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Zwei Tage später. Als er sie kommen sah, fiel ihm ein, wie sein Vater Tûna beschrieben hatte. Wie sehr sie ihr ähnelte! Als hätte er sie gemeint, mit ihrem dunkelroten Haar, das unter dem Kopftuch hervorlugte, dem langen Hals, den zierlichen Gliedmassen, der Taille, den Augen – und dem Blog! Wie hatte er bloss ihre Website vergessen können? Dort musste sich so viel über sie erfahren lassen! Taha suchte die Seite und fand sie schliesslich. Stimmen der Freiheit war ein Blog voller Banner mit Slogans wie »Nie werden wir die Massaker an den ägyptischen Häftlingen vergessen!« oder »Gasa – Schmach der Araber!«. Es gab auch ein Bild von zwei gefesselten Händen mit der Unterschrift »Nein zur Folter!«. Ein Beitrag enthielt Fotos einer Demonstration, unter denen stand: »Siebenundzwanzig Jahre Präsidentschaft und noch immer kein Ende …« – Bling! Der Benachrichtigungston des Facebook-Chats. Taha öffnete das Fenster und stellte fest, dass Jassir ein altes, noch aus seiner Sekundarschulzeit stammendes Foto von sich ins Netz gestellt hatte, das nicht mal eine Fruchtfliege verlockt hätte, mit ihm zu chatten.

»Jasmiiiiiin?«

Da wollte wohl einer mal wieder ein bisschen gekitzelt werden.

Die Idee war Taha vor einiger Zeit nach einem Gespräch mit Jassir gekommen, als dieser von seiner brüchigen Beziehung mit seiner Frau Dâlia erzählt hatte. Es war nicht schwierig gewesen, das Foto einer jungen Frau mit unwiderstehlich schönem Gesicht zu finden. Taha suchte den ägyptischen Typ aus, mit dunklem Haar und bronzenem Teint, eine regelrechte Kontinentalrakete. Den unteren Teil des Fotos, auf dem man ihre nackte Brust sah, schnitt er ab und erstellte auf Facebook ein eigenes Profil für sie. Dann gab er ihr den Namen Jasmin und setzte ihr Alter auf dreissig Jahre fest. Das schien passend für Jassir. Der erhielt nun eine Freundschaftsanfrage, gefolgt von dem Wort »Hi!«. Das wirkte normalerweise ähnlich wie der Paarungsruf der Frösche: Sobald ein Mann es auf Facebook von einer Frau vernahm, fühlte er sich wie an einer unsichtbaren Schnur zu ihr hingezogen. Und tatsächlich kam schon wenige Minuten später Jassirs Antwort, in der er die Freundschaftsanfrage bestätigte. Von jenem Tag an brütete er über Facebook wie ein Huhn auf seinen Eiern. Er brannte auf ein Wort von Jasmin und erzählte ihr Dinge, die er nicht einmal sich selbst erzählt hätte. Sie ihrerseits machte ihm Versprechungen wie Scheherazade König Schahrayâr – verschwand dann aber immer ganz plötzlich, wenn ihr Ehemann nach Hause kam.

»Ich hab dich vermisst.«

»Wann bist du von der Staatsanwaltschaft gekommen?«

»Ich hab erst vor einer Stunde Schluss gemacht. Der Justizminister hat nach mir verlangt. Gerede und Probleme – aber Gott sei Dank vorbei. Und was gibt’s von dir?«

»Mir geht’s gut. Ich vermisse dich.«

»Sollen wir uns nicht mal treffen? Oder willst du immer nur chatten? Ich würde dich gerne sehen.«

»Du weisst ja, mein Mann ist schwierig – bete für mich!«

»Wo am Finneyplatz wohnst du eigentlich genau? Ich wohne am Anfang der Tachrîrstrasse.«

»Bitte, Jassir, ich will keine Probleme. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Angst ich habe, wenn ich mit dir chatte. Ich muss jetzt aufhören, mein Mann kommt. Bye.«

Taha liess Jassir keine Zeit mehr zu antworten. Schnell schloss er das Fenster und bekam einen Lachanfall, wie er schon lange keinen mehr gehabt hatte. Nach zwei Minuten beruhigte er sich wieder. Schweigend stand er vor dem Bildschirm und betrachtete dieses Gesicht, das er gar nicht kannte. Plötzlich stürmten alle Ereignisse der letzten Wochen wieder auf ihn ein, und Frage um Frage bedrängte ihn: Hatte er denn ganz vergessen, was passiert war? Ein seltsames Zittern überfiel ihn bei diesen Gedanken. Unvermittelt tauchte das Gesicht seines Vaters vor ihm auf … die Papiere … wo waren die Papiere?

