22

Ungefähr eine halbe Stunde brauchte der Lieferservice, um das Haschisch-Piece in die Huda-Schaarâwi-Strasse zu bringen. Der Bote schellte, übergab die Ware an die Wohnungsmieter und ging wieder. Die Clique lag im Kreis auf schäbigen Sofas. An den Wänden, die voller Fingerabdrücke waren, hingen abstrakte Gemälde und Zeitungsausschnitte. Überall lagen Papiere und Bücher, Reste einer Fischmahlzeit und leere Stella-Flaschen herum. Es war äusserst stickig. Hatte die eine Rauchwolke sich verzogen, drehte man sich schon den nächsten Joint. Vier junge Männer und drei Frauen waren anwesend, unter ihnen Sara, die, den Rücken gegen die Wand gelehnt, im Schneidersitz dasass und mit dem braunhäutigen jungen Mann ihr gegenüber stritt. Schliesslich bekam auch sie ihren Anteil, einen geschickt gedrehten Joint. Sie nahm einen tiefen Zug und sagte: »Ich finde, das ist ein sehr trivialer Roman.«

»Weil du ihn nicht verstehst«, sagte der junge Mann, um Sara zu provozieren.

Die ging auch gleich hoch: »Was versteh ich nicht? Schliesslich hab ich mir den Roman ganz reingezogen, um einen Artikel drüber zu schreiben. So wie dieser Autor schreibt, mein Lieber, muss er sexuell frustriert sein. Jedes Kapitel trieft nur so vor Sex. Und Homosexualität ist bei ihm was ganz Normales. Ausserdem hat er einfach keinen Stil.«

»Du willst also die Kunst zensieren?«

»Sieh mal, ich bin gegen jede Art von Zensur. Und wie du weisst, hab ich auch kein Problem damit, über Sex zu schreiben. Aber das ist kein Roman, Haitham, sondern ein Porno. Da schreibt der erst ein ganzes Kapitel über männliche Masturbation und dann noch eins über eine Frau, die sich selbst befriedigt. Was soll das?«

»Genau wie Paulo Coelho in Elf Minuten.«

»Warte, warte, warte«, unterbrach sie ihn, »was ist denn das für ein Vergleich? Bei Paulo Coelho hat der Sex schliesslich eine Funktion, mein Lieber. Die Protagonistin ist gezwungen, als Prostituierte zu arbeiten, und entdeckt durch ihre Erfahrungen eine neue Welt. Das Ganze hat letztlich einen Sinn. Aber der da hätte sein Buch auch Die zehn besten Wege, sich selbst zu befriedigen nennen können. Es gibt Jungs in der Sekundarschule, die wollen sich genau diesen Roman kaufen, und wenn er nicht da ist, fragen sie, ob es was Ähnliches gibt. Die fragen nicht nach Paulo Coelho!«

»Ich glaube, der Autor versucht ganz einfach, die Tabus zu brechen, mit denen wir leben, gegen die ganze Repression anzukämpfen. Und ausserdem: Passieren die Dinge, die er beschreibt, in der Realität etwa nicht?«

»Und was wirklich passiert, muss man deshalb auch gleich aufschreiben? Ausserdem, was meinst du denn eigentlich für eine Repression? Alles geht doch auf die Strasse und rebelliert.«

»Offenbar drückt dir das Kopftuch aufs Gehirn«, meinte Haitham spöttisch. »Du solltest besser einen Gesichtsschleier tragen. Zu dieser Rebellion, meine Gute, kommt es doch überhaupt nur wegen dem ganzen ›Finger weg!‹, ›Bababa‹ und ›Schäm dich!‹. Wäre alles erlaubt, gäbe es gar keine Repressionen oder Frustrationen. Wie bei einem open buffet, wo alle satt werden. Jeder ist gut genährt, und es gibt keinerlei Streit.«

»Du meinst also, wenn du in einem Restaurant arbeiten würdest, würdest du aufhören zu essen? Hunger ist doch Hunger! Und ausserdem gibt es im Ausland mehr Belästigungen und Vergewaltigungen als hier, trotz der ganzen Offenheit.«

