14

Unterdessen war Walîd Sultân nach einer Rundfahrt durch die Gegend im Polizeirevier angekommen. Als er aus dem Auto stieg, sprangen alle, die an der Tür gestanden hatten, beiseite und nahmen sofort die Hand an die Mütze. Mit einem flüchtigen Wink erwiderte er den Gruss. Dann ging er in sein Büro, wo ein Rekrut fünf Minuten zuvor, als er gehört hatte, der Pascha sei unterwegs, ein Raumdeo versprüht hatte. Walîd setzte sich auf seinen Stuhl, zündete sich eine Zigarette an und warf die Schachtel auf den Schreibtisch. Nach einer Minute wurde der Kaffee gebracht. Kurz darauf trat ein Offizier mit ein paar Akten in der Hand ein und nahm vor ihm Haltung an.

»Wie geht’s, Basjûni? Was haben wir denn heute?«

»Gott erhalte Euer Exzellenz, Pascha! Wir haben diese Schwuchteln, die ihren Kollegen umgebracht haben.«

»Ach ja. Sag dem Schliesser, er soll sie in einer halben Stunde reinbringen, damit ich vorher noch meinen Kaffee trinken kann. Was noch?«

»Nur noch der Junge von gestern.«

»Haben wir ihn im Computer?«

»Nein.«

»Bring ihn rein!«

Basjûni faltete einen Zettel auseinander, den er in der Hand hatte. »Oberst Issâm und Madame Buschra Sîra vom Finneyplatz haben Euer Exzellenz angerufen.«

Walîd griff nach dem Hörer und wählte aus dem Kopf eine Nummer. Nach ein paar Sekunden hörte er Buschra Sîras Stimme, weich und mit vielen französischen R: »Allô?«

Nach fünfundzwanzig Jahren Einsatz für die Gesellschaft – über den Club und das XXX-Konsortium für Sozialdienste – war sie eine echte Mademoiselle, wenn sie auch mittlerweile die Fünfundfünfzig überschritten hatte. Ihr Gesicht trug noch die Spuren einstiger Attraktivität, restauriert durch drei Schönheitsoperationen, von denen hinter dem Ohr und unterhalb der Schläfe ein paar kleine Narben zurückgeblieben waren. Sie war blond, hatte grosse Augen, und um die Taille trug sie eine Goldkette, die, wenn sie sich bückte, um ihren wuscheligen Golden-Retriever-Welpen Marco auf den Arm zu nehmen, alle Blicke auf sich zog. Ihr Dienst an der Gesellschaft lief mittlerweile darauf hinaus, Menschen, die Liebe verdienten, diese auch zu verschaffen. Ihre Kontakte und Beziehungen hatte sie über den lokalen Bereich hinaus in die gesamte arabische Welt ausgedehnt. Über ein weitverzweigtes Netz exportierte sie Mädchen in andere Länder, damit sie dort ganz offiziell eine Zeitehe eingingen. Die Ehemänner in spe waren Emire und Scheichs vom Golf, Leute in führenden Positionen, mit blühenden Geschäften und üppigen Bäuchen. Die versorgte sie mit Russinnen, Araberinnen, Inderinnen oder auch Schwarzen. Alle Nationalitäten und Hautfarben waren lieferbar, je nach den Vorlieben des Kunden, wie abwegig und seltsam diese auch sein mochten. Wenn sie noch für Ägypter arbeitete, dann nur für die, die die Zukunft ihrer Kinder und Enkel bis in die dreissigste Generation abgesichert hatten.

Einmal war sie verhaftet worden. In aller Ruhe hatte sie damals, von Sicherheitsleuten umringt, das Haus verlassen und war in den Polizeiwagen gestiegen. Am folgenden Tag veröffentlichte man unter Nennung ihrer Initialen B. S. einen Bericht über sie. Aber schon zwei Tage später wurde sie nach intensiven Telefonaten mit ihren Freunden wieder entlassen und nahm ihre Aktivitäten gleich wieder auf, als wäre nichts gewesen. Einer, die so viele Leute im Rücken hatte, konnte man nicht so einfach ein Bein stellen. So leicht war sie nicht auszuschalten, hatte sie doch die Stimme – beziehungsweise ein anderes Organ – der ganz Grossen auf ihrer Seite. Sie brauchte nur den Namen eines ihrer Geschäftsfreunde im In- oder Ausland zu nennen, und nach einer Stunde war ihr Problem gelöst.

»Ich weiss nicht, warum ich das Gefühl habe, dass Ihr Anruf mit jemandem hier bei mir zu tun hat.«

Basjûni ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

»Walîd Sultân!«, entgegnete Buschra. »In Ihrem Revier lässt sich ja auch kaum etwas verstecken.«

»Worum geht es? Wieder um den Dienst an der Gesellschaft?«

»Sie haben einen Jungen in Gewahrsam. Er heisst Karîm. Ich brauche ihn.«

»Arbeiten Sie nicht mehr mit Frauen, Buschra?«

»Jeder nach seinem Geschmack.«

»Zu wem gehört dieser Junge?«

»Zu einem VIP.«

»Und wer ist dieser VIP?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Muss ich Ihnen alles aus der Nase ziehen, Buschra?«, sagte er absichtlich grob.