»Hallo, Tante! … Danke, gut. Ich komme gerade von der Arbeit … Ja, ich esse gut. Sag mal, wo sind Papas Papiere? … Auf dem Stauboden! Ja, stimmt, hast du mir gesagt. … Ja, ich esse, wirklich. … Tschüss.«

Taha stellte einen Stuhl in den engen Korridor und stieg hinauf. Mit einiger Mühe zog er eine Tüte hervor, prall wie ein Ballon. Er schleifte sie hinter sich her bis zum Zimmer seines Vaters, wo er sich auf den Boden setzte und so verharrte, bis ihm die Füsse einschliefen. Sein Vater hatte wirklich alles aufbewahrt, selbst die Unterlagen aus seiner Studienzeit und von den Seminaren, die er besucht hatte. Taha stand auf und schüttelte seine Füsse aus, damit sie zu kribbeln aufhörten. Plötzlich bemerkte er einen Lichtschein an der Wand. Es waren die Reflexe vom Metallgriff des Rollstuhls, der in einer Ecke des Zimmers stand. Er rief ihn zu sich. Er atmete tief ein, ging zu dem Stuhl, zog ihn aus der Ecke und klappte ihn auf, erweckte ihn wieder zum Leben und stellte ihn mit den Rädern auf den Boden. Dann schob er ihn zum Fenster. Wo der Griff immer an der Wand entlanggerieben hatte, war ein dunkler Streifen zu sehen. Taha stellte den Stuhl genau an die Stelle, wo sein früherer Besitzer immer in ihm gesessen hatte, und betrachtete ihn eine Weile. In den ganzen Jahren hatte er nicht einmal versucht, sich hineinzusetzen. Pessimistisch wie er war, hatte sein Vater ihn davon abgehalten, als fürchte er, die Behinderung könne sonst auf ihn übergehen. Aber nun wagte er es. Er stellte die Füsse nebeneinander auf die Stütze und bewegte die Räder ein bisschen vorwärts, dann wieder zurück. Schliesslich hielt er an und steckte die Hand in die Tüte, um die Papiere herauszuholen. Und nun wurde ihm klar, warum seine Tante gerade diese Unterlagen und Bücher versteckt hatte: Sie waren voller Blutspritzer. Als er die roten Flecken überall auf den Umschlägen sah, schauderte es ihn. Mit spitzen Fingern nahm er sie und versuchte, das Blut mit den Nägeln abzukratzen, aber es liess sich nicht entfernen. Mit der Zeit türmte sich neben ihm ein Hügel, auf den er all die Dinge warf, die er schon untersucht hatte: Kinokarten, historische Abhandlungen, Fotos, die seinen Vater als kleinen Jungen zusammen mit seinen Geschwistern zeigten. Auf einem Foto stand er neben Faika, die den Arm um ihn gelegt hatte. Auf einem anderen war er ein schlanker Soldat mit sonnenverbranntem Gesicht. Dann gab es eines mit Sulaimân, dem Lord, aus der Zeit, als dieser sein Geschäft eröffnet hatte, das später zum Drogenumschlagplatz mutiert war. Ein Truppenausweis, in dem als Dienstgrad Korporal eingetragen war. Fotos, auf denen er zusammen mit Tahas Mutter zu sehen war: unter dem Cairo Tower, im Andalusischen Garten und in Ismailîja am Meer. Überweisungen an Rajjân, Arztbriefe und Rezepte. Ein Album mit mehr als hundert Seiten, in das er Zeitungsausschnitte eingeklebt hatte, vom Beginn der Rajjân-Krise bis zu der Zeit, in der sie ihre Produkte zu einem um ein Vielfaches erhöhten Preis anboten, um die Schulden bei den Investoren begleichen zu können. Dann verschiedene zusammenhanglose Artikel aus der Zeit vom Ausbruch des Krieges bis zum September 1989, als Hussain plötzlich gelähmt gewesen war. Daneben gab es auch Bücher: über die Kreuzzüge, über die Familie Muhammad Alis bis zur Julirevolution, Bücher über Sterne, Sternzeichen, Ibn Sirîns Buch über Traumdeutung, zerfledderte alte Ausschnitte mit Pflanzenbeschreibungen. Dann ein altes, vergilbtes Couvert mit der Aufschrift »Lieto – Juwelier« und seiner Adresse im jüdischen Viertel. Taha öffnete es und fand darin ein vergilbtes Foto, das zwei Personen zeigte. Die erste war nicht schwer zu erkennen: Es war sein Grossvater. Er trug einen Gilbâb mit einer Weste darunter. Die andere Person war ebenfalls ein Mann – aber jemand hatte ihm mit einer stumpfen Schere den Kopf abgeschnitten. Taha fand auch einen Haufen Zeichnungen, auf einigen waren Vögel, Bäume oder Segelboote zu erkennen, andere zeigten Undefinierbares: bis ins Unendliche ineinander verschlungene Kreise, regelmässig angeordnete Vierecke und dicke Striche, mit solchem Druck ausgeführt, dass das Papier beinahe gerissen war.

Nach zwei Stunden war von dem Haufen unter Tahas Füssen nur noch ein dickes Buch übrig, dessen mit altägyptischen Ornamenten verzierter Umschlag über und über mit Blut bespritzt war. Es trug den Titel Das Heraustreten in das Tageslicht – das Totenbuch. Taha schlug die erste Seite auf und fand dort, in winziger Schrift, eine Hymne des Horus:

Ich bin dein geliebter Sohn Horus.