»Das sind Ausnahmefälle.«

»Du bist also der Ansicht, die ganzen unmoralischen Sachen in diesem Roman sind Kunst?«

»Natürlich. Und sie haben auch eine ganz bestimmte Wirkung, das spüre ich. Ausserdem ist es nicht Aufgabe des Autors, die Gesellschaft zu verbessern. Falls du so denkst, solltest du vielleicht einen Besinnungsaufsatz für die Schule schreiben. Der Roman ist frei. Kunst ist nicht an eine Botschaft gebunden. Sie muss frei fliessen.«

Sara unterbrach ihn: »Frei fliessen, so ein Blödsinn! Ich sehe doch, dass der Autor frustriert ist und einfach nur einen Porno geschrieben hat. Und wenn er am Mittwoch in der Diskussionsgruppe ist, werde ich ihm das auch vor euch allen sagen.«

»Und warum hast du den Roman dann besprochen, wenn er dir gar nicht gefällt?«

»Weil der Chefredakteur genau den wollte. Der Autor ist ein Freund von ihm, mein Lieber.«

»Und deshalb bist du zum Gesellschaftsressort gegangen?«

»Nein, ich wollte nur einen Themenwechsel. Und ein bisschen auf die Strasse kommen. Jetzt schreibe ich über Gewerkschaften und Gesellschaft, Ermittlungen und Verbrechen und solche Sachen.«

»Pass auf, dass du nicht plötzlich über Todesfälle schreibst!«

»Jetzt bringst du mich aber zum Lachen, hahaha!«

Da mischte sich Ibrahîm ein, der bisher schweigend in einer Ecke gesessen hatte: »Ich bin Saras Meinung. Ich finde, der Autor hat es wirklich übertrieben. Und ich weiss nicht, warum du so begeistert bist. Das Thema muss wohl deinen Geschmack getroffen haben.«

Haitham wurde rot und suchte nach einer Antwort, aber da klingelte Saras Handy. Sie wühlte es aus ihrer Handtasche heraus und las die Nummer auf dem Display, dann stand sie auf und entfernte sich, während die jungen Männer ihr verstohlen auf den Hintern blickten, der aus ihren etwas heruntergerutschten Jeans hervorguckte. Sie ging in die Küche und nahm den Anruf dort entgegen.

»Guten Morgen, Frau Baschmuhandisa Sara.«

Mit gedämpfter Stimme antwortete sie: »Guten Morgen, Rida. Was gibt’s?«

»Ich hab die medizinischen Berichte und die Totenscheine besorgt, die Sie haben wollten.«

»Von Machrûs Bergas? Kannst du mir vorlesen, was darin steht?«

»Nein, das sind alles medizinische Ausdrücke. Ich hab mir wirklich ein Bein ausgerissen, um …«

Sara verstand, worauf er hinauswollte. »Ich bring das in Ordnung, ich kann heute bei dir vorbeikommen.«

»Ich warte auf Sie.«

»Danke, Rida.«

Gedankenverloren kehrte sie an ihren Platz in dem verrauchten Raum zurück. Die Asche ihrer Zigarette fiel neben ihr auf den Boden, ohne dass sie einmal daran gezogen hätte. Als einer der ungehobelten Kerle wieder über den Sex in dem Roman reden wollte, stand sie unvermittelt und wie von der Tarantel gestochen auf und ging.

Ibrahîm versuchte noch, sie aufzuhalten: »Wohin gehst du? Bleib doch noch etwas!«

»Ich muss was für die Zeitung erledigen.«

Er nahm ihre Hand und flüsterte ihr zu: »Was hast du? Du gefällst mir nicht.«

»Nichts, Ibrahîm. Ich habe nur zu arbeiten.«

»Kommst du heute ins Le Grillon?«

»Klar, wenn ich früh genug fertig bin.«

»Gehst du auch auf die Demonstration?«

»Sure.«

»Halt dich immer bei mir, dann kann ich dir helfen, falls was passiert. Du hast Männer hinter dir!«

»Okay«, sagte sie und nickte ihm flüchtig zu.