»Calm down! Sie an meiner Stelle würden ihn auch nicht gern verärgern. Ausserdem: Eine Hand wäscht die andere. Ich vergesse so was nicht. Was ist denn eigentlich passiert?«

»Ich bekam eine Meldung über eine Wohnung. Ich ging hin, klopfte an, und ein junger Kerl machte auf, der ziemlich schwul aussah. Und ich roch Haschisch. Ich trat also die Tür ganz auf und ging rein. Da seh ich doch fünf Kerle in Nachthemden, einer auf dem andern! Als sie mich bemerkten, wurden sie kreidebleich. Unser Kunde hier war auch dabei: in einem roten Babydoll! Als wir im Revier ankamen, fragte ich ihn, wie er heisst. Er stotterte. Und dann gab er mir Ihre Nummer und sagte: ›Rufen Sie da an!‹ Aber ich hielt ihn hin. Ich wusste ja, dass Sie sich mit mir in Verbindung setzen würden.«

»Fuck, Sie wussten also schon, dass ich anrufen würde.«

»Ich weiss nicht, was das für ein Dienst an der Gesellschaft sein soll, den Sie da erbringen.«

»Sie kennen doch den Kessel, mit dem Sie sich morgens Ihren Tee kochen? Stellen Sie sich mal vor, der hätte kein Ventil! Dann würde er explodieren. Und genau das würde auch mit der Gesellschaft passieren, wenn es nicht jemanden wie mich gäbe.«

»Sie sind also das Ventil.«

»Ich bin darauf angewiesen, dass der Junge heute Abend entlassen wird, Walîd, please!«

»Das geht nicht. Er muss bis morgen hierbleiben und dem Staatsanwalt vorgeführt werden.«

»Sie wollten mich doch anrufen, wenn Sie jemanden haben, der zu mir gehört. Ich tue alles dafür, dass der Junge diese Nacht nicht dortbleiben muss. Ich überlasse Ihnen eine Wohnung am Ende der Tachrîrstrasse.«

»Die kenn ich schon, das ist die unter der Brücke, bei dem Restaurant. Wollen Sie mir immer noch nicht sagen, wessen Begleiter dieser Junge ist?«

»Ist das Ihr letztes Wort?«

»Um Ihretwillen kann ich ihm einen von den Rekruten zuweisen, dann kann er in dessen Arm übernachten.«

»Gut, Walîd. Ich werde sehen, dass ich zurechtkomme. Aber, please, zwingen Sie ihn nicht zu reden!«

Ohne ihm Zeit für eine Antwort zu lassen, legte sie auf. Sie wusste nicht, dass sie es ihm gerade unter die Nase gerieben hatte. Und dass er die ganze Nacht nur an einen Namen denken würde.

In dem Moment klopfte Basjûni an die Tür. Er kam in Begleitung eines jungen Mannes, der sehr erschöpft aussah. Walîd sah ihn prüfend an. Er war Ende zwanzig, gutaussehend, mittelgross und glattrasiert bis auf einen schmalen Spitzbart am Kinn. Sein Haar stand wie ein Hahnenkamm nach oben.

»Nimm die Ketten ab, die du dir da umgehängt hast, Mädel!«, schrie Walîd ihn an und wartete keine Sekunde. Schnell riss er sie ihm herunter und steckte sie in die Tasche. »Jede Menge Muskeln und Haare auf der Brust … und dann eine Schwuchtel! Ich wollte dich ja nicht im Babydoll in die Zelle schicken, sonst wärst du noch der letzte Schrei geworden. Wie ist es nur so weit mit dir gekommen?«

»Bei Gott, ich …«

»Aktiv oder passiv?« Der Junge senkte den Kopf, und Walîd setzte hinzu: »Antworte, du H…sohn!«

»Je nachdem.«

»Meine Güte, du fährst ja richtig Karussell! Woher kommst du, Junge?«

»Aus Nasr City.«

»Und was arbeitet dein Vater?«

»Er ist Generaldirektor in Pension.«

»Und er weiss, dass sein Ein und Alles eine Schwuchtel ist?« Der Bursche sah zu Boden, und Walîd drang auf ihn ein: »Woher kennst du Buschra?«

»Wir haben uns auf einer Party getroffen.«

»Wie lange arbeitest du schon mit ihr zusammen?«

»Ein Jahr.«

»Und zu wem schickt sie dich?«

Karîm sagte kein Wort. Er schwieg, als gehe ihn die Frage nichts an.

»Sie hat dir eingeschärft, nichts zu sagen«, meinte Walîd. »In Ordnung. Und was kriegst du so für eine Nummer?«

Er erhielt keine Antwort.

»Wie du willst.« Er nahm den Telefonhörer ab. »Ist Antar noch bei uns, Basjûni, oder ist er beim Revisionsgericht? … Noch bei uns. Gut, komm her!«

In Karîms Gesicht zuckte es, und Walîd trieb ihn in die Enge: »Unten wirst du ein paar Leute treffen, die dich zu schätzen wissen. Da kannst du für eine Schachtel Zigaretten einen Siebensitzer mieten.«

Als Basjûni eintrat, begann Karîm zu zittern. Er näherte sich dem Schreibtisch und flehte: »Genug, Pascha!«

»Wenn du möchtest, Basjûni, zieh ihm doch das Babydoll an, und sprüh ihn mit Parfum ein, bevor er reingeht.«

Der Offizier zog Karîm am Arm, aber der klammerte sich an den Schreibtisch und rief: »Ich tu ja alles, was Sie wollen.«

»Warte, Basjûni!«, sagte Walîd grinsend, dann fragte er Karîm erneut: »Zu wem bist du gegangen?«

Walîd verstand sein Schweigen richtig und befahl Basjûni zu gehen. Als sie allein waren, nannte Karîm zögerlich den Namen: »Hâni Bergas.«

Walîd liess sich seine Verblüffung nicht anmerken. Er drehte sein Gesicht zum Fernseher, sah ein paar Sekunden dem Wrestling zu und fragte dann: »Und ist er aktiv oder passiv?«

»Passiv.«

»Was gibt er dir dafür?«

»Fünftausend.«

»Im Monat?«

»In der Woche.«

»Du H…sohn, du bist ja ein richtiger Businessman!«

In dem Moment klingelte das Telefon. »Ein Hâni Bergas ist am Telefon, Pascha. Er will Sie sprechen.«

