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Montag, 15. November 1954

Jüdisches Viertel, al-Churunfusch/al-Gamalîja

Auf dem buckligen englischen Pflaster am Zugang zur Salomongasse wurden die Schatten immer länger. Ein dünner Mann mit einer Stange und einer kleinen Leiter ging auf einen Laternenmast zu. Nachdem er die Sprossen behände erklommen hatte, klappte er das gläserne Türchen der Laterne auf und steckte das brennende Ende der Stange hindurch. Nach ein paar Sekunden lag um den Mast ein matter Lichtschein, der den Boden vor einem kleinen Laden zitternd erhellte. »al-Sahâr – Parfums« stand mit der Hand geschrieben auf dem Schild über der Tür. In den Regalen im Inneren drängten sich Fläschchen mit Blütenessenzen. Sie waren mit kleinen Lederfetzen und dünnen Schnüren verschlossen, trotzdem duftete es noch bis auf die Strasse hinaus.

Das Abendgebet war vorüber, und Hanafi war unterwegs zu seinem Geschäft. Jedes Mal, wenn er die Hand hob, um die übrigen Ladenbesitzer zu grüssen, sah man an seinen Ärmeln noch die Spuren der Gebetswaschung. Als Farûk, sein Ältester, ihn kommen sah, warf er seine Zigarette schnell auf die Strasse und wedelte mit den Händen, um den Tabakgeruch zu vertreiben. Verschämt lächelte er dabei zu Halâwa hinüber, die in ihrer Milâja1 vor ihm stand: zwei weisse Marmorsäulen, jede von einem goldenen Fussreif umfasst. Darüber eine Sahneschüssel – unter einer stolz vorgeschobenen Brust und einem Gesicht mit kajalgeschwärzten Augen, für die man hätte sterben mögen. Die Witwe des Viertels war sie, und der Spruch »Hinter jeder grossen Frau steht ein Mann – der ihr aufs Hinterteil starrt!« schien wie für sie gemacht. Bei ihrem Anblick trat Hanafi ein wohlgefälliges Lächeln auf die Lippen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken, gab aus einem Fläschchen ein paar Tropfen Parfum in seine Rechte und klopfte es sich in den gepflegten Schnurrbart. Während er auf Halâwa zuging, liess er den Blick über ihren Körper wandern. Schliesslich tauchte er in ihre Aura ein.

»Halâwa, wie geht’s Ihnen?«

»Guten Abend, Herr Hanafi«, flüsterte sie mit aufreizend heiserer Stimme.

Um seine Nervosität zu überspielen, zog er einen Stuhl heran und hiess sie sich neben die Tür setzen: »Ruhen Sie sich fünf Minuten aus!« Dann wandte er sich an Farûk, der ihm sehr ähnlich sah – nur dass er seine Ärmel hochgekrempelt trug, wie es durch den Schauspieler Schukri Sarhân im Film Lahalîbu in Mode gekommen war. »Hat jemand was gekauft?«, fragte er ihn.

»Oberstleutnant Hassan hat Nelken und Basilikum genommen und gesagt: ›Die Rechnung Ende des Monats.‹«

»Wenn du aus dem Hinterteil einer Ameise Fett gewinnen willst, wirst du nie was zum Braten haben«, murmelte Hanafi vor sich hin. »Der wird uns wieder mit dem Geld hinhalten!«

»Gehst du heute zu Chawâga Lieto?«

»Ja.« Hanafi klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Jetzt aber ab mit dir, deine Mutter ist allein.«

Farûk warf Halâwa einen Blick zu und zwinkerte schicksalsergeben. »Recht so, Abu Farûk.«

Hanafi beugte sich vor, um ein paar Flaschen einzusammeln, und sagte, ohne aufzusehen: »Und geh direkt nach Hause, lauf nicht erst überall herum! Ausserdem: Pass auf, dass du nicht so viel Teer in die Lungen kriegst. Es ist ein ziemlicher Gestank hier im Laden.«

»In Ordnung, Papa.«

Farûk rannte fort, und Hanafi wandte sich wieder an das Kind des Hauses El Rashidi El Mizan2: »Eine schlimme Generation! Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?«

»Jasmin«, sagte sie langsam.

