18

Um genau zweiundzwanzig Uhr des folgenden Tages kam Taha bei der letzten Praxis an, die er in seinem Terminkalender vermerkt hatte – bei der von Doktor Sâmi. Mit seinem Lederköfferchen setzte er sich ins Wartezimmer. Darin hatte er neben Publikationen, Papieren und Werbegeschenken auch ein Fläschchen, das mit einer dünnen Schnur umwickelt war. Es trug die Aufschrift »Jasminduft – al-Sahâr, Fabrik für Parfums und Duftessenzen«. Er hatte es immer bei sich, und all seine Gedanken kreisten nur darum. Niemand allerdings wusste davon.

Taha setzte sich die Ohrhörer ein und drückte auf den Wiedergabeknopf seines MP3-Players, um sich mit ein bisschen Musik zu berieseln. Um sich die Zeit zu vertreiben, warf er ausserdem noch einen Blick in eine ausländische Zeitschrift. Diese Warterei, bis er zu dem Arzt vorgelassen wurde, war so langweilig! Nur um dann zu wiederholen, was er schon einmal gesagt hatte, und vielleicht noch ein bisschen draufzulegen: »Hebsolan, das Wirksamste … Hebsolan, die Dosis ist zwei Tabletten … Die Firma verlangt von mir, dass ich in Dukki und Muhandissîn in den kommenden sechs Monaten mehr verkaufe … denn Doktor Saîd Iskandar … Es war mir ein Vergnügen, Herr Doktor …« – immer dieselbe zerkratzte Platte, die er stets so geschickt herunternudelte. Aber die Situation war jetzt eine ganz andere als früher, denn Doktor Sâmi war für ihn inzwischen eher Freund als Kunde, vor allem nach dem Treffen bei Machrûs Bergas. Eine Viertelstunde später rief ihn die Arzthelferin mit näselnder Stimme herein: »Doktor Taha, bitte!« Er nahm die Ohrhörer heraus und ging ins Sprechzimmer.

Doktor Sâmi empfing ihn lächelnd: »Was gibt’s Neues, Taha? Setzen Sie sich!«

»Alles bestens, danke. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Und ich hab eine Überraschung für Sie.« Er zog ein weisses Couvert aus der Tasche. »Das bekommt nicht jeder von uns, glauben Sie mir! Dieser Umschlag war für Doktor Saîd Iskandar bestimmt. Aber ich hab Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Bei Gott, sagte ich mir, den darf doch nur Doktor Sâmi kriegen! Und den andern erklärte ich: ›Dieser Mann verschreibt nur noch Hebsolan.‹ Nun, das war ja das Geringste, was ich tun konnte. Der Direktor kam, ein Ausländer, und hin und her – natürlich auf Englisch. Ich sagte ihm: ›Doktor Sâmi Abdalkâdir ist einer unserer besten Kunden, Mister, was sagen Sie dazu?‹ Und er meinte: ›Go, my son, I trust your choice.‹ Bei dem hab ich nämlich einen Stein im Brett. Das hier sind Tickets für einen Flug nach Scharm al-Scheich, dazu drei Nächte im Marriott Hotel, Meeresblick. Als kleines Dankeschön für die Hebsolan-Verkäufe.«

Doktor Sâmi öffnete das Couvert und warf einen Blick hinein. »Vielen Dank, mein Lieber«, sagte er. Sein Telefon klingelte kurz. Er nahm den Hörer ab und horchte: »Ja. … Hm. … Woher kommt sie? … Oh! … Gut, lass sie rein!« Er legte auf und wandte sich an Taha: »Nehmen Sie’s mir nicht übel, ich muss mich entschuldigen. Ich habe ein eiliges Interview mit einer medizinischen Fachzeitschrift.«

Taha stand auf. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«

Doktor Sâmi brachte ihn zur Tür. »Grüssen Sie den ausländischen Direktor von mir! Und schauen Sie mal, ob Sie eine schöne Konferenz für uns finden!«

»Aber natürlich, Herr Doktor, ganz wie Sie wünschen. Und an das Hebsolan brauche ich Sie ja nicht zu erinnern.«

Während Taha diesen Satz sagte, ging die Tür auf. Er verabschiedete sich von dem Arzt mit einem warmen Händedruck, drehte sich um – und da stand sie vor ihm und sah ihn verwundert an: Sara! Er suchte nach einer Ausflucht und kratzte sich am Kopf, während sie auf ihn zukam. »Was machst du denn hier?«

»Ich arbeite«, antwortete er.