Walîd sah zu Karîm hinüber und grinste, dann drückte er auf die Klingel. »Wir werden unser Gespräch später fortsetzen.«

Basjûni kam herein. »Zu Diensten, Exzellenz.«

»Nimm ihn in den Computer auf, und bring ihn zu seinen Brüdern.«

»Zu Befehl, Exzellenz.«

Basjûni zog ihn hinaus, während Walîd sich den Hörer ans Ohr hielt. »Hallo.«

»Guten Tag, Walîd Bey. Hier spricht Hâni Bergas.«

»Es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen, Hâni Bey. Guten Tag.«

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Nur Gutes hoffentlich. Wie geht es Ihrem Vater?«

»Beten Sie für ihn!«

»Möge der Herr ihm Gesundheit verleihen! Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte mit Ihnen etwas besprechen, aber nicht am Telefon. Können wir uns treffen?«

»Bitte sehr, kommen Sie in mein Büro!«

»Treffen wir uns lieber hier, dann haben wir unsere Ruhe. Ich wohne im Four Seasons. Wollen Sie mir die Ehre erweisen, in der Library Bar?«

»Offen gesagt, ich stecke mitten in meinen Ermittlungen und …«

»Ich stehle Ihnen nicht viel Zeit.«

»Gut, in einer Viertelstunde.«

Walîd legte auf und lehnte sich in seinem bequemen Sessel zurück. Er drehte den Fernseher leiser, sah in die Luft und wälzte dabei eine Frage im Kopf: Was würde Bergas junior für die Freiheit seines Geliebten zahlen? Obwohl er keinen persönlichen Kontakt zu ihm gehabt hatte, war er doch über seine Geschichte und die seiner Angehörigen vollkommen im Bilde. Die Polizei war wie eine grosse Familie, in der man schwer etwas geheim halten konnte. Er wusste, dass Hâni Bergas die Amerikanische Richmond-Universität in London absolviert hatte. Er wusste auch, dass er die Firmen der Familie leitete. Er hatte die Medien mit seiner Reklame und die Strassen mit seinen Plakaten so überflutet, dass die Person seines Vaters ganz dahinter verschwunden war. Niemand kannte den wirklichen Umfang seiner Geschäfte, Kinoproduktionen und sonstigen Aktivitäten. Er war das unbestrittene Zentrum der Familie geworden. Statt in einem Haus lebte er lieber in Hotels. Persönliche Informationen, Fotos, Stellungnahmen oder Erklärungen gab es von ihm nicht. Wenn jemand irgendeinen Verdacht gegen ihn äusserte, dann nur seinen Hintern betreffend. Manche betonten, solche Gerüchte tauchten zwangsläufig bei jedem Prominenten auf, der nicht verheiratet sei. Andere meinten, er suche eben ständig jemanden, der ein immer grösser werdendes Loch stopfen könne.

Und es schien, als hätten sie recht.

Walîd sah auf seine Uhr, dann zog er noch einmal an seiner Zigarette und brach zu dem Treffen auf.

*

Unterdessen kam Taha, nachdem er Service mit seinen Fragen stehengelassen hatte, bei der Apotheke an. »Kennst du Châlids Telefonnummer?«, fragte er Wâil.

»Von unserem Châlid? Ja, klar!«

Taha ging ins Labor, zog sein Handy heraus und tippte die Nummer ein. »Hallo?«

»Wer ist da?«

»Ich bin Taha. Wir haben uns nie kennengelernt. Ich arbeite in der Apotheke von Doktor Sâmich und wollte Sie um einen Gefallen bitten.«

»Bitte sehr.«

»Service …«

»Ja, was ist mit ihm?«

»Ich will nicht Ihre Zeit verschwenden, aber ich hab ein Problem mit ihm und brauche die Rezeptur.«

»Er hat Sie drangekriegt?«

»Nun, so kann man es nennen.«

»Lassen Sie Doktor Sâmich sehen, wie er damit zurechtkommt. Er hat mich schliesslich rausgeworfen.«

»Doktor Sâmich weiss gar nicht, dass ich Sie anrufe. Betrachten Sie es als einen Gefallen unter Kollegen.«

Châlid schwieg ein paar Sekunden, und Taha dachte schon, er würde ablehnen. Aber dann sagte er: »Zerstossen Sie zwei Erec zusammen mit einer Tramadol und einer Parkinol.«

»Aber das ist doch keine Rezeptur!«

»Sie müssen ihn im Glauben lassen, es sei eine. Was soll das Ganze sonst bringen? Er ist auch felsenfest überzeugt davon, dass sie aus dem Ausland kommt. Der Junge ist nämlich am Ende, die Drogen fressen ihn auf.«

»Wie konnte es so weit mit ihm kommen?«

»Sie haben doch selbst gesehen, wozu er fähig ist, da brauchte man nicht weiter nachzuhelfen. Ich musste was tun, um ihn auf Dauer von mir abhängig zu machen. Und dann hab ich ja auch ein paar Millim dafür gekriegt. Ich denke, Sie passen schon auf. Machen Sie Doktor Sâmich klar, dass jeder an meiner Stelle dasselbe getan hätte. Es war absolut nicht mein Fehler!«