Hanafi riss seinen Blick von ihren Lippen, nahm ein Fläschchen und wickelte es in ockerfarbenes Papier. »Jasmin vom Jasminstrauch.«

»Haben Sie rotes Henna?«

Er erhaschte einen kurzen Blick auf ihre Waden. »Was wollen Sie mit Henna? Ihre Fersen sind doch von Natur aus so rosig wie Gazellenblut.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ihr Gesicht gefällt mir nicht. Was haben Sie, Bruder?«

»Hexenwerk, Halâwa. Der böse Blick setzt mir zu.«

»Jemand muss Sie mit einem Zauber belegt haben.«

»Ich sehe die Dämonen ja vor mir herumhüpfen, Gott gnade mir.«

»Er steh uns bei! Sie müssen bei mir vorbeikommen, dann vertreibe ich die Geister und verbrenne ein bisschen Räucherwerk für Sie.«

Hanafi musste lächeln. »Geht das nicht auch hier im Laden?«

»Das Dämonenauge3 verbrenne Sie!«, sagte sie mit einem wohlklingenden Lachen.

Er beugte sich zu ihr hinunter. »Sie kommen zu spät, Halâwa. Wenn wir uns früher begegnet wären …«

Mit verträumtem Lächeln stand sie auf und raffte ihre Milâja zusammen. »Das kommt alles von dem Geist, er hat unglaubliche Kraft! Wenn ich Ihre Frau wäre, wären Sie vielleicht nicht …«

Ohne nachzudenken, sagte er: »Bei meiner Gesundheit, ich würde gar nicht mehr in den Laden kommen. Sie kennen mich nicht, ich …«

»Schwören Sie nicht, Sie Maulheld! Was bin ich Ihnen schuldig?«

Hanafi nahm ein Tütchen Henna, drückte es ihr in die Hand und versuchte dabei, ihre zarten Finger zu berühren. »Alles schon bezahlt, und Sie bekommen noch was wieder.«

»Wenn Sie es sich anders überlegen sollten, kommen Sie in die Burkukîjagasse!« Halâwa raffte die Milâja um ihre bemerkenswerten Hüften zusammen, und nachdem sie Hanafi einen Blick zugeworfen hatte, der seine Brust in Flammen setzte, ging sie hinaus.

Er sah ihr nach, bis sie fort war, und summte dabei vor sich hin: »Nie werd’ ich den Montag vergessen, an dem wir beide uns trafen.«

Um neun Uhr machte Hanafi die Türen seines Ladens zu und verrammelte sie mit einem eisernen Querriegel und einem grossen Schloss. Als er gerade im Begriff war, zu gehen, hörte er plötzlich ein Klirren wie von zersplitterndem Glas. Er öffnete die Türen wieder, und im Licht der Strassenlaterne sah er einen hölzernen Bilderrahmen zerbrochen auf dem Boden liegen. Er hob ihn auf, legte ihn auf den Tisch und besah sich die Schnur. Sie war ohne erkennbare Ursache gerissen. Dann zog er auch das Bild aus den Glasscherben. Es war ein handkoloriertes Foto des Präsidenten Muhammad Nagîb in Uniform. Darunter stand der Wahlspruch »Einheit – Ordnung – Arbeit«.

»Es gibt keinen Gott ausser Gott«, seufzte Hanafi, als er Nagîbs Augen betrachtete, die unendlich traurig und sorgenvoll blickten. Dann rollte er das Bild zusammen und legte es in eine Ecke. Er zog sich die Kufîja fest um den Hals, setzte sein Käppchen auf und machte sich auf den Weg in die Nusairgasse, wo sein alter Freund Lieto wohnte. Der hatte ihm einen gemütlichen Abend mit den Liedern der Dame, Laila Murâd4, versprochen.

Auf dem Weg durch den stürmischen Novemberwinter, während er sich die Hände in den Manteltaschen wärmte, geriet Hanafi ins Grübeln über die stockenden Einnahmen seines Ladens und seine Verantwortung für sieben hungrige Mäuler. Und über Halâwa, die schwer zu ignorieren war, die seine Wachträume beherrschte und vergessene Hoffnungen wiederaufleben liess. Bei alledem war er, ohne zu wissen, warum, seltsam angespannt und kaute an den Nägeln. Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Nur der Gesang der Dame würde diese düstere Stimmung aufhellen können – und ein Stückchen Haschisch, mit dem seine Finger bereits in der Manteltasche spielten.