Aber der Arzt liess ihnen keine Zeit, er unterbrach ihre geflüsterte Unterhaltung: »Sie kennen sich?«

»Natürlich, Herr Doktor«, antwortete Taha. »Fräulein Sara ist meine Nachbarin.« Dann kam ihm ein Gedanke, und Sara riss die Augen auf, als ihr schwante, was er sagen wollte. Aber es gelang ihr nicht mehr, ihn davon abzuhalten, und so fügte er noch hinzu: »Sara arbeitet für die Zeitung Hoffnung der Heimat, sie ist eine grosse Journalistin, Herr Doktor.«

Als der Arzt das hörte, veränderte sich seine Miene. »Haben Sie nicht der Sekretärin gesagt, Sie hiessen Nancy und kämen von der medizinischen Fachzeitschrift Die Gesundheit, mein Fräulein? Und Sie wollten für die nächste Ausgabe einen Artikel über mich schreiben?«

Sara räusperte sich und antwortete, den Blick auf Taha gerichtet: »Tatsächlich wollte ich mit Ihnen über Ihre Erklärung zu Machrûs Bergas’ Tod sprechen.«

Ungehalten entgegnete der Arzt: »Hört ihr denn nie auf, mich an der Nase herumzuführen? Ich habe bereits gesagt, ich werde mich zu diesem Thema nicht äussern. Gehen Sie bitte!« Er nahm den Telefonhörer ab, um die Gebäudesicherheit anzurufen.

Aber Taha machte einen Schritt auf ihn zu. »Das ist nicht nötig, Herr Doktor. Fräulein Sara ist eine anständige Person, ich werde sie mit rausnehmen.«

»Warte, Taha!«, hielt Sara ihn zurück und ging auf den Schreibtisch zu. »Haben Sie nicht erklärt, dass bei diesem Sterbefall manches im Dunkeln liegt?«

»Ja, aber das habe ich zurückgenommen. Meine Informationen waren nicht richtig. Bitte sehr, auf Wiedersehen.«

Sara warf dem Arzt noch einen scharfen Blick zu, dann zog Taha sie aus der Praxis.

Unterwegs schwieg sie zunächst, fuhr dann aber plötzlich auf: »Eins verstehe ich nicht: Hattest du nicht gesagt, du kennst ihn nicht?«

Ohne ihr in die Augen zu schauen, antwortete er: »Ich kannte ihn wirklich nicht. Ich hab ihn heute zum ersten Mal getroffen.«

»Das kann ja wohl nicht sein, ich hab dich doch gerade, bevor ich reinkam, mit ihm wiehern gehört.«

Nervös zündete Taha sich eine Zigarette an. »Genau das üben wir ja in der Firma: möglichst schnell eine Beziehung zu den Ärzten aufzubauen.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, was mir da durch dich entgangen ist! Ich hab nämlich rausgefunden, dass Machrûs Bergas gar nicht der einzige Fall war. Was sagst du dazu? Andere Leute sind vorher schon auf die gleiche Art umgekommen.«

Tahas Herz schlug schneller. »Wer genau?«

»Ich hab beispielsweise durch Zufall entdeckt, dass der Rechtsanwalt Mûssa Atîja an genau den gleichen Symptomen gestorben ist. Und nicht nur er. Sulaimân vom Lord auch. Und jetzt auch noch Machrûs Bergas.«

»Guckst du vielleicht zu viel Detektiv Korombo36

»Ich bin doch nicht schwachsinnig. Sieh dir das mal an!« Sie öffnete ihre Handtasche, nahm ein paar Papiere heraus und drückte sie ihm in die Hand. Sie enthielten eine Reihe von Berichten mit den Todesursachen der darin erwähnten Personen. Taha las, und Sara fuhr fort: »Ich bin durch Zufall darauf gekommen, als ich von jemandem gehört hab, dass Mûssa Atîja keines natürlichen Todes gestorben ist. Da hab ich mich mit seiner Frau getroffen. Aber die wollte nichts dazu sagen und beschuldigte Murtada Mansûr und Farîd al-Dîb und all die andern grossen Anwälte. Als ich die Namen hörte, sagte ich mir, offen gestanden, nur: Das wird der Knüller der Saison, ein Mord unter den Staranwälten! Ich machte weiter und erhielt dann von einem Bekannten die Berichte. Die Formulierung ›Fremdkörper, die entlang der gesamten Speiseröhre eingedrungen sind‹ fiel mir sofort auf. Gleichzeitig erkundigte ich mich nach Mûssas Beziehung zu den Leuten, die seine Frau beschuldigte. Und es stellte sich heraus, dass die drei die dicksten Freunde gewesen waren! Ich kam wieder zu mir und sagte mir: Das Thema ist gestorben. Aber dann bekam ich einen Anruf von derselben Quelle, und die sagte, es gebe noch einen Fall mit den gleichen Symptomen. Diesmal war es Sulaimân, der Lord. Dieselbe Diagnose – aber jetzt gab es mehr Einzelheiten. Es stellte sich heraus, dass es sich bei den Fremdkörpern um Diamantenstaub handelte. Wieder fing ich an zu zweifeln. Konnte das ein Zufall sein? Dann hörte ich von Doktor Sâmis Erklärung über Bergas. Er war nämlich hier in Ägypten sein behandelnder Arzt gewesen.«