Taha dankte ihm und beendete das Gespräch. Dann ging er zu den Regalen und begann die einzelnen Bestandteile der Rezeptur zusammenzustellen. Er nahm die Kapseln aus den Packungen und öffnete sie, indem er beide Kapselhälften behutsam gegeneinanderdrehte. Den Inhalt schüttete er auf einen Teller und zerrieb ihn. Dann zog er sein Fläschchen aus der Tasche. Er öffnete es, klopfte mit dem Zeigefinger darauf, so dass eine kleine Menge von dem Staub – dem Erbe seines Vaters – herausrieselte, und vermischte ihn mit dem Pulver auf dem Teller. Mit der dem Apotheker eigenen Sorgfalt füllte er das Ganze dann in ein dunkles Fläschchen und ging nach Hause. Dort stellte er es vor sich auf den verwaisten Esstisch und betrachtete es mehrere Minuten lang. Um seine Nerven zu entspannen, schluckte er anschliessend eine Tablette von seiner Medizin. Danach stand er auf, ging ins Bad, zog sich aus und legte sich in die Wanne. Er steckte den Stöpsel in den Abfluss und liess das Wasser laufen, bis es ihm fast bis zum Kinn reichte. Nachdem er es wieder abgestellt hatte, rutschte er tiefer, bis seine Ohren unter der Wasseroberfläche lagen. In seinem Kopf war nichts mehr zu hören als seine eigenen Atemzüge – und das laute und regelmässige Tropfen des Hahns.

*

Währenddessen betrat Walîd Sultân die Library Bar im dritten Stock des Hotels Four Seasons, einen ruhigen Raum mit gedämpfter Beleuchtung und Blick auf den Nil. Die Atmosphäre war geprägt von leisen Gesprächen und dem Duft teurer kubanischer und dominikanischer Zigarren. Im Hintergrund lief unaufdringliche Musik. Die vollbesetzte Bar war Treffpunkt prominenter Politiker und Intellektueller, die eine entspannte Umgebung suchten, um Finanzprobleme oder arabische und internationale Angelegenheiten zu besprechen. Oft wurden hier politische Entscheidungen getroffen, noch bevor die Cognacflasche zur Hälfte geleert war.

Hâni Bergas sass in dem Teil der Bar, der Aussicht auf den Nil bot, und wirkte verträumt wie ein Ritter aus einem Stück von Shakespeare. Sein langes Haar war links gescheitelt, das Gesicht glattrasiert, er trug einen grauen Nadelstreifenanzug, eine dunkelrote Krawatte und eine Pasha-de-Cartier-Uhr mit Lederarmband, neuestes Modell. In einer Hand hielt er ein Glas, mit der anderen spielte er an seinem Blackberry. Als er die Ankunft seines Gastes bemerkte, lächelte er liebenswürdig und streckte ihm zum Gruss seine weiche Hand entgegen. Walîd erwiderte den Händedruck freundlich, jedoch nicht ohne Vorsicht.

»Willkommen, willkommen, Walîd Bey. Bitte sehr.« Walîd setzte sich und betrachtete prüfend seinen Gastgeber. Der legte sich für mehrere Sekunden, die sich in die Länge zogen, die Finger unters Kinn und fragte dann: »Wein?«

»Wein«, antwortete Walîd.

Hâni gab dem Kellner ein Zeichen. »S’il vous plaît … Une coupe pour mon ami, et une bouteille de Golan Sauvignon avec un plat froid de fruits de mer.« Zu Walîd meinte er dann: »Ein grossartiger Wein, Sie werden ihn mögen.«

»Syrisch?«

»Israelisch. Offen gestanden, das Land, das den besten Wein produziert. Sie sind sehr clever dort.«

Walîd verzog den Mund. »Sie sind in allem clever.«

Hâni lachte. »Mit dieser Art zu denken machen Sie es sich ganz schön schwer. Krieg ist Krieg, und Business ist Business. Und Palästina – das ist wieder ein ganz anderes Thema. Business ist es allerdings auch.«

Walîd lächelte. »Soweit es den Wein betrifft, haben Sie recht.«

»Probieren Sie diese wunderbare dominikanische Zigarre! Die ist angenehmer als die kubanische Cohiba.«

»Die ist mir zu stark, das vertrage ich nicht.«

»But you look strong.«

»Nein, das kommt nur, weil ich als Student geboxt habe.«

»Ich will Sie nicht zu lange aufhalten. Lassen Sie uns zum Punkt kommen, directly. Sie wissen natürlich, was mit meinem Vater ist?«

»Möge der Herr ihn gesund machen und er sich wieder erholen!«

»Unser Leben liegt in Gottes Hand. Die Ärzte machen mir, offen gestanden, keinerlei Hoffnung. Sein Fall ist aussergewöhnlich, und es geht ihm sehr schlecht.«

»Es ist Krebs, oder?«

»Nicht wirklich.«

Der Kellner kam und brachte die Weinflasche. Er öffnete sie und schenkte zwei Gläser ein. Anschliessend stellte er einen viereckigen Teller mit einem kalten Meeresfrüchtecocktail auf den Tisch und zog sich dann zurück.

Hâni erklärte weiter: »Wir haben ihn in England röntgen und endoskopisch untersuchen lassen, und dabei sind wir auf etwas sehr Seltsames gestossen: ein Pulver, das sich über die ganze Speiseröhre verteilt hat. Es hat dort Wucherungen verursacht, die krebsähnliche Symptome hervorrufen. Die Schmerzen sind unerträglich.«

»Ein Pulver?«

»Diamonds. Diamanten!«

»Diamanten?«

»Wir können uns das auch nicht erklären.«

»Sie haben den Verdacht, dass es sich um ein Verbrechen handelt?«

»Jeder erfolgreiche Mensch hat Feinde. Aber mein Vater doch nicht!«

»Sie können Anzeige erstatten, wenn Sie den Verdacht hegen, dass …«

»Dafür ist es zu spät. Wir haben ihn schon nach Ägypten zurückgeholt, wie die Doctors in England es uns geraten haben. Walîd Bey, ich werde nicht erlauben, dass er nach seinem Tod obduziert wird. Das wäre pietätlos.«

Für Walîd Sultân kam dies alles sehr überraschend. Das Sonderbarste aber war, wie gelassen Hâni Bergas die Sache nahm.