Dann liess sie ihn stehen und nahm ein Taxi zum Gesundheitsamt. Dort wartete sie eine Weile, bis aus dem Archiv ein Mann zu ihr herauskam. Er grüsste sie und übergab ihr einen Umschlag mit einer Akte, während sie dreissig Pfund zusammenfaltete und ihm in die Hand drückte.

»Machen Sie fünfzig draus, Frau Doktor!«

Sara runzelte die Stirn. »Warum, Rida? Wir hatten doch eine Abmachung.«

»Bei Gott, gerade für diese Akte musste ich mein Letztes geben. Und um die Dokumente zu kopieren, musste ich bis ins oberste Stockwerk.«

»In Ordnung«, sagte sie und nahm noch zwanzig Pfund aus ihrer Handtasche, als ihr plötzlich ein Geistesblitz kam. »Warte, ich brauch noch was. Es gibt da einen, dessen Akte ich gern studieren möchte.«

»Welches Krankenhaus, und wie heisst er?«

Sie sah zur Decke, um ihrer Erinnerung aufzuhelfen, und antwortete dann: »Âdil Bakr. Sein Spitzname war Service. Er lag vor vielleicht einem Monat im Militärkrankenhaus in Agûsa.«

»Ich such ihn für Sie raus, aber das geht nicht für zwanzig Pfund.«

»Mach’s kurz, Rida! Es ist noch viel zu tun. Ich brauch es sofort.«

Er verschwand für zehn Minuten und kam dann mit einer Akte zurück. Er gab sie Sara und verlangte noch einmal zehn Pfund. Dann ging sie.

*

Am Abend war Taha unterwegs zum Libanonplatz. Er wartete kurz, dann kam ein Auto angefahren. Walîd Sultân liess die Scheibe herunter und machte Taha ein Zeichen einzusteigen. Danach setzte sich der Wagen wieder in Bewegung. Zehn Minuten schwiegen sie, während die Tachonadel fast eine zweite Umdrehung machte. Schliesslich hielt Walîd an einer dunklen Stelle neben ein paar Bäumen an. Er schaltete die Scheinwerfer aus, und das Auto wurde zu einem Teil der Dunkelheit. Dann drehte er sich zu Taha, sah ihm eine Weile grinsend ins Gesicht, ballte die Faust und liess sie unvermittelt vorschnellen. Dieser Hieb des ehemaligen Boxers riss Taha das Kinn zur Seite, und er schlug mit dem Hinterkopf gegen die Autoscheibe. Seine Brille flog auf das Armaturenbrett, und seine oberen Schneidezähne gruben sich so tief in seine Lippe, dass ihm das Blut bis aufs Hemd spritzte. In seinem Kopf summten tausend Bienen. Er stöhnte laut auf und hob die Hände hoch. Kurz darauf setzte Walîd Sultân sich jedoch wieder gerade hin, holte ein Taschentuch hervor und wischte sich damit in aller Ruhe die Faust ab. Ein weiteres reichte er Taha, der ihn mit seinen Blicken durchbohrte. Er nahm die Hände wieder herunter und schrie, aber Walîd befahl ihm, den Mund zu halten.

»Das war für Service’ Hand.«

Taha war still, befühlte seine Lippe und versuchte, die Blutung zu stoppen. Dann setzte er sich die Brille wieder auf, während Walîd das Autoradio anschaltete. Der staatliche Rundfunk sendete karibische Rhythmen. Das Dröhnen der Trommeln war ohrenbetäubend, und Wellen von Schmerz überrollten Taha wie Donnerschläge.

»Es gibt für Sie zwei Wege, aus Ihrer Situation herauszukommen«, sagte Walîd. »Entweder Sie sind ein Mann – wenigstens, was Ihren Vater betrifft –, oder Sie weinen wie eine Frau. Der erste Weg ist der leichtere, glauben Sie mir! Sind Sie bereit zuzuhören?« Taha sah ihn angewidert an, und Walîd fuhr fort: »Ich betrachte das als Einverständnis. Morgen, und keinen Tag später, muss Hâni Bergas der Vergangenheit angehören.«

»?!«

Walîd kam Tahas Frage zuvor: »Vergessen Sie den Staub, behalten Sie ihn für sich! Als Andenken an Ihren Vater, diesen tapferen Mann, der in aller Ruhe sein Recht selbst in die Hand genommen hat.«

»Ich verstehe nicht.« Die Trommeln machten Taha wahnsinnig.

