12

Sie war Ende vierzig, trug ein schwarzes, ziemlich enges Kostüm und fiel ihm gleich um den Hals. »Sei tausendmal gegrüsst, mein Schatz!«

Er liess zu, dass sie ihn an sich drückte und küsste, legte seine Arme aber nicht um sie. »Komm doch rein, damit ich die Tür zumachen kann!«

Sie trat ein und sah sich dabei in der Wohnung um wie eine Katze, die von ihrem Halter herausgelassen worden war und wieder zurückgekehrt ist. Für kurze Zeit stahl Taha sich davon und schloss die Zimmertür seines Vaters, um Fragen nach den verstreut herumliegenden Papieren vorzubeugen.

»Wie geht es dir, mein Schatz? Ich hab es durch Zufall erfahren. Aber deine Tante anzurufen hätte keinen Sinn gehabt, du verstehst. Ich habe gleich den ersten Flug genommen.« Sie betrachtete die Verletzungen an seinem Kopf. »Sag mir, wie geht es dir, mein Herz? Isst du auch gut? Und was ist mit der Wohnung?«

Taha seufzte und nickte. »Alles in Ordnung, Gott sei Dank.«

Um ihrem Blick auszuweichen, neigte er den Kopf. Seine Augen blieben an ihrem blutroten Nagellack hängen, der zu einer jüngeren Frau gepasst hätte. Und Trauerkleidung trug sie auch nicht.

»Alles wird besser, das verspreche ich dir. Ich werde jeden Tag zu dir kommen. Wenn du möchtest, besorge ich dir auch einen Arbeitsvertrag in Saudi-Arabien.«

Er unterbrach sie: »Das ist nicht nötig, Mama. Mir geht es gut.«

Nâhid setzte sich neben ihn und betastete mit den Fingerspitzen seine Schulter. »Ich weiss, dass du mich nicht leiden kannst, Taha.« Er vergrub sein Gesicht in den Händen, und sie fuhr fort: »Alles kann wieder so werden, wie es war.«

»Nichts wird wieder so, wie es war.«

»Ich bin deine Mutter, Taha.«

»So etwas hatte ich mir gedacht.«

»Was zwischen deinem Vater und mir vorgefallen ist, ist das eine, aber du bist etwas anderes.«

»Als du ihn verlassen hast, hast du also nur ihn verlassen?«

»Ich wollte dich mitnehmen. Er war derjenige, der sich quergestellt hat.«

»Dann hätten also wir beide ihn verlassen, nicht wahr?«

»Deswegen bin ich ja fortgegangen, Taha. Du weisst von gar nichts.«

»Ich bin ja auch noch klein, stimmt’s? Weisst du überhaupt, wie alt ich bin? Los, wir spielen Wer wird Millionär?: Wie alt bin ich? Sie können unter vier Antworten wählen: dreissig, dreissig, dreissig oder dreissig? Wollen Sie einen Freund anrufen oder das Publikum fragen?«

Sein Ausbruch machte sie sprachlos. An seinen scharfen Ton ihr gegenüber war sie gewöhnt, aber heute teilte er wirklich gnadenlos aus. Sie musste nun einfach loswerden, was in ihr brodelte und was sie jahrelang verschwiegen hatte: »Dein Vater war nicht der, für den du ihn gehalten hast.«

»Ja, und dabei bist du doch die heilige Râbija al-Adawîja30! Und jetzt bist du glücklich in deiner Ehe?«

Nâhid nahm alle Kräfte zusammen und liess ihre Bombe platzen: »Ich konnte nicht länger mit einem Mörder zusammenleben.«

Taha rieb sich die Stirn, stand auf und lehnte sich an die Wand. Dann schmetterte er eine Vase auf den Boden und schrie: »Waaaas?«