Winzige Schweissperlen traten Taha auf die Stirn. »Hinter jedem Todesfall siehst du ein Geheimnis. Du musst verrückt geworden sein.«

»Versteh doch, mein Lieber, diese Symptome sind nicht normal! Ausserdem gibt es Gemeinsamkeiten: Alle Todesfälle ereigneten sich in derselben Gegend. Alle Opfer waren etwa drei Monate lang krank. Alle drei starben einen sehr schmerzhaften Tod. Zwei von ihnen starben an der gleichen Substanz in der Speiseröhre – und ich bin mir sicher, dass es bei dem dritten nicht anders ist. Es gibt ein Muster.«

»Alle drei waren Schurken!«

»Genau. Und das deutet darauf hin, dass ein und dieselbe Person hinter ihrem Tod steckt.«

»Ich denke, das sind nur Zufälle.«

»Ich glaube nicht an Zufälle. Der Tod deines Vaters war kein …«

Taha warf seine Zigarette weg, wandte sich zu ihr und unterbrach sie: »Mein Vater geht dich nichts an!«

Sara wurde wütend. »Was? Soll ich etwa den Mund halten, genau wie du damals den Mund gehalten hast, als die Ermittlungen eingestellt wurden?«

Taha wurde laut. »Du bist ganz schön provokant. Was hätte ich denn tun sollen?«

»Aufhören, so negativ zu sein! Nach der Wahrheit suchen!«

»Ich und negativ? Du willst mich ja nur für deine Zwecke einspannen, weil du Journalistin bist. Bei dir geht es immer nur um Recherchen, Recherchen, Recherchen. Nie im Leben wirst du was verstehen! Und weisst du auch, warum? Weil du denkst, alle Leute warten nur darauf, dass du ihnen Ratschläge erteilst. Komm doch erst mal wieder zu dir!«

»Warum? Meinst du, ich bin betrunken?«

»Nein, das verhüte Gott. Ich bin der, der betrunken ist.«

Damit war das Gespräch zu Ende. Sie öffnete die Autotür, und weg war sie.

Taha kehrte nach Hause zurück und versuchte das Hämmern in seinem Kopf, das sich schon wieder bemerkbar machte, zum Schweigen zu bringen. Er klopfte an die Wohnungstür, aber niemand reagierte darauf. Jassir war offenbar schon ins Café gegangen, um sich mit ein paar Dampfsteinen in der Wasserpfeife das Hirn durchzupusten. Taha steckte den Schlüssel ins Schloss. Drinnen stellte er sein Köfferchen auf den Boden und legte ab. Er hatte Durst, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Dabei hob er den Arm und schnupperte an seiner Achselhöhle. Nach einem letzten Schluck zog er sich das Unterhemd aus. Auf dem Weg ins Bad hörte er die Türklingel. Er schaute durch den Spion, konnte aber nichts sehen. Es war, als blickte er in eine Höhle. Auch als er auf den Lichtschalter drückte, änderte sich nichts. »Diese verdammten chinesischen Glühbirnen!«, seufzte er leise.

Noch einmal klopfte es, dann hörte er eine undeutliche Stimme, die er nicht erkannte. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, ohne jedoch die Kette zu lösen. Im selben Moment fuhr eine scharfe Zange dazwischen und kniff die Kette glattweg durch. Danach war alles nur noch wie in einem verschwommenen Traum. Als Taha versuchte, die Tür wieder zu schliessen, erhielt er einen so heftigen Schlag aus der Dunkelheit, dass er mehrere Meter rückwärts flog. Er stiess gegen die Schreibtischkante und fiel auf den Rücken. Als er die Augen wieder öffnete, konnte er keine Details ausmachen, denn seine Brille war fortgeschleudert worden. Alles um ihn herum wackelte, wie die Kronleuchter bei einem Erdbeben. Nur ein riesiger Schatten kam auf ihn zu, packte ihn am Kragen und versetzte ihm einen solchen Fausthieb, dass ihm sofort jegliche Lust auf Widerstand verging. Er fiel zu Boden, und die Person packte seine Füsse und zog ihn hinter sich her. Sie schleifte ihn bis in den dritten Raum und warf ihn dort auf den nackten Boden. Taha versuchte, zu begreifen, was vor sich ging, aber schon erhielt er einen weiteren Hieb, so dass er gegen die Wand schlug und endgültig zusammensackte.