»Ich hoffe, er erholt sich wieder.«

Hâni seufzte. »Anyway, ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich vorhabe, nach dem Tod meines Vaters selbst in seinem Wahlbezirk zu kandidieren. Sie kennen seinen Ruf und wissen, wie sehr die Menschen ihn mögen. Und ich möchte es genauso machen, selber way.«

Walîd nickte verwundert. »Kann ich da irgendwie behilflich sein?«

»Sie haben Rang und Einfluss. Und ich habe Châlid al-Sammân am Hals. Ich brauche Ihre Hilfe, damit die Dinge laufen. Und damit alle zufrieden sind. Alle.«

Walîd lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Wenn etwas in meine Zuständigkeit fällt …«

»Alles im Bezirk fällt in Ihre Zuständigkeit«, unterbrach ihn Hâni. »Normalerweise spreche ich nicht über solche Dinge, aber Sie haben ja gesagt, ich solle selbst zu Ihnen kommen. Verstehen Sie mich richtig: Gewinnen werde ich so oder so. Die neueren Umfragen fallen allesamt zu meinen Gunsten aus. Aber Châlid al-Sammân macht sich einen Spass daraus, mich zu verleumden und Gerüchte über mich zu streuen.«

»Was für Gerüchte genau?«

Hâni wurde ein wenig rot, aber dann lächelte er. »Bei Wahlen sind Schläge unter die Gürtellinie ganz normal. Man kann alles Mögliche über jemanden in Umlauf setzen, und die Leute glauben auch … alles Mögliche.« Er rückte an den Tisch heran und machte Walîd ein Zeichen, ebenfalls näher zu kommen. »Ich will, dass al-Sammân den Mund hält … dass er verschwindet!«

»Dass er verschwindet? Und wie?«

Hâni zog an seiner Zigarre und blies den Rauch in die Luft. Er zeigte mit dem Finger auf den Kringel, der langsam aufstieg, um sich schliesslich aufzulösen, und sagte: »So!«

»Ich weiss nicht, was ich dazu sagen soll«, sagte Walîd lächelnd, während Hâni einen eleganten goldenen Füllhalter und einen kleinen Zettel aus der Jackentasche zog und ihm beides über den Tisch zuschob.

»Schätzen Sie selbst, wie viel Sie wert sind!«

Walîd sah sich um, blickte dann auf den Zettel und schob ihn zur Tischmitte zurück.

Aber Hâni schob ihn erneut zu ihm hin. »Nur keine falsche Scham!«

Langsam griff Walîd nach dem Füllhalter und spielte damit, während er sich umsah. Dann schrieb er eine 5 auf den Zettel.

Hâni neigte lächelnd den Kopf. »Was halten Sie von ein paar Nullen?«

Walîd schrieb vier Nullen, dann fügte er noch zwei hinzu.

Hâni nahm den Zettel an sich hin und las ihn. Dann wandte er sein Gesicht dem ruhig dahinströmenden Nil zu, lächelte und beugte sich wieder über den Tisch. »Was soll das?«

Walîd zündete sich eine Zigarette an. »Für Hâni Bergas ist das nicht viel.«

»Ich weiss, dass al-Sammân Ihnen einen Besuch abgestattet hat.« Walîd war erstaunt. Er sah Hâni ins Gesicht, und der fuhr fort: »People talk. Es ist kein Verbrechen, sich zu besuchen. Ich werde ganz direct mit Ihnen sein. Sein offer an Sie – wie hoch war das?« Deutlich überrascht lehnte Walîd sich zurück, und Hâni setzte hinzu: »Nehmen Sie mir meine Worte nicht übel! Ich schätze Intelligenz sehr. Oder haben Sie ihm schon Ihr Wort gegeben?«

Das ging über Walîd Sultâns Kräfte. Er stellte die verschiedensten Mutmassungen an. Woher wusste Hâni Bergas von al-Sammân? Er musste auch von der Anzahlung für die Beendigung des Wahlkampfs erfahren haben. Wie weit hatte er sich schon verstrickt? Er hasste es, wenn man sich in seine Angelegenheiten mischte. Schon oft hatte er von Leuten seines Umfelds Geschenke angenommen. Er hatte sich begünstigen lassen, um das neueste Automodell fahren zu können. Oder eine Rolex angenommen dafür, dass er einem verwöhnten Sohn die Haft ersparte und ihn in die Arme seines Vaters zurückkehren liess. Die Wahlkampfzeit bot ihm die günstige Gelegenheit, sich etwas Gutes zu tun. Er nahm von einem Korrupten, um ihm zum Sieg über den anderen Korrupten zu verhelfen. So lautete seine Interpretation der Angelegenheit. Er fand es nur recht und billig und akzeptierte es. Wie jeder Kriminalkommissar zeigte er sich stets kooperativ und profitierte dabei von den Möglichkeiten, die seine Herkunft ihm bot, von der Macht, die sein Amt ihm verlieh, von der Heuchelei um ihn herum – und von der Tatsache, dass man in dieser Nation schon immer die Nähe derer gesucht hatte, die Sterne und Adler auf ihrer Uniform trugen. Walîd zeigte sich kooperativ, soweit ihm das sein Verbleiben im Amt garantierte. Aber damit, eingeschüchtert oder aus einer höheren Position heraus bedroht zu werden, wollte er sich nicht abfinden, selbst wenn dies in freundlichem Ton geschah. Er verspürte den dringenden Wunsch, das Gespräch zu beenden und zu verschwinden. Ein Wunsch, wie ihn Mäuse in der Falle hegen. Allerdings erlaubte seine Situation ihm noch eine Verteidigungsmassnahme, eine letzte Reaktion: »Hâni Bey, ich bin doch verwundert. Sie werden Ihr Ziel erreichen und so oder so gewinnen, das ist so gut wie sicher. Man wird die Urnen austauschen, und alles ist in Ordnung. Aber etwas ist mir entgangen. Die Gerüchte müssen wohl ganz oben eine schlimme Wirkung gehabt haben« – er lächelte –, »oder es sind nicht nur Gerüchte.«

