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Hanafi al-Sahârs Vorhersage, was seine Sprösslinge betraf, bewahrheitete sich: Jeder von ihnen folgte seinem eigenen Traum. Aus Pietät ihrem verstorbenen Vater gegenüber und von dem Wunsch beseelt, das schwere Erbe zu bewahren, führten sie den Laden noch zwei Jahre weiter. Weil sie jedoch weder von der Landwirtschaft noch von Geschäften etwas verstanden, wurde der Schuldenberg mit der Zeit immer grösser und lastete schwer auf ihren Schultern. Wie ein Stück glühende Kohle, an dem man sich die Hände verbrannte, schoben sie sich gegenseitig die Verantwortung zu, aber schliesslich ging es nicht mehr, und sie mussten verkaufen. Den Erlös teilten sie so untereinander auf, dass jeder sein Krümelchen abbekam. Danach gingen alle Brüder arbeiten, und auch die Mädchen fanden ihr Auskommen. So hielten sie ein weiteres Jahr durch, bis die Erste einen Ehemann in Aussicht hatte. Das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Auch der Boden musste nun verkauft werden. Die jungen Männer hatten einigermassen sichere Stellen – nur Hussain, der beim Tod seines Vaters erst zwölf Jahre alt gewesen war, musste sich noch eine Arbeit suchen, um sich Bata-Schuhe, eine Gabardinehose und vielleicht ein Gazehemd mit gestärktem Kragen leisten zu können. Für zwei Jahre hatte Lieto ihn in seine Werkstatt genommen – als Polierjungen für Gold und Diamanten. Dort erhielt er zwei Piaster am Tag, hinzu kamen die Geschenke der grosszügigen Bewohner des Viertels und das Entgelt für seine Hilfe am Sabbat, das sich in manchen Wochen auf ein Pfund summierte.14 Es war ein beständiges Leben – bis Lieto Anfang 1957, nach dem Sinai-Feldzug, unheilbar erkrankte und arbeitsunfähig wurde. In einem Klima täglicher Wut- und Hassausbrüche gegen die Juden und ihre Anwesenheit im Lande liquidierte er seine Geschäfte, verkaufte seinen Laden und wanderte nach Frankreich aus.

1962 leistete Hussain seinen Militärdienst. Zuvor hatte er an der Philosophischen Fakultät seinen Abschluss in Geschichte gemacht. Den Traum seines Vaters, auf die Militärakademie zu gehen, konnte er wegen fehlender Beziehungen nicht verwirklichen. Alle Gesellschaftsschichten drängten inzwischen in die Armee, die ihnen unvergleichliche Aussichten bot. Die Uniform verschaffte einem Bewunderung und Respekt und öffnete verschlossene Türen, deshalb galt sie allen als erstrebenswertes Ziel. Rundfunk, Zeitungen und Kinofilme heizten diesen Trend weiter an, indem sie Geschichten von Armeeoffizieren verbreiteten, aus denen später führende Politiker geworden waren. Nach einem Jahr beim Militär nahm Hussain seinen Abschied, um in einer Primarschule als Geschichtslehrer zu arbeiten. Dort blieb er bis zum Juni 1967.

An einem Morgen dieses Jahres wachte er plötzlich von einem lauten Klirren auf. Durch eine Phantom, die die Schallmauer durchbrochen hatte, war die Scheibe im Schlafsaal seiner Armee-Einheit zersprungen! Nur zwei Wochen zuvor war er bei einer Generalmobilmachung eingezogen worden. Die politische Führung hatte zu einem Sommerurlaub nach Tel Aviv eingeladen, inklusive Verpflegung, »Reise nach Jerusalem« und Zaubervorstellung. Später wurde Hussain in die Gegend von Arîf al-Gamâl, auf dem Weg nach al-Arîsch, verlegt. In den drei Wochen dort lebte er von Staub und Steinchen, die der Wind herbeigetragen hatte. Eines Tages brach er mit zwei Kameraden zu einem Patrouillengang auf. Bei ihrer Rückkehr einen Tag und eine Nacht später fanden sie die Männer, die dageblieben waren, am Boden wieder. Gefesselt und mit den Gesichtern im Staub, lagen sie nebeneinander aufgereiht. Und jeder hatte einen Einschuss im Kopf, so gross wie ein Mauseloch.

Zwei Monate später war Hussain wieder in Kairo. Statt auf einen Reisebus zu warten, der doch nicht kommen würde, war er lieber zu Fuss nach Hause gegangen – ohne eine Kugel verschossen zu haben, mit leerer Feldflasche und einer Verletzung am Kniegelenk, derentwegen man ihn aus dem Militärdienst entliess.

Kurz darauf war Hussain wieder Lehrer in derselben Schule wie zuvor. Bis zur Hochzeit mit Nâhid, seiner fünfzehn Jahre jüngeren Nachbarin, dauerte es allerdings noch. Nach der Heirat ging er für vier Jahre als Leiharbeiter nach Saudi-Arabien. In dieser Zeit kam er nur einmal, 1977, für einen Urlaub nach Hause, um seinen einzigen Nachkommen zu zeugen: Taha Hussain al-Sahâr.

Im September 1989 wurde ganz Ägypten von einer Nachricht aufgeschreckt: Man hatte die Gelder der Rajjân-Gruppe beschlagnahmt. Für Tausende, die ihre gesamten Ersparnisse dort angelegt hatten, war diese Meldung ein unbeschreiblicher Schlag. Noch am selben Tag nahm das Misr International Hospital einen Patienten auf, der einen Nervenschock erlitten hatte, durch den sein Unterkörper gelähmt war. Dieser Mann war niemand anderes als Hussain al-Sahâr!

Er wurde vorzeitig pensioniert und musste sich fortan mit einem Einkommen zufriedengeben, das kaum für schlechte Zigaretten und die Medikamente reichte. Hätte er nicht Privatunterricht erteilt, wären sie alle zugrunde gegangen, er und seine Familie. Sechs Jahre harrte Nâhid noch bei ihm aus, dann allerdings rebellierte sie. Sie trennten sich und vereinbarten, dass sie ihm Taha überliess und sich mit gelegentlichen Besuchen begnügte. Die Frequenz dieser Besuche nahm jedoch mit der Zeit immer weiter ab wie die Herzschläge eines Todkranken. Schliesslich hörten sie ganz auf. So blieben Hussain und sein Sohn zu zweit in ihrer Wohnung in Dukki, direkt am Finneyplatz15, zurück. Diese hatte Hussain gekauft, als er in Saudi-Arabien gearbeitet hatte. Sie war das Einzige, was ihm vom Geld aus der Fremde geblieben war. Die vermögende Schicht zog währenddessen nach Muhandissîn und Samâlik.

*

Taha trat nach Abschluss seines Pharmaziestudiums als Berater in eine Pharmafirma ein. Seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, die Arztpraxen abzuklappern, um dort die Medikamente seiner Firma an den Mann zu bringen, neue Produkte vorzustellen sowie die Nachfrage nach den Mitteln und deren Verbreitung zu erfassen. Er trug Anzug und Krawatte – und ein Lederköfferchen, in dem sich all die Gunsterweise befanden, mit denen seine Firma den Ärzten ein Produkt schmackhaft machen wollte: kostenlose Musterpräparate, Einladungen zu Kongressen, Übernachtungen in den Hotels von Scharm al-Scheich und so weiter. Taha besuchte Praxen in den stattlichsten Gebäuden der Stadt, in denen eine ruhige Atmosphäre herrschte. Dort gab es leise Hintergrundmusik, Stapel ausländischer Zeitschriften, eine gedämpfte Beleuchtung, mannigfache Gerüche und meist auch ein abstraktes Gemälde, mit dem er nichts anzufangen wusste. Darunter sass normalerweise eine korpulente Arzthelferin, die den Telefonhörer nicht vom Ohr nahm.