Ich bin gekommen, um dich zu rächen, mein Vater Osiris, für das Böse, das Seth getan hat.

Ich habe dir deinen Feind auf ewig unter die Füsse gelegt, siegreicher Osiris …

Diese Seite schien ihm nicht weiter bemerkenswert, erstaunlich aber war, was sich dahinter befand: Jemand hatte nämlich das Buchinnere ausgeschnitten. Ein rechteckiger Hohlraum, einem Sarkophag gleich, war entstanden, so als hätte jemand dem Buch das Herz herausgerissen. An dessen Stelle lag ein blutrotes Heft aus dem Jahr 1952. Es trug das Wappen des Königreichs Ägypten, und innen waren auf zwei gegenüberliegenden Seiten der König und die Königin abgebildet. Dann folgten zwei Seiten mit den bekanntesten Spruchweisheiten einiger Politiker und Denker, allgemeinen Ratschlägen sowie den staatlichen Feiertagen. Taha zog das Heft aus seinem Versteck und legte das Buch weg. Er blätterte in ihm und erkannte unschwer die elegante Schrift seines Vaters. Auf den ersten Seiten erzählte er von seinen Eltern und seinen Geschwistern – Gedanken aus seinem engsten Lebensumfeld. Das Datum, an dem er mit der Niederschrift begonnen hatte, war nicht vermerkt. Es handelte sich nur um spontane, ungeordnete Aufzeichnungen, mal in ägyptischem Dialekt, mal auf Hocharabisch. Hussain erzählte von Hanafi al-Sahâr, Tahas Grossvater: wie er im Laden stand, von seiner Vorliebe für Umm Kulthûm, von seinen Gruselgeschichten, abends im Schein der Gaslampe, und seinem plötzlichen Tod. Danach berichtete er, wie er bei Lieto gearbeitet hatte, wie geschickt er darin geworden war, Gold und Diamanten zu polieren. Er erzählte von dessen Tochter Tûna, von seiner stillen Liebe, die er in seiner Brust geheim hielt. Er erwähnte auch Fausi, seinen Studienkollegen, der von einer Strassenbahn überfahren worden war, und Hamdîja, die Tochter seiner Tante, die mit Sabri, dem Sohn der Näherin Sâmija, weggelaufen war. Dann schrieb er vom Luftangriff am Morgen des 1. November 1956, dem vierten Tag der Sueskrise, durch den die Sendemasten von Radio Ägypten in Abu Saabal ausfielen, so dass das Programm plötzlich abbrach:

Als das Radio verstummte, hatte ich zum ersten Mal Angst. Zwei Stunden später sendete es wieder, es kam aus der Scharifainstrasse. Fachmi Omars Stimme sagte: »Hier ist Kairo.« Danach hörten wir Präsident Gamâl aus der Ashar: »Gott ist gross. … Wir werden kämpfen. … Wir werden uns nicht ergeben. … Wehe den Angreifern!« Seine Stimme war sehr schön. Schnell lief ich zu den Läden im Chan, in denen es kein Radio gab, um ihnen dort zu erzählen, was Nasser gesagt hatte. Ich lud Faika zu einem kalten Getränk ein und holte mir selbst eine rote Zuckermelone. Von dem Tag an machte der Präsident uns ein Geschenk: die Umm-Kulthûm-Sendung, jeden Tag von fünf bis zehn. Und am selben Tag starb Babsi, Tûnas Kater. In den letzten Tagen hatte er ständig geknurrt. Schon zwei Wochen vorher hatten sich bei ihm seltsame Symptome gezeigt, er hatte gefaucht und gekratzt. Tûnas Mutter meinte, in der Nachbarschaft werde bald jemand sterben. Am Ende kratzte er Tûna so fest ins Bein, dass es wie Feuer brannte. Aber als ihr Vater sagte: »Wir müssen diesen Kater fortjagen, er hat Tollwut«, fing sie an zu weinen. Sie sträubte sich und jammerte. Und Onkel Lieto wollte ihr nicht weh tun. Am nächsten Tag sagte er zu mir: »Hol ein bisschen Staub, und komm dann zu mir nach Hause!« Er meinte den Diamantenstaub, den wir zum Polieren benutzen. Ich brachte ihm den Staub. Er nahm ein bisschen davon und streute ihn über Babsis Milchschüssel.

