16

Taha dachte an nichts anderes als an Service und den Mord, den er an ihm verüben würde. Wenn er ihm nahezu täglich bei seinen Bemühungen zusah, Bergas’ Sohn die Mehrheit im Wahlbezirk zu verschaffen, hielt er gespannt die Luft an. Er belauerte ihn so geduldig wie ein Jäger seine Beute.

Bis dann der Tag kam, an dem Service ihm von weitem ein Zeichen machte. Sofort rannte er aus der Apotheke und ihm nach, fand ihn aber nicht mehr. Nachdem er erst nach rechts, dann nach links geblickt hatte, sah er ihn schliesslich am Ende der Strasse. Service lief so schnell, dass Taha ihm kaum folgen konnte. Als er jedoch auf dem Platz ankam, schien Service sich in Luft aufgelöst zu haben. Obwohl er sich überall umsah, fand er keine Spur von ihm. Er griff in seine Hosentasche, aber das Fläschchen mit der Rezeptur und dem Staub seines Vaters war nicht da. Sein Gedächtnis war so lädiert, dass ihm einfach nicht einfiel, wo er sie hingestellt hatte. Er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Als er gerade in der finsteren Ecke neben der Wohnungstür seinen Schlüsselbund herauszog, bewegte sich plötzlich etwas, und er fuhr vor Schreck zusammen.

»Was ist, Bruder? Hast du Angst vorm Dunkeln?«

Sofort erkannte er den eigentümlichen Tonfall, wie auch Service das Stockwerk und die Wohnung gleich wiedergefunden hatte.

»Wer hat das nicht? Aber gut, dass du gekommen bist! Ich hab dir nämlich was zu sagen.« Um sich wieder zu beruhigen, öffnete Taha schnell die Tür und schaltete das Licht an. »Bitte sehr.«

Service trat ein und setzte sich an den Tisch, während Taha in die Küche ging.

»Tee?«

»Nicht nötig, ich geh gleich wieder. Ich dachte mir bloss, ich komm mal vorbei und sag guten Tag.«

»Trink doch einen Tee mit mir!«, sagte Taha, während er darauf wartete, dass das Wasser kochte. »Ruh dich aus, Âdil!«

»Ey, so nennt mich heute keiner mehr!«

Taha zerbrach sich seinen Kopf, wo bloss die verdammte Rezeptur war. Dass dieser Kerl die ganze Zeit hinter ihm stand, steigerte noch seine Anspannung. Er liess Service’ Spiegelbild auf der heissen Teekanne nicht aus den Augen und bemerkte dabei, dass dieser den Blick starr auf die Messerschublade gerichtet hielt. Taha nahm sein Handy und rief den Terminplaner auf, denn er war sicher, dass er dort eingetragen hatte, wo die Rezeptur deponiert war. Nur zwei Wörter leuchteten auf dem Display auf: »dritte Küchenschublade«. Taha öffnete sie und nahm das Fläschchen heraus. Dann ging er mit dem Tablett zum Tisch.

»Bitte sehr.« Er reichte Service ein Teeglas, zog das Fläschchen heraus und stellte es neben das Tablett. »Ich hab dir die Rezeptur mitgebracht.«

Service nahm sich das andere Glas. »Danke, Kollege. Nur keine Umstände!«

Taha lächelte. »Selbst der Prophet hat Geschenke angenommen.«

»Du bist ein Gentleman«, sagte Service und streckte die Hand nach dem Fläschchen aus. Er öffnete es und roch daran. »Is das genau dasselbe wie von Gâlid?«

»Du willst mich wohl beleidigen?«

Service leerte das Fläschchen in den Tee, nahm einen Löffel in die Linke und rührte um. Taha sah er dabei die ganze Zeit in die Augen. Schliesslich setzte er das Glas an den Mund und trank es in einem Zug aus.

Der Täter ist Linkshänder, blitzte es in Tahas Kopf auf, als er sah, wie Service mit der linken Hand umrührte und das Glas zum Mund führte.