Hanafi ging durch so enge Gassen, dass er die Häuser auf beiden Seiten hätte berühren können, wenn er die Arme ausgestreckt hätte. Schrill wie das Wehgeschrei einer Witwe pfiff der Wind dort hindurch, wirbelte Abfälle und Papier auf und klatschte alles gegen Fenster und Türen. Die Wäsche auf den Dächern flatterte so, dass man meinen konnte, dort trieben die Dschinnen ihr Wesen.

Am Zugang zur Nusairgasse durchschritt Hanafi ein Eisentor, das mit einem sechszackigen Stern und einem grossen Widderhorn bewehrt war. Er stieg in den ersten Stock hinauf, klopfte und wartete, bis das Licht anging und die Tür geöffnet wurde: von Tûna, einer voll erblühten Blume mit kajalumrandeten Augen und einem Kaugummi im Mund.

Sie hielt einen kleinen Kater an die Brust gepresst und sagte: »Willkommen, Onkel Hanafi, treten Sie ein.«

»Du bist noch wach, Mädchen?«

Sie drehte sich eine Strähne ihres welligen roten Haars um den Zeigefinger. »Papa hat uns mit einer neuen Schallplatte Kopfschmerzen gemacht. Wir müssen wohl wegen Laila Murâds schöner Augen noch bis zum Morgen aufbleiben.«

Hanafi kraulte dem Kater den Nacken, aber der fauchte wie ein Löwe.

»Schön ruhig, Babsi. Kommen Sie rein, Onkel Hanafi, ich mach Ihnen Tee.«

Lietos Wohnung war bescheiden und atmete den Geschmack des Musikliebhabers. Den Ehrenplatz im Wohnzimmer hatte ein grosses Bild von Laila Murâd inne, und an der Wand hing eine Ud, von der es hiess, sie habe einst Daûd Husni5 gehört. Im Bücherschrank daneben stand eine rechteckige Tafel mit dem Gebet »Erhoben und geheiligt werde sein grosser Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde. Sein Reich erstehe in eurem Leben, in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel«.

Im Wohnzimmer kämpfte Lieto mit dem Grammophon und versuchte, ihm Laila Murâds Stimme zu entlocken. Aber sie klang wie das Quietschen einer rostigen Tür. »Verflucht sei dein Vater, alte Hexe!«

Hanafi lächelte. »Laila Murâd muss dich aber geärgert haben.«

Ohne sich umzudrehen, sagte Lieto: »Fünfunddreissig Piaster hat die Platte gekostet, und sie klingt fürchterlich! Morgen schmeisse ich sie ihnen ins Gesicht.«

»Warum regst du dich so auf? Du hast doch dein Philips-Radio mit den acht Röhren.«

»Weil ich Musik hören möchte, wann ich will, Bruder. Und mein Gott, es ist schliesslich Laila Murâd!«

Lieto warf die Platte beiseite, putzte mit einem feuchten Lappen die Gläser seiner Hornbrille und setzte sie sich wieder auf die schmale Nase. Dann nahm er vom Tisch einen Ring in Form eines Löwen mit einem Karneol im aufgesperrten Maul und steckte ihn an den kleinen Finger.

Hanafi zog die Lederpantoffeln aus und setzte sich. »Nichts für ungut, Madame Laila, aber was gibt’s heute eigentlich zum Abendessen?«

»Zwei Stück gegrilltes Ziegenfleisch. Du wirst dir die Finger danach lecken.«

Ein paar Minuten später kam Tûna mit dem Tee herein. Sie stellte ihn auf den Tisch und zog sich gleich wieder zurück.

Lieto drehte am Senderknopf des Radios herum, bis zu seiner Erleichterung der Ansager zu hören war: »Meine Damen, Fräulein und Herren, nun ist es wieder an der Zeit für grosse Kunst und eine betörende Stimme. Sie hören eine Aufzeichnung des Auftritts von Umm Kulthûm, dem Stern des Orients, anlässlich einer Soiree des Ägyptischen Rundfunks vom Donnerstag, dem 11. November, im Saal des Kinos Rivoli. Das Konzert beginnt mit dem Lied Du liebst erneut, es folgt Du bist grausam zu mir, und zum Schluss hören Sie Die Menschen der Liebe. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Abend.«

Hanafi hatte das Haschischstückchen aus der Zellophanhülle befreit und war nun ganz darin vertieft, es in einem leeren Kaffeetopf mit Halwa und Muskatnuss zu vermengen. Er knetete die Mischung mit dem Zeigefinger durch, legte sie sich dann unter die Zunge und saugte den Saft heraus.