Damit gab er ihr das Signal, auf den Abzug zu drücken. Zuerst musste sie ihn an Samîcha erinnern, die für Taha immer nur Tante Samîcha gewesen war, ihre Freundin aus der Grundschule, mit der sie noch bei ihrer Heirat, der Geburt ihres Sohnes und selbst während ihrer Scheidung befreundet gewesen war. Er wusste nur, dass sie die Freundin seiner Mutter und geschieden war – und stundenlang mit ihr telefoniert hatte. Und dass sie einen wunderbaren Busen hatte, wenn sie sich gebückt hatte, um ihm einen Kuss zu geben. Taha wusste auch, dass sein Vater sie nicht leiden konnte. Und dass sie nach schwerer Krankheit verstorben war. Dass seine Mutter um sie getrauert hatte wie um niemanden zuvor. Was er allerdings nicht wusste, war, dass Tante Samîcha nach ihrer Scheidung einen unmoralischen Lebenswandel gepflegt hatte.

»Tante Samîcha?«

»Ja, Tante Samîcha.«

Sie lernte einen reichen, verheirateten Mann kennen. Und weil sie ein hübsches Mädchen war und keine Arbeit hatte, mit der sie etwas verdienen konnte, wollte sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Wie jede gute Freundin hatte Nâhid versucht, sie davon abzuhalten und das widerspenstige Pferdchen zu zügeln, das nicht daran gewöhnt war, einen Sattel zu tragen. Fast wäre es ihr auch gelungen, aber da bekam Hussain Wind von der Sache. Seine Versuche, die beiden auseinanderzubringen, hatten keinen Erfolg. Bis dann der Tag kam, an dem er Samîcha bat, sich mit ihm zu treffen. Widerwillig stimmte sie zu. Sie hatte gute Ratschläge von ihm erwartet, aber ganz im Gegenteil: Er blieb stumm, bis sie ihren Tee getrunken hatte. Danach erzählte er ihr von einem Traum, den er gehabt hatte und in dem sie die Hauptrolle spielte. Dann liess er sie sitzen und ging. Das war der Anfang vom Ende gewesen. Als Hussain Nâhid in einem Moment des Zorns anschrie, war er so ausser sich, dass ihm der Geifer aus den Mundwinkeln troff, und dabei haute er ihr die Wahrheit um die Ohren. Er schrie ihr ins Gesicht, was er beschlossen und auch sofort in die Tat umgesetzt hatte. Und zwar mit Genuss. Zu dieser Zeit hatte Samîchas Verfall gerade begonnen. »Sie hat es verdient«, rief er. »Und auch ihr Kind wäre nicht glücklich, zu hören, was sie getan hat. Es ist gnädiger, eine Waise zu sein, als eine unzüchtige Mutter zu haben.« Nâhid bat ihn, ihr zu verraten, was er ihr gegeben hatte. Seine Antwort war, dass sie ihre Chance zur Umkehr verwirkt habe. Die Sache war entschieden. Innerhalb von zweieinhalb Monaten ging Samîcha zugrunde und starb. Und was einmal zwischen Tahas Eltern gewesen war, starb mit ihr. Nâhid behielt ihrer beider Geheimnis für sich. Sie verlor kein Sterbenswörtchen darüber.

»Das einzige Problem warst du, Taha. Entweder hätte ich dich informiert – dann hättest du dein Leben lang mit dieser Schande gelebt und deine Zukunft verloren –, oder ich ging und nahm die Schuld ganz allein auf mich. Das Problem war, dass dein Vater sich für einen Gott hielt. Er war der, der richtete und strafte.«

Sie kam auf ihn zu und wollte ihn umarmen. Sein Kinn zitterte, und er hielt sie mit einer Handbewegung zurück, ohne sie anzusehen. Das hiess, dass es genug war und sie in Frieden gehen sollte.

»Verzeih mir, Taha!«

Sie ging zur Tür und blieb dort noch einmal stehen. Ihr Blick hing an einem Bild an der Wand, das Taha als Zweijährigen zeigte. Es hatte, wie bei den ersten Farbfotos üblich, einen Orangestich. Nâhid fiel ein, dass diese Hand, die ihn in der Taille festhielt, ihre war. Sie schaute sich das Foto an, dann nahm sie es von der Wand und ging.

