20

Als Taha wieder zu Hause ankam, wartete Jassir vor dem Eingang schon auf ihn.

»Was führt dich denn hierher?«

»Ich kam mir dreckig vor, weil ich dich in so einer Lage alleingelassen habe. Und ausserdem ist meine Frau zu ihrer Familie nach al-Minufîja gereist.«

»Sie kommt aus al-Minufîja?«

Jassir nickte resigniert.

»Mach dir nichts draus. Warum bist du nicht raufgegangen?«

»Mir ist nicht nach Gespenstern.«

Eine halbe Stunde später lag Taha in seinem Zimmer auf dem Boden. Neben ihm drehte Jassir sich einen Joint. »Gâbir Ghasâl! Hättest du ihm bloss gesagt: ›Jassir ist mein Freund‹ – der hätte dich auf Händen getragen. Das ist mein ganz spezieller Liebling.«

»Hab ich etwa vor, mich mit seiner Tochter zu verloben?«

»Mach dir nur keine Sorgen! Der hat einen ganzen Schrank voll Drogen und Angst vor der Polizei. Wichtig ist nur … schau, mein Lieber« – er setzte sich in den Schneidersitz –, »… du verkaufst erst mal die Wohnung. Eine Anzeige im al-Wassît, da kriegst du ein hübsches Sümmchen zusammen. Dann lässt du dir einen Pass ausstellen und haust ab an den Golf. Da gibt’s Pfizer und Kaiser und Cataflam und all die andern Firmen – was dein Herz begehrt. Du vergisst diese Raja-und-Sakîna43-Freundin und suchst dir eine arabische Puppe, die dich ihren BMW fahren lässt und dich rundum verwöhnt – und Ende.«

»Nicht bevor ich weiss, was mit meinem Vater passiert ist.«

»Ach, mein Schätzchen! Jetzt hör mir mal gut zu: Dein Vater ist tot, Gott hab ihn selig. Und du selbst hast eh schon genug abgekriegt. In diesem Zustand kannst du doch kaum noch heiraten! Du hast einen Motorschaden, nur die Karosserie ist noch intakt, Taha. Ausserdem bist du einfach zu weit gegangen.«

»Du hast gut reden.«

»Dieser Walîd Sultân wird dich benutzen, bis er dich an die Wand gespielt hat. Und dann stehen wir beide da.«

Taha nahm Jassir den Joint aus der Hand und betrachtete ihn, bevor er daran zog.

Unterdessen fuhr Jassir fort: »Du wirst es wohl erst merken, wenn du das Messer schon vor der Nase hast.« Er stand auf, ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür. »Und dann war’s das! Warum klappert der Kühlschrank eigentlich so?« Er wartete Tahas Antwort nicht ab. Der versuchte zwar noch, ihn zu warnen, aber Jassir hatte schon das Gefrierfach geöffnet – »Hast du nicht noch was Leckeres?« – und wich sofort zwei Meter zurück. »Ach, du Scheisse! Gott zerstöre das Haus deiner Mutter! Sag nichts – ist das die Hand von diesem Esel? Was macht die denn hier? Willst du sie in Essig einlegen?«

Ohne den Blick von der Glut seines Joints abzuwenden, sagte Taha: »Die Leute müssen wissen, was mit Service passiert ist, damit sie keine Angst mehr haben. Sie müssen wissen, dass es mit jedem Schurken mal aus ist.«

»Ja, und du sitzt dann ganz in der Patsche. Mensch, ich hätte ja nicht gedacht, dass auch die Karosserie hinüber ist. Steh doch mal auf, damit wir uns dein Heck ansehen können! Denkst du etwa, weil du die Hand eingefroren hast wie das Tiefkühlfleisch von Halwani Brothers, ist alles in Ordnung, und sie können dich nicht festnehmen? Gott strafe dich!«

Taha legte sich wieder auf den Boden und schloss die Augen. »Vielleicht überlässt du die Sache lieber mir.«

»Nein, ich steige ganz aus. Und dabei hatte ich mir geschworen, dich nicht alleinzulassen. Aber du hast offenbar von dem Schlag auf den Kopf was zurückbehalten.«

»Du wirst es nie verstehen.«

»Was du jetzt mit diesen Sainabfingern machst, musst du selbst wissen.«

Taha schüttelte den Kopf und antwortete nicht. Er sah dem blauen Dunst nach, der bis zur Zimmerdecke aufstieg und eine ganz besondere Wirkung auf ihn hatte. Er sog ihn sich tief in die Brust – wie er ihn betäubte, wie er duftete! Ein leichtes Husten brachte ihn wieder auf den Boden zurück.