Service nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, zog eine davon heraus und reichte sie Taha. Während der sie sich anzündete, sagte Service: »Guck mal, ich hab schon alles probiert, was Gott erschaffen hat: Codein, Tramadol, Codaphen, Tussilar, Ismurset, Sultan, Rivotril, Inkaton, Ixifin, und auch Codilar und Parkinol. Aber die Rezeptur hier – voll krass! So was hab ich im Bett noch nicht erlebt, da gehst du ab wie ’n Zug! Da braucht die Frau einen bloss anzugucken, schon fängt sie zu schreien an.«

Taha lächelte. »Diesmal wird die Rezeptur dich zum Schreien bringen!«

Auf diesen Satz reagierte Service nicht. Er sah aus, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, und stand auf. »’tschuldigung, Toilette!«

»Bitte sehr.«

Man konnte nur staunen, wie Service nun zielgerichtet ins Bad ging, als sei er hier zu Hause. Zwischen dem ersten und zweiten Zimmer bog er ohne Zögern in die versteckte Ecke, die vom Wohnzimmer aus nicht einsehbar war. Also war dieses Schwein wirklich schon mal hier gewesen! Er hatte seinem Vater einen einzigen Besuch abgestattet – den letzten Besuch.

Nach ein paar Sekunden hörte Taha ihn husten, toben und spucken. Service wusste nicht, dass schon alles entschieden war. Dass das Gift ihm bereits in die Körperzellen drang. Eine Reise ohne Wiederkehr hatte begonnen.

»Gesundheit!«, sagte Taha grinsend, als Service mit rot angelaufenem Gesicht zurückkam.

»Merk dir eins: Niemand spielt mit Service!«

Schweigend sah Taha ihn an. Nach einigen Sekunden öffnete Service die Tür, um zu gehen, aber Taha hielt ihn zurück. »Willst du nicht wissen, was ich dir noch erzählen wollte?«

Service wartete gespannt, und Taha holte Luft und sagte dann: »Ich hab von dir geträumt.«

Nach ein paar Minuten ging Service. Er trat auf die Strasse, Tahas Staub und dessen Traum trug er in sich. Einen Traum, dessen Bedeutung er nicht ermessen konnte. Beim Zuhören hatte er nur genickt und eine spöttische Bemerkung gemacht.

Taha beobachtete ihn vom Fenster aus, bis er verschwunden war. Dann schluckte er gegen das Pochen in seinem Kopf eine seiner Pillen. Gegen die Trommeln, die dort in gleichmässigem Takt hämmerten, so dass ihm der Schädel dröhnte – wie bei einer afrikanischen Zeremonie, mit der ein böser Geist aus dem Körper, aus dem Leben vertrieben werden soll.

Es gab etwas zu feiern. Taha zog sich in sein Zimmer zurück und nahm das Tuch von seinem Schlagzeug. Er holte seine Stöcke und setzte sich hin. Zum ersten Mal seit dem Überfall trat er die Pedale der Bassdrum, so dass das ganze Zimmer vibrierte. Taha schloss die Augen und gab sich für einen Moment ganz dem Klang hin. Dann begann er einen regelmässigen Takt zu schlagen, synchron zu dem Hämmern in seinem Kopf. Er hob die Hände, die schon lange nicht mehr getrommelt hatten, und liess sie schnell wie nie zuvor in einem harten Rockrhythmus niedersausen. Als er schliesslich schweissgebadet aufhörte, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, und der Anflug eines Lächelns stahl sich auf seine Lippen.

Im selben Moment machte die lästige Klingel seiner Ruhe ein Ende. Er öffnete die Tür, und Jassir stand vor ihm. Er hatte einen Handkoffer und einen Rucksack mit Wechselwäsche dabei und zeigte eine äusserst klägliche Miene. Ohne Taha Zeit zu geben, ihn zu begrüssen, schob er ihn wortlos zur Seite und ging ins Wohnzimmer. Mit angewiderter Miene liess er dort den Koffer fallen und legte sich aufs Sofa.

»Was ist los?«, fragte Taha.