Nervös stach Hâni seine Gabel in ein glibberiges Stück Aal und schob es sich in den Mund. »Mir scheint, wenn Seine Exzellenz der Minister von al-Sammâns Besuch erführe, wäre das nicht so nett.«

»Und wenn die Menschen im Wahlbezirk etwas von Karîm erführen, wäre das, glaube ich, auch nicht so nett.«

Hâni lachte mit vollem Mund, dann sah er sich um und flüsterte: »Sie sind ausgesprochen dreist.« In dem Moment klingelte Hânis Telefon. Er entschuldigte sich und hielt sich den Hörer ans Ohr. »Ja. … Ja. … Hm. … Hm. … Welches Problem? … Wer?« Für Sekunden hielt er den Kopf gesenkt, dann sprach er weiter: »Du weisst, was zu tun ist. Auf Wiederhören.« Er schwieg eine Weile und schien in Gedanken. Seine Blicke hingen an dem Barmann, der die Gläser füllte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Gegenüber zu. »Wo waren wir stehengeblieben?«

Walîd kniff die Augen zusammen. »Ich hatte gesagt, es geht offensichtlich nicht nur um die Wahlen.«

Diese Bemerkung machte Hâni Bergas klar, dass der Ball nicht mehr in seinem Spielfeld lag. Er nahm sich ein weiteres Stück vom Teller und kaute es hingebungsvoll mit geschlossenen Augen. »Delicious. Denken Sie gut nach! Antworten Sie nicht sofort!«

Walîd Sultân erhob sich. »Entschuldigen Sie mich.«

Hâni lächelte und nickte ihm zum Gruss stumm zu. Dann zerquetschte er die Zigarre zwischen seinen Fingern.

*

Eine halbe Stunde vorher

Vor dem Eingang des Hotels Four Seasons stieg der Chauffeur aus und öffnete seiner Herrin die hintere Tür.

»Bleiben Sie in der Nähe!«, sagte sie, ging mit grossen Schritten auf die Drehtür zu und dann nach links, wo sich die Aufzüge befanden. Sie betrat einen davon, und nachdem sie eine Karte in den Schlitz des Lesegeräts gesteckt hatte, wählte sie den fünfundzwanzigsten Stock. Oben angekommen, trat sie in einen Korridor, der zu einer äusserst luxuriösen Suite führte. Vor der Tür blieb sie stehen und hielt sich ihr Handy ans Ohr. Kurze Zeit später flüsterte sie ihren Namen: »Buschra Sîra«, und wie durch ein »Sesam, öffne dich!« wurde ihr augenblicklich Einlass gewährt.

Der Anruf war von einem eleganten Mann in den Vierzigern entgegengenommen worden, der Hâni Bergas, was den Schnitt seines Anzugs, den Haarscheitel und die grelle Krawatte betraf, sehr ähnlich sah. Es war Ihâb, sein Sekretär und Geheimniswahrer. Er führte Buschra in einen eleganten Empfangsraum mit gedämpftem Licht, der von leiser Musik berieselt war und einen grandiosen Blick auf den Nil bot. Der Mann zog die Vorhänge zu und wandte sich dann an Buschra: »Das soll ja wohl ein Scherz ein. Was soll das heissen, Karîm kommt nicht?«

»Er macht Probleme.« Sie zog eine Schachtel More-Zigaretten aus der Handtasche, steckte sich eine zwischen die Lippen, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. »Gestern war eine Party mit der Clique«, berichtete sie dann, »und zufälligerweise haben sie ihn verhaftet. Der Kriminalhauptkommissar ist ein persönlicher Freund von mir. Karîm bleibt heute Nacht bei ihm im Polizeirevier.«

»Er bleibt über Nacht?«

»Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass der Junge geredet hat.«

»Was soll das heissen, er hat geredet?«

»Walîd Sultân, dieser Nichtsnutz, hat ihm gedroht, und daraufhin hat er ihm gesagt, zu wem er immer geht. Er hat mich eben angerufen.«

»Shit.«

»Aber ich versichere Ihnen, Walîd ist ein persönlicher Freund. Er wird nicht reden. I promise.«

Ihâb drehte ihr den Rücken zu und wandte sich zum Fenster. Dann strich er sich über das lange Haar und sagte: »Ich muss es ihm sagen.«

»Das ist nicht nötig. I can handle the situation.«

»Handle! Das kommt ziemlich spät.« Er nahm sein Handy und wählte eine Nummer. Nach ein paar Sekunden hörte er Hânis Stimme von der Bar. »Exzellenz Pascha, es gibt ein Problem: Karîm. Er ist gestern verhaftet worden. Er hat geredet. … Ihr Gast, der bei Ihnen sitzt … Zu Diensten, Exzellenz.« Er legte auf und wandte sich an Buschra: »Karîm ist auf dem Revier?«

Sie sah ihm tief in die Augen, wusste seinen Blick zu deuten und nickte zur Antwort.