*

»Taha! Taha! Taha!«

Eine Stimme, die aus der Hölle kam. Ein salziger Geschmack im Mund. Ein auf ihn gerichteter, blendend heller Lichtstrahl, der ihn zwang, die Augen zu schliessen. Und dann noch dieser Kopfschmerz, so stark, dass ihm fast der Schädel platzte! Als er zum zweiten Mal die Augen öffnete, konnte er ein paar Einzelheiten erkennen. Vor ihm stand jemand. Er brauchte noch ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er sich kopfüber im Stuhl seines Vaters befand. Eine weitere Person kam herein und schüttete ihm aus dem Eimer, der unter dem Waschbecken gestanden hatte, einen Schwall fauliges Wasser ins Gesicht.

»Setz ihn richtig hin!«

Der mit dem Eimer befolgte den Befehl wortlos. Er kam auf Taha zu und drehte ihn um wie ein Hühnchen. »Du H…sohn!«

Diesem hässlichen Schimpfwort, anhand dessen er Service’ Stimme identifizieren konnte, folgte ein Fausthieb, der Tahas Hoden aufschreien liess. Taha selbst gab dabei keinerlei Laut von sich, weil sein Mund mit Klebeband verschlossen war. Ganz zu schweigen von dem dünnen Draht, der seine Hände an den Armlehnen fixierte.

»Scheisse, sei ruhig, damit er reden kann!«

Taha erkannte Walîd Sultâns Stimme. Allmählich wurde sein Blick klarer. Vor ihm hatte sich Service aufgebaut wie eine Mauer kurz vor dem Einsturz. Sein ausgezehrtes Gesicht wirkte äusserst bedrohlich. Keuchend vor Wut stand er da, in der Hand die Zange, die eben noch die Türkette durchgekniffen hatte. Mit grosser Kraft hebelte er sie auf und zu, kam näher und fuhr Taha mit ihr zwischen die Beine. Der schrak zurück.

»Was denn? Ist das Täubchen weggeflogen oder was?« Er nahm Tahas Zeigefinger zwischen die rostigen Backen der Zange und hob dabei seine eigene linke Hand, um ihm die beiden fehlenden Fingerglieder zu zeigen. Währenddessen stand Walîd Sultân am Fenster, zündete sich eine Zigarette an und blickte auf die Strasse hinunter. »Du weisst noch nicht, wie das ist, wenn man dir einen Finger abkneift«, sagte Service lachend und wollte gerade die beiden Metallbacken zusammenpressen, als Walîd schrie: »Serviiiiiice!«

Der Schrei war laut genug, um Service daran zu hindern, den Finger abzutrennen. Der kalte Schweiss lief Taha über die Stirn.

»Geh uns zwei Gläser Tee machen!«

»Tee? Aber Pascha!«

»Wie viel Zucker für Sie, Taha?« Der antwortete natürlich nicht, und so übernahm Walîd die Antwort: »Zwei Löffel, denk ich mal. Oder gib ihm drei, Service!«

Grollend zog dieser sich zurück. Walîd nahm sich einen Stuhl, um Taha gegenüber Platz zu nehmen. In der Hand hielt er Hussains Heft. Kaum war Tahas Blick darauf gefallen, wich ihm auch schon alles noch verbliebene Blut aus dem Gesicht. Walîd blies den Rauch seiner Zigarette an die Decke, dann streckte er die Hand nach dem Klebeband aus und riss es so schnell ab, dass Taha vor Schmerz aufstöhnte.

»Dieser dumme Service! Er wollte Sie heute Nacht umbringen. Grosser Gott, wenn ich nicht hier gewesen wäre, wer weiss, was dann passiert wär!«