Jassir sagte gerade: »Steh auf, pack deine Sachen, und ab hier – in dieser Wohnung ist es nicht geheuer.«

Mit einem Mal stand Taha auf und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Jassir folgte ihm bis ins Wohnzimmer.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Nein, Jassir«, antwortete Taha, ohne sich umzudrehen.

»Gott sei mir gnädig, wenn du das Zeug nicht wegpackst, kriegen sie dich. Und dann, Kollege, heisst es nur noch: Wenn ihr ihn seht, stürzt euch auf ihn, und bringt ihn um! Und vergewaltigt ihn!«

»Ja, aber gib mir was von dem, was du immer schluckst!«

Jassir zog ein paar Pillenschachteln aus der Tasche, öffnete Tahas Hand und legte sie alle hinein. »Die machen dich auch nicht higher, als du sowieso schon bist. Ich verzieh mich.«

Taha nahm sich eine Flasche Wasser und ging ins Zimmer seines Vaters. Bis auf ein mattes Flackern, das vom Platz hereinfiel, war alles dunkel. Er zog sich sein Hemd aus, setzte sich, den Rücken an den Schreibtisch gelehnt, gegenüber dem offenen Fenster auf den Boden, packte ein paar von Jassirs Pillen aus und warf sie sich in den Mund. Dann stellte er die Flasche neben sich auf den Boden und legte den Kopf zurück, um den riesigen Baum gegenüber dem Fenster zu betrachten. Er beobachtete, wie ein leises, sommerliches Lüftchen die Zweige bewegte und in den Blättern spielte. Wie viel Zeit darüber verging, wusste er nicht. Da hörte er plötzlich etwas flattern. Als er wieder zu sich kam, sah er die Krähe. Seit dem Tod seines Vaters war sie nicht mehr hier gewesen. Mit ihrem spitzen Schnabel pickte sie an der Fensteröffnung. Sobald sie aber Taha erblickte, hörte sie damit auf. Eine Minute, die wie eine Ewigkeit schien, beobachtete sie ihn mit ihren kohlschwarzen Augen und kam dann auf den Boden des Zimmers geflattert. Auf ihren dürren Füssen hüpfte sie zwischen den herausgerissenen Bodenbelägen herum und gab ein trockenes Krächzen von sich. Dann näherte sie sich Tahas ausgestreckten Beinen. Seltsamerweise zeigte er keine nennenswerte Reaktion. Er fühlte sich wie im Wachkoma. Seine Extremitäten waren wie betäubt, und er verspürte unter der Haut ein angenehmes Kribbeln wie von zerplatzenden Sodabläschen. Die Krähe beobachtete ihn weiter, bis aus einer dunklen Ecke neben dem Fenster ein leises Quietschen zu hören war. Ein regelmässiges Quietschen, das Taha gut kannte. Er hatte seinen Vater einmal gebeten, im Bett liegen zu bleiben, bis er alles wieder in Ordnung gebracht hatte. Diese Schraube, die am Vorderrad des Rollstuhls rieb … Die Krähe erschrak und flog krächzend davon, während das Quietschen immer lauter wurde, denn nun kam der Stuhl aus der Dunkelheit in den matten Lichtkreis gerollt. Taha drängte sich an den Schrank – da war doch ein Fuss auf der Fussstütze! Und eine Hand, die sich ausstreckte, um das Rad zu drehen und die Person im Stuhl immer näher auf ihn zuzurollen … Bald war seine Stirn schweissüberströmt. Er hob den Blick, um zu sehen, wer in dem Stuhl sass. Aber durch das Gegenlicht von der Strasse her war das Gesicht nicht zu erkennen. Der Stuhl kam langsam näher, und Taha drückte sich immer tiefer in die Ecke. Ein Quietschen, als würde ein Schmied ein Schwert schärfen, sprengte ihm den Kopf. Sein Atem ging stossweise, und er öffnete den Mund, um zu schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Er hielt sich die Ohren zu und vergrub das Gesicht zwischen seinen Knien. Es war, als würde er ertrinken und jedes Mal Wasser schlucken, wenn er den Mund öffnete. Nach ein paar Sekunden berührten die Räder des Rollstuhls seine Füsse. Es schüttelte ihn, und er krampfte sich zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.

