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Unterwegs versuchte Taha, seinem Vater den Zweck des Besuchs zu entlocken. Aber er erhielt nur unbefriedigende Antworten: »Ich hab wegen deines Cousins mit ihm gesprochen, damit er ihn für eine Stelle empfiehlt.«

»Aber Muatas ist ja noch gar nicht mit der Uni fertig, Papa.«

Hussain wechselte das Thema: »Fahr mich doch ein bisschen herum! Ich möchte frische Luft schnappen.«

Taha sah auf die Uhr und nickte. Er ging mit seinem Vater zum Dukkiplatz, dann zur Galâabrücke, wo sie gegenüber dem Ruderclub stehen blieben.

Einige Minuten vergingen in Schweigen, bis ein Boot mit einem jungen Sportler an ihnen vorbei zur Brücke des 6. Oktober fuhr. Es sah anstrengend aus, wie er versuchte, gegen die Strömung anzurudern.

»Weisst du, ich hatte mal einen Freund namens Sainhum«, begann Hussain. »Er war Trainer im Griechischen Ruderclub. Du kennst doch die Stelle im Film Tage und Nächte, wo Abdalhalîm Hâfis22 das Lied Ich bin für immer dein singt und dann in den Nil fällt. In Wirklichkeit ist da aber Sainhum gefallen! Sie haben ihn damals ausgesucht, weil er genauso schmächtig war. Und ganz Ägypten dachte, Abdalhalîm wäre selbst in den Nil gestürzt. Sainhum bekam fünfzig Piaster dafür. Ihm zuliebe bin ich siebenmal in den Film gegangen. Er hatte mich sehr gern. Er lud uns dann immer zu Sandwiches und einem kühlen Drink ein. Jahrelang blieb er in dem Ruderclub, bis er die Nummer eins war. Er hat jede Menge Meisterschaften und Medaillen für das Land gewonnen.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Er ist tot. Ein junger Kerl hat einen Autobus rechts überholt und ihn angefahren, als er gerade aus dem Club kam.«

»Mein Gott!«

»Das war 1987. Der Junge fuhr ohne Führerschein. Er wollte abhauen, aber ein Polizist hat ihn festgehalten.«

»Hat man ihn eingesperrt?«, fragte Taha.

»Für vierundzwanzig Stunden. Dann kam er auf Kaution wieder frei. Und er zahlte eine Strafe von vierhundertzwanzig Pfund für Fahren ohne Führerschein.«

»Wie schrecklich!«

»Sainhums Kinder waren noch klein. Wer hätte denn vor Gericht gehen sollen, um recht zu bekommen? Dazu braucht man ein zweites Leben, und ein sichereres! Der Vater des Jungen hat ihnen dreitausend Pfund hingeworfen. Weisst du, wie viel das ist, dreitausend Pfund?«

»Dafür kriegt man heute nicht mal ein Nokia N97.«

»Ich hab mir die Adresse von dem Jungen besorgt, der ihn angefahren hatte, und bin hingegangen, um mit seinem Vater zu sprechen«, fuhr Hussain fort. »Ich sagte ihm: Diese Leute sind arm, sie zählen auf Sie. Die dreitausend sind doch ein Witz. Aber er antwortete mir so was wie, ich könne genauso gut versuchen, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Voller Wut ging ich wieder. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte, ich lief rum wie ein Verrückter, Taha. Keine Ahnung, was mich dann dazu gebracht hat, in einem Ersatzteilladen die Flasche Bremsflüssigkeit zu kaufen. Der Automechaniker hatte mir mal gesagt, dass sie den Lack angreift. Die Hälfte davon spritzte ich dem Mann auf seinen Wagen, der vor dem Haus parkte – einen Mercedes.«

»Gut gemacht! Das hatte er wirklich verdient. Aber Sainhums Familie hatte davon auch nichts.«

»Zwei Tage später schickte der Vater des Jungen einen Scheck über fünfzehntausend Pfund.«