»Du siehst aus, als wolltest du heute noch auf die Zitadelle steigen«, neckte Lieto ihn.

Hanafi lachte so sehr, dass seine beiden Silberzähne im Mund aufblitzten. »Nur wenn Madame Zitadelle wach ist und die sieben Soldaten schlafen. Probier mal!«

»Lieber nicht, das ist genau das Zeug, das mich schon letztes Mal umgehauen hat.« Lieto rieb sein Stückchen zusammen mit dem Tabak unter die glühende Kohle. Dann füllte er die Wasserpfeife mit Rosenwasser, setzte sie zusammen und hielt Hanafi das Rohr hin. »Besser, man verbrennt es. Zieh mal dran!«

Hanafi nahm einen tiefen Zug, der ihm bis ins Gehirn drang, und blies eine dicke Wolke in die Luft. »Erstklassig.«

In dem Moment sang Umm Kulthûm: »Warum liebst du erneut, nachdem doch das Herz Ruhe fand? Hättest du’s nicht getan! Lass es, vergiss, was vorbei ist!«

Lieto blies den Rauch an die Decke, dann fragte er: »Was gibt’s denn Neues von der Götterspeise?«

Hanafi nahm das Käppchen ab und strich sich übers Haar. Beim Gedanken an Halâwa wurde ihm gleich heiss. »Da weiss man nichts zu machen. Jeden zweiten Tag kommt sie in den Laden. Wie ein Stück Butter ist sie, dieses Weibsstück! Proper und wie geschaffen fürs Bett, süsser als Dalida6. Aber da sei Gott vor, bloss nicht in Sünde fallen!«

Lieto zwinkerte ihm zu. »Sie ist hinter dir her, bis du nachgibst.«

»Wäre sie nur ein bisschen früher gekommen, mein Gott, ich wäre im Hotel über sie hergefallen! Safîja hat rissige Fersen, die Kinder haben sie ihre ganze Kraft gekostet. Und jetzt, wo alles überstanden ist, kommt die andere und will die Zeit zurückdrehen.«

»Und wie geht’s deinen Kindern?«

Hanafi zog an der Pfeife und sagte dann: »Die Kinder wollen nicht arbeiten. Im Laden, meine ich. Keiner von ihnen will selbständig sein, alle wollen sie beim Staat unterkommen. Der Beruf ihres Vaters und ihres Grossvaters ist ihnen peinlich! Aber um die Wahrheit zu sagen, ich bin froh darüber. Ich will nicht, dass die Kinder durchmachen, was ich durchgemacht habe.«

»Ach, du liebe Güte! Wenn alle ihre Kinder beim Staat unterbringen, wer soll denn dann noch den Boden bestellen?«

»Mein Gott, wer wohl? Die Bauern, Junge!«

»Aber du brauchst jemanden, der dir im Laden hilft. Wir sind alt geworden.«

Hanafi winkelte den Arm an, so dass sein Bizeps sich unter dem Gilbâb abzeichnete. »Du bist alt geworden, mein Lieber! Ich bin noch gut in Form.«

In dem Moment klopfte es an der Tür. Es war Jûssuf Bachûm, dessen fröhliches Gesicht so rund war, als wäre es mit dem Zirkel gezogen. Hanafi brauchte ihn nur mit Herr Unterhosenverkäufer anzureden, schon kicherte er los.

Jûssuf zog sich die Lederpantoffeln aus und zwängte seinen Hintern, zu dem Süssspeisen und Butterschmalz ihren grosszügigen Beitrag geleistet hatten, zwischen zwei Kissen. »Ihr habt schon ohne mich angefangen, ihr Halunken!«

Lieto pikste ihn mit dem Pfeifenrohr. »Hätte die Dame etwa auf dich warten sollen?«

Das auf Petersilie gebettete und mit Tahina angerichtete Ziegenfleisch wurde gebracht, und jeder bekam eine Flasche Bier. Nach der Mahlzeit machte wieder die Wasserpfeife die Runde. Die blaue Wolke über ihnen wurde so dicht, dass man meinte, gleich würde ein Blitz daraus niederfahren. Indessen sang Umm Kulthûm: »Ich gehorche deiner Liebe, mein Herz … vergesse deinetwegen alles … und schmecke das Bittre in meiner Liebe … im Kelch deiner Abweisung, deines Verlassens.«

»Habt ihr heute die Zeitungen gelesen?«, fragte Jûssuf.