»Machen Sie sich schon mal Gedanken, was Sie Mister Hâni sagen wollen.«

»Ich habe eine Überraschung für ihn, über der er das Problem vergessen wird«, sagte sie und hielt sich das Telefon ans Ohr. »Warte vor dem Aufzug!«

Ihâb sah ihr ins Gesicht, und sie nickte ihm beruhigend zu. Für ein paar Minuten ging sie hinaus, dann kehrte sie in Begleitung eines jungen Mannes zurück, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er trug eine offene schwarze Daunenjacke, enge Jeans und rote Sportschuhe.

»Willkommen, Amîr!«

Der Junge trat ein und sah sich in der Suite um, während Buschra ihn Ihâb vorstellte, der nicht aussah, als könne er ihn zuordnen. »Denken Sie an die Sendung Star 2008, das Lied Ich will dich!«, sagte sie.

Ihâb lächelte flüchtig, dann nickte er, zog sie am Arm beiseite und flüsterte ihr ins Ohr: »Einen zweiten Fehler können Sie sich nicht mehr erlauben, Buschra.«

Sie nickte, und nachdem er sich stumm von Amîr verabschiedet hatte, brachte sie ihn zur Tür. Als er sie hinter sich geschlossen hatte, kam sie eilig zurück, legte dem jungen Mann die Hände auf die Wangen und tätschelte sie zärtlich. »Amîr, ich möchte dich heute ganz fresh, okay?«

Er antwortete: »I am cool. Don’t worry.«

»Über eins sollten wir uns einig sein: Was hier geschieht, muss auch hier bleiben. Wenn ich mich über dich ärgern muss, wirst du dir wünschen, mich nie getroffen zu haben. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, mit wem du arbeiten wirst. Wenn auch nur ein Wort nach aussen dringt, kann ich nicht dafür garantieren, was passiert, okay? Ein VIP ist auf Geheimhaltung angewiesen«, sagte sie und zog eine Pillenschachtel und mehrere Kondome aus der Handtasche. »Kann sein, dass du die brauchst, okay?«

Amîr zog die Jacke aus und nahm sich ein paar Kekse vom Tisch. »Wen soll ich denn überhaupt treffen?«

»Nur keine Eile! Ich hab mir sagen lassen, du bist sehr klug. Zieh dich aus!«

Er nahm es auf, als hätte er es schon erwartet. In Sekundenschnelle hatte er seine Kleider abgelegt. Buschra stellte sich vor ihn und prüfte ihn, als sei er ein Sklave, den sie kaufen wollte. Er war kräftig gebaut und gut anzusehen. Sie liess ihre Blicke nach unten wandern und verweilte dort eine Weile. Er sah ihr in die Augen, dann legte er seine Hand auf ihre Schulter und wollte sie küssen. Mit einer Bewegung des Zeigefingers hielt sie ihn jedoch zurück. »Stopp! Bück dich!«

Er sah sie erstaunt an, dann wandte er ihr den Rücken zu und beugte sich vor.

»Okay. Geh dich jetzt duschen. Ich bleib noch bei dir.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, und gemeinsam gingen sie ins Bad. »Wenn du fertig bist, wartet ein Wagen auf dich, und du kannst fahren, wohin du willst. Es ist auch ein Umschlag für dich da. Zieh dir ein bisschen was an, iss gut, und mach es dir bequem. Wenn du dem Pascha gefällst, dann hast du die CD in der Tasche. Alles klar?«

»Sie haben mir versprochen, dass er auch einen Clip für mich macht.«

»Zeig mir diese Nacht, wie klug du bist!«

»Okay.«

Unter Buschras Aufsicht duschte Amîr. Sie gab sich erst zufrieden, als sie ihm Boxershorts angezogen und ihn mit Parfum eingesprüht hatte.

Da schellte es an der Tür. Buschra führte Amîr ins Schlafzimmer, wo zahlreiche Kerzen standen, und platzierte ihn auf dem Bett zwischen den mit Straussenfedern bestickten Kissen.

Hâni Bergas hatte geklingelt. Mit einem Gesicht voll unterdrückter Wut trat er nun auf Buschra zu. »Ist das wahr, was ich da gehört habe?«

»Unexpected mistake. Ich verspreche Ihnen, dass das nicht wieder vorkommt.«

Er strich ihr über die Wangen, umarmte sie freundlich, dann drückte er seine Hand um ihren Kiefer langsam zu, bis man ihrem Gesicht den Schmerz ansah. »Erinnern Sie sich noch, wer Sie aus dem Gefängnis geholt hat, Buschra? Wissen Sie, mit wem ich alles sprechen musste, damit Sie am nächsten Tag rauskamen? Einen Fehler darf sich jeder bei mir erlauben. Aber bei Ihnen sind es jetzt schon zwei. Den Begriff ›Wiederholung‹ gibt es in meinem Wörterbuch nicht, haben wir uns verstanden?«

Behutsam befreite sie ihr Gesicht aus seinem Griff. »Okay.«

»Sind Sie sicher, dass der Junge bei Walîd Sultân geredet hat?«

»Unfortunately.«

Für Sekunden schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf den Aschenbecher. Er griff danach und warf ihn an die Wand, so dass er mit lautem Krach zersplitterte. Nachdem er kurz stehen geblieben war, um Luft zu holen, wandte er sich wieder an sie: »Das wird Sie teuer zu stehen kommen«, sagte er, zog seine Jacke aus, knöpfte sich die Manschetten auf und setzte sich.

