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Wer kennt Bergas nicht?

1947 stand in den Zeitungen folgende Nachricht: »Gestern erhob Seine Majestät König Farûk I. Abdalhakam Bey Bergas, einen der Notabeln von Port Saîd, in den Rang eines Paschas und ehrte ihn damit für seine Verdienste um den Staat Seiner Majestät. Der Ehrung wohnten sowohl der Verteidigungsminister, Generalleutnant Haidar Pascha, als auch der Präsident des Königlichen Diwans, Ibrahîm Pascha Abdalhâdi, bei …«

14. Mai 1948: »Gestern wurde in der britischen Vertretung zu Ehren des Botschafters Sir Ronald Campbell eine Abendgesellschaft gegeben, der zahlreiche hochrangige Persönlichkeiten beiwohnten. Anlass der Feier war das gestrige Ende des britischen Mandats über Palästina. Unter den geladenen Gästen waren auch Seine Exzellenz Hamdi Pascha Abu al-Alâa, Seine Exzellenz Abdalhakam Pascha Bergas und …«

6. Mai 1951: »Am Tage der Hochzeit Seiner Majestät kamen Glückwünsche aus sämtlichen Staaten der Welt, und die Könige, Präsidenten und Exzellenzen überreichten Geschenke. Unter den wertvollsten Präsenten, an denen sich auch die Söhne der königlichen Familie beteiligten, sind ein Tablett und zwei Trinkgläser aus purem Gold. Das Tablett ist am Rand mit Diamanten besetzt, und in der Mitte sind die königliche Krone und der Name Seiner Majestät eingraviert. Ein weiteres wertvolles Geschenk ist eine mit Goldintarsien geschmückte Ebenholztruhe, die Seine Exzellenz Abdalhakam Pascha Bergas anlässlich der glücklichen Hochzeit überreichte.«

August 1952, eine Anzeige: »Sie haben uns von Demütigung und Erniedrigung befreit, und wenn Sie Ägypten reformieren und Warnungen gegen seine Feinde aussprechen, stehen wir an Ihrer Seite! Abdalhakam Bergas und seine Partner gratulieren Stabsgeneralmajor Muhammad Nagîb, dem Führer der gesegneten Bewegung, und wünschen ihm mit Gottes Hilfe einen starken Willen und feste Entschlossenheit. Der Gratulation schliessen sich an die Söhne der Nation, die ihm beistehen, die Besatzer allerorten zu vernichten.«

20. Juli 1961: Verabschiedung des Verstaatlichungsgesetzes.

28. Juli 1961: »Auf folgende Firmen ist wegen Nichterfüllung der Bedingungen das Verstaatlichungsgesetz Nr. 117 nicht anzuwenden: Mobil Oil, Esso, … die Firmen von Abdalhakam Bergas …«

6. Dezember 1963, eine Todesanzeige in der Zeitung al-Ahrâm: »… Präsident Gamâl Abdel Nasser ordnete Herrn Hussain al-Schâfii zur Teilnahme an der Trauerzeremonie für den verstorbenen Abdalhakam Bergas ab. Es empfing der Sohn des Verstorbenen, Machrûs Abdalhakam.«

August 1967: »Herr Machrûs Abdalhakam Bergas stellte insgesamt hunderttausend Pfund als Beitrag zum Aufbau der Streitkräfte zur Verfügung …«

Oktober 1968: »Gestern trat unter dem Vorsitz des Herrn Präsidenten Gamâl Abdel Nasser das Zentralkomitee der Arabischen Sozialistischen Union zusammen. Das Komitee befasste sich mit Fragen der Innen- und Aussenpolitik und debattierte den Plan für Entwicklung … Anwesend waren Herr Sajjid Mara, Herr Schaarâwi Muhammad Guma, Herr Machrûs Abdalhakam Bergas, Herr …«

21. Mai 1971: »›Unser Herr! Lass unsere Herzen nicht abirren, nachdem du uns geleitet hast! Schenke uns Barmherzigkeit von dir: Siehe, du bist der reichlich Schenkende!‹19 Mit Ihrem spontanen Empfinden, das sich aus dem Empfinden unseres Volkes speist, welches niemals fehlgehen kann, haben Sie korrigiert, was der verstorbene Führer fest zu korrigieren entschlossen war, und sämtliche Korruptionsherde beseitigt. Der Bergas-Vertragskonzern gratuliert dem gläubigen Präsidenten Muhammad Anwar al-Sadât zur Mairevolution – der Revolution, die Reformen, Gerechtigkeit und Aufklärung bringt …«

Februar 1979: Die Bergas-Gruppe gewinnt die Ausschreibung des Ministeriums für Lebensmittelversorgung zur Einfuhr einiger Grundnahrungsmittel nach den Normvorschriften.

