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Doktor Sâmichs Apotheke lag nicht weit von Tahas Zuhause entfernt. An den Tagen, an denen er nur tagsüber für die Firma arbeitete, ging er zur Aufstockung seines Einkommens abends noch dorthin. Nach einem kurzen Marsch durch die ruhigen Strassen war er schon da. »Na, Wâil, wie geht’s?«
Wâil war der schmächtige Lehrjunge – mit Punkfrisur, einer Brille, die aussah, als wäre sie aus dem Boden zweier Wassergläser gemacht, eigenwilligem Pullover und einem Silberring mit schwarzem Stein am kleinen Finger. Wie die Medikamente hiessen und wo sie standen, wusste er jedoch besser als jeder Universitätsabsolvent.
Die Apotheke war eine der wenigen, die noch selbst Arzneien zubereiteten. Durch all die hochentwickelten Medikamente auf dem Markt hatten die Apotheker damit nicht mehr viel Erfahrung, und es fiel ihnen zunehmend schwerer. Deshalb war Doktor Sâmichs Apotheke bei den Leuten, die nach speziellen Rezepturen verlangten, sehr beliebt. Sie besass ein kleines Hinterzimmer, das als Labor diente. Dort setzte sich Taha an einen schmalen Schreibtisch neben das Telefon. Hinter ihm hingen die Werbeplakate der Pharmafirmen, auf denen Menschen zu sehen waren, die vor Kopfschmerzen stöhnten – oder ein glücklicher Mann neben einer blauen Pille und einer Frau, die vor Lust verging. Die ganze Nacht über nahm Taha Anrufe von Leuten entgegen, die von zu Hause aus Medikamente bestellten: das Schmerzmittel Voltaren, Panadol gegen Kopfweh, Amlodipin gegen Bluthochdruck, Diamicron gegen Zucker, Viagra für angenehme Nächte und Cialis, um die angenehmen Nächte auf sechsunddreissig Stunden auszudehnen. Das waren die am häufigsten verlangten Mittel – abgesehen von den speziell zubereiteten Rezepturen.
Zehn Minuten vergingen, dann klingelte das Telefon, und eine alte Dame bestellte eine eigens für sie herzustellende Hämorrhoidensalbe. »Es gibt auch ein Zäpfchen namens Proctosedyl. Das wirkt sehr schnell und ist besser als die Rezeptur«, riet ihr Taha.
Genau in dem Moment kam Sara durch die Tür. Mit einem Mal verging die Zeit langsamer, die Stimmen wurden leiser, die Wände der Apotheke taten sich auf, und in Tahas Kopf erklang ein Lied: »Welch Wunder, die tödliche Gazelle, welch Wunder! Mit so vielen Gedanken, so vielen Herzen hat sie gespielt. Kokett und reizend ist ihr Schritt.« Er wusste nicht, warum, aber von einem Moment auf den anderen fühlte er sich von dieser Filmmusik überschwemmt und wie im Rausch. Was konnte dieses Lied aus den achtziger Jahren so plötzlich herbeigerufen haben wie einen Geist aus der Lampe? Eine Sendung über arabische Musik mit Ratîba al-Hifni18? Das Lied Auf dem Balkon bei dir eine Runde Karten? Die Sendung Kamerafahrt? Oder das Lied Die Rede der Seele?