Eine geheimnisvolle Patientin mit ausladender Brust warf ihm kurze, verstohlene Blicke zu – zumindest bildete er sich das ein. Um die Zeit totzuschlagen, hörte er während des Wartens meist Musik auf seinem MP3-Player. Er setzte sich in eine Ecke, stöpselte sich die Ohrhörer ein und stützte die Wange auf die Faust, bis man die Abdrücke der Finger darauf sah. Den Blick hielt er auf seine Schuhe und sein Köfferchen gerichtet, die für ihn wie lebendige, lederne Stücke seiner selbst waren. Währenddessen drehten sich in seinem Kopf die Gedanken so zäh wie das träge Wasser in einem Kanal, das leblos und unbewegt, grün und still vor sich hin rottet. Wie alle, die keinen Ausweg aus dem Räderwerk des Alltags sehen und sich unter dem Motto »Das Leben ist nun mal kein Zuckerschlecken, Kind« allmählich aufreiben, war er dabei innerlich voll Wut. Erst die näselnde Stimme der Schwester rüttelte ihn auf: »Bitte sehr, Herr Doktor.« Mit gezwungenem Lächeln erhob er sich, gefolgt von den neugierigen Blicken der Patienten. Und gleich setzte er eine andere Maske auf, eine, die zu dem, was er an der Universität gelernt hatte, in keinerlei Verbindung stand. Die Seele eines Hausierers ergriff Besitz von ihm, als er bei dem Arzt anklopfte, bei dem keiner seiner Kollegen vorher nennenswerten Erfolg gehabt hatte. Das lag unter anderem daran, dass es ihnen an Persönlichkeit mangelte. Wären sie schöne Frauen gewesen, hätte die Sache freilich anders ausgesehen.

»Guten Abend, Doktor Sâmi.«

In seine Unterlagen vertieft, sah der Arzt gar nicht auf, als der Floh zur Tür hereingehüpft kam.

»Nur drei Minuten, wenn Sie erlauben?«

Unter den Ärzten, mit denen Taha zu tun hatte, gehörte Doktor Sâmi Abdalkâdir zur Kategorie A: Er hatte einen guten Ruf, eine normale Untersuchung bei ihm – nach vorheriger Terminabsprache – kostete mehr als zweihundert Pfund. Ausserdem war er reizbar, kalt, überheblich, elegant, selbstsicher, unwillig – und trug auf die Stirn geschrieben: »Bitte nicht stören.« Mit der üblichen Methode kam man bei ihm nicht weiter. Taha würde sich anstrengen müssen – und so unterwürfig graben wie am Hinterteil einer altjüngferlichen Meeresschildkröte …

Er strich sich über das schwarze Haar, das er von seinem Grossvater geerbt hatte, und drückte sich die Brille auf der Nase zurecht. »Eine Frage: Das Bild da hinter dem Schreibtisch – haben Sie das gemacht?« Hinter dem Kopf des Arztes hing ein Foto von einem trübseligen Sonnenuntergang. Unten rechts stand klein und in blasser Farbe das Datum, woran Taha erkannt hatte, dass es von einem Amateur stammen musste.

Doktor Sâmi sah sich genötigt, seine schmale Brille abzusetzen und sich eitel wie ein Pfau umzublicken. »Ja, das hab ich fotografiert.«

Taha tat äusserst erstaunt, setzte sich und stellte sein Köfferchen auf dem Stuhl gegenüber ab. »Nein, nicht möglich!«

Mit einem Lächeln, das sagen sollte, so etwas sei für ihn doch ein Klacks, richtete sich der Arzt in seinem Stuhl auf und erwiderte: »Ich hab es an der Nordküste aufgenommen.«

»Das kann ich ja gar nicht glauben, Arzt und gleichzeitig Profifotograf – das geht doch eigentlich gar nicht!«, sagte Taha mit überwältigter Miene. Der Arzt verzog sein Gesicht zu einem selbstzufriedenen Lachen, und Taha machte mit seiner Bauchpinselei weiter: »Auch die Praxis ist äusserst erlesen eingerichtet – die Farbabstimmung und die ganze Atmosphäre sind sehr angenehm.« Er strich mit der Handfläche über den Schreibtisch. »Fühlen Sie nur das Holz!«

Der Arzt lachte, während Taha aufstand und nach seinem Köfferchen griff. »Hat mich sehr gefreut, Herr Doktor.«

»Wo wollen Sie denn hin?«, hielt der andere ihn zurück.

»Ich halte Sie nur auf. Mir reicht es schon, dass ich Sie kennenlernen durfte – ich bin übrigens Taha.«

»Sind Sie deswegen gekommen?«

»Nein, eigentlich wollte ich mit Ihnen über unser Produkt sprechen. Aber die drei Minuten sind vorbei und …«

»Setzen Sie sich, Taha!«, fiel Doktor Sâmi ihm ins Wort.

Das liess bei solch einem urzeitlichen Ungeheuer doch hoffen!

Taha nahm wieder Platz. »Wie steht es mit dem Hebsolan?«

Doktor Sâmi lehnte sich zurück. »Darüber hat schon jemand mit mir gesprochen. Einwandfrei, gut!«

»Wie dosieren Sie es, Herr Doktor?«

Der Arzt geriet ein wenig aus der Fassung und rieb sich die Nase. »Ähm, eine Tablette … eine Tablette täglich.«

Taha lächelte spitzbübisch. »Zwei Tabletten. Zwei Tabletten ist die Dosis, Herr Doktor«, sagte er, öffnete sein Köfferchen, nahm mehrere Werbebroschüren heraus und breitete sie vor dem Arzt aus. »Der Name Hebsolan kommt von Hebe. So hiess bei den alten Griechen das Mädchen, das den Göttern den Wein einschenkte. Und das tat es zweimal am Tag. So können Sie sich die richtige Dosis merken.«

Der Arzt musste lachen. »Schön, das gefällt mir. Kommt der Name wirklich von …?«

»Natürlich«, unterbrach ihn Taha, »passt doch gut! Hebe ist die Mundschenkin der Götter. Hebsolan ist nämlich nicht nur ein Beruhigungsmittel. Es ist genauso zusammengesetzt wie die Sedativa, die Sie zur Betäubung bei Operationen verwenden. Das heisst, es wirkt gleichzeitig stimmungsaufhellend und beruhigend. Natürlich beeinflusst es auch Blutdruck, Zuckerspiegel und so weiter.«

»Alles klar, aber woher wissen Sie von dieser Mundschenkin der Götter?«

»Mein Vater ist Geschichtslehrer. Seit meiner Kindheit ist Geschichte mein tägliches Brot. Er raucht Cleopatra-Zigaretten, fährt einen Ramses und trinkt Isis-Tee.«

Das reichte, um die drei senkrechten Linien, die sich zwischen den Augenbrauen des Arztes gebildet hatten, wegzubügeln. Er lachte laut auf und spielte dann eine neue Karte aus. »Wie sieht es denn mit Kongressen aus? Sie haben ja noch etwas Zeit …«

»O ja«, unterbrach Taha ihn, »da gibt es den Kongress der CCIH in Kanada. Die Firma trifft gerade ihre Vorbereitungen dafür.«

»Wann ist dieser Kongress?«

Taha fühlte, dass er dem Arzt den Mund wässrig gemacht hatte, und fuhr fort: »In drei Monaten. Anmeldung, Aufenthalt und Reisekosten übernehmen wir.«

»Gut, und wo sind die Einladungen, mein lieber …?«

Zum zweiten Mal lächelte Taha spitzbübisch. »Taha. Taha al-Sahâr, Herr Doktor. Offen gestanden weiss ich nicht, ob ich Sie auf die Liste setzen kann«, sagte er dann, stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Schreibtisch und beugte sich vor, um eine gewisse Vertraulichkeit herzustellen. »Die Firma konzentriert sich nämlich auf die Ärzte, die das Produkt auch unterstützen. Wir sehen das an den Abrechnungen der Apotheken in der Umgebung, Sie verstehen. Die Firma verlangt von mir, in den kommenden sechs Monaten in Dukki und Muhandissîn mehr Hebsolan abzusetzen. Wenn ich den geforderten Prozentsatz erreiche, kann ich zwei Ärzte für den Kongress nominieren. Hier in der Gegend kommen nur Sie und Doktor Saîd Iskandar in Frage – er fährt übrigens zum Kongress. Über Sie hab ich aber in den Apotheken hier erfahren, dass Sie bei chronischen Schmerzen Vicodin verschreiben. Dabei wissen Sie doch: Hebsolan wirkt direkter und schneller.«

»Nun ja, Hebsolan ist für ältere Menschen ein wenig gefährlich – und teuer«, antwortete der Arzt beschwichtigend und in einschmeichelndem Tonfall.