»Was soll das, Onkel Lieto?«

»Schschsch, erzähl Tûna nichts davon! Manchmal machen wir kleine Fehler, um einen grösseren Fehler zu korrigieren. Tûna liebt den Kater, aber er wird ihr Schaden zufügen.«

»Ich versteh nicht.«

Eine Woche später verstand ich es. Der Kater begann sich zu winden, zu knurren und Blut zu spucken wie ein Kriegsverwundeter, der eine Mine geschluckt hat, bis selbst Tûna Angst vor ihm bekam und um seinen Tod betete. Am Morgen des Luftschlags auf den Rundfunk starb der Kater dann. Sein temperamentvolles Frauchen trauerte tagelang um ihn und sah dabei noch schöner aus, als wenn sie mit ihm gespielt hatte. Aber allmählich vergass sie das Ganze, als hätte es nie stattgefunden. Sie legte Make-up auf, trug wieder das weitausgeschnittene rote Kleid und die Reife um die Füsse mit den rosigen Fersen. Sie lachte auch wieder, und ich hätte sie am liebsten umarmt, hätte bloss der Scheich nicht gesagt, das sei verboten …

Dann beschrieb Hussain aus seinem Blickwinkel heraus die ersten Kriegstage, doch hier änderte sich die Handschrift plötzlich radikal, sie wurde schlecht und unregelmässig – und auffällig klein. Er schien sich in einer anderen Lebensphase zu befinden. Die Schrift sah aus, als wolle sie nicht gelesen werden:

Am Freitag war ich bei Onkel Lieto. Jede Woche sitzen wir am Freitagabend mit ihm zusammen, weil der Samstag frei ist. Um halb zehn hörten wir plötzlich einen auf- und absteigenden Sirenenton. Ein Angriff. Wir standen auf, schlossen die Fenster und löschten das Licht. Wir, das waren ich, Faika, Tûna, ihre Mutter und Onkel Lieto. Der Angriff dauerte lange. Wir hörten die Flugzeuge und die Abwehr. Es war ein Angriff der Zionisten und der Engländer mit Mustang- und Sea-Fury-Flugzeugen. Und wir hatten die MiG-17. Der Präsident hatte gesagt: »Wehe den Angreifern!« Ganz in der Nähe hörten wir einen Einschlag. Plötzlich stand Onkel Lieto auf und schlug sich gegen die Stirn: »Um Gottes willen, ich hab vergessen, die Lampe auf dem Dach auszumachen, die Lampe im Hühnerstall!« Er öffnete den Schrank und holte eine Stablampe heraus. »Niemand bewegt sich!«

»Soll ich mitkommen?«, fragte ich.

Aber er meinte: »Lass die Mädchen nicht allein! Pass lieber hier auf, bis ich wiederkomme!«

Onkel Lieto stieg hinauf. Ein paar Minuten später hörten wir einen Knall und das Splittern von Glas. Ich hatte Angst um ihn und rannte hoch. Über eine kleine Leiter, die durch eine enge Luke führte, stieg ich zu ihm hinauf. Zuerst streckte ich nur den Kopf raus, um mich zu vergewissern, dass es ihm gutging. Das war das erste Mal, dass ich während eines Angriffs den Himmel sah. Es hörte sich an wie bei einem Gewitter. Scheinwerfer richteten sich nach rechts und links, um nach den feindlichen Flugzeugen zu suchen. Niemand hätte je gewagt, dabei aufs Dach zu steigen. Aber Onkel Lieto wagte es. Sein Herz war unerschütterlich. Er stand links von mir, neben dem Hühnerstall, wo das Licht noch immer brannte! Und er tat etwas Sonderbares: Er richtete die Lampe, die er in der Hand hatte, gen Himmel und gab Lichtsignale. Ich verstand nicht und rief nach ihm. Als er mich bemerkte, war es, als hätte er einen Geist gesehen. Er liess die Lampe fallen, löschte auch das Licht im Hühnerstall und lief zu mir. »Warum bist du raufgekommen? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Mädchen nicht allein lassen?«

»Ich hatte Angst um dich. Was machst du denn da?«

»Nichts. Ich schaue mir den Angriff an.«

Onkel Lieto schien selbst nicht zu glauben, was er sagte, und ich fragte: »Mit der Lampe?«

Lieto sank auf die Knie, bis sein Kopf auf meiner Höhe war. »Wir sollten mit niemandem darüber reden.« Dann strich er mir übers Haar. »In Ordnung, Hussain?«

Zwei Tage später kam ein Wagen mit vier Soldaten und einem Offizier. Sie gingen ins Haus des Französischprofessors Bissâh und nahmen ihn mit. Er sagte kein Wort, als wäre er mausetot. Später erfuhren wir aus der Zeitung, dass er den Zionisten geholfen hatte. Mit einer Stablampe hatte er den feindlichen Flugzeugen vom Dach seines Hauses aus Signale gegeben, damit sie das jüdische Viertel nicht angriffen. In der folgenden Nacht schlief ich nicht eine Minute, denn jetzt war mir klar, was Lieto getan hatte. Und am Tag sah ich dann die Angst in seinen Augen. Er blieb im Laden, ging nicht raus und empfing auch keine Kunden. Die ganze Zeit über liess er mich nicht aus den Augen. Ihm war klar, dass ich Bescheid wusste. Einmal rief er mich zu sich und scherzte mit mir: »Wenn du ein bisschen älter wärst, würde ich dir Tûna zur Frau geben. Dein Vater war mein bester Freund, mein Seelenverwandter.«

Aber seine Versuche nutzten nichts. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Chawâga Lieto war mein Lieblingsonkel! Ich würde nie vergessen, was er meinem Vater bedeutet und wie er nach seinem Tod für mich gesorgt hatte. Aber die Zeitungen waren voll von Nachrichten. Chawâga Bissâh, der Französischlehrer, war ein Verräter! Chawâga Bissâh hatte das Land an den Feind verkauft, an die Zionisten. Und Chawâga Lieto auch!