Sara war seine Nachbarin, sie wohnte im selben Haus wie er – so nah und doch so fern. Man hatte bei ihr das Gefühl, als wäre sie von einem elektrischen Feld umgeben, trüge aber an ihrem äusserst attraktiven Hinterteil ein Schild mit der Aufschrift »Anfassen und Fotografieren verboten!«. Sie war elegant, hatte einen bronzefarbenen Teint, energisch zusammengepresste Lippen und einen langen Hals. Gegen ihre riesigen Augen nahm selbst ein Meer sich klein aus, und an ihrem Kinn hatte sie einen kleinen Schönheitsfleck. Sie war die Art Frau, deren Gesicht man im Aufzug bewundernd aus den Augenwinkeln betrachtete, um anschliessend lauter Unsinn zu schwafeln. In Tahas Lieblingstraum, dem vom Schiffsuntergang, spielte sie die Hauptrolle: Er begann immer actionreich wie das Ende des Films Titanic. Das Schiff versank mit Mann und Maus, und nur Taha auf einem Brett war noch übrig. Plötzlich hörte er einen Hilferuf, wandte sich um – und sah Sara in Unterwäsche mit dem Tode ringen. Ihre Kleidung war in einer früheren Szene zerfetzt worden. Taha zog sie auf das Brett, und es begann eine Fahrt ins Ungewisse, die im Traum etwa fünf Sekunden dauerte. Schliesslich fanden sie eine Insel. Kisten mit Obst, ein Kühlschrank voller Saftpacks, ein grosses Bett, ein iPod voller Songs, ein Rasierapparat und ein Laptop, die mit Solarenergie betrieben wurden, ausserdem ein paar Stärkungsmittel und Vitamine – das war alles, was vom Schiff noch übrig war. Mit einer Badeszene begann die Liebesgeschichte: Sara sah Taha mit seinen strammen Muskeln auf sich zukommen und sagte: »Ich bin nun mal an diese Salbe gewöhnt, junger Mann!« Das war die Frau mit den Hämorrhoiden. Plötzlich lief die Zeit wieder in Normalgeschwindigkeit.
Sara verlangte Dove-Seife. Sie wollte nie etwas anderes. Taha nannte sie deshalb insgeheim schon Dovey Dove.
Er bemühte sich, die Frau mit den Hämorrhoiden schnell abzufertigen, aber leider gelang es ihm nicht. Sie hatte gerade angefangen, über »diese Zeiten heutzutage« herzuziehen: Sie habe schon bessere gesehen – und auch die Hämorrhoiden seien nicht mehr das, was sie mal waren, selbst der After … Und auf das Zubereiten von Arzneien gründe sich doch die ganze Medizin! »Ihr jungen Leute seid alle so lahm und verweichlicht. Ihr habt nicht gelebt, wie ihr solltet. Ihr habt nicht Butterschmalz aus dem Zinnkrug getrunken, ihr habt keine Sandwiches mit Murta und Mifattaka gegessen, nie habt ihr ein Pfund Fleisch für zwei Piaster gekauft.«
Indessen war Wâil, kaum hatte er Sara gesehen, aufgesprungen wie ein Schachtelteufel und blinzelte ihr nun mehr als zweihundertmal in der Minute zu. Um sich einen coolen Anstrich zu geben, riss er dann auch noch zwei schlechte Witze. Saras Reaktion bestand darin, dass sie verdriesslich die Unterlippe vorschob und sich eine Haarsträhne aus der Stirn blies, die unter ihrem wie ein Flamenco-Knoten gebundenen Kopftuch hervorgerutscht war. Das hiess so viel wie: »Schau dich doch bitte mal im Spiegel an!« Den Zehnpfundschein, mit dem sie bezahlte, liess sie mit spitzen Fingern fallen, während Wâil grinsend wie ein zahnloses Krokodil extra neu geprägte Münzen als Wechselgeld für sie heraussuchte.
Da schrie Taha: »Warte, Wâil!«, legte die Hand auf den Hörer und fügte hinzu: »Die Dame des Hauses will dich sprechen.«
»Welche Dame?«
Taha senkte den Blick und antwortete, im Innersten überzeugt von seinen Worten: »Deine Mutter.« Und flüsternd setzte er hinzu: »Ihre Stimme klang müde, das gefällt mir nicht.« Besorgt nahm Wâil den Hörer, und Taha wandte sich an Sara: »Dürfte ich bitte mal sehen, was Sie gekauft haben?«
Verwundert holte sie die Seife wieder aus der Tasche und gab sie ihm. »Was soll das denn?«
Er antwortete nicht, sondern drehte die Seife in der Hand hin und her. »Gott sei Dank!«, meinte er dann lächelnd.
»Was ist los?«, fragte sie.
Er kam näher heran und sagte leise: »Nicht alle Leute passen auf. Diese Seife wird nämlich mit Schweinefett hergestellt.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Schweinefett?«
»Natürlich«, sagte er und verschwand, um kurz darauf mit einer anderen Schachtel wiederzukommen. »Hier, bitte sehr.«
Sie drehte sie in der Hand hin und her. »Aber ich seh keinen Unterschied.«
»Solche Dinge wissen nur wir Apotheker«, behauptete er selbstsicher.