Jassir zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. »Spinnerei, dein Name ist Weib!«

»Du siehst aus, als hättest du einen Pantoffel an den Kopf gekriegt.«

»Erinnerst du dich noch an das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe? Das auf Facebook?«

Taha konnte das Lachen nur mit Mühe unterdrücken. »Ja, die Verheiratete. Was ist mit ihr?«

»Ich hab vergessen, die Inbox zu schliessen, und bin weggegangen. Und die Dame des Hauses hat die Nachrichten gelesen und weiss über alles Bescheid!«

Taha hielt sich die Hand vor den Mund. »Ach je!«

»Sie ist wild geworden wie ein Rhinozeros und hat mir eine Szene gemacht. Ihre Stimme hätte jeden Hund durchdrehen lassen.«

»Hat sie dich rausgeschmissen?«

»Sie wollte selbst gehen. Aber Sina tat mir leid. Also hab ich gesagt: Bleib du hier, ich gehe. Ich konnte es gar nicht glauben, offen gestanden. Schliesslich wollte ich längst schon mal Urlaub machen.«

»Hat sie die Bilder von dem Mädchen im Badeanzug gesehen?«

»Hat sie. Und dann fragte sie dauernd: ›Was bin ich eigentlich für dich? Was hat die, was ich nicht habe?‹ Das ganze blöde Frauengeschwätz. Ich wollte ihr sagen: Schau doch mal in den Spiegel, aber krieg keinen Schreck! In einem Pornofilm hab ich mal einen Mann gesehen, den mindestens fünf oder sechs Frauen vom Strick am Galgen losbinden. Nach kurzer Zeit konnte ich es nicht mehr mit ansehen und hab auf delete gedrückt. Und was ist mit uns? Wir müssen auf so was verzichten, nur um ins Paradies zu kommen! Hauptsache, ich kann ein paar Tage bei dir bleiben, bis sie sich wieder beruhigt hat. In Ordnung?«

Taha kämpfte mit dem Lachen. »Das hast du ja gut hingekriegt, du Dummkopf! Fühl dich nur wie zu Hause.«

*

In den kommenden Wochen war Taha ganz davon in Anspruch genommen, Service zu beobachten. Es war aufreibend. Und er kämpfte gegen seine Vergesslichkeit und gegen das Zittern in seiner Hand, mit der er alles fallen liess, als hätte sie ein Loch. Um der Erregung Herr zu werden, die ihn jedes Mal überkam, wenn er den Burschen durchs Viertel stolzieren sah, nahm er die doppelte Dosis seiner Medizin. Er suchte mit dem Fernglas nach ihm. Service hatte natürlich noch keine Ahnung, was die Rezeptur bereits in seinem Körper in Gang gesetzt hatte, um ihn für seine Taten büssen zu lassen. Taha wünschte, die Zeit bis zu dem Moment, in dem er Service den Staub verabreicht hatte, zurückdrehen zu können. Nur um es noch ein zweites und drittes Mal zu tun. Aber für die nächsten drei Monate musste er die Luft anhalten und alles vergessen.

Wenn er irgendwo die Zeitung Hoffnung der Heimat sah, stand ihm gleich Saras Bild vor Augen, und ihm fiel wieder ein, wie er mit ihr getanzt hatte. Wie dumm von ihm, einfach zu gehen und sie stehenzulassen! Er schüttelte seine Sorgen ab und stieg in den Daewoo, den er erst kurz zuvor von der Firma bekommen hatte. Vorher hatte er sich fünf Jahre lang in öffentlichen Verkehrsmitteln von einer Praxis zur anderen gequält und war dabei so oft umgestiegen, dass es in keinem Verhältnis mehr zur zurückgelegten Entfernung stand. Als er dann das Auto bekommen hatte, hatte er auf die Rückbank einen grossen Karton voller Muster, Kataloge und Werbeplakate gestellt und einen Lufterfrischer in Form einer Medikamentenschachtel, ebenfalls ein Werbegeschenk, an den Rückspiegel gehängt. Taha beseitigte alle Reste von Fertiggerichten, räumte leere Pepsi-Dosen weg und entfernte vorübergehend auch den Firmenslogan auf der Seitentür, den er jedoch später wieder dort anbringen wollte. Das Auto war zu einer Art Zweigstelle seiner Wohnung geworden, in der er ass und trank, sich umzog und manchmal, zwischen zwei Praxisterminen, auch schlief. Es fehlte nur noch die Möglichkeit, auch sein Bedürfnis darin zu verrichten!