Betroffen klatschte Hanafi in die Hände. »Nagîb! Grosser Gott, sein Bild ist heute von selbst von der Wand gefallen!«

Lieto blies den Rauch in die Luft. »Ein böses Omen.«

»Gott, dieser Mann verdient nicht … aber er kommt wieder hoch. Mit Gottes Hilfe kommt er wieder hoch«, sagte Jûssuf und zog einen Ausschnitt aus der Zeitung al-Ahrâm aus der Tasche seines Gilbâbs. »Hört zu … hm, hm, hm … also: ›Nagîb des Amtes enthoben. Muhammad Nagîb stand seit April in Verbindung zu den Muslimbrüdern. Das Amt des Staatspräsidenten bleibt vakant. Sämtliche Befugnisse übernimmt bis auf weiteres der Revolutionäre Kommandorat unter dem Vorsitz von Oberstleutnant Gamâl Abdel Nasser.‹«

»Gütiger, steh uns bei!«, antwortete Hanafi gedankenverloren.

Lieto befeuchtete seine Fingerspitzen und legte die Kohlestückchen neu zurecht. »Wenn die Leute diesen Mann aus dem Spiel nehmen, bedeutet das nichts Gutes.«

»Jetzt versteh ich gar nichts mehr«, erklärte Jûssuf.

Lieto beugte sich zu ihnen und flüsterte: »Die Offiziere wollen in den Schlössern bleiben. Wie kriegt man sie jetzt wieder in die Kasernen zurück?«

Jûssuf erwiderte: »Aber im März wollten sie doch den Revolutionsrat auflösen!«

»Ja«, sagte Hanafi, »und die Armee hat die Regierung gebeten, den Revolutionsrat bestehen zu lassen. Damals, als sie al-Sanhûri7 zusammengeschlagen haben.«

Lieto schnaubte erregt: »Aber die Armee ist doch die Regierung, meine Herren!«

Jûssuf tätschelte sich zufrieden den Bauch. »Aber das heisst ja nicht, der Revolutionsrat wüsste nicht, was er tut. Präsident Gamâl wird schliesslich seiner Rolle gerecht und hält den Diwan wie ein Uhrwerk am Laufen.«

»Du meinst also, ein paar Majore und ein Oberstleutnant sollen alles ganz allein regeln?«, fragte Lieto.

»Ja, das sollen sie«, meinte Hanafi. »Diese Leute haben das Land umgekrempelt. Sollten sie dann jetzt nicht auch in der Lage sein, es zu lenken?«

»Wie soll man dem Wolf beibringen, Rosinen zu fressen?«, wandte Lieto ein. »Die Soldaten sind gierig. Alle, die ihnen geholfen haben, beseitigen sie: Muslimbrüder, Kommunisten – und viele Juden sind schon nach Jerusalem geflohen.«

»Das kann er doch nicht machen, mein Lieber«, empörte sich Hanafi. »Mein Gott, Cicurel sollte er vertreiben oder Chemla oder Adès8? Du bist verrückt. Der Oberstleutnant ist doch ein vernünftiger Mann.«

»Hast du nicht Nassers Rede neulich gehört?«, fragte Lieto. »Über die jungen Kerle, die das Kino und die amerikanische Bibliothek in die Luft gejagt9 haben? Darüber kann er nicht so einfach hinweggehen. Sie werden sie alle kriegen, und bald weisen sie uns aus.«

»Um Gottes willen, wen weisen sie aus, Hagg?«, fragte Jûssuf, das Pfeifenrohr noch zwischen den Lippen.

»Genau, alter Junge, was hast du denn bloss?«, fügte Hanafi hinzu. »Du bist doch Ägypter.«

Lieto stand auf, um noch etwas Kohle zu holen. »Aber Jude. Ich schaue nur in die Zukunft. Wir bekommen hier immer mehr Hass zu spüren. Und was kommt, ist noch schlimmer. Der Oberstleutnant und seine Hintermänner wollen nicht, dass die Armee die Kontrolle verliert. Und ich sehe niemanden, der sich dem entgegenstellt.«

»Aber alle diese Leute lieben das Land«, warf Hanafi ein.

»Und Cadillacs lieben sie auch«, sagte Lieto.

»Du übertreibst«, meinte Jûssuf.