Sie quetschte sich hinter seinen Sessel, legte ihm die Hände auf die Schultern und massierte ihn. »Beruhigen Sie sich doch, please, denken Sie an Ihre Nerven! Ich hab eine Überraschung für Sie, dank der Sie den ganzen Stress vergessen werden.« Er schob ihre Hand weg und stöhnte vor Wut auf. Aber sie sprach weiter: »Jemanden, den Sie seit vielen Monaten haben wollen. Jemanden, der eine schöne Stimme hat«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Er sah sie grimmig an, doch sie nahm ihre Handtasche und ging. »Bonne nuit.«

Minutenlang blieb er in Gedanken versunken, dann rief er seinen Sekretär an: »Also, was hast du gemacht? Ich erwarte, dass ich die Sache in einer Stunde vergessen kann, als wäre sie nie passiert. Gib dir Mühe, und halt dich in der Nähe!«

Er legte auf, ging zum CD-Player und wählte ein Album von Frank Sinatra: My Way. Dann zog er sich aus, öffnete ganz behutsam die Tür zum Schlafzimmer und trat in den Raum, in dem Amîr immer noch so dalag, wie Buschra ihn verlassen hatte. Hâni wickelte sich ein Handtuch um die Hüften, setzte sich auf die Bettkante und legte seine Hand auf Amîrs Knie. Der schien nervös, versuchte aber zu lächeln. Nie hätte er sich vorstellen können, einmal Hâni Bergas höchstpersönlich zu begegnen! Deshalb blieb er stumm und sagte kein Wort.

Hâni sah ihm ins Gesicht, dann wanderte sein Blick über Amîrs Körper. »Deine Stimme ist nicht das Schönste an dir«, sagte er und streichelte ihm die behaarte Brust, während Frank Sinatra sang: »And more, much more than this, I did it my waaaaay.«

*

Eine Stunde später

Ein Polizeiwagen hielt am Eingang der Wache. Ein Offizier und drei Rekruten stiegen aus und führten sechs junge Männer hinein. Fünf von ihnen hatten so blutverschmierte Gesichter, dass man ihre Züge kaum erkennen konnte. Unter einer Flut von Beleidigungen und haufenweise Fusstritten zerrten die Polizisten die Festgenommenen in das Gebäude. Die Protokollaufnahme war zu einem Streit ausgeartet, bei dem zwei Personen verletzt worden waren, die jetzt im Krankenhaus lagen. Die anderen hatte man verhaftet, um sie am Morgen der Staatsanwaltschaft vorzuführen.

In der Zelle war die Luft stickig wie in einem mit einer Toilette ausgestatteten Pharaonengrab. Als sie eintraten, boten sie alle verbliebene Energie auf. Die anderen Insassen rückten von ihnen ab, um nicht mit dem Blut und dem Schweissgeruch in Kontakt zu kommen. Schweigend setzten sich die Neuankömmlinge und lehnten sich mit dem Rücken an die Wand. Routiniert wie ein Metzger nach dem Schlachten wischten sie sich das Blut ab.

Einer der sechs hatte ein sauberes Gesicht und unbeschädigte Kleidung. Der schob nun die Hand in seinen Strumpf und zog ein kleines Foto heraus. Er sah es sich an und liess dann seine Blicke über die Gesichter der Mithäftlinge wandern. Schliesslich verharrte er bei einem von ihnen, der gedankenverloren in der Ecke sass. Er betrachtete ihn genau, faltete dann das Foto wieder zusammen und schob es zurück in seinen Strumpf.

Niemand beachtete ihn, als er aufstand und zu der Hocktoilette ging, die hinter ein paar Ziegelreihen verborgen war. Er zog sich die Hose herunter und kauerte sich mitten in die stinkende Hölle. Dann krümmte er sich zusammen und streckte die Hand zu seinem Gesäss aus, um – anders als sonst, denn normalerweise flutschte dort alles von selbst – etwas herauszuziehen. Was er schliesslich zu fassen bekam, war ein Taschenmesser! Ein eingeklapptes und in eine Plastiktüte gewickeltes Taschenmesser. Er empfand keinerlei Ekel, als er es aufklappte, um es dann zu dem Foto in seinen Strumpf zu stecken. Anschliessend zog er sich die Hose wieder hoch und ging auf seinen Platz zurück.

Ausdruckslos starrte er in dem gedämpften Licht, das durch eine kleine Öffnung in der Tür hereinfiel, den jungen Mann an, der sich ganz in die Ecke gekauert hatte. Als er sich sicher war, den Richtigen vor sich zu haben, zog er das Taschenmesser geschickt aus dem Strumpf, stand auf und ging auf ihn zu. Und bevor der nur seine Augen zusammenkneifen konnte, um zu erkennen, wer sich da über ihm aufgebaut hatte, hatte das Messer ihm schon die Halsschlagader durchschnitten.

Laut gurgelnd wie ein Wasserrohr, in das Luft eingedrungen ist, schoss das Blut in einer Fontäne heraus. Der junge Mann neigte sich zur Seite, die Hand an der durchschnittenen Kehle. Die anderen gerieten in Panik und wichen zurück, während er sich verkrampfte, auf die Seite fiel und seine Herzschläge immer schwächer wurden. Sein Schlächter wischte das Messer an der Schulter eines der jungen Männer ab, die mit ihm gekommen waren. Dann steckte er es wieder ein und setzte sich in aller Ruhe neben sein Opfer. Es dauerte nur einige Sekunden, dann war der Körper bis auf ein unwillkürliches Nervenzucken still. Unter ihm breitete sich eine Blutlache immer weiter aus, bis sie die Füsse der anderen Insassen erreichte.

Zwei Tage später erschien auf der Panoramaseite der Zeitungen unter dem Titel »Bluttat in Dukki« eine kurze Nachricht: »Ein junger Mann fand vorgestern infolge einer Auseinandersetzung in der Polizeiwache von Dukki den Tod. Wie die Kriminalpolizei von Gisa erklärte, war zwischen den in Gewahrsam genommenen Insassen ein Streit ausgebrochen, in dessen Folge Karîm Anwar (31) von dem arbeitslosen Saîd Farûk (37) getötet wurde, der Anwar mit einem scharfen Gegenstand die Kehle durchschnitt.«