Taha lächelte. »Teuer sind Sie selbst ja auch – und ein Medikament ohne Nebenwirkungen gibt es nicht. Doktor Saîd Iskandar nämlich …«

Als er den Namen seines Konkurrenten hörte, wurde Doktor Sâmi fuchsteufelswild. »Was soll ich also tun?«

»Hebsolan ein bisschen fördern.«

»Aber die kostenlosen Muster sind sehr rar!«

»Kein Problem«, sagte Taha, zog mehrere Medikamentenschachteln aus seinem Köfferchen und legte sie auf den Schreibtisch. »In Ordnung so?«

»Ich hätte gern noch ein paar für den Apotheker an der Ecke. Sagen Sie ihm, es kommt von Doktor Sâmi, er wird verstehen.« Der Arzt riss ein Blatt aus einem kleinen Block und kritzelte Namen und Adresse des Apothekers darauf.

Taha nickte. »Selbstverständlich.«

»Und der Kongress?«, erinnerte ihn Doktor Sâmi.

»Ich werde tun, was ich kann«, sagte Taha, nahm sein Köfferchen und streckte lächelnd die Hand aus. »Hat mich sehr gefreut, Herr Doktor.«

Grundregeln der Arbeit im Vertrieb:

– Zuallererst gilt es, bei jedem Kunden den Schwachpunkt zu finden.

– Lächeln und selbstsicher auftreten.

– Ein bisschen Lob kann nicht schaden.

– Leg nicht gleich all deine Karten offen auf den Tisch.

Taha verstand sich auf seine Arbeit. Er wandte stets alle Regeln an und galt bei seinen Kollegen und Chefs als Mann für schwierige Fälle. Man setzte ihn bei den schwer anzusprechenden Ärzten ein, die einen gewissen Ruf hatten. Bevor er jemanden aufsuchte, sammelte er mit Hilfe der firmeneigenen Datenbank Informationen über ihn, studierte dessen Abrechnungen bei den Apotheken und taxierte das Verkaufsvolumen der Konkurrenz. Während des Besuchs las er seine Körpersprache. Und dann kam das Einfallstor, der Schwachpunkt: Bei fünfzig Prozent der Ärzte waren das materielle Interessen, bei fünfundvierzig Prozent eine Schwäche für Frauen und bei fünf Prozent Perversitäten und unvorhersehbare Dinge.

Ganz unmerklich schmeichelte er sich ein – sein Lächeln war einzigartig –, ein wenig Schmieren und dann ein Angebot, das schwer zurückzuweisen war. Und zum Schluss kam der Lehrsatz der pressing power: andauerndes, beharrliches Drängen, monoton wie Pulsschläge – nur nicht aufhören! –, bis der Arzt sich dem Produkt beugte. So vergingen die Tage, ermüdende wöchentliche Routine, eine Sisyphusarbeit. Vor elf Uhr abends war er nicht damit fertig. Es sei denn, er schaute im Café al-Nil vorbei – von dem aus man den Nil gar nicht sehen konnte –, weil es ihn nach seiner Dosis Koffein verlangte, mit der er sich einen weiteren Tag am Leben halten konnte. Und weil er dort seinen Freund Jassir treffen wollte, der ewig Sprüche klopfte wie: »Die Schiedsrichter sollten kein Schwarz mehr tragen – die Trauer sitzt doch im Herzen, nicht in Trikot und Shorts.«

Jassir war Tahas Nachbar und alter Freund, mit dem er als Kind immer Fangen gespielt hatte. Später waren sie dann dazu übergegangen, Sexfilme anzuschauen. Und jetzt rauchten sie zusammen eine Wasserpfeife mit Apfelaroma. Jassir war ein leidenschaftlicher und unverbesserlicher Kaffeetrinker. Man hätte sich leichter einen Kaugummi aus dem Schamhaar entfernen als ihn vom Kaffee abbringen können. Dabei war er – bis auf einen kleinen Bauchansatz, den er sich seit seiner Hochzeit zugelegt hatte – dünn wie eine Palmgerte und trug fast nur Karohemden. Die türmten sich in seinem Schrank zu solchen Stapeln, dass man alle Schaufenster des Warenhauses El Tawheed & El Nour damit hätte zubauen können. Seine Freunde versuchten zwar immer wieder, ihm diese Art Hemden auszureden, weil sie aussahen wie Küchentischdecken, aber keine Chance! Eher würde man im Stadtteil Dâr al-Salâm Olympische Spiele veranstalten! Jassirs Haare waren schwarz und vorn hochgebürstet, in den dichtbehaarten Händen hielt er ständig eine Zigarette, und Drogen schluckte er wie ein gefrässiger Staubsauger, vor allem potenzsteigernde Mittel. Wie eine Biene die Blüte suchte er regelmässig die Strasse nach Bilbais auf, um sich dort seine wöchentliche Ration zu besorgen. Er war Absolvent der Juristischen Fakultät und arbeitete als Rechtsanwalt in einer renommierten Kanzlei. Als Helfer in der Not erschien er oft urplötzlich wie ein in Karos gehüllter Geist aus der Lampe, griff Taha unter die Arme und verschwand dann wieder in seine Welt. Tagelang liess er sich nicht blicken, um dann unvermittelt wieder auf der Bildfläche zu erscheinen, Rauch auszustossen und über die Spielergebnisse von Al Ahly und ein bisschen über Politik zu reden. Dabei landete er allerdings jedes Mal automatisch beim Thema Frauen.

»›Teil 9 Artikel 60: Die Bestimmungen des Strafgesetzbuches sind nicht anzuwenden auf Taten, die in guter Absicht ausgeführt wurden.‹ Bei der Seele meines verstorbenen Vaters: Als ich geheiratet habe, hatte ich jede Menge guter Absichten«, sagte er nun unwillig.

»Ich hab es dir doch von Anfang an gesagt, du Blödian. Du weisst doch, warum ich bei der Hochzeit hinter dir hergelaufen bin und dir die Prostata massiert habe.«

»Die hättest du besser ganz entfernt! Diese Frau wiegt hundertzehn Kilo! Sie ist so gross wie der Wassertank für ein ganzes Mietshaus: Um sie zu wiegen, braucht man eine Brückenwaage. Und stemmen kann sie kein Mensch, höchstens ein Gabelstapler.«

»Juhuuuu, so kannst du sie doch wunderbar loswerden! Fahr sie irgendwohin weit weg, und setz sie dort ab. Dann kann sie nicht wieder zurück.«

»Ich sag es dir unter vier Augen, Taha, aber verrat es niemandem: Ich hab eine Freundin bei Facebook. Mein lieber Scholli, die hat vielleicht einen blütenweissen Teint! Du kennst doch die Figur von Jennifer Lopez. Und die ist nichts gegen sie!«

»Das sind doch Ammenmärchen! Am Ende ist sie auch noch Europäerin.«

Jassir richtete sich auf und schlug sich auf die Schenkel. »Ich erzähle keine Ammenmärchen, bei der Seele meines Vaters! Sie heisst Jasmin. Und jeden Tag krieg ich von ihr die heissesten Nachrichten, die man sich vorstellen kann. Und ihre Fotos erst! Wohlgeformte Beine, weiches Haar und sinnliche Lippen. Eine richtige Sahneschnitte.«

»Und du willst mir weismachen, so eine interessiert sich ausgerechnet für dich?«

»Die sagt Sachen, mein Lieber, aber hallo! Gestern meint sie zu mir: ›An dir ist was Besonderes.‹«

»Sie meinte sicher: was besonders Blödes!«, ulkte Taha.