»Wo ist Jassir?«

»Ihr Freund? Beten Sie, dass er jetzt nicht kommt!« Walîd kratzte sich am Kinn und blickte in das Heft. Er blätterte es durch und hielt dann plötzlich inne. »Hagg Hussain, all das hier hätte ich gar nicht von ihm gedacht. Er war ein Held, ja, wirklich! Lassen wir mal das Gesetz und das ganze dumme Zeug beiseite. Dieser Mann hat dem Land mehr gedient als irgendeiner von den Grossen … Hören Sie, hören Sie mal, was er hier schreibt: ›Sind wir denn alle blind geworden? Haben wir die Fähigkeit verloren, die Infektionsherde zu beseitigen, die eine Amputation unausweichlich machen werden? Wenn niemand sonst sich bewegt, vergesse ich mein Gebrechen. Ich werde die Rache des Schicksals an ihnen sein. Ich werde ihre schon vor Jahren abgestorbenen Wurzeln herausreissen. Die Wurzeln ihres Baums, von dem aus die Vögel ihren Kot auf uns fallen lassen. Des Giftbaums. Ich bin dann nicht mehr Teil dieser Welt. Ich klopfe an die Tore der Hölle. Ich bin Johannes der Täufer, und sollte man mir den Kopf abschneiden! Mord ist dann nur noch die Nebenwirkung einer Arznei, die das sterbende Land kuriert.‹ Sein Stil ist einfach sagenhaft! Auch diese Stelle hier: ›… verrottete Persönlichkeiten und tote Seelen. Ich sehe schon die Staubkörnchen in ihren Mündern, wenn ich mich von diesem Auswurf befreie.‹ Haben Sie gehört: ›die Staubkörnchen in ihren Mündern‹? Ist das nicht stark? Als ich zufällig den Stuhl auseinandergeklappt habe, um mich draufzusetzen, hab ich diese Überraschung darin gefunden.« Taha sah ihn konsterniert an. Er sagte kein Wort, bis Walîd fortfuhr: »Service hat mir da vielleicht eine Geschichte erzählt – die würden Sie gar nicht glauben! Dieser Junge weiss, dass es mit ihm zu Ende geht. Aber er ist noch stark. Ein richtiges Ungeheuer, der Hundesohn! Übrigens weiss er, was Sie getan haben. Der hat sein ganzes Leben auf der Strasse zugebracht. Und Sie sind keiner, der ihn reinlegen könnte.«

»Er hat meinen Vater umgebracht.«

»Sie haben recht, Auge um Auge. So heisst es im Gesetz unseres Herrn. Niemand kann Ihnen einen Vorwurf machen.«

»Und all das, nur weil ich Anzeige erstattet habe, als er in der Apotheke randaliert hat.«

Walîd schüttelte den Kopf. »I wo, da geht es um viel grössere Dinge, Taha.«

Im selben Moment erschien Service mit zwei Teegläsern auf einem Tablett in der Tür. In der anderen Hand hielt er eine schwarze Plastiktüte. »Tee!«

Walîd trank einen Schluck, dann nahm er Tahas Glas und drückte es ihm in seine an die Armlehne gefesselte Hand. »Trinken Sie, Taha!«

Ein paar Schritte entfernt stand Service und durchbohrte ihn mit seinen Blicken. »Trink, du Sohn einer …! Dir werd ich’s zeigen, dass dir Hören und Sehen vergeht! Du willst mich vergiften? Mich umbringen? Mich, Service? Damit du’s weisst: Ich lass mich operieren, und dann geht’s mir wieder bombig. Aber den Tag erlebst du nicht mehr, du H…sohn. Dann bist du schon bei deinem Vater, der neugierigen Nase, die sich selbst ins Unglück gebracht hat.«

»Service, hör auf!«, rief Walîd ihm zu.

Taha konnte nicht sprechen. Das Ganze schien ihm wie ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gab. Sein Blutdruck sackte ab, er verlor die Kontrolle über die Nerven seiner Hand, begann zu zittern, und das Glas fiel herunter.

»Und auf deine Seele kannst du dann scheissen«, setzte Service noch eins drauf.

Walîd ging langsam zur Tür. Die Hände in den Taschen, sah er Taha noch einmal an. »Service ist so böse, dass ich gar nicht mehr weiss, was ich tun soll. Soll ich dich losbinden, oder soll ich zulassen, dass er sich an dir rächt?«, fragte er. Dann meinte er lächelnd zu Service: »Das ist das erste Mal, dass ich sehe, wie jemand sich im Voraus für seinen eigenen Tod rächt.«

Service kam näher und hielt die schwarze Tüte auf. »So Gott will, Pascha, gibt es gar keinen Tod oder so was. Warten Sie bitte mal zwei Minuten draussen, Exzellenz!«

Walîd antwortete nicht und ging hinaus.

»Diesmal nehm ich ’ne Tüte«, sagte Service und hielt sie Taha vors Gesicht. »Weil dein Vater letztes Mal so ’ne Sauerei gemacht hat. Grüss ihn von mir!«