August 1982: »Die Firma von Machrûs Bergas vom Verdacht entlastet, verdorbene Nahrungsmittel an das Ministerium für Lebensmittelversorgung geliefert zu haben.«

Juni 1989: »Machrûs Bergas’ Firma MHB für Aufbau und Entwicklung kündigte an, mit der Errichtung eines Wohnheimkomplexes für Jugendliche mit geringem Einkommen in der Region zu beginnen …«

November 1992: »Ursache für den Einsturz der staatlichen Wohnheime für junge Leute mit geringem Einkommen durch das Erdbeben vom vergangenen Monat sind ›schwerwiegende Konstruktionsmängel‹.«

November 2002: »Gestern fand im Hotel Four Seasons die Gründungsfeier der Firma HB Film Kinoproduktion statt. Am Anlass, den der Firmenchef Hâni Machrûs Bergas veranstaltete, nahm eine Reihe von Künstlern und Künstlerinnen teil, darunter auch die libanesische Künstlerin …«

Mai 2004: »Rätselhafter Tod im Haus von Hâni Machrûs Bergas: Ein persönlich mit Hâni Bergas befreundeter junger Mann fiel unter ungeklärten Umständen vom Balkon des Hauses …«

August 2005: »Hâni Machrûs Bergas entlastet im Mordfall …«

August 2007, in einer unabhängigen Zeitung: »Die Bergas-Gruppe überschwemmt den Markt mit siebzehn Tonnen nicht für den menschlichen Verzehr geeignetem Frühstücksfleisch. Die Fracht war als Hühnerfutter deklariert eingeführt und vom Zentrallabor für die Analyse von Pestizidrückständen im Landwirtschaftsministerium am 19. Juli zurückgewiesen worden, weil sie Dioxine enthielt. Dennoch wurde sie am 13. August ohne klaren Grund freigegeben.«

8. September 2007, Kommentar eines Verantwortlichen: »Ein Beschluss wie der, ein Ausreiseverbot für Machrûs Bergas zu erwirken, braucht seine Zeit …«

11. September 2007, Machrûs Bergas aus London: »Das letzte Wort haben die Richter. Ich vertraue auf Gott und auf eine positive Entscheidung des Staatsanwalts …«

Oktober 2007, ein Artikel des Journalisten Alâa Guma in der Zeitung al-Gîl al-hurr (Die freie Generation): »Machrûs Bergas hatte in der Vergangenheit die Papiere der von ihm eingeführten Waren stets korrekt eingereicht. Dies nahm die Gesundheitspolizei zum Anlass, der Einfuhr eines Atom-U-Boots, aus dem eine phosphoreszierende grünliche Substanz sickerte, ohne Papiere zuzustimmen. Schon Anfang der Achtziger hatte er sich nach Skandalen um verdorbene Waren verflüchtigt wie ein Rest Alkohol aus einer offenen Flasche, sobald sich die Wogen geglättet hatten, seine Aktivitäten in Kairo jedoch wiederaufgenommen. Die Quelle berichtete ausserdem von einer hochgestellten politischen Persönlichkeit, die an den Importgeschäften beteiligt ist …«

November 2007, eine Meldung in der Zeitung al-Gîl alhurr: »Der Journalist Alâa Guma, der mit dem Bergas-Fall und dem Fall der Bar Vertigo befasst war, kam in seiner Wohnung in Hadâik Hilwân durch eine explodierende Butangasflasche ums Leben …«

Mai 2008: »Das Gericht erster Instanz in Gisa spricht Machrûs Bergas frei!«

November 2008: »Im Wahlbezirk Dukki hat Herr Machrûs Bergas gewonnen, im Wahlbezirk Heliopolis Herr …«

*

Als die Renovierungen in der verlassenen Villa ihren Anfang nahmen, begann man sich über dieses Gebäude Gedanken zu machen, von dem man ganz vergessen hatte, wann es errichtet worden war. Nur der Türhüter, der schon seit Urzeiten da war, erinnerte sich noch an seine Geschichte. Er sagte, das Haus habe bis in die fünfziger Jahre einem Pascha gehört, dieser habe sich jedoch umgebracht. Danach habe man es verschlossen …

Nach zwei Wochen erhoben sich als Sichtschutz ringsum Mauern und dichtgepflanzte Bäume. Moderne Beobachtungskameras spähten zwischen den Zweigen hindurch und drehten sich in alle Richtungen. Niemand kam hinein, nicht einmal mit einem Blick. Das galt auch für Hussain mit seinem Fernglas. Gerüchte kursierten über den Eigentümer der Villa: Der eine meinte, sie gehöre einem lichtscheuen grossen Tier, der andere, einem Politiker, von dem man in Zukunft noch hören werde. Einige flüsterten hinter vorgehaltener Hand: »Geheimdiiiienste!« Der Türhüter Mansûr dagegen hatte folgende Erklärung: »Ich lasse mich scheiden, wenn da nicht Bin Lâdin wohnt. Sie haben ihn aus Afghanistan herausgeschmuggelt, damit diese H…söhne von Amerikanern ihn nicht kriegen.« Ein paar Tage später meinte er allerdings: »Soll man mich doch der Mutter meiner Kinder berauben, wenn da nicht Saddâm Hussain ist. Sie haben ihn gar nicht aufgehängt, ich hab ihn rauskommen sehen, er ist vor meinen Augen ins Auto gestiegen.«

Eine ganze Weile kam es zu den verschiedensten Mutmassungen. Als die Wahlen näher rückten, offenbarte der neue Bewohner jedoch seine Identität. Es war niemand anders als Machrûs Bergas, dessen Fotos schon alle Strassen und Plätze überflutet hatten, damit er es sich in Zukunft auf einem Parlamentssitz bequem machen konnte. Er hatte eine Wahlkampagne initiiert, bei der er mit Service’ Hilfe den Schlägertrupp seines Konkurrenten in einem Messerkampf ausschaltete. Schliesslich wurde er mit achtzehntausend Stimmen zum Abgeordneten seines Wahlbezirks gewählt, obwohl die Gesamtzahl der dort registrierten Wähler nur fünfzehntausend betrug!