Angetan mit grauem Anzug, blauer Krawatte und schwarzen Schuhen, behielt er nun den Haupteingang der Zeitung genau im Auge. Es dauerte eineinviertel Stunden, bis er sie von weitem erblickte. Sie trug enge Jeans, die ihre höllisch schönen Beine zur Geltung brachten, und eine rosa Bluse. Ihre Handtasche war so voluminös, dass ein Kind hineingepasst hätte. Als er sie sah, stieg er aus dem Auto, holte Luft und machte: »Psssssss …«

Sara wandte sich um und zog die Stirn kraus, um ihn zu identifizieren. Taha winkte, dann quetschte er sich durch den Verkehr über die Strasse zu ihr. Er sah ihr direkt in die Augen, und sie lächelte und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Schon wieder ein Zufall?«

»Gehst du mit mir ein Eis essen?«

Sie sassen am Fenster des Cafés Groppi am Talaat-Harb-Platz, der Kellner kam und brachte ihnen zwei Eisbecher an den Tisch.

»Zuerst wollte ich mich bei dir für damals entschuldigen, als …«

»Peace«, sagte sie und leckte am Schokoüberzug. »Und du isst wirklich keine Schokolade? Das glaube ich dir nicht.«

»Serotonin.«

»Wer?«

Taha zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort: »Das Glückshormon. Deswegen magst du so gern Schokolade.«

»Und brauchst du denn nicht auch ein bisschen Glück?«

»Natürlich brauch ich es, aber ich will es nicht künstlich.«

»Mir kommt es so vor, als ging’s dir jetzt besser als beim letzten Mal.«

Er nickte. »Nun ja.«

»Willst du mir dein grosses Geheimnis nicht verraten?«

Taha erblickte die blonde Strähne, die unter ihrem Kopftuch hervorgerutscht war. »Du hast ja eine andere Haarfarbe!«

»Ja, ich hab was geändert. Genau wie du immer das Thema wechselst!«

»Versprichst du mir, dann nicht weiterzufragen?«

»Ich will es versuchen.«

»Stell dir vor, du würdest eines Tages plötzlich entdecken, dass du eine grosse Lüge lebst.«

»Wie denn das?«

»Nur eine Frage, hab ich gesagt!«

»Aber das ist ja keine Antwort.«

»Als ich noch in der Sekundarschule war, hat meine Mutter uns verlassen«, sagte Taha, kratzte sich am Kopf und suchte nach den richtigen Worten. »Es war ein Streit wie jeder andere auch, und er führte zur Scheidung. Von da an änderte sich mein ganzes Leben. Du kannst dir ja vorstellen, was das heisst, ein Heim ohne Mutter! Schon kurze Zeit später hörte ich, dass sie wieder geheiratet hatte. Die grosse Lüge war, dass ich dachte, sie wäre wegen meinem Vater gegangen, Gott hab ihn selig! Aber wie sich gezeigt hat, hatte ich irgendwie gar nichts kapiert.«

»Das heisst, es kam heraus, dass sie gar kein Teufel war!«

»Und er kein Engel.«

»Und das hast du jetzt entdeckt.«

»Du hast es erfasst«, sagte er und drückte seine Zigarette aus.

»Und was ist dann passiert?«, fragte sie.

»Dann hab ich mich hier mit dir hingesetzt. Hast du mich jetzt nicht genug ausgefragt?«

»In Ordnung, Herr Doktor. Ich lasse Sie in Ruhe, aber nur, weil das das erste Interview ist.« Sie lachten, und Sara fuhr fort: »Das war eine Überraschung, als du in den Jazz Club gekommen bist.«

»Es ist schön dort.«

Sie lächelte und sagte, ohne ihm in die Augen zu blicken: »Ich war ein bisschen high.«

Taha musste lachen. »Es hat mir gefallen, wie du getanzt hast.«

»Das ist der einzige Moment, in dem ich die ganze Welt um mich herum vergesse. Wenn ich tanze, werde ich meine Dämonen los. Wie bei einer Geisterbeschwörung. Apropos Dämonen: Wer ist eigentlich dieser Alien, der bei dir wohnt?«

»Das ist mein Freund Jassir.«

»Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie der an mir klebt. Ob ich komme oder gehe – wie ein Gecko! Der ist wohl nicht ganz dicht? Einmal hat er mich auf der Treppe angehalten und gefragt: ›Bist du Jasmin?‹ Wer ist denn diese Jasmin?«