»Taha!«

Die Stimme erkannte er sofort – es war die seines Vaters. Er hob den Kopf, sah aber nicht, was er erwartet hatte. Vor seinen Augen glitzerte es sonderbar, wie winzig kleine Sterne, die in seinen Pupillen explodierten. Dann war mit einem Mal alles dunkel.

Taha wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis er wieder erwacht war. Er sass noch immer an derselben Stelle. Die Wasserflasche neben ihm war umgefallen und hatte seine Hose durchnässt. Er stand auf, um Licht zu machen. Dann schaute er in die dunkle Ecke, ging hin und inspizierte sie aus der Nähe. Sie war leer, so wie immer. Er wischte sich den Schweiss von der Stirn und stellte sich ans Fenster. Auf seiner Uhr war es Viertel nach vier Uhr morgens. Still wie ein verlassenes Dorf lag der Platz da. Taha griff nach dem Fernglas und hielt nach einem Nachtschwärmer Ausschau, fand aber keinen. Er legte es wieder hin, ging ins Wohnzimmer und dann zum Kühlschrank. Aus dem Gefrierfach nahm er die Tüte, die schon mit einer Eisschicht überzogen war. Er suchte nach einem Kugelschreiber und einem Zettel, und nachdem er ein paar Worte darauf notiert hatte, öffnete er die Tüte und liess das Papier zwischen die blau verfärbten Finger fallen. Anschliessend lief er in sein Zimmer und machte zielstrebig beide Fensterflügel halb auf. Er zog sein Unterhemd aus und wischte die Tüte damit ab. Dann drückte er Service’ Hand zum Abschied – was er früher nie getan hatte –, trat zwei Schritte zurück und warf sie mit voller Wucht aus dem Fenster. Taumelnd flog sie mitten auf den Platz. Sie prallte an einen Baumstamm, fiel auf die Motorhaube eines Autos und dann auf den Boden. Taha sah noch eine Weile zu ihr hin, und ein Lächeln trat ihm auf die Lippen. Er schloss das Fenster, legte sich hin und tauchte in einen traumlosen Schlaf.

Vier Stunden später erwachte er davon, dass jemand an die Tür hämmerte und danach die Klingel malträtierte. Taumelnd stand er auf. Unterwegs warf er eine Blumenvase um und stolperte über einen Teppich. Schliesslich öffnete er die Tür.

»Du Wahnsinniger!« Das war Jassirs Stimme.

Taha befühlte Jassirs Hemdtasche, und ein Päckchen Zigaretten fiel ihm in die Hand. »Wie spät ist es?«, fragte er.

»Fünf nach halb neun«, sagte Jassir, dann schrie er los: »Du hast die Tüte auf die Strasse geworfen, du Unglückswurm! Die Pillen haben dir wohl das Gehirn aufgefressen. Und ich dachte, sie würden dich daran hindern, eine weitere Katastrophe heraufzubeschwören!«

Taha fuhr zusammen. »Was ist denn passiert?«

»Beweg dich, und guck selbst!«

Taha sprang zum Fenster, öffnete die Flügel gerade so weit, dass er hindurchspähen konnte, und hielt sich das Fernglas vor die Augen. Auf dem Platz war ein Gedränge wie am Jüngsten Tag. Die Menschen standen flüsternd im Kreis um einen Punkt in der Mitte. Sie reckten die Hälse wie Giraffen, damit ihnen nur ja keine Einzelheit entging, die vielleicht geeignet war, vier Beamten der dritten Laufbahngruppe, während sie an ihren Schreibtischen gekochte Bohnen frühstückten, die Langeweile zu vertreiben. Polizisten drängten sie mit Absperrzäunen und ineinander verschränkten Händen ab. Eine recht grosse Menge an Offizieren umstand ein hohes Tier in Uniform und einen anderen Mann in dunklem Anzug, der wichtig aussah und den eine ehrfurchtgebietende Aura umgab. Auch Rechtsmediziner waren vor Ort, mit ihren weissen Handschuhen, transparenten Tüten und ihrer lässigen Art, die sie vor dem Pöbel zur Schau stellten.