Taha lief der Schweiss von der Stirn und mischte sich mit der Blutspur, die von seinen Lippen rann. Sein Gesicht wurde blass, seine Atemzüge schneller, und das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, hatte Service ihm schon die Tüte über den Kopf gestülpt und hielt die Ränder so fest zu, dass er keine Luft mehr bekam. Er hatte noch versucht, so tief wie möglich einzuatmen, so viel Luft einzuziehen, dass es für eine knappe Minute reichen würde. Aber sein Herz raste vor Angst, und die angehaltene Luft entwich zum Teil gleich wieder. Verzweifelt rang er nach Atem. Aber nur die Tüte bewegte sich vor seinem Mund nutzlos vor und zurück. Er verkrampfte sich und versuchte, seinen Kopf aus Service’ Griff zu lösen. Aber er sass so fest wie ein Nagel im Schraubstock. Service drückte ihm auf beiden Seiten des Halses die Schlagadern mit solcher Kraft zu, dass Taha in einen Abgrund stürzte. Ihm wurde schwarz vor Augen, seine Finger verkrampften sich mehr und mehr, seine Füsse trampelten wie verrückt auf den Boden, und seine Seele war kurz davor, aus seinem Mund zu entweichen – da war plötzlich alles vorbei. Sein Hals war wieder frei, und er spürte neben sich einen harten Aufprall. Ein paar Sekunden später wurde die Tüte von seinem Hals gelöst, er holte tief Luft und hustete so heftig, dass er sich fast erbrach. Als er seine Augen wieder öffnete, wartete eine Überraschung auf ihn: Zu seinen Füssen lag Service bewegungslos und mit weit aufgerissenen Augen auf dem Bauch. Vor dem Mund hatte er weissen Schaum. Seine rechte Hand krampfte noch einen Moment und erschlaffte dann. Neben ihm stand Walîd Sultân mit einem schwarzen Gerät in der Hand, das wie ein elektrischer Rasierapparat aussah. Lächelnd drückte er auf einen Knopf, man hörte ein scharfes elektrisches Knistern und sah einen tanzenden blauen Funken.

»Keine Angst, das ist ein Elektroschocker. Hab ich Ihnen nicht gesagt, dieser Service ist dumm? Das Ungeheuer hat doch ganz vergessen, dass ich Polizist bin. Nur weil man gegen mich ermittelt, hat er gedacht, wäre ich genauso ein Dreckskerl wie er selbst.« Walîd zog ein rotes Schweizer Messer aus der Tasche, griff nach dem Draht, mit dem Taha gefesselt war, und schnitt ihn durch.

Taha stand auf und lehnte sich an die Wand. »Ist er tot?«

Walîd ging zu Service hinüber und trat ihn mit dem Fuss, aber er bewegte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich. »So ein Rüpel! Kommen Sie Taha, setzen Sie sich!« Er selbst zog sich den Holzstuhl heran und nahm Platz. Seine Schuhe stellte er dabei neben Service’ Kopf, nachdem er ihn mit dem Absatz zur Seite geschoben hatte. Taha kam näher und setzte sich in den Stuhl seines Vaters. »Haben Sie etwa gedacht, ich würde Sie im Stich lassen?«

»Ich verstehe nicht.«

»Service hat mitten in der Nacht an meine Tür geklopft. Sie sehen ja, in welchem Zustand er ist. Ich liess ihn hereinkommen und lud ihn zu einer Zigarette ein.« Walîd zog eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete Taha eine davon an. Dann fuhr er fort: »Er erzählte mir, er werde langsam vergiftet. Die Ärzte hätten ihm gesagt, ein seltsames Pulver wär in ihn eingedrungen und hätte zu Knoten und Geschwüren geführt. Und dass es für ihn sehr wenig Hoffnung gebe. Als er fragte, was für ein Pulver, sagten sie ihm: ›Wir haben eine Kultur angelegt und es analysiert. Es hat sich herausgestellt, dass es Diamantenstaub ist.‹ Diamanten? Wo hatte ich diese Geschichte schon mal gehört? Genau, diese Schwuchtel, die den Wahlbezirk gewonnen hat. Die mich zu Hause festgesetzt hat. Der hatte mir gesagt, dass sein Vater aus demselben Grund gestorben ist. Diamantenstaub! Mein Gott! Ich fragte Service, wer seiner Meinung nach dafür verantwortlich ist. ›Taha‹, sagte er. Taha? Der aus der Apotheke? Dieser anständige, ruhige, liebenswerte Junge? Warum sollte er so was tun? ›Weil der Junge fertig ist seit der Sache mit seinem Vater und sich in den Kopf gesetzt hat, dass ich das war‹, antwortete er. Vor allem erzählte Service mir aber von der Rezeptur und dass nur Sie ihm das angetan haben konnten. Ich weiss nicht, warum, aber offen gestanden begann die Sache mich zu interessieren. Ich brachte ihn also zum Reden und gab ihm zu verstehen, wenn ich ihm helfen solle, müsse er mir alles von A bis Z erzählen.«

In dem Moment brüllte Service auf. Es hörte sich an wie das Gähnen eines Nilpferds. Walîd griff sich den Elektroschocker und versetzte ihm schnell eine Ladung hinters Ohr, die jede Auflehnung schon im Keim erstickte. Service fiel wieder in tiefen Schlummer.