Hanafi klopfte mit der Feuerzange die Kohle in gleich grosse Stückchen. »Ja, und du machst den Revolutionsrat etwas zu schlecht.«

»Unter uns«, flüsterte Lieto ihnen zu, »ich hab einen Verwandten, der mit einer Frau aus der Familie Kattâwi verheiratet ist. Wisst ihr, was der mir gesagt hat? ›Wenn du abhauen willst, tu’s jetzt! Alle reichen Leute bringen ihr Geld ins Ausland. Selbst Abdalhakam Bergas wird seine Firma liquidieren.‹«

Jûssuf riss die Augen auf. »Donnerwetter! Der grosse Abdalhakam Bergas?«

Hanafi zog ein in Mahalla al-Kubra10 gefertigtes, etwa briefmarkengrosses Taschentüchlein hervor und spuckte hinein. »Du bist immer pessimistisch, Sohn Davids.«

»Das wird sich weisen«, sagte Lieto, und Umm Kulthûm sang: »Er sagt: o Nacht, wir sagen: o Nacht, wir alle sagen: o Nacht. Die Menschen der Liebe, o Nacht …«

Jûssuf wollte das Thema wechseln. »Lasst doch mal die Politik und die ganzen Sorgen beiseite! Habt ihr gehört, was der jungen Biba passiert ist?«

Hanafi lächelte verschmitzt. »Etwas Gutes hoffentlich.«

Jûssuf rutschte ein wenig hin und her, bis er genau in ihrer Mitte sass. »Sie war die Geliebte von Marsûk, dem Uhrmacher. Als sie zu ihm ging, liess sie ihren drei Monate alten Sohn in einem anderen Raum liegen, während sie mit Marsûk im Schlafzimmer war. Aber der Kleine hörte nicht auf zu plärren, und das störte Marsûk. ›Was hat der Junge, Mädchen?‹, fragte er. – ›Er ist erkältet und hat Husten.‹ – ›Dann gib ihm doch ein Schlückchen Cognac, damit ihm warm wird‹, riet er. Das tat sie, der Junge wurde still und gab Ruhe, und sie legte sich wieder unter den Mann.«

»Und dann?«, fragte Lieto.

Jûssuf fuhr fort: »Als sie zwischendurch mal Pause machten, ging sie nach dem Jungen schauen. Da sah sie, dass er ganz blau war. Und sie wälzte ihn hin und her.«

»Haaa?«, rief Hanafi.

Jûssuf schwieg kurz und sah beiden ins Gesicht. »›Der Junge ist tot!‹, rief Marsûk. Er war wohl betrunken und wusste nicht, was er sagte. Biba rannte nackt und am ganzen Leib schlotternd aus dem Haus und schrie aus Leibeskräften. Die gesamte Strasse bekam mit, dass Marsûk mit ihr schlief, und Gross und Klein lief hinter ihr her. Sie liess den Jungen bei Fathîja liegen, der Frau von Saad, dem Friseur, ging in ihre Wohnung, drehte das Gas auf und zündete es an.«

Hanafi schlug sich gegen die Stirn. »So ein Unglück!«

»Sie verbrannte zu Asche«, fügte Jûssuf hinzu. »Nach kurzer Zeit kam Naîm, ihr Ehemann, und hörte, was passiert war. Er nahm den Jungen und brachte ihn ins Krankenhaus. Da stellte sich raus, dass der Kleine lebte. Der Cognac hatte ihm nur auf die Brust gedrückt. Zwei Stunden, und er war wieder frisch und munter.«

Hanafi stand auf. »Und damit wolltest du uns von Politik und Sorgen ablenken? Da hast du uns aber einen Bärendienst erwiesen, du Miesepeter. Was für eine schreckliche Geschichte!«

»Gott schütze unsere Frauen!«, sagte Jûssuf.

Lieto bemühte sich, den Brandgeruch im Raum zu vertreiben. »Wie geht es denn deinem kleinen Hussain, Hanafi?«

»Gut, er ist mein ganzer Stolz. Den Jungen schicke ich mal auf die Militärakademie, weisst du. Er soll Offizier werden.«

»Gleich auf die Militärakademie?«, fragte Jûssuf.

»Wohin denn sonst? Er ist so elegant und smart. Schliesslich ist er der, der mir am ähnlichsten ist. Auf ihn werd ich mal stolz sein können. Eines Tages nennt ihr mich Hanafi, Vater von Oberstleutnant Hussain.«

Lieto klopfte ihm auf den Rücken. »Mögest du lange leben und dich an ihm erfreuen!«

Es war Viertel nach zwei geworden, als Jûssuf, wie ein Kriegsverletzter auf Hanafi gestützt, aufstand. Lachend verabschiedeten sie sich von Lieto. An einer Strassenecke trennten sie sich dann.