Manchmal machen wir einen kleinen Fehler, um einen grösseren zu korrigieren …

Nach Bissâhs Festnahme kam das Leben im Viertel scheinbar wieder zur Ruhe. Aber die Gesichter verrieten Wachsamkeit und Vorsicht. Als Lieto kein Echo auf seine Tat spürte, war auch er einigermassen beruhigt. Zwei Tage später rief er mich zu sich und sagte: »Geh zur Tante, sie wird dir was geben.« Aber als ich an die Tür klopfte, öffnete mir Tûna. Sie trug ihr rotes Kleid, hatte Make-up aufgelegt und ihr Haar frisiert wie Hind Rostom25. Ich fragte sie nach ihrer Mutter, und sie antwortete: »Sie kommt gleich, komm rein! Möchtest du eine Limonade?« Ich wartete im Wohnzimmer. Als ich mir gerade den Bücherschrank ansah, hörte ich ihre Schritte näher kommen. Ich drehte mich um, und da stand sie vor mir. Sie kam immer näher, bis sie nur noch eine Handbreit entfernt war, sah mir in die Augen, griff nach meiner Hand und wollte sie an ihre Brust legen. Ich sagte nichts, stand nur mit offenem Mund da wie ein Idiot. Zum ersten Mal im Leben sollte ich die Brust einer Frau berühren – Tûnas Brust! Aber ich konnte nicht. Ich zitterte und schwitzte. Sie lachte. Ich blickte an mir herunter und rannte nach Hause. Und da hockte ich mich ins Bad – noch immer konnte ich es nicht glauben. Tûna! Die ganze Nacht über konnte ich nicht vergessen, was ich gesehen hatte. Ihr Körper ging mir nicht aus dem Kopf. Ich schlief ein, träumte von ihr, und beim Aufwachen war ich wieder schweissgebadet. Als ich ins Goldschmiedeviertel ging und Onkel Lieto mich sah, lächelte er mich an und sagte: »Ich bin böse auf dich. Habe ich dich nicht gestern zu Umm Tûna geschickt, damit du mir ein paar Sachen holst, Junge? Du bist mir schon einer! Lauf, mach Subhi ein Glas mittelsüssen Tee und für mich eins ohne Zucker. Und dann geh noch mal zu Umm Tûna!«

Vor dem Feuer kam mir dann der Geistesblitz. Es schien eine saubere Sache, geeignet, alle Parteien zufriedenzustellen. Ich holte eine Dose Poliersand – Diamantenstaub. Und machte es genauso, wie ich es vorher bei ihm mit Tûnas Kater gesehen hatte … weniger als ein Gramm. Ich rührte gut um und hielt das Glas gegen das Licht. Es war absolut nichts zu sehen. Dann trug ich das Tablett zu Lieto und seinem Gast, stellte es ab und nahm das Glas für den Gast herunter. »Das andere hier ist für dich, Onkel Lieto, ohne Zucker.« Er setzte es an den Mund, und ich beobachtete, wie er es ganz leerte. Ich wandte keinen Blick von ihm.

Mein Vater sagte einmal: »Für jeden Fehler, den du gemacht hast, musst du bezahlen, auch wenn er dir leidtut.« Mein Vater sagte auch: »Verrate nie dein Land, nicht mal für die Frau, die du liebst.«

Am nächsten Tag ging ich zu Lieto in den Laden und sagte zu ihm: »Ich hab von dir geträumt, Chawâga. Ich hab geträumt, du wolltest weit weggehen.«

»Warum nennst du mich denn Chawâga?«, fragte er schmunzelnd. »Habe ich dich etwa so eingeschüchtert, Junge?«

»Nein, Onkel.«

»Dann lass das bitte sein, beim Josua26! Wovon hast du denn nun geträumt, Scheich Hussain?«

»Ich hab geträumt, du gingest einen weiten Weg mit meinem Vater, Gott hab ihn selig! Er nahm dich an der Hand, und du gingst mit ihm.«

Lieto schluckte, und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Du denkst wahrscheinlich oft an ihn. Und ausserdem, bin ich nicht wie ein Vater für dich?«

»Nein.« Lieto sah betroffen aus, und ich setzte rasch hinzu: »Noch teurer, Onkel.«