»Wow! Der hatte es aber mit der Angst gekriegt.«

»Es gibt ein Sprichwort, das besagt: Den Sklaven schlägt man mit dem Stock, für den Freien genügt ein Wink. – ›Den Sklaven‹, heisst es, nicht ›den Armen‹. Ein Sklave ist der, der den Wink nicht gleich beim ersten Mal versteht. Hauptsache war, dass die Botschaft ankam! Und noch wichtiger, dass die Leute ihr Geld gekriegt haben. Manchmal müssen wir kleine Fehler begehen, um damit grössere zu korrigieren.«

»Nicht alle Menschen können es so machen wie du«, sagte Taha, »und das Gesetz auch nicht.«

»Das Gesetz schützt den Schwachen nicht«, unterbrach ihn Hussain. »Wer es geschrieben hat, steht darüber, sehr weit darüber. Er schreibt es aus seinem Blickwinkel heraus. Wäre Sainhum ein Showgirl gewesen, hätte es einen Riesenwirbel gegeben. Aber es gibt ja in diesem hochgeschätzten Land gar kein Showgirl, das zu Fuss über die Strasse geht, mein lieber Taha.«

»Apropos Showgirl, mein Guter, hattest du eigentlich gar keine Abenteuer? Keine hübschen Mädchen in der guten alten Zeit?«

Ein paar Sekunden versank Hussain in Gedanken, dann sprach er weiter: »Es ist seeehr lange her, da hatte ich mal ein Mädchen namens Tûna.«

»Tûna? War sie die Einzige?«

»Ich war ein flotter Bursche, und sie war meine erste Liebe. Sie war eine Jüdin aus dem Viertel deines Grossvaters, Gott hab ihn selig.«

»Machst du Witze? Eine richtig jüdische Jüdin?«

»Bis zum Krieg 1956, danach hat sich alles geändert.«

»Wie sah sie aus?«

»Schön. Ein hübsches Pferdchen.«

»Wie ein Flusspferd?«

»Du Quatschkopf! Das Pferd ist das schönste Geschöpf unseres Herrn. Alles an ihr war wie bei einem Pferd: ihr Hals, ihre Taille, ihr Haar … Siehst du das Schiff da?« Unter der Brücke fuhr ein mit roten Lampen erleuchtetes Boot hindurch. »Siehst du den roten Lichtschein auf dem Nil? Genau diese Farbe hatte ihr Haar.«

Taha zwinkerte ihm zu. »Ich wünschte, ich wäre bei euch gewesen. Du bist mir ja vielleicht einer! Hast du was angestellt?«

»Ich war ja noch jung. Anfang 57 ist sie nach Frankreich emigriert. Und danach, als ihr Vater gestorben war, nach Israel.«

»Also mittlerweile ein altes Mütterchen in einer israelischen Siedlung. Aber was macht das schon? Ich werde dich durch einen Tunnel nach Gasa schmuggeln.«

»Und 1967 ist sie noch mal ins Viertel zurückgekommen.«

»Wow, im Jahr des Sechstagekriegs! Das nenn ich Todesmut!«

»Sie kam nicht auf dem Landweg her«, erklärte Hussain, »sie kam als Pilotin. Als sie nach Israel gegangen war, war sie nämlich in die Luftwaffe eingetreten. Und sie flog Angriffe auf Kairo.«

»So ein Luder! Und woher weisst du das?«

»Nach 78 kamen Delegationen aus Israel das Viertel besuchen. Sie hatten noch eine alte Synagoge und ein paar Bekannte da. Damals habe ich sie getroffen, sie und den Chawâga Nassîm vom Café Groppi, der früher über uns gewohnt hat. Sie hatte sich zu mir durchgefragt. Drei Stunden hab ich mit ihr zusammengesessen, bevor sie gegangen ist. Danach hab ich nie mehr von ihr gehört.«

»Warum hast du sie nicht zum Bleiben gedrängt? Hättest du nicht mit ihr das Blut unserer Familie ein bisschen auffrischen können?«

»Möglicherweise war ich der Grund dafür, dass sie weggegangen ist. Aber das ist ein anderes Thema, für das allein man schon einen ganzen Tag brauchte.«

Sie waren vor dem Operneingang am Saad-Saghlûl-Platz angekommen. Taha wandte sich nach links in den Park und schob seinen Vater zum Nil hinunter, zu den aufdringlichen Pepsi-Verkäufern und engumschlungenen Liebespaaren. Der Fluss empfing sie mit einer frischen Brise und seinem noch immer intensiven Geruch.