»Ich hatte ihr nur mal versuchsweise eine Freundschaftsanfrage geschickt und konnte es gar nicht glauben: Sie hat mir ihr ganzes Herz ausgeschüttet! Sie fühlt sich allein, ihr Mann ist dauernd hinter anderen Frauen her. Und sie kommt um vor Wut. Gott gebe, dass sie sich scheiden lassen kann!«

»Und wenn sie sich wirklich scheiden lässt?«

»Dann schnapp ich sie mir natürlich.«

»Und machst es wie Rifâa al-Tahtâwi16 – du holst dir einfach die passende Vase ins Haus?«

»Für einen Mann ist doch eine Frau nicht genug. Erst recht nicht eine made in Egypt. Sei nicht so kindisch, und hilf mir lieber!«, forderte Jassir seinen Freund auf.

»Was soll ich denn für dich tun? Soll ich sie für dich heiraten?«

»Ach was, guck dir doch an, was ich für ein Wrack bin! Es geht darum, dass ich das aus eigener Kraft nicht schaffe.«

»Dann gib dein Letztes!«

»Du musst mir was besorgen, was Tote aufweckt.«

»Versuch’s doch mal mit Facebook!«

»Das ganze Gerede mit ihr hab ich schon durch, mein Lieber. Das Mädchen ist jetzt richtig heiss. Bald hab ich sie so weit.«

»Und du hast ihr gesagt, dass du verheiratet bist und so – und Rechtsanwalt und alles?«

»Sie weiss, dass ich verheiratet bin. Und sie weiss, dass ich auch meine Frau nicht mehr leiden kann. Aber ich hab ihr erklärt, dass ich Staatsanwalt bin.«

»Oje! Und wenn sie es rausfindet, stehst du in Unterhosen da.«

»Das wird sich dann schon alles lösen lassen. Aber was soll ich einnehmen?«

»Tramadol, Virecta. Oder besser: Nimm Erec, eine rote Pille. Aber brich sie durch!«, riet Taha ihm.

»Nein, diese Sachen hab ich ja schon alle zu Hause im Regal liegen. Ich brauch eine richtige F-16, so was ganz Wildes, sag ich dir.«

»Was Wildes, dann nimm dir doch eine Schrotflinte! Hast du übrigens gehört, was neulich in der Zeitung stand?«

»Was denn?«

»Ein Boot voll Viagra ist im Nil untergegangen. Geh dir doch zwei Kanister abfüllen, bevor die Leute den Fluss trockenlegen!«

»Ach, lass doch den Quatsch, hör auf damit!«

»Es soll ein neues Zäpfchen geben.«

»Und wie heisst es?«, fragte Jassir neugierig.

»Wick VapoRub.«

»Blödmann.«

Taha lachte Tränen. »Du meine Güte, du willst dein ganzes Leben lang Zäpfchen nehmen, um deinen Händen beim Hochzeitmachen zuzugucken! Ich kann gar nicht glauben, dass unter zehntausend Spermien ausgerechnet du das schlaueste gewesen sein sollst.«

»Ich weiss ja, dass du mich unbedingt fertigmachen willst.«

»Wenn es so weit ist, komm doch bei mir in der Apotheke vorbei! Dann setze ich dir eine Spritze, die dir einen Allradantrieb bescheren wird. Lieber Gott, wer dich so sieht, kann sich gar nicht mehr vorstellen, wie du in deiner Verlobungszeit warst: mit gegelten Haaren und sooo müüüde! Teddybärchen als Geschenk – und die ganze Nacht telefonieren! Und wie du immer in der Zeitschrift Dein Privatarzt die Artikel über das Eheleben gelesen hast!«

»Genau die haben mich gegen die Wand gefahren. Sie müssen wohl von Importfrauen gehandelt haben.«

»Und wie sich herausgestellt hat, ist Dâlia made in Egypt!«

»Guck, Dâlia ist die Beste – theoretisch. Aber praktisch … du verstehst schon. Wir brauchen nicht noch mal drüber zu reden. Komischerweise hängen wir zurzeit aneinander wie die Kletten. Die Neue hat die Leistung hochgefahren.«

»Weil du dich schuldig fühlst, Jassir.«

»So was wie Schuld sollte es, verdammt noch mal, dabei gar nicht geben! Jeder sollte zwei Frauen haben, eine offizielle und eine zweite auf Basis eines Vertrags, der alle sechs Monate erneuert wird. Du wirst schon noch sehen.«

»Was werde ich sehen? Bin ich denn wie du? Bei dir ist es so, als gingst du ins Restaurant und bestelltest dir was zu essen. Und wenn du es dann kriegst, guckst du lieber auf die Teller der andern. Eine Schande ist das!«

»So langsam zweifle ich an deinen Fähigkeiten.«

Taha nahm einen kräftigen Zug aus der Wasserpfeife, blies Rauchkringel in die Luft und sagte: »Zweifle doch an dir selbst, und mach dir um mich keine Sorgen!«

»Du wirst auch mal eine treffen, die dein Leben auf den Kopf stellt.«

»Damit eine mein Leben auf den Kopf stellen kann, müsste ich ja erst mal ein Leben haben«, sagte Taha lächelnd.

*

Tahas Treffen mit Jassir dauerte eine Apfelaroma-Wasserpfeife lang, die Hamdi, der Wächter über Feuerzange und Kohle, zweimal anzündete. Dann begann es nach Kohle zu riechen. Taha sah auf seine Uhr und brach auf. Nachdem er an seinem Hauseingang Mansûr, den Türhüter, begrüsst hatte, der mit einem oberägyptischen Zauberspruch antwortete, »Grügotterr Ta-a!«, ging er hinein. Noch nie hatte er den Ehrgeiz gehabt, diesen Spruch in seine einzelnen Buchstaben zu zerlegen oder gar zu übersetzen. Stattdessen stieg er nun in den alten Aufzug und drückte auf die kaum noch lesbare Ziffer, die einmal eine Zwei gewesen war. Die rostige Tür hielt er mit der Hand zu, so dass der Lift langsam wie eine Seidenraupe, begleitet von einer Symphonie aus Iiiiii-iiiiii-iiiiii-Tönen, nach oben kroch. Im zweiten Stock stieg er vor einer Wohnung ohne Namensschild wieder aus. Nur ein kleiner Zettel mit dem Thronvers aus dem Koran klebte an der Tür. Taha schloss sie auf und liess drinnen gleich seine Tasche fallen. Dann zog er Schuhe und Socken aus und warf sich für eine Stunde in den nächstbesten Sessel. Schliesslich gab er sich einen Ruck und stand wieder auf.

Die Wohnung war bescheiden und von einer entschieden männlichen Atmosphäre geprägt. Seit langem hatte kein weibliches Wesen sie mehr zu Gesicht bekommen. Ein kleiner Korridor führte zu drei Räumen sowie einem verwahrlosten Wohnzimmer, einem heruntergekommenen, kalten Bad und einer schmalen Küche. Die Sechzig-Watt-Neonröhren machten alles nur noch trübseliger und trister.

Das Zentrum bildete das Wohnzimmer. In dessen Mitte stand auf einem Tisch ein kleiner Fernseher mit einer wie ein Insektenfühler gebogenen Antenne. Davor befanden sich ein schiefes grünes Sofa, das einstmals drei Personen Platz geboten hatte, und zwei Plastiksessel auf einem verschossenen Teppich.