Für Taha war das Ganze zu viel. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, kniete sich auf den Boden, um seine Fassung wiederzugewinnen und nicht zu explodieren. Es war kaum zu glauben, was für Überraschungen das Leben für ihn bereithielt – und alles an einem einzigen Tag!

Die Zeit verstrich, ohne dass er es merkte. Schliesslich ging er auf die Strasse hinaus. In Gedanken versunken, lief er bis zur Apotheke und setzte sich auf seinen Stuhl neben dem Telefon. Mitten in seine Grübeleien platzte ein Mädchen. Man sah ihr an, dass sie eine Dienerin war: diese schrundigen Füsse, die vernachlässigten Fingernägel und der pinkfarbene Gilbâb! Sie zog einen Zettel aus einem kleinen Beutel und gab ihn Taha. Der faltete ihn auseinander und las. Eine Telefonnummer. Er fragte sie nach dem dazugehörigen Namen, und sie antwortete: »Doktor Sâmi Abdalkâdir.«

Taha tippte die Nummer ins Telefon, dann wartete er, bis sich eine Stimme meldete: »Guten Abend, hier ist Doktor Sâmi.«

»Ich hatte bereits das Vergnügen, Sie kennenzulernen, Herr Doktor. Hier ist Taha al-Sahâr von der Sâmich-Apotheke. Ich war schon mal als Pharmareferent bei Ihnen. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wenn Sie so freundlich sein wollen, notieren Sie sich bitte, mein Lieber: Hebsolan 100 mg, Xanax 0, 5 mg, eine Ampulle Retarpen und eine Packung Lidocain.«

»Noch etwas?«

»Und eine Zehn-Milliliter-Einwegspritze nicht zu vergessen. Sagen Sie, könnten Sie die Apotheke wohl mal für zehn Minuten alleinlassen?«

»Das ist mir eine Ehre.« Taha legte auf und sagte zu Wâil: »Doktor Sâmi Abdalkâdir ist hier in der Nähe. Er hat mich gebeten, ihm zu helfen.« Dann wandte er sich an das Mädchen: »Für wen sind diese Medikamente?«

»Für Machrûs Bergas.«

Taha versuchte, der Gänsehaut zu trotzen, die ihm über den Rücken lief. Er wusste, wer so einen Haufen Betäubungsmittel orderte, befand sich im Endstadium einer unheilbaren Krankheit und suchte nur noch ein Mittel gegen die unerträglichen Schmerzen.

»Was hat er denn eigentlich?«, fragte er die Dienerin auf dem Weg zur Villa.

»Eine schreckliche Krankheit, Gott bewahre Sie davor.«

»Wie lange schon?«

»Das werden jetzt zwei Monate. Es geht ihm sehr schlecht, Gott schütze Sie.«

Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. In einem Anflug von Panik fragte er: »Welche Krankheit hat er denn genau?«

»Die Ärzte sind ratlos, sie sagen, so eine Krankheit kommt einmal auf eine Million.«