»Du hast vielleicht Dinge erlebt, mein Guter! Einen Weltkrieg, Nabolsy-Shahin-Seife, die roten Millimmünzen, König Farûk, die Revolution Gamâl Abdel Nassers und seine grossen Taten …«

»… und Muhammad Nagîb.«

»Und Muhammad Nagîb.«

»Ihn vergesst ihr immer, weil man seinen Namen aus den Lehrplänen gestrichen hat«, sagte Hussain. »Und selbst nach seinem Tod hat man nicht daran gedacht, ihn wieder draufzusetzen. Deine Generation weiss nichts über ihn. Es war ein Verbrechen, aber alle, die daran beteiligt waren, sind jetzt tot.«

»Sicher gab es für all das einen Grund.«

»Es ist eben ein Problem, wenn man zur falschen Zeit geboren ist. Nagîb wollte, dass die Offiziere in die Armee zurückkehrten, es sollte ein Parlament und Parteien geben. Die machten sich ja auch noch über die Monarchie lustig! Es gibt Leute, Taha, bei denen kommt man mit Ehrenhaftigkeit nicht weiter. Er hätte durchtriebener sein müssen, um zu überleben. Ganz langsam haben sie ihn umgebracht. Neunundzwanzig Jahre Einzelhaft, nur mit Katzen und Hunden als Gesellschaft, der Rest, bis zum Tod, im Krankenhaus. Nelson Mandela sass siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis, und als er rauskam, wurde er Staatspräsident!«

»Was hättest du an seiner Stelle gemacht?«

»Ich hätte zugesehen, dass ich ihnen zuvorkomme.«

»Hättest du daran gedacht zu fliehen, wenn sie dich eingesperrt hätten?«, fragte Taha.

»Das Exil ist eine Quelle der Kraft, genau wie der Tod manchmal die Geburt eines Helden ist. Irgendeinen Preis muss man immer zahlen. Die Revolution hat tausend Paschas beseitigt und Millionen neue an ihre Stelle gesetzt. Die und ihre Kinder machen uns jetzt das Leben schwer. Um sie scharen sich noch jede Menge Lügner. Und die, die Geld haben, sind ihre Hühner – Hühner, die goldene Eier legen. Die protegieren sie und bereiten ihnen das Nest, um ihnen das Eierlegen leichter zu machen. Du siehst doch, wie sie, ohne mit der Wimper zu zucken, miteinander mauscheln. Und einer wie Bergas, der seit den Achtzigern seine Hände noch in jeder schmutzigen Sache hatte – schau dir mal an, wie weit der damit gekommen ist! Ich ziehe den Hut vor jedem, der es schafft, ihn aufzuhalten.« Hussains Stimme war allmählich lauter geworden, und man drehte sich schon nach ihnen um. »Er hat Rückendeckung, man schützt ihn. Machrûs, ›der Geschützte‹ – nomen est omen! Ja, und sein Sohn ist – im Namen Gottes und wie Gott es gewollt hat – schwul! Der baut uns Brücken und Apartmenthäuser. Und dann kommt einer zu dir und sagt: Was hat denn diese Veranlagung mit seiner Arbeit zu tun? Ist nicht jeder frei, zu tun und zu lassen, was er will? Und erst die schmutzigen Filme, die er produziert! Die kannst du dir, ehrlich gesagt, kaum ansehen, ohne gleich ins Bad zu laufen und dir einen run…«

Taha hatte sich besorgt umgeblickt und fiel ihm erschrocken ins Wort: »He, mein Guter, komm mal wieder zu dir!«

»Glaub mir, eure Generation weiss nichts, gar nichts!«

Taha schob den Rollstuhl behutsam aus der Hörweite der Leute. »Du hast einen Hang zu Verschwörungstheorien.«

»In diesem Land ist eine Verschwörungstheorie nicht bloss Theorie. Es ist eine gesicherte Tatsache. Ausnahmen bestätigen die Regel.«

Auf dem Platz angekommen, blieb Taha vor dem Saad-Saghlûl-Denkmal stehen und sah seinen Vater an. »Bei Gott, du gehörst nicht nach hier unten. Du gehörst oben auf den Sockel. Als solch massive Bronzestatue wie die hier von Saad Pascha!« Er imitierte die Geste des Standbilds, das der Kasral-Nil-Brücke zugewandt war.