Taha griff nach der alten Fernbedienung mit den eingesunkenen Tasten und richtete sie auf den Fernseher. Gerade lief eine Ausgabe von Star 2008. In Nahaufnahme erschien ein gutaussehender Moderator. »Von einem unserer Kandidaten werden wir uns heute verabschieden. Unser Publikum hat die Wahl.« Dann flüsterte er: »Rânia, Achmad, Amîr, seid ihr bereit?« Die Kamera schwenkte zu einer glitzernden Bühne und zeigte, herangezoomt, vier Personen, die dort standen und auf den Spruch der Jury warteten. Einer von ihnen würde hinausgeworfen werden – ausgestossen und vor der Hinrichtung noch skalpiert. Ein schlankes Mädchen in einem weissen Abendkleid; ein anderes, das vor weiblichen Reizen nur so barst und dessen Brust die meisten Aufnahmen dominierte, in einem roten Kleid; dazu zwei junge Männer: einer mit breiter, behaarter Brust, das Hemd bis zum Nabel aufgeknöpft, um den Hals Ketten mit unverständlichen Symbolen und blauen Perlen, der andere blass, in einem rosa T-Shirt, die Haare im Spikey-Look hochstehend. Die Kameraeinstellung wechselte zur Jury: zwei Männer und eine Frau. Mit ihren ernsten Gesichtern hatten sie Ähnlichkeit mit arabischen Aussenministern. Wieder wurde der Moderator eingeblendet. »Nach Aussage der Jury war die Wahl äusserst schwierig, die Konkurrenten lagen alle auf ähnlichem Niveau – nach der Werbepause sind wir wieder bei Ihnen. Bleiben Sie dran!« Es folgten drei Minuten Reklame für Handys, neue Städte in der Wüste und ägyptischen Stahl, anschliessend zeigte die Kamera wieder das Studio. »Liebe Zuschauer, nur zur Erinnerung: Nur noch zwei Folgen, dann kennen wir den Star 2008.« Der Moderator öffnete einen Umschlag und nahm ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Dann richtete er seinen Blick auf die Teilnehmer, die sich ein Lächeln abrangen, um dahinter gegebenenfalls einen schweren Nervenzusammenbruch verstecken zu können. »Wer uns heute Lebewohl sagt, ist –«, spannungsgeladene Musik, dann in theatralischem Tonfall: »Amîr Saad!« Der junge Mann mit dem Brusthaar senkte den Kopf, und sein Kinn zitterte und zuckte, während er versuchte, seine Gesichtszüge am Entgleiten zu hindern. Vom Moderator erhielt er noch ein paar lobende Worte, das Mädchen mit der Brust umarmte ihn, und sein Kollege drückte ihn zum Trost fest an sich. Dann ging er schnell von der Bühne und wischte sich mit der Hand den Rotz vom Gesicht.

Taha legte die Fernbedienung hin, stand auf, lief durch den Korridor zu seinem Zimmer und murmelte: »Adams Vertreibung aus dem Paradies.«

Das Zimmer war einfach eingerichtet. Rechts stand ein schmales Bett, das noch aus seiner Sekundarschulzeit stammte. Wenn Taha die Beine ausstrecken wollte, musste er sie heraushängen lassen. Neben dem Bett stand ein Schreibtisch, noch immer mit den Kerben und Zeichnungen, die Taha in seiner Studienzeit dort eingeritzt hatte: sein Name in mehr als dreissig Schriftarten, Totenschädel, Augen und die Namen von ein paar Bands. An der Wand hingen ein Poster von Metallica und eines von Queen, daneben ein grosses Foto des Zauberers am Schlagzeug, Mike Portnoy, auf dem er gerade seine Stöcke auf die Drums niedersausen lässt. Daher rührte der Traum, dem Taha sein halbes Zimmer reserviert hatte: In der Muhammad-Ali-Strasse hatte er sich ein kleines Schlagzeug gekauft, von seinem Taschengeld zusammengespart. Begonnen hatte dieses Hobby damit, dass unter den Schulkameraden Sticker verschiedener Bands kursierten. Taha war daraufhin in die Schawârbistrasse gegangen, um nach den Kassetten dieser Bands zu suchen. Anfangs kam es ihm nur auf den modischen Walkman an, auf Ohrhörer, Nike-Air-Turnschuhe und Cut-T-Shirts mit dem Aufdruck eines Skeletts, das Musik macht und dabei ein Kind verspeist. Damit galt man bei den süssen Mädchen der ersten Sekundarschulklasse schon als verrückter Typ. Später allerdings drang der Rhythmus ihm bis ins Hirn, es ging ihm nicht mehr nur um die äussere Erscheinung. Der brüllende Lärm liess etwas in ihm vibrieren. Es war eine innere Geisterbeschwörung, die verborgene Dämonen zum Vorschein brachte und die Welt zu einem anderen Ort machte, einem Kinofilm, einem Leben mit Soundtrack. Er traf keine Entscheidung mehr, ohne vorher seine Trommeln um Rat zu fragen. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, band sich ein Bandana um, zog fingerlose Handschuhe an, mit denen er wie ein afrikanischer Zauberer aussah, und trommelte los, bis Frau Mervat aus dem dritten Stock sich beschwerte. Dann hörte er, schweissgebadet, wieder auf – seinen Dämon war er ja losgeworden.

Das war das erste Zimmer. Nachdem Taha sich komplett umgezogen hatte, ging er in den zweiten Raum. Es war das Elternschlafzimmer, das einst reich möbliert gewesen war: ein Bett im Stil der achtziger Jahre, früher hatte ihm gegenüber ein Spiegel gestanden, der jetzt allerdings nicht mehr da war; ein Tisch, auf dem sich die Medikamentenschachteln stapelten; ein breites silberfarbenes Radio, Modell 77; und die Stelle, wo einmal der Kronleuchter gehangen hatte, jetzt aber nur noch eine trübe Neonleuchte das Zimmer in kaltes Licht tauchte … Sein Vater war nicht hier, deshalb ging Taha am Badezimmer vorbei zum dritten Raum. Dort blieb er vor der Tür stehen und horchte. Er streckte die Hand nach der Klinke aus, zögerte dann jedoch, liess sie wieder los und ging in die Küche. Im Licht des altersschwachen Kühlschranks fand er eine halbe Dose Thunfisch und schon leicht säuerlich schmeckende Erbsen. Er warf sie weg und nahm stattdessen einen Brotfladen, wärmte ihn auf dem Butangaskocher, strich Käse darauf und legte ihn auf einen Teller. Dann zog er eine Zigarette aus der Tasche und beugte sich über die blaue Flamme, um sie anzuzünden. Nachdem er die Teekanne auf den Kocher gestellt hatte, lehnte er sich an die Spüle, um den Siedebläschen zuzusehen – sie zerplatzten im Rhythmus der regelmässigen Hammerschläge, die aus der Nachbarwohnung zu ihm drangen. Der Besitzer war offenbar entschlossen, alle Nägel, die ihm zur Verfügung standen, heute noch in die Wand zu hauen. Erinnerungen stiegen in Taha auf … Seine Kindheit stand ihm wieder vor Augen, die Monate, bevor er in die Mittelschule gekommen war. Damals war er noch auf der Höhe der Zeit: Ein Sakhr-Computer war sein Traum gewesen – und eine Atari-2600-Junior-Spielkonsole. Ein ausgezeichneter Schüler war er damals, besonders in Geschichte, über die sein Vater ihn reichlich mit Kenntnissen versorgte. Eigentlich war er ein ruhiger Charakter, wenn auch, wie seine Mutter immer behauptete, von einem Dämon besessen. Diese Zeit war, gemäss seiner Einteilung, die erste Periode gewesen. Die zweite begann mit der Nachricht von der Rajjân-Gruppe, in deren Folge sein Vater den Kontakt zu seinem Unterkörper verlor. Dieser widerliche Geruch, der in die Wohnung kroch … Allmählich wurden die Risse im Gebälk sichtbar. Taha war Zeuge der verschiedenen Phasen gewesen: von Verdruss, von Krittelei und Gekreische aus den nichtigsten Gründen und schliesslich völliger Sprachlosigkeit. Damals hatte er sich ganz in sich selbst zurückgezogen. Er war nicht mehr der strahlende junge Mann, das einzige Kind seiner Eltern. Immer blasser wurde er, bis er fast die gleiche Farbe hatte wie die Wände, nämlich gar keine! Er war kaum noch vom Mobiliar zu unterscheiden. Die Tage waren so spannungsgeladen, als lebten sie alle am Fusse eines Vulkans und als zöge der erstickende Rauch schon über die Decke der Wohnung. Und dann, von einem Tag auf den anderen, war alles aus. Seine Mutter war einfach fortgegangen. Sie, die doch in seinen Erinnerungen die Rolle der Frau des Löwen spielte. Trotz seiner instinktiven Liebe zu ihr brauchte er nur an sie zu denken, um so mit den Zähnen zu knirschen, dass sie splitterten. Das Ende war hinter verschlossenen Türen besiegelt worden. Nur ein Satz war damals an sein Ohr gedrungen: »Wenn du gehst, kannst du Taha vergessen.« Dann kam seine Mutter heraus. Sie packte ihre Kleider in einen Koffer und wollte gehen. Er flehte sie an zu bleiben. Unter vielen Tränen deutete sie aber nur dunkel an, das könne sie nicht. Dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn und ging, ohne noch ein Wort zu sagen. Nie würde er ihren Blick vergessen: Darin lag etwas, das er nicht an ihr gekannt hatte. Als wäre etwas zerbrochen. Dabei war sie nicht die Frau gewesen, der einfach die Geduld ausging und die es irgendwann nicht mehr ausgehalten hatte. Sie war ein anderer Mensch geworden. Nie würde er die erste Nacht in seinem mutterlosen Zuhause vergessen. Damals war er siebzehn. Es war die Zeit der Abiturprüfungen, und er gab sich alle Mühe, den Bruch zu kitten, der jedoch zu einem unüberwindlichen Abgrund wurde. Schnell löste sein Leben sich auf. In nur zwei Jahren hatte sich die Wohnung in ein Trümmerfeld verwandelt, bewohnt von zwei Verlierern: der eine im Rollstuhl – und der andere durch Vererbung ebenfalls gehandicapt.