Walîd zündete sich eine Zigarette an, nahm einen Zug und fuhr fort: »Morgen hat Hâni Bergas eine Verabredung mit seinem Jungen. Amîr heisst er, Sie kennen ihn. Er ist einer von denen, die bei Star 2008 ausgeschieden sind.«

Blitzartig kam Taha die Erinnerung an die Szene bei dem Gesangswettbewerb, in der Amîr hatte gehen müssen. Auch sein Gesicht war ihm gleich wieder präsent.

Unterdessen fuhr Walîd fort: »Er will ihn im Four Seasons in der Murâdstrasse treffen. Aber morgen wird nicht Amîr zu dem Treffen kommen, sondern Sie werden dort sein.«

Taha schwieg und versuchte, dem Druck standzuhalten, den er plötzlich in der Brust verspürte. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. »Und wo werden Sie sein?«, fragte er.

»Ich halte mich da raus. Das ist meine einzige Bedingung.«

»Was soll das heissen? Ich kann so was doch nicht allein machen!«

»Ich werde Ihnen alles genau skizzieren«, unterbrach Walîd ihn.

»Aber es gibt kein perfektes Verbrechen!«

»So ist das nur in den Büchern. Denken Sie etwa, all die Verbrechen, von denen Sie in der Zeitung lesen, werden aufgeklärt? Ach, mein Guter! Wenn es zwanzig Autodiebstähle gegeben hat, hängt man sie demjenigen an, den man als Ersten zu fassen kriegt. Und wenn ein Mordfall zu lange ungelöst bleibt, schicken wir dem erstbesten Verdächtigen, den wir verhaftet haben, einen Polizisten ins Haus, damit er dort zwei Unterhemden des Opfers deponiert. Und schon ist seine Schuld bewiesen.«

»Und was ist mit dem Mord an meinem Vater? Service hatte schliesslich ein Motiv!«

»Bergas hat ihn rausgezogen wie ein Haar aus dem Kuchenteig.«

»Dann legen Sie los!«, presste Taha zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Ich biete Ihnen die Möglichkeit, Ihr Ziel zu erreichen und gleichzeitig eine weisse Weste zu behalten. Hören Sie gut zu!«, sagte Walîd, zog eine weisse Karte mit dem Hotellogo aus der Jacke und reichte sie Taha. »Ich lade Sie für eine Nacht ins Four Seasons ein. Ein Tag umsonst mit all den grossen Tieren, die Sie sonst nie im Leben zu Gesicht bekämen. Ein Zimmer im zwanzigsten Stock mit Blick auf die Pyramiden. Wie hört sich das an?«

»Fahren Sie fort!«

»Das ist die Karte für die Tür. Ohne die können Sie den Aufzug nicht benutzen. Zimmer 2016 im zwanzigsten Stock. Hâni Bergas wird neben Ihnen sein, im Zimmer 2017. Und unter der Nachttischschublade wird das hier auf Sie warten.« Walîd zeigte auf einen Elektroschocker, der neben der Gangschaltung lag. »Die Balkone sind durch Holzpaneele voneinander getrennt, um die Sie leicht herumsteigen können, solange Sie nicht nach unten blicken.« Er öffnete das Handschuhfach und holte ein kleines Fläschchen mit einem weissen Pulver heraus. »Das ist nichts von Ihrem Staub, das ist mein Staub. Sie kennen doch das kleine Keramikstück an den Zündkerzen? Die Autodiebe mahlen es klein und streuen es gegen die Scheiben. Und die zersplittern in Sekunden! Damit öffnen Sie die Balkontür und können rein. Dann bringen Sie das Ganze zu Ende und kehren wieder zurück, wie Sie gekommen sind. Sie holen Ihre Sachen, verlassen in aller Ruhe das Hotel – und danke, das war’s.«

»Das Ganze zu Ende bringen – wie denn?«

»Das überlasse ich Ihnen. Es sollte nur auf elegante Art geschehen. Ein Apotheker ist doch wie ein Magier. Sie können sicher noch ein paar Überraschungen aus Ihrem Hut zaubern.«

»Magier« war das einzige vernünftige Wort an jenem Abend.