»Bist du sicher, dass …?«

»Natürlich, mein Bester«, fiel Jassir Taha ins Wort. »Oder hat sonst noch jemand so eine Hand wie Service? Als ich heute früh ins Gericht kam, hörte ich, wie die Leute über den Müllsammler redeten, der sie gefunden hat. Unten steht alles kopf. Gott strafe dich!«

»Ich erinnere mich an nichts.«

»Natürlich nicht«, schrie Jassir. »Es war mein Fehler, zuzulassen, dass du dir gestern den Schädel zugedröhnt hast. Komm, pack deine Sachen! Verschwinde ein paar Tage, bis sich alles wieder beruhigt hat!«

»Das geht nicht.«

Jassir kam auf ihn zu. »Taha, ich weiss, wie es in dir aussieht. Aber, bei deinem Vater, mach dich aus dem Staub! Geh zu deiner Tante! Tu’s für mich! Für deinen Vater! Du bist diesen Leuten nicht gewachsen. Du bist überhaupt niemandem gewachsen. Du weisst nichts über das Gesetz und provozierst so einen Aufstand. Sultân wird mit dir spielen wie einer vom Rifâi-Orden mit den Schlangen.44 Er wird dich irgendwann aus dem Ärmel ziehen und den Leuten weismachen, er habe dich aus einem Loch hervorgezaubert. Er macht dich alle. Du merkst ja selbst gar nicht mehr, was du anrichtest. Du wirst langsam verrückt.«

Schweigend sah Taha ihn an. Ihm fiel wieder ein, dass er Worte auf einem Zettel notiert hatte – aber welche Worte, war ihm entfallen. Nur daran, wie seine Finger sie geschrieben hatten, konnte er sich erinnern, wie sie dann den Zettel zusammengefaltet und ihn in Service’ Hand gelegt hatten.

»Jassir … ich hab einen Zettel geschrieben und ihn in die Tüte gesteckt.«

Jassir sah plötzlich zerknautscht aus wie ein benutztes Taschentuch. Er legte sich die Hand auf die Stirn und fragte: »Und was steht da drauf?«

»Ich weiss es nicht mehr«, antwortete Taha.

Jassir holte tief Luft. »Mein Gott, du wirst ja wohl nicht deine Ausweisnummer draufgeschrieben haben! Du hast zehn Minuten, um deine Sachen zu packen. Diese Wohnung kannst du vergessen. Alles, was gewesen ist, kannst du vergessen. Taha, ich kann nicht länger bei dir bleiben. Und hierher kann ich auch nicht mehr kommen. Ich habe eine Tochter, die ich aufwachsen sehen will.«

Nach diesen Worten ging er. Wie ein Verrückter rannte Taha in sein Zimmer. Er holte einen Reisekoffer vom Schrank, öffnete ihn und stopfte alles hinein, was ihm in den Blick kam. Da hörte er es an der Tür klopfen. Ziemlich laut klopfen. Mehrere Sekunden blieb er wie angewurzelt stehen, dann schlich er auf Zehenspitzen in den Flur. Er spähte durch den Türspion und sah einen Mann in den Vierzigern. Er hatte einen breiten Schnurrbart, kräftige Schultern und trug einen Diplomatenanzug von undefinierbarer Farbe. Er sah aus wie ein Kriminalpolizist. Taha zog sich flink zurück, während das Klopfen immer lauter wurde. Im Zimmer hob er schnell die Reste der Pillenschachteln vom Boden auf, warf sie in die Toilette und drückte auf die Spülung. Dann holte er tief Luft, öffnete mit schläfrigem Blick die Tür und tat so, als wisse er von nichts.

»Ja?«

»Wie viele Personen sind in der Wohnung?«, fragte der Mann mit rauer Stimme.