In den folgenden drei Monaten beobachtete ich, wie es ihm immer schlechterging. Er hatte furchtbare Schmerzen in der Brust, die bis in den Rücken ausstrahlten. Deswegen musste er das Bett hüten und ging nicht mehr in den Laden. Die Ärzte konnten sich die immer wiederkehrenden Blutungen nicht erklären. Sein Fall war beispiellos in der Medizin. Zuletzt verlor er auch noch die Sprache. Die Ärzte vermuteten, er habe vielleicht eine seltene Krebsart. Sein Verdauungstrakt war voller kleiner Tumore, und ständig hatte er Blutungen. Ich allein wusste die Wahrheit über seine Krankheit, weil ich als Einziger Zeuge des Vorfalls mit Tûnas Kater gewesen war. Auch Lieto selbst kam mit der Zeit dahinter und beobachtete mich ständig mit stummem, aber doch vielsagendem Blick. Er hatte sich zusammengereimt, was ich getan hatte. Über das, was in der Nacht des Angriffs passiert war, verlor er aber kein Sterbenswort. Die Schmach und Schande, falls die Leute von seinem Verrat erführen, wären zu gross gewesen. Im Bewusstsein, dass sein Tod unausweichlich war, schrieb er seiner Frau auf einen Zettel: »Pack deine Sachen, wir reisen ins Ausland!«

»Aber wohin reisen wir denn, in deinem Zustand?«

»Hier will ich nicht sterben.«

Lieto verkaufte seinen Laden und brach in aller Ruhe auf. Auf einer Trage brachten sie ihn hinunter in die Gasse. Die Bewohner des Viertels verabschiedeten sich so herzlich von ihm, wie es nach zehn langen Jahren angemessen war. Ach, wenn sie wüssten, was er getan hatte! Gelyncht hätten sie ihn! Die ganze Zeit sah er mir in die Augen, hielt von weitem den Blick auf mich gerichtet wie auf einen Teufel, der ihn geradewegs in die Hölle schicken wollte. Ich trat erst auf ihn zu, als er schon im Krankenwagen war. Da legte ich meine Hand an die Scheibe, und er warf mir einen so bohrenden Blick zu, dass ihm beinahe die Augen aus dem Kopf fielen. Dann griff er nach dem kleinen Vorhang und zog ihn zu. Mit dem Wagen fuhr er zum Hafen und von dort aus nach Frankreich. Zwei Monate später erfuhren wir von einem Verwandten der Familie, dass er nicht mehr lebte. Und wir hörten, dass Tûna und ihre Mutter nach Israel ausgewandert waren. Wie ich ihre Stimme vermisste, ihren Geruch, ihre zarte Hand, wenn sie mich begrüsste, ihre feingliedrigen Finger, ihre rebellische Brust und alles, was mir aus Unaufmerksamkeit an ihr entgangen war, wenn sie sich vorbeugte, um das Teetablett abzustellen!

Hier hörte Taha auf zu lesen, und gleichzeitig brachen seine Hirnzellen den Kontakt zueinander ab. Drei Gedanken waren ihm gekommen. Erstens: Sein Vater war schon ein sehr exzentrischer Einzelgänger gewesen. Zweitens: Ein paar von den Geschichten in den Aufzeichnungen hatte er bei verschiedenen Anlässen schon gehört, wenn sein Vater sich zu seinen Erzählungen hatte hinreissen lassen, die kein Ende nehmen wollten. Und drittens: Sein Vater hatte normalerweise nicht gelogen. Warum hatte er all das aufgeschrieben? War es ein Geheimnis, das er mit jemandem teilen wollte? Hatte er nur eine innere Leere füllen wollen? Oder hatten krankhafte Wahnvorstellungen Besitz von ihm ergriffen? Taha blätterte weiter im Heft. Es gab noch andere Seiten, die ihn von der Geschichte dieses Lieto ablenkten. Sie bestanden aus den Überschriften von Zeitungsartikeln. Meldungen aus dem Krieg von 1967 folgten chronologisch aufeinander:

Abdel Nasser erklärt die Sperrung des Golfs von Akaba – Die Einsatzkräfte haben aufgehört zu existieren – »Ich werde mich nicht von der Stelle bewegen und keine Kompromisse eingehen« – Explosion an der Waffenstillstandslinie jederzeit möglich – Ausnahmezustand für die Streitkräfte der Vereinigten Arabischen Republik – Der Krieg steht vor der Tür – Die Schlacht hat begonnen – 43 feindliche Flugzeuge abgeschossen – Wir alle stehen wie ein Mann hinter dem Führer – Sieben Stunden lang schwere Kämpfe in der Region von Ras al-Usch – Die Kampfhandlungen dauern an – Wir werden unsere Ziele erreichen – Die arabische Armee auf dem Marsch nach Tel Aviv – Die grösste revolutionäre Mobilmachung Asiens und Afrikas gegen die militärische Aggression – Heute Morgen in Kairo und über dem Sueskanal: neun feindliche Flugzeuge abgeschossen – Abdel Nasser beschliesst, das Amt des Präsidenten niederzulegen und es Sakarîja Muchieddin zu übertragen – Das Volk sagt nein – Der Präsident klärt das Volk über alles auf – Noch vor dem Freund ist der Feind Zeuge der Leistungsfähigkeit unserer Armeen geworden – Das Volk hat gesiegt, Abdel Nasser ist zurück – »Ich habe beschlossen, auf meinem Posten zu bleiben, bis wir alle Spuren der Aggression beseitigt haben. Danach werde ich die Frage dem Volk zur öffentlichen Abstimmung vorlegen!«

An einem Grabmal aus Marmor, das einen Glücklichen barg,

und an einer Grube, drin ein Landstreicher ruht’ ohne Sarg,

ging ich vorüber, und seltsam! – sagte ich mir,

der Modergeruch ist bei diesem wie jenem so arg!