Bis in alle Einzelheiten erläuterte Walîd seinen lückenlos ausgefeilten Plan. Er war die Essenz jahrelanger Erfahrungen und zahlreicher Kontakte. Von Dieben und Mördern hatte er Dinge gelernt, die an den Akademien nicht gelehrt wurden. Schliesslich trennten sich ihre Wege vorläufig wieder, bis Taha seinen Befehl erhalten würde – den Befehl, die Hinrichtung zu vollziehen.

In dieser Nacht sass Taha mit angezogenen Beinen im Bett, im Gesicht eine neue Verletzung neben den alten Wunden, die noch immer nicht verheilt waren. Immer wieder riss ihn der Schmerz aus seinen dunklen Träumen. Wie ein Stier in der Arena lief er in der Wohnung umher und verstreute überall die Asche seiner Zigarette, biss sich die Nägel wund, schluckte ohne Wasser Tabletten gegen Schwindel und Kopfschmerzen und noch andere Dinge: Schlaf- und Beruhigungsmittel, die angesichts dieses überbordenden Wahnsinns allerdings wirkungslos blieben. Er warf einen Blick auf das Foto im Wohnzimmer, die Augen, die ihn aus dem Rahmen heraus durchbohrten, die Augen seines Vaters. Sie folgten ihm, wohin er auch ging, machten ihn in jedem Winkel ausfindig, selbst bei ausgeschaltetem Licht. Langsam ging Taha zu dem Bild, betrachtete dieses spöttische Lächeln, nahm den Rahmen ab und drehte das Foto zur Wand. Er spürte ein Brennen auf der Haut, zog Hemd und Unterhemd aus, ging in sein Zimmer, holte seine Schlagstöcke und begann zu trommeln. Mit geschlossenen Augen überliess er sich einem dröhnenden Rhythmus, der die Scheiben zum Klirren brachte. Dabei dachte er an seine Hausaufgabe, an die Prüfung am kommenden Tag, und legte sich einen Spickzettel zurecht – seine einzige Erfolgsgarantie. Er konnte nicht einfach abwarten, was passieren würde.

Plötzlich schellte es. Taha hielt in seinen Überlegungen inne und hörte auf zu trommeln. Als es noch einmal schellte, ging er zur Tür und blickte durch den Spion. Es war Sara. Bevor sie ein drittes Mal klingeln konnte, öffnete er.

»Bist du allein?«, fragte sie ihn.

Er wich ihrem Blick aus und nickte.

»Sollen wir uns an der Tür unterhalten?«

Taha trat zur Seite, Sara kam herein und setzte sich auf den erstbesten Stuhl.

»Du, ich hab heute etwas erfahren und möchte mich gern vergewissern.«

Er schwieg, und sie kam näher und sah ihm prüfend ins Gesicht.

»Ich werde dir keine persönlichen Fragen stellen, ich will mich nicht in dein Leben einmischen«, versicherte sie. »Ich möchte dir nur sagen, dass ich durch Zufall einen medizinischen Bericht über Service in die Hand bekommen und dadurch erfahren habe, dass bei ihm die gleichen Symptome auftraten, die schon die andern Toten vor ihm aufgewiesen hatten.«

»Und was geht das mich an?«

»Taha, zwei Tage bevor man die Hand gefunden hat, hast du dich geprügelt – und zwar nicht mit einem Taxifahrer, wie du dem Polizisten erzählt hast. Du warst um diese Zeit doch mit mir zusammen in der Praxis!«

Er grinste, und ohne sie anzusehen, sagte er: »Dann muss ich Service ja wohl umgebracht haben.«

»Und am nächsten Tag war auch deine Wohnung in Unordnung, es lagen fremde Kleider herum und …«