»Ich bin allein hier. Warum?«

»Wir brauchen Sie in fünf Minuten unten, wenn Sie erlauben. Der Kriminalhauptkommissar wird Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Was ist denn los?«

»Das werden Sie unten erfahren.«

Taha zog einen Anzug an und nahm sein Arbeitsköfferchen mit, um durch ein respektables Auftreten jeden Verdacht zu zerstreuen. Er schluckte eine Stugeron, um so weit wie möglich im Gleichgewicht zu bleiben, und ging hinunter. Im Eingangsbereich sass der neue Kriminalhauptkommissar auf einem Plastikstuhl, vor sich einen kleinen Schreibtisch, auf dem eine Tasse Kaffee stand. Um der Sache mit der Hand nachzugehen, hatte er sein Büro vorübergehend hier aufgeschlagen. Neben ihm sassen die Türhüter der Nachbarhäuser und einige Bewohner, darunter auch Sara und ihr schmächtiger Bruder. Als sie Taha bemerkte, wandte sie den Blick ab und sah auf die Strasse hinaus. Er ging langsam zu ihr und versuchte dabei, niemanden auf sich aufmerksam zu machen.

»Bist du immer noch böse?«

»Warum sollte ich böse sein, hast du denn was angestellt?«

»Sara …«

In gedämpftem Ton unterbrach sie ihn: »Seit dem Tag, an dem ich dich kennengelernt habe, ziehst du eine Mauer zwischen uns hoch. Immer gibt es etwas, das ich nicht verstehe. Immer gibt es ein Geheimnis. Ich sehe, dass man dich geschlagen hat, soll dir aber keine Fragen stellen. Ich frage nach dem Überfall, und du antwortest nicht. Du weisst alles über mich, und ich weiss nichts über dich.«

Er sah zu Boden, um dort vielleicht eine Antwort zu finden. Aber nach einer passenden Entgegnung zu suchen war so schwierig, wie an einem Nagel zu ziehen, der einem tief im Fuss sitzt – einem krummen Nagel. Also sagte er gar nichts. Unter normalen Umständen hätte dieses Schweigen eine Diskussion in Gang gesetzt, die nicht zu seinen Gunsten verlaufen wäre. Aber die Zerbrechlichkeit und Schwäche, die in seinen Augen lag, konnte Sara schwer ertragen. Sie sah ihn lange an, und er presste die Lippen zusammen, als wollte er verhindern, etwas preiszugeben.

»Was ist bloss los mit dir?«, flüsterte sie, und er antwortete mit einem Lächeln, das allerdings sofort erstarb, als der Kriminalbeamte nach ihm rief: »Bitte, mein Herr!«

Er liess Sara stehen und ging zu dem Schreibtisch. Walîd Sultâns Nachfolger trank in grösster Ruhe seinen Kaffee. Er war in den Vierzigern, schlank, gutaussehend, glattrasiert und hatte bronzefarbene Haut. Er trug einen dunkelgrauen Anzug mit offenem Hemdkragen. Ein Bein über das andere geschlagen, bedachte er betont lässig die Leute um sich herum mit prüfenden Blicken.

»Ihr Name?«

»Taha. Taha Hussain al-Sahâr.«

Der Mann hob die Lider und musterte ihn. »In welchem Stock wohnen Sie, Taha?«

»Im zweiten.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich arbeite in einer Pharmafirma.«

»Was haben Sie da im Gesicht?«

»Ich hatte vorgestern eine Auseinandersetzung mit einem Taxifahrer.«

»Um welche Zeit?«

»Ungefähr um zehn.«

Sara sah ihn verdutzt an.

»Haben Sie Anzeige erstattet?«

Taha hob den Kopf, um den Gott der Antworten um Hilfe anzuflehen, der früher immer in den Decken der Prüfungssäle gewohnt hatte. »Wenn jeder, der sich mit einem Taxifahrer um den Fahrpreis streitet, Anzeige erstatten würde, dann würde ja das ganze Land die Nacht im Polizeirevier verbringen.«

Der Kommissar lächelte und beobachtete dabei weiter Tahas Gesicht, dann fragte er: »Haben Sie eine Ahnung, was vorgefallen ist?«

»Ich habe am Morgen Geschrei gehört.«

»Kennen Sie Service?«

»Ich hab von ihm gehört.«

»Ein Müllsammler hat seine Hand gefunden. Sie lag in einer Tüte. Jemand hat sie neben ein Auto geworfen.« Taha stellte sich dumm und sagte kein Wort, und der Mann fuhr fort: »Haben Sie heute Nacht oder am frühen Morgen irgendwas gehört oder gesehen?«

Taha schüttelte den Kopf und fragte: »Woher wissen Sie denn, dass es Service’ Hand ist?«

»Weil keine zweite Hand so ist wie diese«, antwortete der Kommissar. Dann schlug er ein Heft auf, schob es Taha hin und gab ihm einen Kugelschreiber dazu. »Notieren Sie Ihren Namen, Ihre Adresse und Telefonnummer! Danach werde ich Ihnen einen Satz diktieren, und Sie schreiben ihn für uns auf.«

Taha stellte den Koffer auf den Boden und bückte sich, um seinen Namen zu schreiben. Währenddessen zog der Kommissar aus seiner Hemdtasche ein transparentes Tütchen mit einem Zettel darin. Als Taha ihn erblickte, blitzte in seinem Kopf etwas auf. Plötzlich erinnerte er sich wieder. Er sah seine zittrige Hand schreiben. Sah sich den Zettel zusammenfalten und in diese andere Hand stecken – eine Hand, der zwei Fingerglieder fehlten. Mit ganzer Wucht hatte er sie fortgeschleudert und war ihr noch mit den Blicken gefolgt, bis sie auf den Boden geprallt war.

Er kam erst wieder zu sich, als der Polizist ihm zurief: »Was ist los? Haben Sie Ihren Namen vergessen?«

Lächelnd schüttelte Taha den Kopf und nahm den Stift in die Hand, und zwar in die, mit der er sonst nicht schrieb. Er holte Luft und brachte mit steifem Handgelenk in aller Ruhe seinen Namen zu Papier. Die Schrift seiner Linken war krakelig und sah aus, als wäre sie seekrank. Aber sie erfüllte ihren Zweck: Mit seiner eigentlichen Handschrift wies sie keinerlei Ähnlichkeit auf. Als er fertig war, fragte er den Kommissar: »Noch was?«

Der warf einen Blick auf den kleinen Zettel und bat Taha, zu seiner Adresse noch den Satz hinzuzufügen: »Mit einem kleinen Fehler korrigieren wir grosse Fehler.«

Taha schrieb, als hätte er die Worte zum ersten Mal gehört. Als er fertig war, reichte er das Heft dem Kommissar. Der warf einen prüfenden Blick darauf und klappte es zu.

»Falls Ihnen noch was einfällt, kommen Sie sofort ins Revier!«

Taha nickte. »Natürlich.« Er verabschiedete sich und ging zu Sara zurück.

»Ich wusste ja gar nicht, dass du Linkshänder bist«, überfiel sie ihn sogleich.

Taha zwang sich zu einem Lachen. »Das wusste ich bis jetzt selbst noch nicht.«

»Glaubst du mir jetzt? Ich hab dir doch gesagt, hier am Platz passieren komische Dinge. Und jetzt ist auch noch Service umgebracht worden.«

»Aber er ist zerstückelt worden. Das passt nicht zu deiner Theorie.«

Sie neigte den Kopf und sah ihm aufmerksam in die Augen. »Ich hab das Gefühl, du bist irgendwie zufrieden. Oder kommt mir das nur so vor?«

Taha versuchte seine Verlegenheit zu verbergen. »Warum sollte ich zufrieden sein? Das war der Ehemann meiner Mutter!«

»Wann hattest du denn nun die Auseinandersetzung mit diesem Taxifahrer?«

»Ich weiss nicht mehr, Sara …«

Im selben Moment klingelte sein Handy. Es war eine unbekannte Nummer. Er hielt es sich ans Ohr, und jemand sagte: »Das hatten wir nicht vereinbart, Herr Doktor.«

Walîd Sultâns Stimme war unschwer zu erkennen. Eilig entschuldigte sich Taha bei Sara, verliess das Haus und entfernte sich ein Stück.

»Es war keine Absicht.«

»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen«, schrie Walîd. »Was soll das heissen, keine Absicht?«

»Es heisst: Es war keine Absicht. Ich war nicht richtig bei mir.«

»Sie reden, als hätten Sie gewusst, was Sie taten.«

»Ich geh jetzt meine Sachen packen.«

»Wenn Sie die Wohnung verlassen, machen Sie sich bei jedermann verdächtig. Darauf warten die doch nur: dass einer am Platz es mit der Angst zu tun kriegt. Dass er plötzlich abhaut und seine Routine aufgibt. Gehen Sie wie gewohnt zur Arbeit, und kommen Sie zur üblichen Zeit wieder. Ich will keinerlei Dummheiten mehr von Ihnen hören, verstanden?«

Taha schaute zum Himmel. »Ich kann hier nicht länger bleiben.«

»Glauben Sie mir, Sie sind nicht in der Position, darüber zu diskutieren.« Das Gespräch brach ab.

Taha steckte das Handy wieder in die Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Er machte grosse Schritte, als hätte er Angst, einen Zug zu verpassen. Seine Füsse trugen ihn zur Corniche. Vor lauter Nachdenken schwitzte er dabei so stark, dass ihm die Brillengläser beschlugen. Schliesslich kam er zur »Prinzessin«, einer kleinen Anlegestelle, an der drei Boote mit aufgerichteten Segeln vertäut waren. Taha stieg die wenigen Stufen zum Fluss hinab. Unten waren zwei Männer. Einer von ihnen lag laut schnarchend in einem Sessel, der andere sass mit angezogenen Beinen am Wasser und rauchte eine Schischa. Als er Taha mit Anzug und Köfferchen auf sich zukommen sah, stand er hastig auf und betete dabei insgeheim um Gottes Hilfe gegen sämtliche Vertreter von Stadtverwaltung, Versicherung, Gouvernement, Stadtteil oder Steuerbehörde.

»Was wünschen Sie, Pascha?«

»Ein Boot.«

»Für wie viele Stunden?«

Taha schwieg einige Sekunden lang, den Blick auf die sanften Wellen gerichtet, dann antwortete er: »Für drei Stunden … oder vier … egal.«

»Das schönste Boot für den Pascha, der uns zum ersten Mal die Ehre gibt«, entgegnete der Mann. Dann rief er in die andere Richtung: »Arabi, Junge! Komm, hol die Titanic für den Baschmuhandis!«

»Die Titanic?!«

Wenig später stiess Arabi die Titanic in die Flussmitte. Er war ein dunkelhäutiger, magerer Junge, der ein Händchen für die Segel hatte. Er liess sie frei, so dass sie sich aufblähten und das Boot vom Ufer fortzogen. Taha stellte sein Köfferchen neben ein Sofa mit Pflanzenornamenten und setzte sich hin. Nach ein paar Minuten klappte der Junge, der mit angezogenen Beinen dasass, eine Holzkiste auf, in der jede Menge Kassetten lagen. Nach einer Weile fand er, wonach er suchte: das Lied Tu mir ruhig weh! von Târik al-Scheich. Weil der Kunde allein gekommen war, ging er wohl davon aus, dass er an Liebeskummer litt, und wollte nun mit der Musik zu seiner inneren Läuterung beitragen. Einige Sekunden vergingen, und schon erschallte von dem ausgeleierten Band in fruchtlosem Jammern: »Tu mir ruhig weh! Ich kann nicht klagen, selbst meine Augen weinen nicht, und tadeln werd ich dich niiiiie!«

Taha schloss die Augen und machte dem Jungen ein Zeichen, das heissen sollte: »Vielen Dank, aber jetzt reicht es!« Der Junge stoppte das Band und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Segeln zu. Taha zog die Schuhe aus, nahm die Brille ab, legte sich, den Kopf auf sein Köfferchen gebettet, auf das Sofa und blickte auf zu den Wolken.

»Möchten Sie an einen bestimmten Ort, Pascha?«, fragte der Junge.

»Egal wohin, nur weit weg von hier«, antwortete Taha. Dann schloss er die Augen, überliess sich dem Schaukeln des Bootes – und wartete auf den Zusammenprall mit dem Eisberg.