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In den folgenden Wochen konnte Taha nicht mehr verhehlen, was er für Sara empfand. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sobald sein Handy klingelte, sprang er auf. Alle fünf Minuten checkte er seine E-Mails. Auch bildete er sich fälschlicherweise ein, Gedichte schreiben zu können. Bei allem, was er sagte, meinte er ihren Namen erwähnen zu müssen. Er verfolgte ihre Artikel mit der Ungeduld eines Studenten, der auf seine Prüfungsergebnisse wartet. Regelrecht besessen war er von ihren Wimpern, ihren Augen und ihrem Lachen, bei dem ihre gleichmässigen Zähne inmitten ihrer bronzenen Haut aufblitzten. Ihre hektischen Handbewegungen und ihre mitreissende Begeisterung! Wie sie freudig mit den Fingern auf den Tisch trommelte und wie sehr sie den Sänger Muhammad Munîr35 mochte. Ihr Schweigen, ihre Frotzeleien, ihre Verrücktheit und selbst die Art, wie sie ihre Lippen um die Zigarette legte. Sie war nicht das Paradies – aber sie war das Feuer, das die Menschheit glücklich gemacht hatte. Sie war nicht das Zuckerpüppchen, nach dem suchte, wer einen sicheren Hafen wollte. Aber auch nicht eine, die einem geschickt das Geld aus der Tasche zog, so wie die, der er mal zum Valentinstag Teddys gekauft hatte. Sara war eine dritte Spezies. Eine, die einen einfach nicht mehr losliess. Eine, bei der man nicht wusste, wie lange man bei ihr bleiben würde, es aber auch gar nicht wissen wollte. Die man einfach nur jeden Tag, jede Stunde sehen wollte. Um ihr zuzuhören, ohne etwas zu verstehen, sich in ihren Gesichtszügen zu verlieren. Um sie ganz genau zu betrachten. Auch die Fehler, die man zu lieben begann, nur weil sie ein Teil von ihr waren. Ihre Weiblichkeit. Ihren Mut und ihre Schroffheit. Ihren Nagellack, der ihre Haut so veredelte wie bei Costa Coffee das Karamellaroma ein Glas heisse Schokolade. Wenn sie ging, blieb der mit dem Parfum von ihrem Hals vermischte Tabakgeruch zurück. Den hatte er noch in der Nase, bis er aufwachte. Dann, wenn sein langsamer Mord ihm wieder vor Augen stand, umfing ihn Schweigen. Er fühlte ein Brennen in sich und lauerte auf Service. Diese Tat, vor der alle Verlockungen verblassten, zwang ihn in einen Zustand dauernden Beobachtens, der ihn daran hinderte, sein Leben weiterzuleben.

Die ganze Zeit über hielt er die Luft an.

Parallel dazu hielten auch in Walîd Sultâns Alltag die Überraschungen an. Dahinterzukommen, wer ihm diesen Fusstritt versetzt hatte, der ihn zwang, im Pyjama zu Hause herumzusitzen, war nicht schwer. Unter den Blicken der Rekruten, die zuvor seinem Kommando unterstanden hatten, war er von der Arbeit freigestellt worden. Unter diesen eifersüchtigen Blicken, in denen stumme Schadenfreude aufblitzte. Auf Kaution hatte man ihn nach Hause entlassen. Inzwischen jedoch mieden ihn alle, selbst die engsten Freunde. Er zog sich von seinen Kindern zurück und auch von seiner Frau, deren Nerven vorübergehend blankgelegen hatten. Sie konnte nicht mehr schlafen. Mit einer Stimme wie eine Kriegssirene schrie sie Tag und Nacht die Dienerinnen an. Walîd liess die Barthaare an seinem vom Rasieren schon länger entzündeten Kinn wuchern. Er kam und ging möglichst unbemerkt. Tröstenden Worten und den vergifteten Fragen der Neugierigen ging er aus dem Weg. Solche Fragen setzten ihm einen Schwarm Insekten in die Brust, die ihn so ins Herz stachen, dass er in fiebrige Unruhe geriet. Wie ein Liebeskranker verfolgte er alle Nachrichten von Bergas’ Sohn. Er stellte sich die verschiedensten Szenarien vor, wie er ihn umbringen könnte. Er hörte Hânis Halswirbel schon zwischen seinen Händen knacken. Den Brandgeruch, der ihm in die Nase drang, wenn er an ihn dachte, wurde er einfach nicht los. Walîd fühlte sich wie jemand, den man zwingt, mit anzusehen, wie man seine Frau vergewaltigt.

Seine Frau! Nûra, diese einfältige Kreatur, die mit jeder Sekunde, die der Uhrzeiger vorrückte, noch ein bisschen schwabbeliger wurde! Sie störte seine Ruhe und riss ihn mit einer Frage aus seinen Gedanken, die ihn irgendwann einmal dazu treiben würde, sie eigenhändig umzubringen: »Willst du hier immer so rumsitzen? Sag das bloss keinem deiner Bekannten, sonst behandeln sie dich wie den letzten Dreck! Meine Freundinnen im Club kann ich auch nicht mehr treffen. Was soll ich denen denn sagen? Mit uns ist es aus, endgültig! Heb mir Geld von der Bank ab! Ich fahre an die Küste, bis die Scheisse, in der wir jetzt sitzen, vorbei ist.«

Vorbei! Allein dieses Wort war wie ein Wunder.