Er unterbrach sie: »Ich bin später noch mal mit dem Taxi losgefahren. Was ist denn dabei? Die Wohnung war unordentlich, weil hier geputzt wurde, und die Kleider waren Jassirs.«

»Taha, sag mir nur eines: Sag mir, dass du mit dem, was hier auf dem Platz passiert, nichts zu tun hast!«

Er kniff verächtlich die Augen zusammen. »Wenn dich das beruhigt …«

Sara unterbrach ihn: »Schwöre!«

»Bei Jassirs Leben!«

Ihr Blick fiel auf das umgedrehte Foto, und sie sagte: »Schwöre bei der Seele deines Vaters!«

Er schwieg.

»Taha, ich bin doch kein Schulmädchen mehr!«

»Worauf genau willst du eigentlich hinaus?«, fragte er.

Sie sah ihn an und bemerkte die Verletzung an seiner Lippe. »Seit ich dich das erste Mal gesehen hab, sage ich immer, hinter dir steckt ein grosses Geheimnis. Die Sache mit deinem Vater war nicht bloss Pech. Irgendwas sagt mir, dass es da um was viel Grösseres geht. Also lüg mich nicht an! Was geht hier vor?«

»Hör auf mit deinen Journalistenfragen!«

»Taha, das sind keine Journalistenfragen. Die Papiere, die ich dabeihabe, zeigen, dass was faul ist an …«

»Und angenommen, ich hätte damit zu tun – was würdest du denn dann machen?«

Sie sah ihm lange in die Augen und antwortete: »Ich würde meinen Artikel schreiben, komme, was wolle.«

»Hier in meiner Wohnung suchst du also nach einem Knüller?«

Sara forschte in seinem Gesicht nach irgendeinem Hinweis, fand aber keinen. »Ich glaube dir«, sagte sie schliesslich.

Mit den Fingerspitzen befühlte sie seine Lippe. Er schloss die Augen und wich zurück. Wieder kam sie näher, nahm ihn an der Hand, zog ihn ins Bad und liess ihn sich vor dem Spiegel hinsetzen. Dann befeuchtete sie sein Handtuch mit heissem Wasser und wischte ihm über Rücken, Schultern, Arme und die gebogene Naht am Hals. Sie liess kühles Wasser nachfliessen und hielt seinen Kopf ins Waschbecken. Mit geschlossenen Augen gab er sich der betäubenden Wirkung auf seine Nerven hin, er wurde still und ruhig. Nass, wie er war, wandte er sich zu ihr um und versank in ihren Armen. Sie umfing ihn und küsste ihn auf den Kopf. Dabei bemerkte sie, dass der Duschvorhang fehlte und die Befestigungsringe zerbrochen waren. Dann gingen sie hinaus in sein Zimmer, schweigend setzte er sich aufs Bett, und sie fragte: »Ein bisschen besser jetzt?«

Er grinste nur und schwieg. Da klingelte sein Handy.

»Willst du nicht rangehen?«

Als Taha Walîds Nummer auf dem Display sah, schüttelte er den Kopf.

»Gut, ich lass dich jetzt ausruhen, und morgen reden wir.« Sie wollte gehen, blieb dann aber noch einmal stehen und lächelte. »Sag mal … ich könnte ein bisschen von dir profitieren. Schreib mir doch was für meine Kolumne!«

Auf seinen Lippen erschien ein Lächeln. Er suchte nach einem Blatt Papier, und nachdem sie ihm einen Kugelschreiber gegeben hatte, notierte er: »Nehmen Sie eine Tablette nach der Mahlzeit!«

Plötzlich erstarrte sie und sah ihn scharf an. »Du bist ja gar kein Linkshänder!« Ihre Züge gefroren.

Ihm fiel keine bessere Reaktion ein, als wie angewurzelt stehen zu bleiben.

»Du bist ein Lügner!«, schrie Sara ihn an und schrieb es ihm dann auf die Haut.

Taha verbarg sein Gesicht in den Händen, atmete tief ein und hörte, wie klappernde Absätze sich entfernten und eine Tür zuschlug.