Machrûs Bergas’ Erfolg zeigte, wie das Kapital und die Souveränität des Volkes Hand in Hand arbeiten und zusammenwirken können. Diese Souveränität nämlich fand ihren Repräsentanten in Service. »Wir sind doch an diesem Ort alle Brüder und Verwandte, miteinander verbunden seit so vielen Jahren. Und unser Ziel ist es, unseren Namen hochzuhalten – jaaaa!«

Das alles war ergiebiges Material für jemanden wie Hussain, der infolge seiner Schicksalsschläge zu einem überflüssigen und ohnmächtigen Invaliden geworden war. Aus dem Fenster zu schauen war für ihn seitdem die grösste Attraktion. Dafür holte er sich sogar ein Fernglas – eines, wie man es sich normalerweise kauft, wenn man mit Helikopter und Tonbandgerät auf Expedition geht – und begann, heimlich Beobachtungen anzustellen, Zeiten abzupassen, auf geflüsterte Worte zu lauschen. Er hielt sich das Glas vor die Augen und spähte durch die Zweige der Bäume, die keine vollständige Intimität boten. Die Neuigkeiten sickerten durch sie zu ihm, wie einem Wasser durch die Finger rinnt. Seit es mit ihm bergab ging, war er nach dieser Beschäftigung regelrecht süchtig. Ausserdem redete er ständig von seinen Kriegserinnerungen. Mit diesen Geschichten lag er Taha in den Ohren, bis der es nicht mehr hören konnte. Auch von seiner Zeit als Lehrer erzählte er, wie er ins Krankenhaus gekommen war, wie er erleben musste, was für Teufel die jungen Leute inzwischen geworden waren, wie sie ihn veralberten und aus seinen Papieren Tüten und Flieger falteten, ihn mit dem Honorar hinhielten und sich über seine Schwäche und die Geschichte lustig machten. Wie Nâhid schliesslich gegangen war, das weisse Haar sich seuchenartig auf seinem Kopf ausgebreitet hatte, wie seine Hände und damit auch seine Handschrift zittrig geworden waren, so dass es die reine Hölle für ihn wurde. Dann schrie und bebte er und stand vor Wut fast aus seinem Stuhl auf. Er fluchte auf das Baden, weil er danach nicht schlafen konnte, und auf den Plastikkatheter, der wie ein siamesischer Zwilling an ihm festhing und erst warm werden musste, damit er merkte, dass er pinkelte. Er fluchte auf sich selbst und darauf, dass er sich trotz seines Todes auf Raten, der mittlerweile schon achtzehn Jahre dauerte, so lebendig stellte. Dann war er wieder still, so still, als habe man ihm plötzlich den Strom abgedreht. Er raffte seine Papiere zusammen und vergrub sie unter seinem Stuhl wie eine Schande, die sich ihm angeheftet hatte. Manchmal hängte er die Blätter auch an die Wand, stolz wie ein Dichter auf dem Markt von Ukas20. Taha versorgte ihn täglich mit all den Zeitungen, nach denen er lechzte wie ein Verirrter in der Wüste. Sieben verschiedene waren es, und keine einzige durfte fehlen. Hussain las sie erst, dann nahm er sich eine Schere, schnitt ein paar Artikel aus und legte sie in Mappen ab, die er danach im Schrank zwischen seinen Kleidern verstaute. Manchmal steckte er die Ausschnitte auch in die Kleidertaschen. Er verheimlichte mehr, als er offenbarte, und schlief im Sitzen, als laste eine ungesühnte Schuld auf ihm. Manchmal ging er ganz zärtlich mit Taha um, und ein andermal machte er ihm Vorwürfe. Tahas Tante Faika hatte ihm das einmal so erklärt: »Er hat mehr durchgemacht, als ein Mensch ertragen kann, mein Kind. Deine Mutter, Gott strafe sie, wo immer sie sein mag, hat nur an sich selbst gedacht und ihn einfach sitzenlassen. Und dann noch die Sache mit Rajjân und der Sechstagekrieg! Dein Vater ist wie ein Kamel, Taha. Wenn das einmal hinfällt, steht es nie wieder auf.«

Hussains ganze Sorge war Tahas Erfolg. Er fütterte ihn mit Geschichte wie niemanden vorher, förderte ihn an der Universität, bis er sie absolviert hatte, und war unbeschreiblich glücklich, als er schliesslich für das Pharmaunternehmen zu arbeiten begann. Aber wenn er daran dachte, dass Taha ja nicht der kleine Junge blieb, dass er erwachsen wurde und sich nach Unabhängigkeit und einer Lebensgefährtin sehnte, die ihn ihm entreissen würde, so wie Nâhid die Pfosten des Hauses eingerissen hatte, dann wurde ihm ganz flau. Warum wurden diese kleinen Teufel bloss erwachsen? Immer, wenn ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, zitterten ihm auf der gesunden Seite die Glieder, und er beugte sich über Papier und Feder.