Im dritten Jahr erfuhr Taha, dass seine Mutter einen früheren Freund seines Vaters geheiratet hatte und an den Golf gezogen war. Bis auf knappe, emotionslose Anrufe kamen keine Nachrichten mehr von ihr. Nächtelang blickte er vom Bett aus an die Zimmerdecke, auf die er seine schmutzigen Phantasien projizierte. Er stellte sich seine Mutter vor wie die Frauen in den Sexfilmen, die bei seinen Freunden in der Schule kursierten. Angeekelt verbannte er sie aus seinem Hirn. Aber nackt kam sie auf Händen und Knien hinter ihm hergekrochen. Wieder vertrieb er sie. Aber sie liess ihm einfach keine Ruhe – wie ein tropfender Wasserhahn.

Erst das Käsemesser befreite Taha aus diesen Tagträumen: Als er sich an den Küchentisch lehnte, fiel es zu Boden, und der Lärm riss ihn aus seinen Gedanken. Ein letztes Mal zog er an seiner Zigarette, dann drückte er sie im Spülbecken aus und ging mit dem Käsesandwich in der Hand in den letzten Raum.

Bis auf das Licht der Autoscheinwerfer, das von draussen an die Decke fiel, war er dunkel. Vor einem mittelgrossen Schrank stand ein kleiner Schreibtisch, daneben ein alter Reisekoffer. Zur Linken befand sich ein riesiger Bücherschrank, dessen Bretter die achtlos darauf gestapelten Bände kaum noch trugen. Man konnte kaum treten. Der Raum war mit Papier vollgestopft, ungeheure Mengen bedeckten Boden und Wände. In eleganter Schrift beschriebene Blätter, schwarz von verschlungenen und verworrenen Linien, eine Ausstellung abstrakter Malerei, schwer von Tinte.

Bewegungslos wie ein Felsblock sass sein Vater im Rollstuhl am Fenster. Er trug einen ausgeblichenen Pyjama und darüber einen Morgenrock, der einmal olivgrün gewesen war. Sein Gesicht verschwand ganz hinter einem russischen Fernglas, mit dem er auf die Strasse blickte. Er schien völlig vertieft. Eine Minute blieb Taha in der Tür stehen und beobachtete ihn. Dann streckte er frech seine Hand aus und schaltete das Licht an. Hussain fuhr zusammen und zog den Kopf ein. »Nanana, mach das Licht aus, Taha!« Wieder hielt er sich mehrere Sekunden das Fernglas vor die Augen, bevor er in seinem Stuhl ein Stück zurückrollte. Durch das Licht im Zimmer war er von draussen zu erkennen wie eine Fliege in einem Glas Milch. »Willst du nicht mal mit diesem Unsinn aufhören?«

»Erst wenn du aufhörst, die Frauen zu beobachten. Ich muss dich wohl verheiraten.«

Der Scherz schien auf Hussain keine Wirkung zu haben. Er rollte mit seinem Stuhl zu einem Kalender an der Wand, riss das Blatt mit dem aktuellen Datum ab und steckte es sich in die Tasche. Hussain al-Sahâr war ein reifer Mann von sechsundsechzig Jahren und gehörte zu den Menschen, bei denen man sich nicht vorstellen konnte, dass sie einmal Kinder gewesen waren. Von dem Nesthäkchen im Haus seines Vaters hatte er nichts mehr an sich. Durch das jahrelange bewegungslose Sitzen war er fett und formlos geworden. Auf seinem Kopf und in seinen Augenbrauen war kein schwarzes Härchen mehr. Gegen die Weitsichtigkeit trug er eine alte Brille, durch die er glotzte wie ein Fisch. Sein Mund war trocken, die Lippen aufgesprungen, und kurze weisse Stoppeln, wie Gras in einem verwilderten Garten, bedeckten sein Kinn. Mit seiner misslichen Lage hatte er sich abgefunden – so schien es zumindest –, er sprach wenig und war meist in Gedanken versunken. Seine monatlichen Ausgaben investierte er in Papier, Stifte und ein paar bescheidene Bissen – neben den Cleopatra-Super-Zigaretten, die er rauchte wie ein alter Dampfzug. Dieser Zustand hatte sich so allmählich eingestellt, wie die Nachfrage der Schüler nach Privatstunden bei ihm zurückgegangen war. Eine neue Generation von Lehrern war herangewachsen, die wie die Bienen von einem Haus zum anderen flogen und mit leichter Hand die Informationen weitergaben, die man für die Prüfungen brauchte, oder, wie die Schüler es nannten, »einen rundum berieten«. Als sein Name immer weniger gefragt war, kapselte Hussain sich ab und widmete sich dem Schreiben. Nur selten empfing er Verwandte oder andere Gäste. Doch alles, was ihm widerfuhr, schrieb er auf – seine Notizen waren wie unwillkürliche Ausscheidungen. Seine einzige Freude bestand darin, heimlich durchs Fernglas zu schauen. Es war sein Fenster zur Welt und sein Trost in der Einsamkeit. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, das Leben der anderen zu beobachten. Und mittlerweile kannte er all ihre Marotten und Gepflogenheiten, ihre Beziehungen zueinander und die Zahl ihrer Kinder, die Zeiten, zu denen sie aus dem Haus gingen, und ihre Geburtstage. Er lebte mit ihnen, als gehörten sie zu ihm, und beobachtete jedermann mit grösster Neugierde. Regelrecht süchtig war er nach ihnen, sie waren seine ständige Sorge. Voller Leidenschaft erzählte er von verschiedenen Ereignissen in der Nachbarschaft. Dann wieder sprach er tagelang kein Wort, mitunter sogar eine ganze Woche. Taha hatte den Versuch aufgegeben, ihn aus diesem Zustand herauszureissen, er wollte sich nicht auf fruchtlose Diskussionen einlassen, seine Ermahnungen endlos wiederholen, sich hineinsteigern, empören und in Rage reden, nur um sich anschliessend wieder zu beruhigen und stillzuschweigen. Er hatte beschlossen, seinen Vater tun zu lassen, was er wollte. Nicht einmal vom Rauchen hielt er ihn ab, um die chemische Balance in seinem Hirn nicht durcheinanderzubringen.

»Was gibt’s Neues?«, fragte er ihn nun.