Beim Abschied fragte Hanafi noch: »Wann spielt eigentlich Al Ahly gegen Farûk?«

»Du sagst immer noch Farûk, Hanafi. Der heisst doch jetzt Zamalek! Sie spielen am 20., kommenden Samstag.«

»Und so Gott will, werden sie gewinnen. Mekawi und Toto werden die Sache besiegeln.«

»Träum nur weiter.«

Hanafi machte sich auf den Rückweg zu seiner Wohnung in der Nähe des Ladens. Obwohl es sehr kalt war, fror er nicht. Als ihm die frische Luft in die Brust strömte, machte sie ihn nur noch trunkener und träger. Die Mixtur aus dem Halwatopf drückte ihm mehr und mehr auf die Brust und heizte ihm dermassen ein, dass ihm der Schweiss aus allen Poren brach. An einer dunklen Mauer blieb er stehen, um Wasser zu lassen. Er hob den Gilbâb hoch und seufzte erleichtert. Plötzlich liess ein Laut zu seiner Linken ihn auffahren. Er stoppte seinen Strahl. Alle Härchen an Händen und Kopf sträubten sich ihm. Nicht weit entfernt stand ein gehörnter Ziegenbock mit langem weissem Kinnbart und leeren Augenhöhlen. Ruhig steckte Hanafi sein Ding wieder in die Unterhose und sagte: »Erscheinst du mir jetzt in Gestalt meines Grossvaters? Mach dich davon, du Satansbraten!« Um seinem zittrigen Schrei Nachdruck zu verleihen, stampfte er dabei mit dem Fuss auf. Aber der Bock bewegte sich nicht einen Millimeter. Hanafi schluckte und begann leise, aber doch hörbar, die letzten beiden Suren des Korans zu rezitieren. Der Ziegenbock starrte ihn noch einige Sekunden an, drehte sich dann einmal um sich selbst und ging gemächlich davon. Nach Luft ringend, sah Hanafi zu, wie der Schatten lautlos verschwand. Mit dem Rücken zur Wand stand er eine Weile stumm und wie erstarrt da. Dann zog er sich die Kufîja fester um den Hals und wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Er war immer bemüht, diese Wesen zu vertreiben, die ihm nach Mitternacht, unter dem Einfluss des Haschischs, regelmässig über den Weg liefen – in Gestalt von Ziegen, Schafen oder heulenden schwarzen Hunden. Er verbannte sie aus seinem Hirn und rief sich stattdessen Halâwa in Erinnerung. Ihr Duft drang ihm in die Nase und das leise Klirren ihrer Fussreife ins Ohr, ihre rosige Ferse peinigte ihn. Er schwamm im Quell ihrer Brüste, die er fest drückte. »Du quälst und verbrennst mich, du verwirrst mich und zehrst mich auf, und wenn ich klage, lässt du mich stehen, bist mir böse, wenn ich dir sage, du bist grausam zu mir …«, summte er vor sich hin, um sich die dunklen Gassen ein bisschen freundlicher zu machen, bis er endlich zu Hause ankam.

Er erklomm die sechzehn Stufen bis zur Tür und klopfte. Nach einer Minute öffnete Safîja, und all seine Phantasien zerstoben auf einen Schlag. »Warum bist du noch auf?«

»Hussain fühlt sich nicht wohl, er hat Husten«, antwortete sie mit sorgenvoller Stimme. »Was ist mit dir?«

Hanafi musste aufstossen und sagte dann: »Ich bekomme schlecht Luft, ich hab ein bisschen Druck auf der Brust. Mach mir ein Glas Minztee, und verbrenn etwas Räucherwerk!«

»Gern. Aber leg dich neben den Jungen, ich will ihm gerade einen Guavenblättertee kochen.«

Er nahm Käppchen und Kufîja ab, zog den Mantel aus und legte sich neben seinen Sohn, der wach wurde, als er die Bewegung im Bett spürte. »Hussain, was hast du denn?«

»Ich bin so müde, Papa, ich hab Husten«, antwortete er mit mattem Blick.

