den in Windeseile herannahenden Tod nicht würden aufhalten können. Als Walîd die Tür ins Schloss fallen hörte, drehte er sich schwerfällig um. Seine Pupillen wurden starr, und das EKG-Gerät kam aus dem Takt. Ruhig legte Taha den Strauss auf den Tisch, während Walîd die Finger nach dem Notrufknopf ausstreckte. Doch schnell packte Taha ihn an seinem kraftlosen Handgelenk und legte den Knopf weg. Dann setzte er sich neben ihn auf die Bettkante.

»Nein, danke, ich hab schon einen Nescafé getrunken, bevor ich gekommen bin. Machen Sie sich keine Umstände!« Walîds Lider zitterten, und vor Schmerz knirschte er mit den Zähnen, während Taha fortfuhr: »Ich komme, um zu sehen, wie es Ihnen geht. Nicht auszudenken, dass ich Sie nicht mehr hätte treffen sollen, wo Sie doch solch eine weite Reise vor sich haben!«

Walîd zitterte so, dass sein Bett zu wackeln anfing. Sein Hals mit den hervortretenden Adern sah aus wie ein dürrer Baum, der Husten zerriss ihm beinahe die Kehle, und das Gurgeln kam auch nicht aus einem kaputten Abflussrohr. Mit furchtbarer Anstrengung artikulierte er: »Hunde…sohn.«

»Schschsch, ganz ruhig! Bis zur Hochzeit ist alles wieder gut, Walîd Bey.«

Er packte Tahas Hand. »Service war nur gekommen, um ihm Angst zu machen. … Ihr Vater hat ihn provoziert. … Ihr Vater hat Selbstmord begangen. … Ich …«

»Sie sind ja jetzt unterwegs zu den beiden. Dann können Sie sich dort in aller Ruhe über die Rechnung einigen.«

Mit bebender Brust sah Walîd Taha ins Gesicht. Der stand auf und ging zur Tür. Dann blieb er noch einmal stehen. »Grüssen Sie Service und Bergas von mir«, sagte er, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Und meinen Vater, falls Sie ihn treffen.«

Dann ging er hinaus und liess das EKG-Gerät aufschreien, bevor es plötzlich ganz verstummte.

*

Mit dem Rücken zum Lärm der Menschen und der Autos sass Taha auf der gemauerten Brüstung der alten Brücke und liess die Beine über den Fluss baumeln. Ohne zu blinzeln, blickte er auf die glitzernde, aufgewühlte Wasseroberfläche. Seine Zigarette brannte, aber er zog nicht daran, und sein Verstand gab keine Befehle mehr aus. Seine Ohren nahmen nichts wahr als seine Atemgeräusche und gleichmässigen Herzschläge, von denen seine Brust erbebte. Erst ein kleines Boot, das unter seinen Füssen hindurchfuhr, riss ihn aus seinen Gedanken. Auf dem Boot war ein magerer Mann in einem farblosen Gilbâb. Mit zwei dürren Beinen, die ihn kaum noch trugen, hielt er sich auf dem Bootsrand im Gleichgewicht und schleuderte ein armseliges Netz in die Luft, an dem Fische und die Zeit bereits genagt hatten. Geschickt breitete er es im Kreis um sein morsches Boot aus, liess es ins Wasser tauchen und setzte sich dann mit angezogenen Beinen hin, das Ende des Netzes fest in einer Hand. Mit der anderen hielt er sich ein kleines Transistorradio ans Ohr. Im selben Moment steckte Taha die Hand in die Tasche und holte sein Fläschchen heraus. Er befühlte es mit den Fingerspitzen und strich über seinen Familiennamen, der in den Flaschenbauch graviert war. Früher einmal hatte es in der Hand seines Grossvaters gelegen, lange Zeit war es im Stuhl seines Vaters versteckt gewesen, und jetzt würde es auf dem Grund des Flusses seinen Platz finden. Was für eine Reise! Er hob die Hand, schloss kurz die Augen, holte Luft und wollte es schon ins Wasser werfen, als die jungen Leute, die ein paar Meter entfernt von ihm sassen, plötzlich pfiffen und aufschrien, so dass er in seiner Bewegung innehielt. Sie beobachteten gerade, wie eine Jacht unter der Brücke hindurchfuhr, eine weisse Jacht, deren Fenster in einem wunderbaren Türkislicht erstrahlten. Heisse Rhythmen kamen von dort. An Deck gab es eine lautstarke Party, mit Mädchen, die keine Knochen zu haben schienen, so wanden sie sich zur Musik und liessen ihre langen Haare im Wind flattern. Auf der Bordwand stand in eleganter goldener Kursivschrift: Bergas.

Die Jacht flog wie ein Pfeil durchs Wasser, vorbei an dem Fischerboot, das ihr gerade noch ausweichen konnte. Die Wellen hoben seine Bordwand an, und der dünne Fischer stand auf und packte die Leinen fest mit beiden Händen. Aber die riesigen Schiffsschrauben ergriffen den Rand des ausgefransten Netzes – und im nächsten Augenblick drehte sich das kleine Boot wie eine Nussschale um sich selbst. Verzweifelt kämpfte der Mann mit seinem Netz, verlagerte sein gesamtes Körpergewicht auf die Fersen und stemmte sich gegen den Zug der Leinen. Aber schon nach zwei Sekunden erlahmte sein Widerstand. Mitsamt seinem Netz ging er über Bord, und die Jacht riss ihn wie einen Wasserskifahrer mit sich – einen Wasserskifahrer im Gilbâb! Ein paar Sekunden später ging er unter und liess nur einen kleinen Strudel zurück, der sich bald in den Wellen aufgelöst hatte. Taha erstarrte. Sein Fläschchen fest in der Hand, knirschte er vor Verzweiflung mit den Zähnen. Er stellte sich auf die Brüstung und beobachtete die Stelle, an der der Mann untergegangen war. Mit für ihn ganz ungewohnten Worten schickte er ein Stossgebet zum Himmel, während seine Augen besorgt die Wellen absuchten. Doch während die Menschen auf der Brücke noch wie versteinert dastanden, tat sich einige Sekunden später das Wasser auf, und ein Kopf und eine Hand kamen zum Vorschein. Eine Hand, die kräftig gegen die Wellen ankämpfte. Der Mann schwamm zu seinem Boot, es entglitt ihm zunächst, aber schliesslich bekam er es zu fassen. Geschickt stemmte er sich hinein, die Reste des Netzes noch in der Hand. Die Leute auf der Brücke klatschten, jubelten, pfiffen und schrien, während der Mann in seinem Gilbâb, der ihm am Körper klebte, dastand und zusah, wie die Jacht sich entfernte. Er spuckte aus und schimpfte aus vollem Herzen, dann hob er die Hände zu einem flammenden Gebet.

Taha setzte sich wieder auf die Brüstung. Eine Weile betrachtete er das Fläschchen – und steckte es wieder ein.