In dem Moment beendete Wâil das Telefonat. »Das war gar nicht meine Mutter, Herr Doktor.«
Zwischen zusammengepressten Zähnen raunte Taha ihm zu: »Das war sie, Wâil, du hast bloss nicht richtig hingehört.«
Sara durchschaute, was vor sich ging, lächelte kurz und wollte gehen, aber Taha hielt sie zurück. »Eine Sekunde noch!« Er bog um den Tisch und gab ihr einen Werbezettel. »Diese Shampoos sind neu im Angebot.« Sie musterte ihn abschätzend, während sie den Zettel entgegennahm, und er fügte hinzu: »Es gibt auch Cremes …«
»Sie wohnen im zweiten Stock?«, unterbrach sie ihn.
»Ach so, Sie wohnen im selben Haus wie ich? Und ich überlege die ganze Zeit, woher ich Sie kenne.«
»Sind Sie der, der die ganze Nacht Schlagzeug spielt?«
Er kratzte sich am Kopf. »Nun ja – ein paar Stunden.«
»Sie spielen übrigens ziemlich schlecht«, flüsterte Sara ihm zu. Dann ging sie.
Taha sah aus wie eine zerrissene Unterhose Marke Imperator. Eine Weile stand er noch da und blickte ihr nach, dann wandte er sich an Wâil, der heimlich gelauscht hatte: »Sollst du mich nicht holen, wenn ein Kunde kommt?«
»Aber die wollte doch nur Seife, Herr Doktor.«
»Auch dann. Vielleicht verträgt ihre Haut diese Marke nicht. Oder sie versteht überhaupt nichts von Seife.«
»Aber Herr Doktor …«
Taha unterbrach ihn: »Nimmst du jetzt das Zäpfchen, oder soll ich dir eine Hämorrhoidensalbe machen?«
»Mir?«
»Nicht für dich, Junge, für die Dame am Telefon!«
»Die Salbe.«
Taha liess Wâil stehen und ging ins Labor. Allmählich kam sein Puls wieder zur Ruhe. Der hatte nämlich zu rasen begonnen, wie jedes Mal, wenn er versuchte, eine Bresche in Saras Verteidigungswall zu schlagen. Aber das war ihm noch nie gelungen, sie verschwand immer so schnell, wie sie gekommen war. Und diesmal hatte sie ihm auch noch einen Denkzettel verpasst – und dann einen Parfumduft zurückgelassen, den er bis zur nächsten Begegnung in der Nase haben würde.
Die Stunden zogen sich zäh dahin, bis es Viertel vor drei war und jemand durch die Tür kam. »Gu’n Tag.«
Dieser Jemand war Service.
Taha kannte diese Typen. Wie Insekten auf der Suche nach Wärme umschwirrten sie das Licht. Der Inhaber hatte ihn extra angewiesen, sie in seiner Schicht von solchen Übeln frei zu halten.
»Guten Tag.«
Der Körper muskelbepackt, das Gesicht voll kraterartiger Löcher, sagte Service: »’ne Packung Tramadol und ’ne Packung Apetryl. Wo ’s’ Gâlid?«
Taha roch den Braten, stand auf und stellte sich vor diesen Dinosaurier, der dem Aussterben entkommen sein musste. »Châlid ist nicht hier.«
»Wann kommter?«
»Er kommt nicht mehr. Er hat die Apotheke verlassen. Er ist weg, und aus.«
Service kratzte sich an der Nase, die von einer Messernarbe quer durchschnitten war, kam näher und flüsterte: »Hatter Ihnen nichts erklärt wegen nachts? Die Rezeptur?«
»Haben Sie ein Rezept?«
Service grinste geringschätzig. »Was für’n Rezept, Kollege? Neu hier?«
In dem Moment zwinkerte Wâil Taha zu. Es sah aus, als hätte er eine Irisentzündung oder Parkinson im Anfangsstadium. »Lass das! Das ist ein Junkie«, sollte das heissen.
Taha ging wieder zu seinem Stuhl. »Gott wird Ihnen helfen.«
»Bring die Packung und die Rezeptur, Kumpel. Bezahl ich etwa nich’ dafür?«
»Komm morgen früh, und sprich mit dem Inhaber.«
»Was heisst morgen, Chef? Mein Gott, ich will’s jetzt!« Er wandte sich an Wâil. »Wo is Gâlid, Typ?«
Als Wâil erschrocken von seinem Platz aufstand, rief Taha: »Setz dich wieder hin!«
»Sie haben’s doch«, insistierte Service.
»Ich kann Ihnen nichts geben, versuchen Sie es bei einer andern Apotheke.«
»Nirgendwo geh ich hin. Und glauben Sie mir, das ist nich’ in Ordnung so. So bringen Sie einen zum Ausrasten.« Dann fing er an, mit den Medikamentenschachteln in einem kleinen Ständer herumzuspielen. Taha versuchte, ihn mit beiden Händen wegzuziehen, aber Service packte ihn mit seiner Hand, an deren Zeigefinger zwei Glieder fehlten. »Wollen Sie sich nich Ihr Brot verdienen?«
Taha versuchte, seine Hand loszumachen. »Wenn du nicht von hier verschwindest, lass ich dich einsperren!«
»Wen lässte einsperren, Prinz? Weisste nich, wer ich bin?«
Mit Mühe bekam Taha sein Handgelenk wieder frei. »Nein, das weiss ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen.« Er nahm alles zusammen, was von seinem Mut noch übrig war. »Ab hier, und zwar sofort!«
»Ab? Scheisse, Mann!«
In dem Moment sprang Wâil Taha in den Weg. »Lassen Sie es gut sein!«
Service liess die Wirbel an seinem breiten Nacken knacken. »Gut so. Aber, Herr Baschmuhandis, ich weiss jetzt, wo ich bei Ihnen dran bin. So geht man mit Service nich um.«
»Es gibt immer ein erstes Mal. Ausserdem bin ich kein Baschmuhandis.«
Service warf ihm noch einen leeren Blick zu, trat mit voller Wucht gegen die Waage, so dass sie umfiel, und ging.
»Was war denn das für ein Ungeheuer?«, fragte Taha.
Wâil stellte die Waage wieder auf. »Halten Sie sich von ihm fern, Herr Doktor.«
»Kommt dieser Kerl öfter hierher?«
»Châlid hat ihm die Medikamente zum doppelten Listenpreis verkauft. Bis die Sache aufflog, Doktor Sâmich davon erfuhr und ihn rausgeschmissen hat.«
»Und was hat es mit dieser Rezeptur auf sich?«
»Das ist eine Spezialmixtur, die Châlid für ihn zubereitet hat, etwas, das high macht.«
»Wegen solchen Schuften kriegen manche Kranke keine Medizin. Wer ist denn bloss dieser miese Bastard?«
»Der Kerl heisst Âdil. Woher er gekommen ist, weiss niemand. Man sagt, er habe schon zehn Leute umgebracht, sei aber nie verurteilt worden. Er wohnt bei Sulaimân, dem Lord. Es heisst, dass er die Ware für ihn losschlägt.«
»Du weisst auch von der Sache mit Sulaimân?«
»Natürlich, Herr Doktor.«
»Aber wenn er mit Sulaimân zusammenarbeitet, wofür braucht er dann die Rezeptur?«
»Fürs Bett. Die Drogen und der Alkohol machen high, aber sie lassen alles einschlafen. Und die Chemie weckt es dann wieder auf.«
»Und was noch? Ist ja schrecklich, was du da erzählst!«
»Ach was, Sie kennen doch den grossen Machrûs Bergas. Der hat ihn angeheuert, als er bei den Wahlen kandidiert hat. Deshalb nennt man ihn auch Service. Er lässt alle nach seiner Pfeife tanzen und hält sich für den starken Mann der Gegend. Die Polizisten fassen ihn mit Samthandschuhen an, dafür ermittelt er für sie und liefert ihnen auch schon mal einen Jungen aus, der Probleme macht. Ja, das passiert wirklich und ganz in echt – wie in dem Film al-Gasîra mit Achmad al-Sakka. Dieser Kerl allein ist so gut wie ein ganzer Trupp. Um ehrlich zu sein, Doktor Châlid war schwachsinnig – was hat der Mann in so einer Welt zu suchen? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber sich auf der Streeeeet rumzutreiben ist nichts für Sie Doktoren, und ausserdem …«
In dem Moment erzitterte die ganze Apotheke von einem lauten Knall. Ein Ziegelstein hatte die Scheibe durchschlagen, die in lauter kleine Scherben zersprang. Der Stein flog bis zu Tahas Schreibtisch und blieb darunter liegen. Er duckte sich reflexartig.
Wâil schrie: »Sehen Sie, Doktor, sehen Sie! Und, bei der heiligen Kaaba, das war noch gar nichts!«
Taha rannte aus der Apotheke, um den Täter vielleicht noch zu entdecken. Service stand in der Nähe an einer Ecke und rauchte in aller Ruhe seine Zigarette. Er winkte Taha zu, nickte grinsend und bog dann in die andere Strasse ab. Taha strich sich über die Stirn, als wollte er einen Geist aus einer Flasche locken, holte sein Nokia aus der Tasche, rief den Inhaber der Apotheke an und erklärte ihm, was passiert war. Dann wandte er sich an Wâil: »Lass alles so, wie es ist! Ich geh zur Polizei. Dieses Ungeheuer zeig ich an.«
Wâil liess alles fallen, was er in der Hand hatte, und wollte Taha zurückhalten. »Wieso anzeigen, Herr Doktor? Das muss doch nicht sein. Damals hat Service vor meinen Augen ein Taschenmesser aufgeklappt und Châlid damit bedroht. Schliesslich heisst es ja: Der Zweck heiligt …«
Taha, der wie betäubt auf die verstreuten Glasscherben gestarrt hatte, kam wieder zu sich und unterbrach ihn: »Alles nur Gerede.«
Taha rannte zur Wache von Dukki und zeigte den Vorfall an.
Nach einiger Zeit kam er mit einem Polizeisekretär und einem Leutnant zurück, die sich selbst, das ganze Leben und alles hassten, womit sie es je zu tun hatten. Ganz besonders aber hassten sie Taha, weil er sie zwang, nur wegen eines Ziegelsteins, der durch eine Scheibe geflogen war, in solch einer kalten Nacht noch hinauszugehen.
Als sie das Protokoll aufsetzten, fragten sie ihn deshalb gleich: »Woher wissen Sie denn überhaupt, dass Service den Stein geworfen hat? Kann nicht irgendein Junge, irgend so ein H…sohn, sich einfach einen Spass erlaubt haben? Und ausserdem, danken Sie Gott, dass er Sie nicht gleich abgestochen hat! Was heisst das, er hat gegen die Waage getreten? Wir werden ihn mal fragen. Danke für den Tee.«
Träge wie Madame Afâf vom Katasteramt in Kasr al-Aini beendeten sie hiermit die Protokollaufnahme und machten sich davon.
Zu Hause fand Taha nicht in den Schlaf. Im Bett hatte er die ganze Zeit dieses Gesicht mit den Kraternarben vor Augen. Und er sah sich selbst den Kerl verprügeln: Er warf seine Brille weg und verpasste ihm dann jede Menge Fausthiebe. Die ganze Apotheke schlug er ihm über den unförmigen Schädel. Zum Schluss griff er sich noch eine Spritze und stach sie ihm ins Hinterteil. Richtig übel rächte er sich an ihm, doch schliesslich setzte ihn der Schlaf ausser Gefecht.
Um drei Uhr nachmittags wachte Taha wieder auf. Vier Stunden hatten reichen müssen, dem Musterknaben die Knochen zu brechen! Auf dem Weg zum Bad griff er sich ein Buch. Von diesem Hobby hatte er sich nie losreissen können – angefangen bei den Fünf Abenteurern, über den Mann fürs Unmögliche, von dem er gleich vier Bände hintereinander verschlungen hatte, bis zu Das Übernatürliche. Eine halbe Stunde sass er auf der Toilette. Dann stand er auf und machte sich den üblichen Eimer Nescafé, an dem er sich vor dem Fenster die Hände wärmte, während er auf den Platz hinausblickte. Das war, seit die Probleme seiner Eltern angefangen hatten, seine Methode, mit den Dingen fertig zu werden: Die ganze Nacht über rief er sich in Erinnerung, was passiert war, weinte, jammerte und murmelte in sein Kopfkissen, dann fiel er in einen bodenlosen Schlaf und träumte lauter wirres Zeug, das er gar nicht erst zu verstehen versuchte. Schliesslich stand er schweissgebadet auf und hatte völlig vergessen, was geschehen war, als hätte es nie stattgefunden. Und obwohl er sich mit Service so heftig gestritten hatte, verspürte er jetzt doch ein gewisses Triumphgefühl. Schliesslich hatte er ihn abblitzen lassen und ihm sogar zugerufen: »Ab hier, und zwar sofort!« Was für ein unerbittlicher Satz, deutlicher ging es doch gar nicht mehr!
Das alles sagte er sich nun vor dem Spiegel. Um seine restlichen Sorgen auch loszuwerden, spülte er dann noch ein paar Teller ab. Zum Schluss sammelte er seine Kleider und die seines Vaters ein und warf sie in die klapprige Waschmaschine, als sein Vater rief: »Tahaaaaa!« Er wollte seinen Tee.
»Jahaaaaa.«
Taha öffnete die Tür. Hussain sass in einer Ecke des Zimmers, wo ihn die Sonne, die durchs Fenster stach, nicht erreichen konnte. Der ging er wie ein Vampir aus dem Weg.
»Einen wunderschönen Morgen, Abu Taha. Soll ich was zum Frühstück besorgen?«
»Warum bist du heute so spät dran?«
»Sei bloss still, mein Guter, das war vielleicht eine schreckliche Nacht! Gestern ist ein Krimineller zu mir in die Apotheke gekommen. Er wollte Pillen und dachte, ich verkauf sie ihm, weil Châlid, der vor mir die Aufsicht dort hatte, sie immer mit beiden Händen verteilt hat. Und wir dürfen jetzt die Scheisse wegmachen! Service heisst der Kerl, und weisst du was, ich hab ihn fertiggemacht und weggeschickt. Aber stell dir vor, was er dann getan hat: Er hat einen Ziegelstein in die Scheibe geworfen! Aber ich hab ihn angezeigt und …«
»Warum das denn, Taha?«, fiel Hussain ihm ins Wort.
»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Mich mit ihm prügeln?«
Hussain kam in seinem Stuhl herangerollt. »Jetzt hat er dich auf dem Kieker. In diesem Land nutzt dir eine Anzeige nichts. Das Gesetz schützt niemanden. Es schützt nur die Grossen. Nur den, der jemanden im Rücken hat. Ein Polizist ist wie jeder andere Beamte auch: Seine einzige Sorge ist, die über ihm zufriedenzustellen. Jemand wie Service kann dich in Stücke reissen, und sie tun ihm gar nichts. So haben sie es früher mit andern auch schon gemacht.«
»Kennst du ihn denn?«
»Ja, ich kenne ihn. Kannst du dich nicht mit jemand anderm streiten? Wenn er noch mal kommt, geh ihm bloss aus dem Weg! Tu’s deinem Vater zuliebe! Mit einer Narbe im Gesicht machst du dir dein Leben kaputt. Niemand gibt dir dann mehr Arbeit. Sieh dir doch mich an! Und dabei hab ich mich gar nicht mal geprügelt. In der Welt geht es nur nach dem Äusseren. Versprich es mir, mein Sohn! Ich möchte mir keine Sorgen machen müssen.«
Taha wollte das Thema wechseln. »Was willst du essen?«
»Versprich es mir erst!«
»Gut, okay. Was soll ich dir mitbringen?«
»Nichts, ist schon gut. Ich hab keinen Hunger. Begleite mich bei der Sache, von der ich dir gestern erzählt hab.«
»Aber es geht doch nicht wieder um Sulaimân?«
»Nein, ich will nur ein bisschen spazieren gehen. Und kurz bei Machrûs Bergas vorbeischauen.«
Taha zog verblüfft die Augenbraue hoch. »Machrûs Bergas?«