»Weil du nicht richtig isst, wie dein Vater das tut. Wenn du heute den Geist gesehen hättest, den ich gesehen hab – du hättest nicht gewusst, wie du ihn vertreiben sollst.«

»Du hast heute einen Geist gesehen?«

»Er erschien mir in Gestalt eines Ziegenbocks. Ich sagte: ›Im Namen Gottes!‹, und warf einen Stein nach ihm, da lief er weg. Hätte ich vorher nicht gut zu Abend gegessen, hätte ich mich gefürchtet und wär selbst weggelaufen.«

»Papa, ich hab Angst.«

»Hab keine Angst, Hussain!« – In dem Moment spürte er ein Stechen, als stiesse ihm ein Nagel durch Schulter und Brust. Er knirschte mit den Zähnen und schloss die Augen. Dann küsste er seinen Kleinen auf die Stirn und nahm ihn in die Arme.

Minuten später hörte man ihn schnarchen, heftig schnarchen, röcheln. Laut genug, um Safîja mit der Petroleumlampe in der Hand aus der Küche heranstolpern zu lassen. Sie lief geradewegs aufs Bett zu. »Hanafi … Hanafi!«

Farûk im Raum nebenan hörte den Schrei und stiess an der Tür mit seiner Mutter zusammen. »Was ist los, Mama?«

»Dein Vater antwortet nicht!«

»Papa … Papa!« Farûk zog Hussain aus dem Bett und warf sich über seinen Vater. »Los, wach auf!«

Er nahm dessen Arme und bewegte sie auf und nieder, wie er es im Erste-Hilfe-Kurs der vormilitärischen Ausbildung11 gelernt hatte. Dann schnitt er die Knöpfe der Weste ab, und sie klackerten ihnen zwischen die Füsse. Zwei Sekunden später erschienen auch Salâch und Sainab, gefolgt von Machmûd und Nawâl, schliesslich noch Faika. Mit weit aufgerissenen Augen klammerte sich Hussain an den Bettpfosten, unfähig, zu begreifen, was vor sich ging.

»Hol ein Glas Wasser, Mama! – Komm näher ran mit der Lampe, Salâch!«, rief Farûk. Er massierte seinem Vater die Brust und schaute ihm in die glanzlosen Augen. »Nein, Papa, nein!« Seine Tränen fielen Hanafi auf die Brust.

Mit einem Blick gab der ihm zu verstehen, dass er seine Bemühungen einstellen sollte. Dann richtete er seine matten Augen auf Hussain und flüsterte ihm zu: »Hab keine Angst … hab keine Angst!« Ihm versagte die Stimme. Seine Augen füllten sich mit Tränen – wenige Sekunden noch, und es war vorbei. Mit Tränen in den Augen war er gestorben …

Farûk legte sein Ohr auf die Brust seines Vaters und hörte nur noch Stille. Er schrie auf, und alle fielen ein: »Nein, Papa, nein!« Farûk fuhr hoch und rannte mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe, bis sie zersplitterte. Blut strömte ihm über die Stirn, und seine Mutter brach zusammen. Schluchzend stürzten sich die Mädchen auf sie, während die Jungen sich auf die Brust ihres Vaters warfen. Nur Hussain stand noch immer stumm und ausdruckslos da. Den Blick auf das bleiche Gesicht geheftet, verfolgte er wie versteinert das Geschehen. Schliesslich zog eine Hand ihn fort, und er tauchte in eine tiefe Umarmung.

Am kommenden Tag machte sich feierlich der Leichenzug auf den Weg. Sämtliche Bewohner des Viertels, Juden, Christen und Muslime, gingen mit. Alle beweinten Hanafi, vor allem die beiden Freunde, die seinen letzten Abend mit ihm verbracht hatten. Sie beteten für ihn in der Sajjida-Aischa-Moschee, dann begruben sie ihn in der Totenstadt des Imam al-Schâfii in einem Grabhof, den er schon kurz nach seiner Ankunft in Kairo dort erstanden hatte.

Drei Tage später kam Lieto, voller Kummer und mit achtzehn Pfund in der Tasche, die Hanafi bei ihm angespart hatte. Er sprach Safîja sein Beileid aus und klopfte Farûk auf die Schulter. »Du bist jetzt der Mann im Haus. Halt die Ohren steif!«

Dann rief er nach Hussain, der äusserst schweigsam war, fuhr ihm durch die Locken und sah ihm ins Gesicht. »Er ist wirklich das genaue Ebenbild des Seligen!« Er gab ihm zehn Piaster und sagte: »Komm doch morgen bei mir im Laden vorbei, Hussain.«

Der Junge nickte stumm.