»Für einen Rollstuhlfahrer wie mich ist alles neu.«

Taha ging zu ihm und stellte ihm den Teller auf den Schoss. »Hau rein, Pascha, guten Appetit!« Dann steckte er seine Hand in die Tasche und zog eine kleine Schachtel heraus. »Und hier sind die Kekse.«

Hussain steckte sie in die Tasche seines Morgenrocks, griff gierig nach dem Sandwich, und die Krümel fielen ihm vom Kinn, als er murmelte: »Der Hundsfott ändert sich nie. Der Hundsfott Sulaimân!«

Taha erwartete keine Erklärung. Bei seinem Vater war er daran gewöhnt, dass die Worte plötzlich und ohne Vorwarnung aus ihm heraussprudelten … Er hielt das Fernglas in die Richtung, in die Hussain zeigte. »Schon wieder Sulaimân! Was ist denn eigentlich mit ihm? Ich hab bis jetzt nicht verstanden, warum wir letzte Woche zu ihm gegangen sind. Hattest du dir nicht geschworen, diesem Mann nie mehr in die Augen zu sehen? Jahrelang hast du ihn geschnitten, und plötzlich soll ich Sulaimân besuchen!«

»Die Tage sind gezählt.«

Sulaimâns Laden lag an der Ecke. Über dem Geschäft war ein dunkles Holzschild angebracht, auf dem in kleiner Schrift stand: »Lord«. Darunter sass Sulaimân, mit drei Ringen an der rechten Hand, weichem weissem Haar und brauner Haut, was ihm eine Würde verlieh, die ihn über seine Kunden hinaushob. Er war wie der Komparse, der in einem Film die Rolle eines Ministers spielt und dafür nach dem Dreh dreissig Pfund und eine Mahlzeit erhält – um anschliessend den Leuten zu erzählen, er habe den berühmten Schauspieler Adel Imam angeschrien, und das auch noch vor laufender Kamera!«

Bevor das Lord eins der berühmtesten Geschäfte seines Segments und das Mekka der Stars und führenden Persönlichkeiten der Gesellschaft wurde, war es ein bescheidener Supermarkt gewesen. Sulaimân hatte ihn Ende der siebziger Jahre gekauft, nachdem er sich die Hälfte des Geldes von Hussain al-Sahâr, seinem Freund und Nachbarn im jüdischen Viertel, geliehen hatte. Alles lief gut, bis Mitte der Achtziger die grossen Ladenketten auf der Bildfläche erschienen. Die Lebensmittelgiganten rückten Sulaimâns Supermarkt von allen Seiten auf die Pelle, bis es zu eng für ihn wurde. Er musste sich entscheiden: entweder das Geschäft schliessen oder seine Aktivitäten verlagern. Erst ein Freund, der als Angestellter in einer afrikanischen Botschaft arbeitete, befreite ihn aus dieser Lage. Er bot ihm an, die Jahreslizenz für Alkohol zu kaufen, die der Botschaft vom Staat erteilt wurde. Der »notleidende« Botschafter steckte nämlich den Gewinn aus dieser Lizenz lieber selbst ein, als sie für die Empfänge einzusetzen, die zur Beziehungspflege gegeben wurden. Sulaimân kaufte die Lizenz und auch noch anderes. Allmählich änderte sich sein Sortiment und damit auch der Umfang seiner Brieftasche und seine Klientel. Er wusste den Kunden immer geschickter zu durchschauen. So verkaufte er – gemäss Gesetz Nr. 63 von 1976 – keine Importware, wenn er sich nicht vorher vergewissert hatte, dass der Kunde nicht etwa Polizist war. Seine Augen reichten ihm, um zu erkennen, wen er vor sich hatte, so dass der Kunde seine Bestellung entweder »Aber sofort!« erhielt, und zwar mit Eis, oder aber sich zufriedengeben musste mit einem »Wir verkaufen Stella- und Sakara-Bier, Pascha, Importware führen wir nicht«.

Anfangs machte Hussain Sulaimân Vorwürfe und schimpfte so laut mit ihm, dass man es bis auf die Strasse hören konnte. Sulaimân schwieg, nickte heftig und versprach ihm aufzuhören – bis dann der Tag kam, an dem er die Ermahnungen nicht mehr aushielt. Er explodierte förmlich, nahm – als Symbol ihrer jahrelangen Freundschaft – eine Flasche, goss den Inhalt auf den Boden und trampelte mit den Füssen darin herum. Das war ihr letztes Gespräch gewesen. Von da an schnitt Hussain Sulaimân und behielt ihn nur vom Fenster aus weiter im Auge. Er beobachtete ihn ständig, und irgendwann konnte er kaum noch glauben, dass dies einmal sein Jugendfreund gewesen war. Mit der Zeit entfremdeten sie sich immer mehr. Sulaimân vergass, Hussain jedoch vergass nicht. Um seinen blühenden Handel und den Bekanntenkreis zu erweitern, dehnte Sulaimân seine Aktivitäten auf den Drogensektor aus und wurde – mit Gottes Hilfe – zu einem der grossen Haschischdealer der Region Gisa/Dukki/Muhandissîn. Es hiess, er werde von der Polizei beobachtet, doch seine Freigebigkeit, seine Geschenke und der Einfluss seiner Stammkunden boten ihm immer Schutz. Allerdings nicht vor Hussain al-Sahâr.

Taha beobachtete das Lord mehrere Minuten lang. Er bemerkte jedoch keine Veränderung gegenüber dem, was er kannte: Sulaimân sass hinter der Theke und sprach mit einem Kunden. Taha sah seinen Vater an. »Ich verstehe nicht.«

»Pass genau auf!«

Eine Minute später ging der Kunde. Sulaimân beugte sich unter die Theke und blieb ein paar Sekunden verschwunden, dann richtete er sich wieder auf. Er hielt etwas in der Hand, das aus Tahas Blickwinkel nicht zu erkennen war.

»Hast du es bemerkt?«, fragte Hussain.

»Was genau soll ich bemerkt haben?«

Taha wich einem Brotkrümel aus, der zusammen mit dem Buchstaben S aus dem Mund seines Vaters geflogen kam, als er sagte: »Sulaimân verwahrt die Importware unter der Theke.«

»Unter der Theke?«

»Er hat da einen geheimen Kühlschrank, weil er die Importware nicht ausstellen kann. Wenn die Luft wieder einigermassen rein ist, schickt er einen seiner Jungen zu dem alten Mercedes. Dort ist das Drogenversteck.«

Bei diesen Worten kaute er weiter an seinem Sandwich und blätterte dabei die Seiten neben sich um, als erzähle er einem Kind eine Geschichte. Er sah so überzeugt aus, dass Taha verwundert die Augen zusammenkniff.

»Und das alles hast du rausgekriegt, während du hier gesessen hast?«

Hussain nickte. »Ich hab doch Augen im Kopf!«

»Gott sei euch gnädig.«

Gedankenverloren blickte Hussain aus dem Fenster.

Taha spürte einen Sturm aufziehen – er wusste, wie er für gewöhnlich anfing – und versuchte, das Thema zu wechseln. »Hast du deine Medizin genommen?«

Hussain antwortete nicht, er sah weiter aus dem Fenster und ignorierte ihn.

Taha biss sich auf die Lippen. »Papa …«

»Wie geht’s denn Ihnen eigentlich, Herr Doktor?«, fiel Hussain ihm ins Wort.

»So weit gut, Gott sei Dank. Wir sollten beide heiraten.« Hussain musste lächeln, und Taha fuhr fort: »Ich hab da eine auf der Arbeit, die macht dich glatt zwanzig Jahre jünger! Madame Manâl vom Rechnungswesen, neununddreissig Jahre alt, aber so richtig weiblich, und sie würde sehr gern … Die macht dich zum Hengst.«

»Zum Esel, meinst du wohl. Spar dir dein Marketing bei mir.«

»Hör mir nur zu, mein Lieber! Wir verkaufen die Wohnung an Frau Mervat aus dem dritten Stock. Die ist doch schon lange scharf darauf. Dafür kaufen wir zwei kleine Wohnungen und neue Möbel. Und dann, da bin ich sicher, bist du nicht mehr zu bremsen. Je oller, je doller! Ich geb dir ein paar Vitamine, und du wirst was erleben – ein richtiges Feuerwerk!«

»Bei einer schönen Frau ist es wie bei einer Wassermelone«, unterbrach Hussain ihn, »man weiss nie, wie sie von innen aussieht: ob sie rot ist oder noch gelbgrün wie eine Rübe.«

»Aber die, die ich meine, ist wirklich rot und honigsüss.«

»Und wennschon, jede Wassermelone klopft der Obsthändler erst mal ab. Aber bei den Frauen heutzutage erröten höchstens noch die Lippen.«

»Das sind grosse Worte. Möchtest du mich etwa nicht verheiratet sehen?«

»Selig, wer den Ruf hört und ihm nicht folgt. Hast du denn eine in Aussicht?«

»Viele, aber ich hab Angst vor dem bösen Blick«, antwortete Taha.