Sonderbar!

Nimm die Binde vom Auge, Stier, scher aus dem Kreis aus, lauf,

zerbrich das Getriebe des Schöpfrads, fluche und spucke drauf!

Nur einen Schritt noch, sagt er, und noch einen,

bis zum Ende des Wegs, sonst versiegt unser Wasserlauf.

Sonderbar!

Salah Dschâhin27

Die Erzählungen setzten sich fort. Sein Vater gab alle möglichen Szenen aus seinem Leben wieder. Taha erfuhr darin von Aspekten, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Einige Datumsangaben liessen ihn dabei aufhorchen:

25. Mai 1996 (in schlecht lesbarer, zittriger Schrift): Nâhid hat das Haus verlassen. Ich kann meinen Ring nicht abziehen, meine Finger sind geschwollen.

15. Februar 1999: Gestern war Tahas Geburtstag. Er ist einundzwanzig geworden. Ich habe kein Geld. Ich habe ihm einen Rasierapparat geschenkt.

1. Juni 2002: Taha arbeitet in einer Pharmafirma und hat mir von seinem ersten Gehalt ein Geschenk gekauft.

7. September 2005: Wenn jemand diese Papiere liest, bedeutet das, dass ich gestorben bin. Oder dass ich Tod auf Tod getürmt habe. Das wird keinen Unterschied machen. Am Anfang wollte ich gar nichts aufschreiben. Ich habe mich erst dazu entschlossen, als mir klarwurde, dass etwas in mir verbrennen wird. Und dass die Geschichte erzählt werden muss, bevor der Wind meinen dunklen Winkel für immer verweht. Bevor die Schwermut mich mit ihrem finsteren Messer abschlachtet. Bevor die Erinnerungen mich niederdrücken. Diese Nägel, dir mir so fest in der Brust stecken. Ich sitze hier und zappele als stummer Gefangener meines Stuhls und weiss keine Worte, mit denen man ein Gespenst trösten könnte, das von seinen Gedanken zerfleischt wird. Langsam ersticke ich daran! Ich nehme den Stift und versuche zu schreiben. Ich drücke ihn mit der Spitze aufs Papier und rufe den Rest Tinte darin zum Kampf auf. Ich bringe sie zum Reden, beschwöre sie, das, was in meinen Hirnzellen wohnt, in die Freiheit zu entlassen. Meine wilden Laster zu bändigen, den Hass zu zügeln, der in meinem Inneren lodert, den brodelnden Vulkan zu besänftigen, ein Mittel zu finden gegen das Gift, das sich in meiner Brust gesammelt hat – oder mir tief in die Brust dringt.

Eines fernen Tages stellte ich mir vor … stellte ich mir vor, ein einziger Mord sei genug. Danach würde ich in einer weniger unbarmherzigen Welt leben. Aber ich hatte mich getäuscht. Mein Mord an Lieto war nur der Anfang. Ein mangelhaftes Werk, das noch vervollständigt werden musste! Danach habe ich noch tausend Menschen getötet – in meiner Phantasie. Die Kriegsherren vom Juli 1952 und vom Juni 1967 habe ich einen nach dem anderen umgebracht. Jeden, der Lärm gemacht, aber vom Recht geschwiegen hat. Ich habe Lots Stamm am Golf getötet. Wenn ein Gilbâb schwach und unfähig war oder hinten ein Loch hatte, habe ich ihn zerfetzt. Ich habe Rajjân getötet, al-Saad28 und Al-Hoda Egypt29. Und den, der sie kaputtgemacht hat, um uns kaputtzumachen. Ich habe Nâhid getötet und all ihre Züge an Taha. Und mich selbst habe ich tausendmal getötet, jedes Mal, wenn ich diesen allen erlaubt habe, meine Ehre zu beschmutzen.