Einen Monat später war die Wahlprozedur beendet. Hâni Bergas hatte seinen Sitz im Parlament gewonnen.

Währenddessen machte im Viertel die Nachricht von Service’ Krankheit die Runde. Er schrie nicht mehr so viel herum. Er habe Krebs, hiess es, und solch ein Ende nehme es eben mit den Klebstoffschnüfflern. Service magerte ab, bis seine Knochen hervorstanden und die Schläfen einsanken. Er wurde zu einem räudigen Gespenst, das sich nur noch aufraffte, um sich wie ein sterbender Stier den Angriffen des Toreros entgegenzustellen. Seine Blicke wurden immer stechender. Bis in die ersten Morgenstunden streifte er umher. Manchmal blieb er plötzlich stehen und schrie auf, als hätte ihn eine Schlange gebissen. Von seinen Gefährten zog er sich ganz zurück. Und noch bevor Sulaimân, der Lord, starb, hatte Hâni Bergas Service in ein kleines Krankenhaus gesteckt. Dort war er mehrere Tage geblieben, dann lief er weg, um wieder an seine Drogen zu kommen. Die Ärzte hatten ihm mitgeteilt, irgendein Fremdkörper fresse ihn von innen her auf wie ein Wurm und seine Tage seien mehr oder weniger gezählt.

Taha beobachtete ihn vom Fenster aus und sah seinem langsamen Sterben zu. Hartnäckig wie ein alter Baum hielt Service sich aufrecht. Er beobachtete Taha mit beinahe vernichtendem Blick. Einmal stand er zehn Minuten lang vor der Apotheke und starrte hinein. Als Taha versuchte, ihn zu ignorieren, schrie Service, so laut er konnte: »Taaahaaa!« Erst als seine Stimme in ein Röcheln überging, hörte er auf, musste Blut spucken und verschwand. Taha erschrak und liess die Flasche fallen, die er in der Hand hatte. Er beruhigte Wâil mit undeutlich gemurmelten Worten und ging dann ins Labor, um sich von der Aufregung zu erholen. Dort nahm er einen Tranquilizer, setzte sich auf den Stuhl und kaute an seinen Nägeln. Nach ein paar Minuten entfaltete die Pille langsam ihre Wirkung. Taha legte die Hände auf den kleinen Schreibtisch und bettete seinen Kopf darauf. Dann schloss er die Augen, das Zittern in seinem Fuss hörte auf, und er schlief ein.

*

Ein paar Stunden später lag Walîd auf dem riesigen Sofa, neben sich einen überquellenden Aschenbecher. Er war barfuss, und ein regelmässiges Schnarchen kam aus seinem halbgeöffneten Mund. Auf dem Tisch standen schmutzige Plastikteller und eine leere Dose Birell-Bier. Ein struppiger Bart bedeckte sein Kinn, und er hatte einige Kilo zugenommen. Nur der Fernseher, der auf lautlos gestellt war, warf sein flackerndes Licht in den Raum, es lief gerade Wrestling. Als es ein Uhr nachts schlug, klopfte jemand an die Tür. Jemand, der verzweifelt schien, äusserst verzweifelt.

Einmal klopfen reichte nicht, den Schlafenden zu wecken. Erst nach siebenmaligem, energischem Hämmern – bei gleichzeitiger Betätigung der Klingel – wachte Walîd auf. Er erhob sich, tappte wie ein Betrunkener zur Tür, schaute durch den Spion und wandte angewidert das Gesicht ab. Er öffnete die Tür nur einen Spaltbreit. »Was ist los, du dreckiger Hund?«

Service’ Stimme war rau, als hätte er Sand geschluckt. »Pascha …«

»Was willst du?«

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Pascha, ich weiss, es ist schon spät. Aber ich will mit Euer Exzellenz sprechen.«

»Später, Service, später. Ich hab jetzt keine Zeit.«

»Ich kann nicht mehr, Pascha. Bloss fünf Minuten.«

Walîd Sultân antwortete nicht. Er schloss die Tür, kratzte sich am Hinterkopf, kickte ein paar leere Dosen beiseite, die auf dem Boden lagen, und öffnete sie wieder. »Komm rein!«

Service trat in das unaufgeräumte Wohnzimmer. Nachdem der Hausherr sich gesetzt hatte, nahm auch er auf dem Sofa Platz.

Walîd zündete sich eine Zigarette an und warf Service ebenfalls eine zu. »Wie geht’s dir jetzt?«

Mit weit aufgerissenen Augen antwortete der: »Ich sterbe, Pascha.«

»Warum bist du nicht mehr im Krankenhaus?«

»Die Ärzte haben gesagt, es bringt nichts mehr, Pascha. Ich will nicht am Ende meiner Tage noch so getriezt werden.«

»Was genau hast du denn eigentlich?«

»Ich bin vergiftet worden, Pascha.«

»Von der ganzen Scheisse, die du dir reinpfeifst!«

»Ich sage Ihnen, ich bin vergiftet worden, Pascha. Die Ärzte haben mich geröntgt und alles genau untersucht. Ich hab überall kleine Knoten, wie Steinchen. Und ich blute wie verrückt.«

»Von Krebs kriegt man noch schlimmere Sachen. Gott mache dich gesund!«

»Nein, Pascha, das ist keine Krankheit. Die Ärzte haben gesagt, da ist Pulver in mir drin – Diamantenstaub.«