»Deine Kommilitonin?«

»Nein, die ist futsch. Sie hat geheiratet.«

»Mach dir nichts draus. War sie hübsch?«

»Sehr.«

»Sieh nicht nur auf das Äussere. Wichtig ist der Charakter.«

»Soll ich etwa eine Bergziege heiraten, nur weil sie keusch und rein ist?«

»Gott hat den Mann so gemacht, dass er einer Sache schnell überdrüssig wird, Taha. Vor der Hochzeit reicht es dir, von ihren Fingern zu träumen, und nach ein paar Monaten zieht sie sich nackt vor dir aus, und du liest weiter deine Zeitung und kriegst es vielleicht nicht mal mit. Neue Besen kehren gut, später verlieren sie die Form und nutzen sich ab. Wenn du klug bist, siehst du zu, dass der Besen auch nach der Hochzeit noch gut kehrt. Und gut aussieht.«

»Meinst du, das ist immer so? Selbst wenn ich Haifa Wahbi17 heiraten würde?«

»Wer ist denn Haifa Wahbi?«

Taha fuhr hoch. »Na danke!«

»Niemand kann sein ganzes Leben lang Theater spielen«, meinte Hussain.

Taha rieb sich die Augen unter der Brille. »Gott schenke dir Zufriedenheit, Abu Taha!«

»Die Männer in unserem Land sind nicht ganz bei Verstand. Unter ihnen machen sich Trivialitäten breit – wie ein Krebsgeschwür. Für sie besteht das Leben nur aus vier Dingen: aus Fussball, ihrem Handy, einem vollen Bauch und dem Herrn hier« – er zeigte zwischen seine Beine –, »der sie blind macht. Und was meinst du, wie es erst mit den Frauen ist!«

»Stimmt. Präzise, ganz genau.« Taha stand auf und küsste seinen Vater auf den Kopf. »Der Herr möge dich gesund erhalten, mein Alter.«

»Taha, ich möchte, dass du mich morgen auf einen Weg begleitest. Halt dir ein Stündchen für mich frei.«

»Wohin denn?«

»Morgen sage ich es dir.«

»In Ordnung, Alter.«

Hussain griff nach seinem Stift und begann zu schreiben. Taha nahm den Teller und ging ruhig hinaus. Auf dem Weg zur Küche überfiel ihn argwöhnische Neugier auf das, was er über Sulaimân gehört hatte. Ohne den Teller abzusetzen, ging er zum Fenster, zog mit dem Kopf den Vorhang zurück und betrachtete das Geschäft. Alles war wie zuvor. Dann kam Sulaimâns Lehrjunge heraus, überquerte die Strasse und liess dabei seinen Blick über den Platz schweifen. Er ging zu einem gelben Mercedes-Wrack, Modell Schreckgespenst, das dort geparkt war, seit Taha denken konnte, und schob die abgenutzte Abdeckung von dem alten Kofferraumschloss. Er drehte den Schlüssel um, streckte die Hand ins Innere und nahm etwas heraus. Dann lief er eilig zum Laden zurück. Taha stellte den Teller auf den Tisch und ging sofort wieder zum Fenster. Im selben Moment tauchte dort ein silberner Wagen mit dunklen Scheiben auf, aus dem derselbe junge Mann stieg, der eben schon da gewesen war. Er ging ins Geschäft, Sulaimân reichte ihm einen schwarzen Beutel und drückte ihm die Hand. Dabei übergab er ihm auch das, was vorher im Kofferraum des Mercedes gelegen hatte.

Taha schlug sich gegen die Stirn. »Hussain al-Sahâr, du alter Fuchs!«

Er wusch die Teller ab und zog sich dicke Alltagsklamotten an, passend für einen Abend, der sich bis zum Morgen hinziehen würde. Aus dem Augenwinkel heraus warf er durch den Türspalt einen letzten Kontrollblick auf seinen Vater. Den hatte wieder sein Dämon, das Schreibfieber, gepackt. Er würde sich für viele Stunden zurückziehen, um dann wie ein strebsamer Schüler zu verstecken, was er geschrieben hatte. Vielleicht würde er auch in Wut geraten und anfangen, wie ein Verrückter seine Papiere zu zerreissen, bevor er sich wieder beruhigte, um zum Schreiben und zu seinem Fernglas zurückzukehren. Eine abgeschlossene Welt, in die nur Taha Einlass fand, sein Freund, der ihm nichts verheimlichte, nicht einmal die Schischa mit Apfelaroma zum Kaffee oder die Geschichten von den Kommilitoninnen. Abgesehen davon bekam Hussain nur von seiner Schwester Faika regelmässig Besuch. Sie hatte für ihn und seinen Sohn die Stelle der Mutter eingenommen. Ihre Töchter hatte sie verheiratet und lebte nun als Witwe im Viertel al-Hussain. Faika war die Einzige, die noch in der Nähe ihres Elternhauses wohnte. Jede Woche kam sie mit einem Kochtopf voll gefülltem Gemüse, einem Hühnchen und einem kleinen Topf Okraschoten mit Zitrone. Wenn die heitere Alte mit ihrem unter dem Kinn zu einem dicken Bündel gebundenen Kopftuch auflachte, blitzte ihr Gebiss, und ihr Atem roch stark nach Muluchîja. Mit ihr hatte Hussain seine glücklichsten Stunden. Dann sprach sie ihn mit seinem Kosenamen Sihs an, und er wurde wieder zu einem kleinen Kind, das aus vollem Hals lachte, bis ihm die Tränen in die Augen traten. Ansonsten verharrte er in seinem Zustand und begnügte sich damit, einmal im Monat die Wohnung zu verlassen, um seine Rente in Empfang zu nehmen oder sich zu einem leidigen Arztbesuch aufzumachen, der nichts Neues brachte. Taha versuchte auf verschiedene Weise, ihn aus diesem abgeschlossenen Kreis zu befreien, aber er war selbst genauso blockiert, von demselben Messer durchbohrt. Schwer wie ein Bügeleisen lasteten die Erinnerungen auf seiner Brust. Gedanken wie spitze Bleistifte, die ihm in den Hinterkopf fuhren und dort abbrachen. Ein enervierendes, monotones Geräusch, das man so schwer loswerden konnte wie eine Plastiktüte, die einem am Autoreifen klebt. Das ihn wahnsinnig machte, wenn er kurz vor dem Einschlafen in die Dunkelheit starrte. Oder das ihn überfiel, wenn er mit auf die Knie gestützten Ellenbogen auf der Toilette sass und ein Haar auf dem Fussboden betrachtete, das die Form eines Gesichts annahm oder eines Worts, das er nicht verstand. Oft hielt er es für die Botschaft eines Dämons, der im Bad wohnte, oder eine Prophezeiung aus einer anderen Welt. Manchmal beobachtete er auch eine Ameise, die versuchte, zwischen seinen Füssen hindurchzukrabbeln. Eine lästige Ameise, die sich nicht darum scherte, dass er versuchte, in Ruhe sein Geschäft zu erledigen. Das Schamgefühl blockierte seine Blase. Um zu beenden, was er begonnen hatte, wartete er darauf, dass die Ameise wegkrabbelte, pustete auf sie und stampfte mit dem Fuss auf, um sie fortzujagen. Schliesslich konnte er ihre Zudringlichkeit nicht länger ertragen und zertrat sie mit dem Rand seiner zerrissenen, mit dem Schriftzug »Zico« versehenen Schlappen made in China. Jeden Tag kämpften diese Gedanken in ihm, er schrie sie an, aber das machte sie nur noch zudringlicher, sie flogen fort wie eine lästige Fliege im Sommer und lagen ihm dann erneut mit ihrem hartnäckigen, unermüdlichen Ssssss in den Ohren. Um sich mit dem Leben und dem Kampf um das tägliche Brot davon abzulenken, vergrub Taha sich in seinen prallen Terminkalender.