August 2006: Schweigen ist keine Lösung mehr. Darauf zu warten, dass jemand vor dem Haus aufräumt, ist sinnlos. Nichts kratzt dir besser den Rücken als dein eigener Fingernagel, sagt man. Lauter verrottete Persönlichkeiten und tote Seelen. Ich sehe schon die Staubkörnchen in ihren Mündern, wenn ich mich von diesem Auswurf befreie. Der Staub meiner rechten Hand. Der ist mein Gesetz, begleitet von einer Warnung und einem Traum, der die Finsternis in den Seelen aufrührt. Er gibt ihnen Gelegenheit zur Reue, um damit ihre Schuld vor dem Weisen und Gerechten abzutragen. Das ist die letzte Chance für diese Menschen mit ihrem verfaulten und verwilderten Gewissen. Die Juden sind nicht mehr die einzige Plage. Es ist mittlerweile eine Ehrenpflicht, denen, die vergessen haben, was Recht ist, und die ihr Volk missachten, ins Gesicht zu sagen, dass man ihr Feind ist. Angesichts dieser Leute, die ihre Gesellschaft kaltblütig zerstören und sie wie Würmer von innen her zersetzen, war Lietos Schuld sehr gering. Der Feind, der sich im Inneren birgt, schläft ganz friedlich zwischen uns. Nachdem er geheiratet und kleine Gottheiten und Götzenbilder gezeugt hat, um sie zu verehren, geniesst er auch noch den Schutz des Religionsgesetzes. Dieselben Gesichter, die uns einmal vom König befreien wollten, sind nun selbst zu tausend Königen geworden.

Was tut denn so einer wie der Rechtsanwalt Mûssa Atîja? Warum atmet er die Luft dieses Landes und geht über dessen Boden? Niemandem bleibt doch verborgen, wie er die Hände in die Lücken eines brüchig gewordenen Gesetzes steckt, um damit unerträgliche Verbrechen als ungeschehen gelten zu lassen. Ein luxuriöses Büro und ein Stab von Helfern, die selbst den Teufel aus der Hölle befreien könnten – um anschliessend zu verlangen, dass er für die Jahre seiner Vertreibung aus dem Paradies entschädigt wird! Sie schenken Menschen die Freiheit, die sie nicht verdienen, die die Erde mit Korruption überzogen haben. Die sie überflutet haben, um dann selbst auf den Wellen zu reiten! Die habe ich Staub fressen lassen, um die Waagschale wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Sulaimân, der Lord … dieses Gespenst aus meiner Vergangenheit, das ich mal für einen Menschen gehalten habe. Bis er sein Gift verbreitete. Meine Bitten erreichten nichts bei ihm. Ich flehte ihn an. Er hat mich ignoriert, so wie die Dschinnen seine Existenz ignoriert haben und selbst die Termiten darauf verzichtet haben, seinen Stock zu fressen. Dieses Ausrufezeichen, das täglich das Auge der Sonne und mein Auge durchbohrte! Unter ihren kranken Strahlen versuchte er, unserer Pflanze Untergang und Tod einzuimpfen. Auf der Schwelle zur Hölle werden wir uns wiedersehen, mein Freund! Ich werde dir Wein einschenken, der dich für immer dürsten lassen wird.

Und was macht Machrûs Bergas noch hier? Was macht diese Pest mit dem Menschen? Dieser Potentat der verdorbenen Lebensmittel, der aus seinen billigen Kinofilmen seinen Müll über unsere Köpfe schüttet! Und dann beschenkt er uns auch noch mit einer Schwuchtel, die ebenfalls ein grosses Tier wird. Zur Strafe wird er Parlamentsabgeordneter, geschützt, respektiert und ehrerbietig gegrüsst. Am Schluss lässt er viele dem Erdbeben zum Opfer fallen. Und erlangt unter dem Schutz seiner Patrone Segen und Vergebung.

Sind wir denn alle blind geworden? Haben wir die Fähigkeit verloren, die Infektionsherde zu beseitigen, die eine Amputation unausweichlich machen werden? Wenn niemand sonst sich bewegt, vergesse ich mein Gebrechen. Ich werde die Rache des Schicksals an ihnen sein. Ich werde ihre schon vor Jahren abgestorbenen Wurzeln herausreissen. Die Wurzeln ihres Baums, von dem aus die Vögel ihren Kot auf uns fallen lassen. Des Giftbaums. Ich bin dann nicht mehr Teil dieser Welt. Ich klopfe an die Tore der Hölle. Ich bin Johannes der Täufer, und sollte man mir den Kopf abschneiden! Mord ist dann nur noch die Nebenwirkung einer Arznei, die das sterbende Land kuriert.

15. November 2006: Zum ersten Mal sehe ich ihn mit eigenen Augen. Aber seine Geschichte verdient es, in den Unterweltstexten begraben zu werden.

Das war die letzte Seite im Heft. Das Ende schien herausgerissen worden zu sein. Hussain hatte noch mehr erzählen wollen, aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Taha blätterte durch die Seiten, um nachzuschauen, ob er vielleicht etwas übersehen hatte. Nichts. Zum ersten Mal sah er seinen Vater so, wie er wirklich war. Für ihn war er immer nur ein gebrechliches Geschöpf gewesen, das auf seinen Tod wartete. Auf ein Ende, das er sich nicht hatte vorstellen können. Hatte er einen Wahnsinnsanfall erlitten? Die Gedanken wüteten in Tahas Kopf.

Plötzlich schellte es. Er sammelte die Papiere ein und öffnete die Tür für die Person, die er am allerwenigsten erwartet hatte.