Als er wieder nach ihm rief, war es schon nach sechs Uhr abends. Taha legte ihm die Kleider heraus und bügelte ihm einen alten Anzug, den er unbedingt tragen wollte. Als er danach erneut ins Zimmer seines Vaters kam, sass der am Fenster vor einer schwarzen Kreatur. Mit scharfen Krallen und spitzem Schnabel hockte sie auf dem Fensterrahmen und frass ihm aus der offenen Hand. Mit ruckartigen Kopfbewegungen liess sie die schwarzen Augen in alle Richtungen wandern. Als sie jedoch Tahas Bewegung an der Tür bemerkte, erschrak sie, breitete die Flügel weit aus und krächzte laut. Dann flog sie fort. Hussain drehte sich um und sah seinen Sohn in der Tür stehen.

»Ich weiss ja, dass manche Leute sich um Fische oder Vögel, um so niedliche kleine Schildkröten oder eine Lablabbohnenpflanze kümmern. Aber um eine Krähe! Das ist schon schwer zu verstehen«, sagte Taha.

Hussain schüttelte sich die Kekskrümel von der Hand. »Weisst du, dass die Rabenvögel als einzige Tiere ihre Toten begraben?«

»Und deshalb soll man sie sich als Haustier halten wie einen Kanarienvogel? So wie die Krähe aussieht, kann sie ja einem Elefanten Angst machen, mein Guter! Und schwarz ist sie, die Hundetochter! Und dann hat sie auch noch Angst vor mir!«

»Wenn sie nicht wäre, würden die Menschen noch mehr stinken, als sie es so schon tun.«

»Warum das denn, Chef? Schliesslich gibt es doch Deos! Und ausserdem, was ist dann mit den Indern? Ich meine, bei denen müsste es dann doch immer gut duften. Schliesslich verbrennen die ihre Toten.«

Hussain lächelte flüchtig. »Gut. Komm, wir wollen los.«

Taha befestigte den Katheter unter dem Stuhl, versteckte ihn dort unter einer Abâja und schob seinen Vater zum Aufzug. Auf der Strasse fragte er ihn: »Du hast mir noch gar nicht gesagt, was du von Bergas willst. Kennst du ihn überhaupt?«

»Ich kenn ihn schon lange.«

»Woher denn?«

»Aus den Zeitungen! Tag für Tag hab ich von ihm gelesen, bis zu seinem letzten Skandal.«

»Und du meinst, du kannst ihn sprechen?«

»Ich werde ihn sprechen.«

»Was willst du denn von ihm?«

»Du wirst es schon noch erfahren.«

»Ist sein Sohn wirklich …?«

»Ja.«

Wie üblich diskutierte Taha nicht weiter mit ihm. Ein Verwandter hatte mal zu ihm gesagt: »Dein Vater hat eine Schraube locker.«

Taha hatte ihm nicht erlaubt, so zu sprechen, denn er spürte, was für einen wachen Verstand sein Vaters trotz seines Gesundheitszustandes noch hatte. Nur die mysteriösen Besuche, auf die er neuerdings verfallen war, bereiteten ihm Sorgen: vor einem Monat bei Sulaimân, dem Lord, seinem Jugendfreund, den er doch jahrelang geschnitten hatte. Davor bei dem Rechtsanwalt Mûssa Atîja, der vor zwei Monaten verstorben war – und jetzt bei Machrûs Bergas!

Wer konnte Machrûs Bergas eigentlich treffen?

An der Ecke zum Finneyplatz passierte sie ein Streifenwagen, begleitet von lauten Grüssen aus rauer Kehle: »So eine Ehre, ihr Beys! Trinkt doch einen Tee mit uns!«

Taha erkannte die Stimme, es war Service. Es gab keine Chance, ihm auszuweichen, er fuhr mit dem Rollstuhl genau auf ihn zu. Für Sekunden flatterte sein Herz, und der Atem stockte ihm. Um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, machte er extragrosse Schritte. Aber dann siegte doch die Neugier. Service durchbohrte ihn mit seinen Blicken. Gleichzeitig fuhr er sich mit der Spitze seines Daumens übers Kinn, hielt dabei den Mund halb offen und drückte drohend die Zunge so in seine linke Wange, dass die sich nach aussen beulte. Ein Blick reichte Taha, um zu erkennen, was für ein Fehler es gewesen war, zur Polizei zu gehen. Bevor er verschwand, ballte Service noch eine Faust und schüttelte sein Handgelenk in einer vulgären Geste, die unter Jugendlichen verbreitet war – und die bedeutete, dass sie noch nicht fertig miteinander waren.

Weil Taha nicht wollte, dass sein Vater etwas merkte, ging er mit raschem Schritt auf die Villa zu. Vor dem Eingang trat er ein Pedal unter dem Rollstuhl, um die Räder zu blockieren. Das gewaltige Eisentor war mit Milchglasscheiben versehen. Beiderseits des Tors war an der hohen weissen Steinmauer jeweils eine Leuchte in Form einer Messinghand mit einer Fackel angebracht. Über der Mauer lugten die Bäume hervor. Eine Beobachtungskamera drehte sich in ihre Richtung.