Walîd stand auf und löschte das Licht im Zimmer, dann ging er zum Schreibtisch, legte das Heft darauf ab, nahm das Fernglas, hielt es sich vor die Augen und sah auf die Strasse hinunter. »Das Ganze ist überhaupt nicht so, wie Sie es sich vorstellen, Taha. Das ist ein viel grösseres Ding als nur ein Streit zwischen Ihnen und diesem Nichtsnutz.« Taha wusste nicht, was er sagen sollte, und Walîd fuhr fort: »Deshalb war ich auch einverstanden, mit hierherzukommen. Erstens wollte der Typ Ihnen Böses, und Sie sind ein anständiger Kerl. Und zweitens wollte ich hinter die Sache mit Ihrem Vater kommen – und die Sache mit dem Diamantenstaub. Als ich dann das Heft fand, war mir alles klar. Das Geheimnis Ihres Vaters ist zu gross, als dass Sie es allein bewahren könnten. Oder denken Sie da anders?«

»Ich sehe, dass Ihre Beziehung zu Service anders ist, als ich dachte.«

»Natürlich. Wissen Sie, wer dieser Service ist? Er ist die wichtigste Person in diesem Land. Kennen Sie einen Klempner? Service ist genau wie ein Klempner. Können Sie sich vorstellen, dass jemand ohne einen Klempner leben könnte? Ich selbst brauche ihn ständig bei meiner Arbeit. Es muss eine Verbindung zwischen der Welt oben und der Welt unten geben. Jemanden, der die Abflüsse reinigt, die man mit der Hand nicht erreichen kann. Der die Löcher in den Kanälen schliesst. Der für einen nach etwas sucht, das man verloren hat. Der an die Kakerlaken herankommt, die einen stören. Solange man etwas von ihm will, erträgt man auch seinen Geruch, den Ekel vor ihm, seinen Tee, seine Zigaretten und dass er einem die Seife aus dem Bad klaut. Aber wissen Sie, ab wann das nicht mehr gutgeht? Wenn man von diesem Klempner verlangt, dass er einem die Wohnung einrichtet. Stellen Sie sich vor: ein Klempner als Innenarchitekt! Darin liegt der Fehler: dass man ihn mit etwas betraut, das nicht zu ihm passt.« Walîd zeigte zum Fenster. »Ihr Vater sass seit vielen Monaten immer an diesem Platz. Er amüsierte sich. Daran war nichts Schlimmes, solange das Licht ausgeschaltet war. Bis dann einmal das Licht im Zimmer brannte und ihn jemand entdeckt hat. Er wurde genauso beobachtet, wie er selbst die andern beobachtet hat. Denn wenn man aus dem Fenster schauen kann, kann man durch ebendieses auch selbst gesehen werden.«

Als Taha einfiel, wer das Licht damals angeknipst hatte, wurde ihm beklommen zumute. »Ich selbst hab es angeschaltet«, stöhnte er leise.

»Es ist nicht Ihre Schuld, dass er in der Villa etwas gesehen hat, was er nicht hätte sehen sollen. Etwas, weswegen Service den Auftrag erhielt, Ihren Vater zum Schweigen zu bringen. Und das tat er. Service kam nicht Ihretwegen, er kam wegen Ihres Vaters. Dass Sie auch anwesend waren, war reiner Zufall.«

Taha schluckte. »Und warum hat er Ihnen all das erzählt?«

»Service hat es mir erzählt, weil alle ihn betrogen hatten. Weil er verzweifelt war. Nur weil er krank war und alle wussten, dass er sterben würde, verzichteten sie auf seine Dienste. Und wenn der Klempner nicht zu seinem Recht kommt, verstopft er einem eben die Rohre, bevor er nach Hause geht, damit man ihn doch noch mal benötigt.«

»Und Sie haben beschlossen, ihm zu helfen?«

»Natürlich. Service wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er wollte mir sein Geheimnis anvertrauen und von mir dabei unterstützt werden, sich an Ihnen zu rächen.«

»Und was interessiert Sie an seinem Geheimnis?«

»Gute Frage. Es war Hâni Bergas, der Service zu Ihrem Vater geschickt hat. Derselbe, der mich aus dem Dienst hat entfernen lassen. Service und ich hatten ein gemeinsames Interesse, verstehen Sie?«

»Das heisst, Hâni Bergas …«

»… forderte den Kopf Ihres Vaters«, unterbrach Walîd ihn. »Er war offenbar in der Villa, als das Licht angeschaltet wurde. Er sah Ihren Vater und wusste, dass der ihn beobachtet hatte.«