Taha lachte. »Das ist eine lange Geschichte. Jassir ist mein bester Freund seit der Kindheit. Der Arme ist tatsächlich ein bisschen einfach gestrickt. Er arbeitet als Rechtsanwalt, ist verheiratet und hat eine Tochter. Aber er guckt dauernd den Mädchen und Frauen hinterher – seit ich mir im Internet einen Spass mit ihm erlaubt hab. Ich hab nämlich auf Facebook so getan, als wär ich eine Jasmin, die bei uns am Finneyplatz wohnt. Ich hab ein Profil mit dem Bild eines schönen Mädchens erstellt und angefangen, mit ihm zu chatten.«

»Hm, schlimme Sache, das muss man schon sagen. Und dann?«

»Das Ganze war ein Scherz. Aber seine Frau hat die Nachrichten gelesen. Und die hatte ich, ehrlich gesagt, ganz schön aufgemotzt, mit Worten und Bildern, ziemlich überzeugend – sie hat ihn rausgeschmissen.«

Sara seufzte. »Verflixt!«

»Ob du’s glaubst oder nicht: Seitdem hockt er als Flüchtling in meiner Wohnung und geht gar nicht mehr vom Computer weg. Er wartet nämlich darauf, endlich diese Jasmin zu treffen. Stundenlang sitzt er auf dem Balkon und schaut auf die Strasse, um sie vielleicht zu sehen. Ich warte, bis er mal Zigaretten holen geht, dann schicke ich ihm eine Liebesbotschaft oder ein Bild von einem Mädchen, das dem Profilfoto ähnlich sieht. Wenn er wiederkommt, um mit ihr zu chatten, ist sie immer schon weg. Er setzt sich hin und raucht, bis ich vor blauem Dunst nichts mehr sehen kann, und dann schreibt er ihr. Oder er fotografiert sich selbst mit dem Handy und schickt ihr die Bilder. Dann macht sie ein Date mit ihm aus, zu dem sie nicht kommt. Immer wieder erklär ich ihm, dass sie ja verheiratet ist und das alles hinter dem Rücken ihres Mannes macht. Aber soll er diese Freundin doch toll finden!«

»Dass du ein Schuft bist, ist dir wohl klar?«

»Glaub mir, das tu ich doch alles nur, weil es nötig ist. Am Anfang tat er mir noch leid. Ich wollte es ihm beichten, damit er nach Hause geht. Aber dann sagte ich mir, dieser Kerl hat eine Lektion verdient, und liess ihn machen. Und stell dir vor: So langsam vermisst er seine Tochter, und seine Frau auch. Deshalb denk ich, ich bleib noch ein bisschen mit ihm zusammen, bis er wieder zu sich kommt. Ausserdem lenkt er mich ab. Allein halte ich es in der Wohnung nicht aus.«

Sara lachte, bis ihre Backenzähne zu sehen waren. »So brav siehst du aus mit deiner Brille und deinem Anzug, und dann bist du so eine Nummer!«

Taha lächelte und schwieg, bis sie verstummte und so noch schöner aussah. Er wandte keinen Blick von ihr.

Schliesslich stützte sie die Ellenbogen auf den Tisch, nahm einen Löffel von der Schokolade und sah ihn dabei mit zusammengekniffenen Augen an. »Was willst du eigentlich?«

Er strich sich über den Kopf, lehnte sich zurück und betrachtete die Vorübergehenden auf der Strasse. »Ich weiss nicht. Ich weiss es wirklich nicht.«

»Wer soll es denn dann wissen?«

»Hörst du noch immer nicht auf zu fragen?«

»Gut, dann frag du!«

»Wer bist du?«

»Wer ich bin?«, fragte sie erstaunt. »Ich bin Sara, mein Herr. Absolventin der Medienwissenschaftlichen Fakultät, Abteilung Journalistik. Weiblich, ledig. Ich hab einen einzigen Bruder – das heisst, er muss nicht zum Militär. Ich arbeite für das Politikressort der Zeitung Hoffnung der Heimat. Willst du noch wissen, wie viel ich verdiene?«

»Weisst du, dass du schön bist?«

Der Löffel in ihrer Hand zitterte. »Sag mir was, was ich noch nicht weiss.«

»Und eingebildet.«

»Ich kenne meine Möglichkeiten.«

»Denkst du, du weisst alles?«

»Ich weiss mehr als du.«

»Das bezweifle ich.«

»Weisst du, was man auf dem Pflaster vor der Tür vom Groppi sieht?«

»Was denn?«

»Einen Bienenstock.«

»Was soll das bedeuten?«

»Das bedeutet, die Fliesen bilden ein Wabenmuster.« Sie zwinkerte ihm zu. »Verrat es niemandem!«

»Weisst du denn, welche Funktion die Milz im Körper hat?«, fragte Taha.

Verschmitzt lächelnd sah sie ihn an. »Schachmatt.«

»Findest du es nicht komisch, dass du weisst, wie das Pflaster vor dem Eingang aussieht, aber deinen eigenen Körper nicht kennst?«

»Aber es zu wissen nutzt nichts, und es nicht zu wissen schadet nichts.«

»Reine Theorie!«

»Apropos Theorie: Hast du von Machrûs Bergas gehört?«

Das Glas Nescafé in Tahas Hand zitterte. »Nein, was denn?«

»Der Arzt, der ihn behandelte, hat erklärt, dass an seinem Tod manches fragwürdig ist.«

Taha schluckte schwer. »Und weiter?«

»Er heisst Doktor Sâmi Abdalkâdir. Du kennst ihn sicher.«

»Nein.«

»Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Ich will versuchen, ihn zu treffen. Ich bin sicher, da gibt es eine Überraschung.«

»Ja, aber was hast du davon?«

»Eine Journalistin braucht einen Knüller, ein Thema, um sich einen Namen zu machen. Etwas, womit sie ihren Platz behaupten kann.«

»Egal, ob sie damit jemandem schadet?«

»Schaden tut sie nur dem, der was falsch gemacht hat.« Sara schwieg einen Moment, dann fragte sie: »Willst du mit mir kommen?«

»Was heisst das, mit dir kommen? Heisst das, dir mein Herz auszuschütten? Mich bei dir wohl zu fühlen?«

»Und was hast du mir dabei zu bieten?«, fragte sie und lachte spöttisch.

»Sag ich nicht, dass du eingebildet bist?«

Sie frotzelten noch eine Stunde so herum, dann ging Sara. Zum Dank schenkte sie ihm noch ein vielsagendes Lächeln und liess ihn dann mit seinen Fragen allein.

Als Taha wieder in die Wohnung kam, hatte Jassir schon seine Rauchwolken an die Decke geblasen. Ganze zwei Wochen lang klammerte er sich nun schon an Taha wie eine hungrige Laus. Er war wie die frommen Leute, die die Nähe eines Heiligengrabs suchen. So wie diese mit ihren Händen über das Grab strichen, streichelte Jassir den Computer und wartete auf ein Wunder von seiner Geliebten – die Taha sich doch nur ausgedacht hatte. Seinen Pillenkonsum hatte er inzwischen etwas eingeschränkt. Auch seine Punkfrisur hatte er ein wenig gestutzt, so dass sie jetzt aussah wie billige Zuckerwatte. Selbst auf seine Karohemden versuchte er zu verzichten, allerdings vergeblich. Andererseits hatte ihn nun doch eine Art Sehnsucht beschlichen, besonders nach seiner Tochter Sina – was seine Frau betraf, so musste er sich dafür etwas mehr anstrengen.

Taha ging ins Zimmer und fand Jassir dort vor dem Computer, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. »Was ist denn mit dir los, soll ich dir vielleicht einen Tefal-Monitor kaufen?«

Jassir sah ihn angewidert an. »Nervensäge!«

»Wo ist das Essen? Du bist heute dran!«

»Ich weiss, ich weiss.«

Tahas Blick fiel auf die Shorts, die Jassir anhatte. »Wie kommst du dazu, die zu tragen?«

»Was soll das, Taha, willst du mir jetzt wegen jeder Kleinigkeit Vorhaltungen machen?«

»Und wie kommst du zu diesem Hemd aus meinem Schrank? Fehlt nur, dass du auch noch meine Boxershorts und Unterhemden anziehst! Wenn man dir den kleinen Finger reicht …«

»… dann steck nicht gleich einen Ring dran! Ich werd dir was Besseres kaufen. Das ist ja eh nur Ramsch von El Tawheed & El Nour.«

»Das ist Timberland, du Arschloch!«

»Also ab zu Kentucky Fried Chicken, Bruder!«

»Ab zu Kentucky, du Blödmann! Gib mir eine Zigarette!«

Jassir warf ihm eine hin.

Taha fragte: »Wie geht’s der Schnecke?«

»Ruf mich, wenn du merkst, dass sie wieder online ist. Sie chattet nur, wenn die Luft rein ist.«

»Ihr Mann hat noch immer keinen Schimmer?«

Jassir klickte auf ein Porträt von ihr. »Das ist ein Esel. Der lässt so einen Sonnenschein allein und gibt sich mit irgendwelchen Schlampen ab. Das arme Mädchen! Sie ist jeden Tag allein im Bett. Aber von solchen Dingen verstehst du ja noch nichts. Die erzählt mir vielleicht Sachen … Am liebsten würde ich in Facebook reinspringen. Die Arme!«

»Die Arme! Darling, du wirst ja plötzlich ganz weich. Dabei hast du doch selbst deine Frau alleingelassen!«

»Die kannst du im Dschungel aussetzen, mein Lieber, dann frisst sie die Löwen. Sprich lieber von was Angenehmerem!«

»Ich weiss was: An der Uni haben wir uns mit einem Experiment beschäftigt, das man in Europa mit einem Affen gemacht hat. Sie haben ihm Sonden in bestimmte Hirnregionen eingeführt. Dann haben sie ihm einen Knopf gegeben, und wenn er auf den drückte, spürte er die gleiche Lust, wie wenn er mit seinem Weibchen zusammen wär. Er hatte auch noch einen zweiten Knopf, bei dem fühlte er sich, als wär er satt gefressen. Und stell dir vor, der Affe liess den Fressknopf links liegen und drückte immer nur auf den Sexknopf, bis er einen Herzanfall kriegte. So weit wie der Affe willst du es doch wohl nicht treiben!«

»Nee, aber was diesen Knopf angeht – kriegt man den vielleicht in der Abdalasîsstrasse zu kaufen?«

»Statt immer nur so dazusitzen wie eine Grille, geh lieber nach Hause, und drück auf den Knopf! Pass bloss auf, denn was passiert wohl mit einem Organ, wenn es nicht mehr benutzt wird, he?«

Jassir stand auf, um sich umzuziehen. »Was willst du essen?«

»Es schrumpft. Und schweif nicht vom Thema ab!«

»Wenn ich nach Hause gehe, mein Lieber, krieg ich die Haut abgezogen.«

»Sag ich doch, es schrumpft!«

»Dann schrumpft es halt. Soll es in Ehren sterben! Wenn ich mit einer Frau spreche, knack ich immer ihren Code. Bei der hier auf Facebook brauch ich zwei Wörter, dann hab ich Showtime und Al Jazeera Sport. Zu Hause hab ich nur Staatsfernsehen.«

»Jetzt aber ab mit dir, ich hab einen Riesenhunger! Geh und hol uns was zu essen!«

Als Jassir verschwunden war, um zweimal Fast Food zu holen, ging Taha ins Internet und schickte ihm in Jasmins Namen eine Nachricht: »Jassirchen, wo bist du? Du bist wohl noch nicht vom Staatsanwalt zurück? Ich sehne mich schrecklich nach dir. Gute Nacht, mein Schatz, bye. Huaaah!«

Eine Viertelstunde später kam Jassir mit Sandwiches und ein paar Zeitungen zurück. »Der Mann mit dem Bier, wie heisst der?«

»Sulaimân. Was ist mit ihm?«

»Der ist heute gestorben. Sie haben einen Zettel an seinen Laden gehängt. Die Trauerfeier ist bei Stella-Bier. Hahaha!«

Taha konnte über diesen Scherz nicht lachen. Ein Fünfzig-Volt-Schlag durchfuhr ihn von den Füssen bis zum Kopf. Minutenlang blieb er in sich versunken, bis er Jassir aus dem Nachbarzimmer schreien hörte. Er hatte die Nachricht entdeckt und verfluchte Tahas gesamten Stammbaum, seine Sandwiches und den Tag, an dem er geboren worden war.