»Willst du mir nicht mal erst erklären, was das Ganze überhaupt soll, Papa?«

»Später, Taha.«

Ein paar zähe Sekunden vergingen, während deren die Kamera auf sie gerichtet blieb. Dann öffnete sich das Tor einen Spaltbreit, weit genug, um einen Mann in einem Anzug mit einem einzigen Knopf hindurchzulassen – er schien ein Diener zu sein. Er hatte braune Haut und eine Glatze und trat auf sie zu. »Ja, bitte, die Beys?«

Taha überlegte noch, was er entgegnen könnte, da zog sein Vater schon einen kleinen Umschlag aus der Anzugtasche und reichte ihn dem Mann. »Bitte sehr. Für Machrûs Bey Bergas.«

Ohne das Couvert entgegenzunehmen, sagte der Diener: »Bittgesuche an das Büro in der Strasse des …«

»Hat jemand gesagt, dass das ein Bittgesuch ist?«, unterbrach Hussain ihn unwirsch. »Rein mit Ihnen, geben Sie ihm das! Und sagen Sie ihm, draussen ist Hussain al-Sahâr! Wir sind alte Bekannte.« Als er in diesem Ton sprach, sah er aus wie der Erste Staatssekretär im Finanzministerium.

Seltsamerweise ging der Diener wirklich zurück, wie hypnotisiert und mit weit aufgerissenen Augen. »Einen Moment!«

Taha beugte sich zu seinem Vater hinunter. »Was soll denn dieser Vorspann aus einem Stephan-Rosti21-Film? Willst du mir nicht erklären, worauf das Ganze hinausläuft?«

Fünf Minuten vergingen, in denen Taha erfolglos versuchte, eine Information von seinem Vater zu erhalten. Dann öffnete sich das Tor wieder für denselben Mann wie zuvor. »Bitte sehr.«

Sie folgten ihm, gingen ein paar Schritte durch einen üppigen Garten und traten dann durch die grosse Holztür in einen geräumigen Salon, der mit schwarzem Marmor getäfelt war. An der Decke hing ein prächtiger, ausladender Kronleuchter, der sein Licht auf glatte Wände, riesige Gemälde und auf Stühle warf, die zu einem Pariser Museum gepasst hätten.

»Eine Minute, bitte.« Der Mann liess sie allein und verschwand.

Taha wandte sich zu seinem Vater. »Du magst es ja mysteriös, mein Lieber!«

Hussain antwortete nicht. Er wirkte sehr ernst.

»Du willst dich doch nicht etwa wegen gestern bei ihm beschweren, wegen dem Ziegelstein und Service und so?«

»Nein, Taha.«

»Warum denn dann? Wieder wegen Rajjân?«

Bevor sein Vater antworten konnte, kam ein junges Mädchen herein, das so schöne Beine hatte, dass selbst die Kämpfer in Darfur darüber die Waffen niedergelegt hätten. »Machrûs Bey wird Sie jetzt empfangen, Hagg. Sie sind persönliche Bekannte?«

»Ja.«

Sie folgten ihrem Parfumduft bis zum Aufzug, der sie in den zweiten Stock fuhr. Dort befand sich eine Schiebetür, nach der die junge Frau jetzt die Hand ausstreckte. In dem Raum dahinter sass Machrûs Bergas auf seinem Schreibtisch und telefonierte. Trotz seines fortgeschrittenen Alters und der Tränensäcke unter seinen Augen, einer Folge häufigen nächtlichen Aufbleibens, war er ein gutaussehender Mann. Er trug Anzug und Hemd, jedoch keine Krawatte, und zog an einem Zigarrenstummel. Sein Büro war prächtig eingerichtet: ein riesiger Fernseher unmittelbar unter der Decke, bequeme Ledersessel. Ein grosses Foto zeigte ihn, wie er hinter einem schmalen Mikrofon eine Rede hielt, vor dem nach rechts blickenden Adler der ägyptischen Flagge. Auf einem anderen Bild war er zusammen mit seinem Sohn Hâni zu sehen, und auf einem dritten verneigte er sich gerade, um einen bekannten Politiker zu begrüssen. Die Beleuchtung im Raum war gedämpft, und immer wieder drang ein Lichtstrahl durch die Vorhänge vor dem Fenster, das Hussain al-Sahârs Wohnung gegenüberlag.

Als sie eintraten, legte Bergas den Hörer auf und warf ihnen einen prüfenden Blick zu. Dann machte er ihnen ein Zeichen. »Bitte«, sagte er träge und streckte ihnen mit liebenswürdigem, aber falschem Lächeln die Fingerspitzen entgegen. »Sie sind mir nicht vorgestellt worden.«

»Hussain al-Sahâr, Ihr Nachbar vom Haus gegenüber. Warte doch draussen auf mich, Taha.«

Missbilligend wandte der sich zum Gehen. »Jaja, schon gut. Aber mach nicht so lange!« Dann flüsterte er seinem Vater ins Ohr: »Ich muss heute Abend noch in die Apotheke.«

Taha folgte der jungen Frau hinaus, die offenbar die Sekretärin war. Sie führte ihn in ein benachbartes Zimmer, wo er vor einem Schreibtisch, auf dem in einer Vase ein Strauss Rosen stand, in einem bequemen Sofa versank. Insgeheim betete er zu Gott, dass sein Vater für das, was er tat, einen triftigen Grund hatte. In letzter Zeit liess sich dessen Verhalten nicht mehr vorhersagen. Angesichts ihrer angespannten finanziellen Lage und ihrer Junggesellenreden über die Ehe und die Wassermelone, auf die man erst klopfen müsse, um zu testen, ob sie innen reif sei, und ähnliche Dinge fielen Taha vier mögliche Gründe für diesen Besuch ein: dass Hussain entweder um eine Wohnung bitten wollte, um eine Empfehlung für eine Arbeitsstelle, um materielle Hilfe oder – nein, nein und abermals nein, nicht Hussain al-Sahâr! Das würde er nie tun! Ausserdem wusste Taha ja, dass sein Vater jemanden wie Machrûs Bergas aus tiefstem Herzen verabscheute. Und den Gedanken an eine Empfehlung lehnte er nicht nur ab, sondern betrachtete sie regelrecht als Schwerverbrechen.

Die Sekretärin war mit ihrem Telefon beschäftigt und warf nur zwischendurch einen Blick auf Taha. Sein Gesicht war voll Bewunderung für diese blendende Schönheit – und für die Riemchensandale, die sich um ihren wächsern hellen Fuss schmiegte. Der Körper, der auf diesem Fuss ruhte, war wie eine Mahalabîja. Auf gut Glück begann Taha ein Gespräch: »Wunderschön … wie die Villa eingerichtet ist! Das ist wohl Ihr Geschmack?«

Für den Bruchteil einer Sekunde lächelte sie eiskalt und schüttelte den Kopf, um alle diplomatischen Beziehungen, noch bevor sie wirklich aufgenommen worden waren, gleich wieder abzubrechen und darüber hinaus das Botschaftsgebäude zu verriegeln und abzuschliessen.

Um seine Verlegenheit zu verbergen, grinste Taha spitzbübisch, rutschte auf seinem Platz hin und her und steckte die Hand in die Jackentasche. »Ganz reizend.«

Drinnen sah es nicht viel anders aus. Machrûs Bergas tat, als sei er sehr beschäftigt mit den Papieren auf seinem Schreibtisch. Dabei stellten sich ihm Fragen über Fragen zu dieser lästigen Kreatur, die da vor ihm hockte. Während er überlegte, wie diesem Mann zu begegnen sei, der ihm seine Gesellschaft aufzwang, gab er sich jedoch ganz lässig. Das brachte Hussain allerdings keinesfalls aus dem Konzept. Er liess dem anderen gar keine Zeit zum Nachdenken: »Ich wollte Sie schon längst persönlich kennenlernen …«

Machrûs schwieg eine Weile und faltete währenddessen das Blatt auseinander, das Hussain ihm hatte aushändigen lassen. »Sie schreiben hier, die Angelegenheit sei wichtig und gehe mich an. Bitte sehr.«

»Wir sollten erst einen Tee trinken, um uns ein bisschen näherzukommen.«

Machrûs drückte auf einen Knopf neben sich.

»Stark, ohne Zucker«, fügte Hussain hinzu.

»Bring einen starken Tee ohne Zucker, Madbûli, und meinen Kaffee!« Wieder herrschte Schweigen, bis Machrûs es schliesslich brach: »Worum geht es denn nun, Hagg?«

»Es geht im Grunde um zwei Dinge«, antwortete Hussain. »Das erste betrifft mich, und erlauben Sie mir, dass ich schon mal damit beginne, bis Ihr Kaffee kommt.«

Machrûs betrachtete ihn mit ausdruckslosem Blick, und Hussain fragte: »Könnten Sie sich vielleicht aufs Sofa setzen? Der Stuhl, wissen Sie …«

Am Ende seiner Geduld, stand Machrûs auf, um sich auf das Ledersofa zu setzen, und Hussain rollte seinen Stuhl daneben.

»So ist es bequemer, weil der Katheter …«

Angeekelt unterbrach ihn Machrûs. »In Ordnung, in Ordnung, Hagg«, sagte er missmutig.

Der Diener kam mit einem Tablett herein, stellte es neben Hussain ab und ging wieder. Machrûs nahm eine andere Sitzposition ein. Seiner gesamten Körpersprache war sein Überdruss anzusehen. Er kratzte sich am Kinn, betrachtete seine Fingernägel und blickte seufzend zur Zimmerdecke. Seine Sprechstunde war längst vorüber. Der Mann neben ihm musste mit irgendeiner Bitte gekommen sein. Diese Leute wussten einfach nicht, was es hiess, Abgeordneter zu sein! Sie erwarteten ohne weiteres, dass man nach einer Parlamentssitzung sein Büro verliess, nur um dem Minister hinterherzulaufen, sich zu erniedrigen und ein albernes Anliegen vorzutragen, wie zum Beispiel einen Schüler auf eine andere Schule zu schicken, eine medizinische Behandlung auf Staatskosten durchführen zu lassen oder, was am beliebtesten war, um eine Stelle für jemanden zu bitten. Irgendetwas allerdings am Gesicht des Besuchers und an dessen mysteriösem Brief machte ihn neugierig auf den ersten Streich.

»Wie Sie sehen, bin ich Ihr Nachbar, Machrûs Bey. Ich wohne gegenüber, hinter dem Fenster dort genau vor Ihnen. In der Wohnung über mir wohnt ein Mann namens Isat, Gott bewahre Sie vor so einem ungehobelten Kerl! Seh ich’s doch morgens im Badezimmer plötzlich durch die Decke suppen! Ich schicke Taha, um oben Bescheid zu sagen. Und da sagt der, er hat die Wohnung gerade erst gemietet und schlägt nicht einen Nagel ein! Mit Engelszungen hat Taha auf ihn eingeredet, es half alles nichts. Und noch schlimmer: Er brachte auch noch einen Ingenieur aus dem Viertel an, und der schrieb ein Gutachten, dass der Schaden nicht von ihm komme. Das Problem liege an der Decke meines Badezimmers! Und dabei tropft auch noch vom Balkon immer die ganze Wäsche auf uns runter! Seine Frau hat uns nämlich auf dem Kieker, seit wir mit ihm geschimpft haben. Sehen Sie, was die Leute machen! Und ich leb allein mit meinem Sohn, meine Frau ist tot. Der Schaden trifft doch das ganze Haus. Bitte seien Sie so gut, und werfen Sie nur mal einen Blick darauf!«

Machrûs drängte ihn zur Eile: »Jaja, ich kann folgen.«

»Nur einen Blick, damit Sie es mit eigenen Augen sehen!«

Machrûs stand widerwillig und äusserst verdrossen auf, nachdem er nun endlich den Zweck des Besuchs erfahren hatte. Er verwünschte diesen Tag, an dem er Leute empfangen musste, die ihn für einen Sanitärfachmann zu halten schienen, ging zum Fenster und schob den Vorhang ein Stück zurück. Die Zeit, die er dafür brauchte, reichte Hussain al-Sahâr völlig. Sie genügte, die Hand in die Tasche seines verwaschenen Hemds zu stecken und ein Plastiktütchen mit einer pulvrigen Substanz herauszuziehen – nicht mehr als ein halbes Gramm. Schwerfällig stützte er sich auf die Rollstuhllehne und streckte die Hand bis über Machrûs’ Kaffee. Dann leerte er das Tütchen mit einer kreisförmigen Bewegung aus, um sicherzustellen, dass sich der Inhalt auch gleichmässig verteilte.

»Sehen Sie sein Fenster?«

»Hm …«

Hussain beobachtete, wie die kleinen Körnchen an der Oberfläche des Kaffees einsanken. »Genau über meinem Fenster.«

»Hm …«

Bevor Machrûs zurückkam und dabei einen Blick auf seine Uhr warf, hatte Hussain das Tütchen schon wieder in die Tasche gesteckt.

»War das die wichtige Angelegenheit?«

»Nicht ganz.«

Machrûs’ Stimme wurde scharf: »Sind Sie hergekommen, um mich auf den Arm zu nehmen?«

»Wenn Sie den Rest hören, werden Sie schon erkennen, wie wichtig die Angelegenheit ist und wie viel sie Sie angeht, glauben Sie mir! Beruhigen Sie sich, und trinken Sie Ihren Kaffee! Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich Ihnen.«

Hussain musste Zeit gewinnen. Er sah Machrûs ins Gesicht, bis der sich endlich seinem langsamen Rhythmus anpasste und seinen Kaffee trank. Das Glas war klein wie ein Fingerhut. In drei schnellen Zügen hatte Machrûs es geleert, um seinen Gast, der ihm immer lästiger wurde, endlich loswerden zu können.

Beim letzten Schluck blickte Hussain auf Machrûs’ leeres Glas und lächelte. »Gott erhalte Ihnen Ihre Gastfreundschaft, Bey! Wissen Sie was, Hagg Isat hat vor zwei Wochen erfahren, dass er Krebs im fortgeschrittenen Stadium hat, Gott verleihe ihm Gesundheit! Er steht schon mit einem Fuss im Grab. Als er merkte, dass es mit ihm zu Ende ging, kam er, versöhnte sich mit mir und entschädigte mich. Und er fing an, seine Toilette reparieren zu lassen.«

Machrûs lehnte sich zurück, verschränkte die Finger und zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Ich verstehe nicht. Weswegen sind Sie denn dann überhaupt hergekommen? Ich hab keine Zeit …«

»Ich komme Ihretwegen. Sie sollten zuhören, nicht ich«, unterbrach Hussain ihn.

»Meinetwegen?«

»Ich hab nämlich gestern von Ihnen geträumt«, sagte Hussain lächelnd.

Das reichte. Machrûs war nun endgültig mit seiner Geduld am Ende. Er stand auf, um das Gespräch abzubrechen. »Ich bin nicht in der Stimmung für solchen Hokuspokus. Dafür habe ich keine Zeit. Wären Sie nicht behindert, wäre ich noch ganz anders mit Ihnen verfahren.«

»Ich hab ja nicht gesagt, dass ich Wahrsagerei betreibe. Ich sage, ich habe von Ihnen geträumt.«

Machrûs ging zu seinem Schreibtisch und drückte auf den Knopf am Telefon. »Schahînas, kommen Sie bitte.«

»Es nutzt Ihnen gar nichts, wenn Sie mich hier wegschicken, glauben Sie mir!«

Zitternd kam die Sekretärin herein, und Machrûs schrie sie an: »Bevor jemand zu mir kommt, sagen Sie mir gefälligst, was genau er von mir will! Ich bin doch hier nicht die Beschwerdestelle für das ganze Gouvernement.« Dann liess er den Blick zwischen der Sekretärin und seinem Besucher hin und her wandern.

Hussain sah sehr ernst aus, aber dann löste sich die Spannung auf seinem Gesicht zu einem sonderbaren Lächeln. »Sie müssen wissen, was Sie tun. Aber sagen Sie nicht, es hätte Sie niemand gewarnt.«

Machrûs ergriff das Gefühl, das einen überkommt, wenn jemand einen von weit her anruft und fragt: »Geht es dir gut? Ich hab so was Komisches von dir geträumt.« Genauso wie einst Julius Cäsars Frau, als ihr Mann sich in den Senat begeben wollte und sie nach ihrem verstörenden Traum zu ihm sagte: »Geh nicht, man wird dich umbringen!« Aber Cäsar hörte nicht auf ihren Rat, und so ging die Prophezeiung in Erfüllung. Es würde auch Machrûs nicht schaden, seinem Gegenüber, das so ein seltsames Benehmen an den Tag legte, noch ein paar Minuten zuzuhören. Er konnte dem fiebrigen Wunsch, mehr zu erfahren, nicht widerstehen. »Das war’s, Schahînas. Danke.«

Die Sekretärin ging hinaus und schloss die Tür hinter sich, während Machrûs sich zu Hussain hinabbeugte. »Wenn Sie Geld wollen, glauben Sie mir, ist das nicht der richtige Weg, darum zu bitten. Ich lass mich nicht zum Narren halten.«

»Ich will gar nichts von Ihnen. Ich komme gottlob über die Runden.«

»Was war das denn für ein Traum, von dem Sie gesprochen haben?«

Hussain verharrte noch ein paar Sekunden, um die gespannte Erwartung in Machrûs’ Gesicht zu geniessen. »Versprechen Sie mir erst etwas, bevor ich es Ihnen sage!«

»Was denn?«

»Versprechen Sie mir, dass Sie sich über das, was ich sage, nicht lustig machen!«

»Ich verspreche es Ihnen«, rief Machrûs, am Ende seiner Geduld.

»Sie werden in drei Monaten sterben«, sagte Hussain mit sonderbarem Nachdruck.

Machrûs rang sich ein gequältes Lächeln ab und stützte sich auf die Stuhllehne. »Das ist leeres Gewäsch. Gott allein weiss, wie lange wir leben.«

»Jûssuf hatte die Gabe zu Visionen.«

»Das war aber auch ein Prophet. Ihm wurden Offenbarungen zuteil.«

»Auch der ungläubige Pharao hat von sieben Kühen geträumt.«

»Sie sind sich Ihrer Sache ja sehr sicher. Aber es war nur ein Traum.«

»Mir ist egal, ob ich Sie überzeugen kann.«

»Dann erzählen Sie!«

»Ich habe geträumt, Sie sässen in einem engen Raum, einer Art Keller, und hätten eine goldene Kette um. Plötzlich kam mein grosser Bruder rein. Er hat Sie an der Hand genommen und gesagt: ›Ich nehme dich mit auf einen Weg, für den wir drei Stunden brauchen werden.‹ Und dann rief er ein Taxi, weil Ihnen Ihr Bein weh tat und Sie nicht laufen konnten. Das war’s.«

»Und wenn Ihr Bruder und ich uns im Traum getroffen haben, wo liegt da das Problem?«

Ungerührt, als teilte er jemandem mit, der Ölpreis sei um zwei Pfund gestiegen, antwortete Hussain: »Das Problem ist, dass mein Bruder, mit dem Sie weggegangen sind, seit zwei Jahren tot ist.«

Im ersten Augenblick vergass Machrûs, seinen Mund wieder zuzuklappen. Wie pestinfizierte Ratten wimmelten Erzählungen und Geschichten seiner Vorfahren ihm im Kopf herum. Die eine oder andere Tante oder Grossmutter fiel ihm ein, wie es sie wohl in jeder Familie gibt. Sie erzählte von einem Traum, in dem jemand mit einem Verstorbenen zu einem Gang aufbrach … von den Schmerzen im Bein … dem Gold … von ebenjenem Traum, der einem qualvollen Tod und ewiger Finsternis vorausging. Machrûs wischte sich die Schweisströpfchen ab, die ihm auf die Stirn getreten waren. Die Ängste überfielen ihn wie Fliegen den Zucker. »Aber ich kenne Sie doch gar nicht!«

»Ich Sie auch nicht! Aber um von Ihnen zu träumen, muss ich Sie ja auch nicht kennen. Ich bin gekommen, um Sie zu warnen, um Ihnen anzukündigen, dass Ihre Tage in dieser Welt gezählt sind. Vielleicht naht das Ende ja in Form einer schweren Krankheit. Regeln Sie Ihre letzten Dinge, und schauen Sie in Ihren alten Notizen nach. Suchen Sie dort nach etwas, das Sie vergessen haben, nach etwas, woran Sie sich nicht gerne erinnern. Mit meinen Träumen habe ich noch nie falschgelegen, sie zeigen immer die Wahrheit.«

Machrûs schluckte schwer und gab sich äusserlich gefasst, während Hussain die Hände auf die Räder des Rollstuhls legte und in einem Halbkreis zur Tür fuhr. »Salâm alaikum.«

Betroffen folgte Machrûs Hussain mit den Augen, dann liess er sich mit einem Gesicht, in dem es wild zuckte, in den breiten Ledersessel fallen.

Hussain öffnete die Tür und stiess dort auf Taha, der auf ihn wartete. Er schob seinen Vater hinaus und warf dabei einen Blick auf Machrûs Bergas. Das war doch nicht mehr das Gesicht von eben. Machrûs sah aus, als wäre er gerade seinem Tod begegnet.