»Und was war in der Villa los?«

»Das erfahren wir nach der Werbepause«, sagte Walîd und beugte sich über Service. Er fühlte ihm den Puls am Hals und meinte: »Mehr weiss dieser Esel selbst nicht.« Dann zog er eine leere Spritze aus der Tasche. »Natürlich müssen offiziell andere das Urteil über ihn fällen. Aber erlauben Sie mir, dass ich diesmal Sie dazu einlade!« Walîd nahm die Spritze aus der Zellophanhülle, steckte die Nadel hinein und zog an dem Kolben, bis die Spritze mit zehn Kubikzentimeter Luft gefüllt war. Dann zog er Service’ Kopf zu sich heran, dieser begann zu stöhnen und zu röcheln. Walîd stach ihm die Spritze in eine hervortretende Vene und drückte die gesamte Luft hinein. Taha sah erschrocken zu und wich so weit zurück, dass er schliesslich mit dem Rücken gegen die Wand stiess. Walîd wiederholte den Vorgang, dann legte er Service ein paar Minuten – lange genug, damit sich ein mächtiger Thrombus bilden konnte – die Hand in den Nacken. Als der Blutkreislauf zusammenbrach, verkrampften sich Service’ Finger und wurden von einem Nervenzittern geschüttelt. Er erstickte, und sein Herz, das seit dem Augenblick seiner Geburt unaufhörlich geschlagen hatte, blieb stehen. In aller Ruhe stand Walîd auf. Er zog die Spritze aus der Vene, wickelte sie in ein Taschentuch und steckte sie ein.

»Was ist, Herr Doktor, haben Sie damals an der Universität nicht auch schon Tote gesehen?«

»Ist er tot?«

»Ägypten hat zurzeit achtzig Millionen Einwohner. Ich glaube nicht, dass einer davon Service vermisst.« Walîd kam näher, und Taha drückte sich fest an die Wand. »Sie sind überrascht? Ist es nicht genau das, was Sie wollten? Nicht das, was Ihr Vater gewollt hatte?«

Aus Tahas Nase floss ein dünner Faden Blut. Seit dem Überfall war dies bei ihm chronisch geworden. Die feinen Kapillaren platzten bei jeder Art von Stress.

Walîd zog ein Taschentuch heraus und wischte Taha die Nase ab. »Wir können uns nicht unterhalten, wenn Sie in diesem Zustand sind.«

»Worüber sollen wir uns denn unterhalten?«

Walîd kratzte sich an der Nase. »Nun, wir haben eine Menge zu tun. Sie müssen ruhig bleiben!«

»Ich soll ruhig sein?«

»Ich habe Ihnen einen Dienst erwiesen«, unterbrach Walîd ihn. »Sie könnten jetzt an seiner Stelle sein. Ich rufe Sie morgen wegen eines Treffens an.« Dann nahm er sich Hussains Heft vom Schreibtisch. »Das behalte ich noch ein bisschen.« Er steckte es ein und wischte das Teeglas und ein paar Stellen ab, die er berührt hatte. Anschliessend zog er sein Handy heraus, tippte ein paar Sekunden darauf herum, hielt es in Tahas Richtung, der wie versteinert neben Service’ Leiche stand, und machte ein Foto. »Warum lächeln Sie nicht?«, fragte er schmunzelnd.

»Wollen Sie mich etwa mit ihm allein lassen?«

»Sind Sie denn noch ein Kind? Sie sind doch Doktor, haben Sie da nicht gelernt, Leichen zu sezieren? Vierteilen Sie ihn, und warten Sie morgen auf meinen Anruf!«

Erregt rannte Taha zu ihm und hielt ihn an den Kleidern fest. Aber Walîd wandte sich um und verdrehte ihm dabei so heftig das Handgelenk, dass er aufstöhnte.

»Wollen wir jetzt weich werden und zu sabbern anfangen? Dann bedenken Sie eines: Ich hab Sie in der Hand. Ich hab die Papiere Ihres Vaters, und Ihr Foto ist auf meinem Handy. Kommen Sie zur Vernunft, und denken Sie bloss nicht daran, das anzuzeigen! Die Sache ist gegessen.« Er versetzte Taha einen so heftigen Stoss, dass der neben die Zimmertür fiel. »Morgen sind wir verabredet. Und überlegen Sie es sich gut: Wenn Sie abhauen sollten, finde ich Sie!«

Walîd steckte seinen Kopf vorsichtig durch die Tür, um sich zu vergewissern, dass der Flur leer war, dann ging er in aller Ruhe hinaus.

Taha blieb fünf Minuten auf dem Boden liegen und versuchte, zu begreifen, was passiert war. Er suchte nach seiner Brille, bis er sie endlich in einer entfernten Ecke fand, und nahm zwei von seinen Pillen, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen. Er hatte nicht die Kraft, ins Zimmer zu gehen, und so setzte er sich für eine Weile, die ihm sehr lang vorkam, an den klapprigen Esstisch, bis er den Schlüssel im Türschloss hörte.