»Die Statue eines Rollstuhlfahrers mitten auf dem Platz! Jemandem Honig ums Maul zu schmieren, hast du bei deiner Arbeit wirklich gelernt.«

»Jetzt aber vorwärts mit Schwung, Exzellenz! Ich bring dich schnell nach Hause und geh dann zur Apotheke, sonst komm ich zu spät.«

Eine halbe Stunde später erreichte Taha mit seinem Vater die Wohnung. Er schob ihn in sein Zimmer und machte ihm etwas zu essen, dann ging er arbeiten.

Um genau Viertel nach elf kam er in der Apotheke an. Bis fünf Uhr morgens war er ganz mit seinen Medikamenten und den telefonischen Hausbestellungen beschäftigt. Dann kam ein Patient, der um eine Injektion in den Muskel bat. Taha verliess seinen Schreibtisch und ging ins Labor. Diese zwei Minuten reichten Service, mit finsterem Gesicht und blutunterlaufenen Augen bei der Apotheke vorbeizugehen. Vor dem Fenster verlangsamte er seinen Schritt, warf einen flüchtigen Blick hinein und verschwand dann wieder in die Richtung, aus der er gekommen war.

Um acht Uhr beendete Taha seine Arbeit, zog seine Jacke an, steckte die kalten Hände darunter und ging nach Hause. Der Lift war defekt. Der Türhüter hatte dies auch schon auf einem Zettel vermerkt: »Aufzoch kapuht.« Also stieg Taha zu Fuss hoch, über einen kleinen Treppenabsatz, der, obwohl heller Tag war, im Dunkeln lag. Die Fensterscheibe im Treppenhaus war schon lange zerbrochen und durch ein dünnes Holzbrett ersetzt worden, das das Licht abhielt und so den Tag in Nacht verwandelte. Wäre nicht ein kleines Loch in dem Brett gewesen, durch das ein Sonnenstrahl auf den Boden fiel, hätte der Türhüter die Treppenhauslampe auch tagsüber anschalten müssen. Taha betastete die Schlüssel in seinem Bund, um herauszufinden, welcher der für die Wohnung war. Schliesslich fand er ihn und steckte ihn ins Schlüsselloch.

»Papa!«

Keine Antwort. Er warf seine Jacke auf einen Stuhl und schloss die Tür hinter sich mit dem Fuss.

»Papa?«

In der Wohnung herrschte die gleiche Atmosphäre wie draussen. Seit die Hausherrin nicht mehr hier lebte, hatten sich ganze Staubdünen auf den Vorhängen abgesetzt und sie braun verfärbt, so dass sie die Sonne abhielten wie eine Stahlbetonmauer. Sein Vater wollte die Räume Tag und Nacht so dunkel haben. Er wehrte sich sogar dagegen, dass man lüftete, während er sich dort aufhielt. Wollte Taha saubermachen, wich Hussain in ein anderes Zimmer aus und kam erst zurück, wenn die Vorhänge wieder zugezogen waren. Das Fenster öffnete er nur nach Sonnenuntergang.

Bevor er zum Zimmer seines Vaters ging, zog Taha die Schuhe aus. »Was ist denn los, mein Lieber, schläfst du etwa?«

Er bekam keine Antwort. Als er in das Zimmer trat, erkannte er plötzlich die Räder des Rollstuhls. Sie standen nicht auf dem Boden, sondern ragten nach links in die Luft. Daneben war der Fuss seines Vaters. Das war das Letzte, was Taha sah – bevor es mit einem Mal still und dunkel um ihn wurde. Jemand, der schon seit Stunden dort gehockt und auf ihn gewartet hatte, hatte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt.