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Naama Bay, Scharm al-Scheich, drei Monate später

Die feuchte Sommerbrise trug karibische Rhythmen heran. Sie mischten sich mit dem Rauschen der Wellen, diesem Schschsch, von dem man einmal gesagt hatte, es sei der Atem Poseidons. Nahe der zauberhaften Promenade lag direkt am Meer das Bistro Joli, ein dezent beleuchtetes italienisches Restaurant mit ausgezeichneter Pizza, verschiedenen maritimen Gerichten und schmackhaften Salaten. Mit Sand gefüllte Flaschen, in denen Kerzen steckten, leiteten den Gast über einen kleinen Pfad zu einer Tanzfläche, um die sich die Tische gruppierten. An ihnen sassen Europäerinnen und Europäer: Italiener, Deutsche, Slawen.

In der Mitte stand ein junger Mann in den Dreissigern mit zusammengebundenen langen Haaren und einer elektrischen Gitarre. Er liess die Finger über die Saiten gleiten und spielte ein leises Stück, zu dem die Leute auf der Tanzfläche ihre Köpfe wiegten und sich an den Händen hielten. Hinter ihm sass Taha an seinen Instrumenten, erstklassigen Drums, von denen er nie zu träumen gewagt hätte. Er trug schwarze Jeans und ein weisses T-Shirt. In den letzten drei Monaten hatte er seine Haare wachsen lassen, sein Gesicht war rosig von Sonne und wiedergewonnener Gesundheit. So trommelte er mit geschlossenen Augen an der frischen Luft und schuf eine Atmosphäre der Harmonie – die allerdings bald von einer fürchterlichen Kakophonie durchbrochen wurde. Bei den Tischen hatte ein kleines Mädchen zu weinen begonnen und schrie nun wie am Spiess. Sie war kaum wieder zu beruhigen. Nach ein paar Minuten verloren die Tänzer die Geduld und kehrten verärgert an ihre Tische zurück.

Im selben Moment hörte man Jassir seine Kleine und seine Frau anbrüllen: »Es nutzt alles nichts! Selbst wenn ich ins Paradies käme, ihr beide würdet auch noch die Jungfrauen vertreiben. Und du, um Gottes willen, was machst du denn da eigentlich?«

Dâlia, die in den vergangenen drei Monaten einige Kilo zugelegt hatte, antwortete: »Ich will dir doch Geld sparen!« Sie war nämlich gerade dabei, die Essensreste vom Tisch in eine kleine Plastikdose zu füllen und in ihrer voluminösen Handtasche zu verstauen.

»Wer hat Ihnen denn überhaupt gesagt, dass ich hier zahle, meine Dame?«

»Hast du etwa Angst um dein Ansehen bei diesen dürren Flittchen aus Russland, die du schon die ganze Zeit anstarrst, seit wir hier reingekommen sind? Guck doch mal das Mädchen da, wie dünn! Nur Haut und Knochen! Ich möchte nur mal wissen, was dir an der gefällt, mit ihren spitzen Knochen und dem Pferdegebiss. Und Brüste hat sie auch keine. Wie zwei zerquetschte Weinbeeren sehen die aus.«

»Weinbeeren! Das ist doch schliesslich immer noch besser als diese Riesenmelonen, für die man einen Suzuki-Kleintransporter braucht.«

»Jassir, reiss dich zusammen, und lass uns den Abend in Ruhe verbringen!«

In dem Moment machte Taha dem Kampf ein Ende, indem er seinem Freund auf die Schulter klopfte. »Mach doch nicht so einen Aufstand! Ich hab dich eingeladen, damit du ein paar Tage Luftveränderung hast und nicht damit du dich streitest.« Dann richtete er das Wort an Dâlia: »Nimm’s mir nicht krumm, Dodo, aber es ist deine eigene Schuld, schliesslich hast du selbst dir dieses chinesische Fabrikat ausgesucht. Ich kenne und erziehe ihn ja schon lange. Er ist ein furchtbares Arschloch, aber harmlos. Gefällt es euch hier?«

»Das letzte Lied erinnert mich doch sehr an einen Mawâl von Fâtima al-Id50. Ich werde dich wegen Urheberrechtsverletzung anzeigen!«

In den letzten Monaten hatte sich alles verändert. Am Tag vor seinem letzten Treffen mit Walîd Sultân hatte Taha in der Firma gekündigt. Einen Tag davor hatte er seine Wohnung an Frau Mervat vom Dritten verkauft und war anschliessend untergetaucht. Niemand ausser Jassir wusste etwas von ihm. Eine Woche lang hatte er sich in Scharm al-Scheich ausgeruht, bevor er die Arbeit als Schlagzeuger in dem italienischen Restaurant annahm. Gegenüber den Besitzern und Gästen des Lokals nannte er sich Tito. Am Tag las er viel, abends spielte er vier Stunden, und später liess er den Tag in einem Strassencafé an der Naama Bay ausklingen, wo er Freunde gefunden hatte, die auf seine Vergangenheit nicht so neugierig waren.

Einige Tage zuvor hatte er dann Jassir angerufen und ihn eingeladen, zwei Tage bei ihm in dem Ferienort zu verbringen, allerdings unter der Bedingung, dass er mit Frau und Tochter kam. Als Jassir diese Bedingung hörte, hatte er mit den Zähnen geknirscht: »Ich hab dir doch gesagt, ich komm allein, zum Kuckuck!«

Taha nahm Sina auf den Arm und küsste ihr Händchen. »Und diesen Schatz wolltest du allein in Kairo zurücklassen?« Dann sagte er zu der Kleinen: »Gefällt es dir hier, Sisi?«

Sie nickte und lächelte. Er gab sie ihrer Mutter in die Arme zurück, nahm Jassir bei der Hand und zog ihn in Richtung Meer. Sie zündeten sich beide eine Zigarette an, dann sagte Taha: »Junge, willst du denn nicht mal mit dieser Scheisse aufhören? Mach es ihr doch ein bisschen leichter!«

»Ich hab es doch genau so gemacht, wie du es mir gesagt hast. Ich hab ihr eine DVD mit so einem bescheuerten romantischen Film mitgebracht, auch noch uncut, hab das Licht runtergedreht, mir Boxershorts für fünfundzwanzig Pfund angezogen, und wir haben uns hingesetzt.«

»Hä?«

»Und dann ist sie gleich in der ersten Viertelstunde eingenickt. Plötzlich hörte ich ein Schnarchen – oder soll das etwa ein brennender Traktormotor gewesen sein? Da bin ich aufgestanden, hab den verdammten Film abgestellt, die verdammten Boxershorts für fünfundzwanzig Pfund ausgezogen, das verdammte Licht ausgeschaltet und bin, zur Hölle noch mal, ins Bett gegangen und eingeschlafen.«

Taha sah ihn eine Weile an, dann brach er in Lachen aus.

Jassir blickte sich um, um sicherzugehen, dass dort niemand war, und sagte: »Es gibt eine Neuigkeit, die du erfahren solltest.«

»Was ist passiert?«

»Dein Freund ist im Krankenhaus. Es geht zu Ende mit ihm.«

»Seit wann?«

»Seit ungefähr zwei Wochen. Ich hab es zufällig erfahren, als ich wegen einer digitalen Geburtsurkunde für Sina auf dem Revier war.« Taha zog an seiner Zigarette und blies dem Mond den Rauch ins Gesicht, während Jassir hinzufügte: »Erledigt, Taha, die Sache ist vorbei. Service ist tot, und bei dem, der ihn gelenkt hat, ist es auch nur noch eine Frage der Zeit. Jetzt kannst du doch zu deiner Arbeit und in dein Leben zurückkehren. Vergiss den ganzen Staub und Puder und Dreck, such dir eine Ehefrau oder …«

Taha fiel ihm ins Wort: »Ich hab doch nicht auf Walîd Sultâns Tod gewartet, um danach wieder zurückzugehen. Das ist vorbei, ich fühle mich wohl hier. Ich habe zu mir selbst gefunden. Als ich mein Studium angefangen habe, hab ich das nur gemacht, um meinen Vater zufriedenzustellen. Aber ich konnte es nie leiden, und meine Arbeit als Vertreter auch nicht. Das ist alles nur Heuchelei und Gaunerei. Jetzt fühl ich mich zum ersten Mal als Mensch.«

Jassir blickte sich zur Tanzfläche um und sagte: »Unter uns: Wer wie du jeden Tag solche Miezen vor die Linse kriegen kann, wäre ja ein Hohlkopf, wenn er von hier wegginge.«

»Ein Esel bleibt doch immer ein Esel, hör auf!« Dann schwieg er eine Weile, bemüht, die Frage zurückzuhalten, die ihm keine Ruhe liess. »Hat Sara dich nicht noch mal angerufen?«

Jassir schüttelte den Kopf.

In dem Moment hörte Taha einen Pfiff: Er sollte sich wieder ans Schlagzeug setzen. Er trat seine Zigarette aus und entschuldigte sich bei seinem Freund. Auf dem Weg blieb er noch einmal stehen. »Danke, Jassir.«

»Wofür denn?«

»Ich habe über Sachen mit dir gesprochen, die dich ins Unglück hätten stürzen können. Aber weisst du was, als Kellner im Café damals warst du die ideale Besetzung.«

»Du willst dich über mich lustig machen, Gott möge es dir heimzahlen! Ich hab nachts ins Bett gemacht vor Angst!«

Taha lachte und umarmte ihn. »Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Jassir.« Dann liess er ihn stehen, setzte sich an sein Schlagzeug und begann zu spielen.