Sofort hatte Taha Lietos Geschichte vor Augen, die Aufzeichnungen seines Vaters und Mutters Erzählung von Samîcha. Die Dienerin begleitete ihn zu dem Gebäude, das er drei Monate zuvor zusammen mit seinem Vater betreten hatte, bei jenem sonderbaren Besuch damals vor dem Überfall. Nie hatte er vergessen, dass Machrûs Bergas als Service’ Entlastungszeuge aufgetreten war und zu dessen Gunsten ausgesagt hatte. Ihn packte die Neugier, nun die Wahrheit über die Krankheit zu erfahren. Unterwegs erzählte ihm die Dienerin – aus purer Lust, sich mit dem gutaussehenden jungen Mann zu unterhalten –, dass die ganze Umgebung ihres Herrn auf sein Ableben wartete. Sie berichtete von seinem Sohn, der seine Besuche eingestellt hatte, von der korpulenten Herrin des Hauses, die sein Zimmer einmal am Tag betrat, einen betroffenen Blick auf ihn warf und gleich wieder ging, um sich um ihre Verwandtschaft zu kümmern, die in Erwartung der nahenden Erlösung das Haus besetzt hielt. Denn allen würde ja ein Krümelchen zuteilwerden, das ihnen ein gutes Leben ermöglichte. Ausserdem berichtete die Dienerin noch über zwei Nebenhandlungen: Zum einen verbreite ihre Herrin Lügen über die Dienerinnen. Sie selbst sei schon völlig fertig und würde am liebsten aufs Land zurückkehren, wäre sie nicht so anhänglich. Zum anderen erzählte sie von den üblichen Veränderungen im Verhalten eines Kranken, der den Tod nahen fühlt – damit spielte sie auf ihren Herrn Machrûs an: dass er immer liebenswürdiger wurde, die Nähe zu Gott suchte und von verstorbenen Bekannten sprach. Sie tratschte so viel, wie es sich für eine Dienerin gehört. Innerhalb von fünf Minuten hatte sie sämtliche Geheimnisse des Hauses ausgeplaudert. Schliesslich kamen sie bei der Mauer der Villa an. Taha wartete ein paar Minuten vor der Tür, bis die Dienerin wieder zurückkam.

»Bitte sehr, Herr Baschmuhandis.« Sie war nicht davon zu überzeugen, dass Taha kein Baschmuhandis war.

Zwischen den luxuriösen Möbeln hindurch gingen sie bis in den zweiten Stock. Dort wartete Doktor Sâmi Abdalkâdir an der Tür auf sie. Taha erinnerte ihn noch einmal an ihr erstes Treffen.

Der Arzt zog ihn ein Stück von dem Zimmer weg und sagte: »Mit den Antibiotika ist es schwierig, wissen Sie. Der Patient verträgt sie nicht. Ich brauche Ihre Hilfe, weil ich keine Vene finden kann und er sich ziemlich wehrt. Der Schmerz ist einfach zu stark.«

Taha nickte, dann betrat er den stickigen, ungelüfteten Raum. Eine Tischlampe neben dem Bett beleuchtete ihn spärlich. Auf dem Tisch befanden sich ausserdem noch tonnenweise Medikamente und ein Teller mit Watte und Eis. Machrûs Bergas lag im Bett und starrte an die Decke. Er hatte sich stark verändert, war nicht mehr der selbstsichere, gesunde Mann, sondern glich eher einem schäbigen Lumpen. Er hatte mehr als zwanzig Kilo abgenommen, und sein Gesicht war eingefallen. Er atmete flach, es schien ihm so grosse Mühe zu machen, als müsste er Luft durch ein verrostetes Blechblasinstrument pressen. Mit der Hand hielt er einen Eisbeutel umklammert, um damit den Schmerz ein wenig zu lindern. Taha setzte sich auf die Bettkante und holte die Spritze und ein Fläschchen hervor. Er machte die Injektion für Doktor Sâmi fertig, der konzentriert einige Berichte las. Als Tahas Blick zwischendurch auf Machrûs fiel, bemerkte er, dass der ihn scharf beobachtete. Taha tat, als hätte er nichts mitbekommen, und half ihm mit grosser Mühe, die blasse, verkrampfte Hand unter der Bettdecke hervorzustrecken. Sein Arm war durchlöchert wie ein Sieb, für einen weiteren Einstich war kein Platz mehr. Taha reichte dem Arzt die Spritze und band den Arm fest ab. Doktor Sâmi stach Machrûs die Nadel in die Vene. Als ihm die Flüssigkeit ins Blut drang, fuhr er zusammen. Fest umklammerte er Tahas Hand, in seinem Gesicht zuckte es. Dabei presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen einen heiseren Schrei hervor. Nach ein paar Sekunden wurde die Nadel wieder herausgezogen, und Taha löste den Stauschlauch. Machrûs schloss vor Schmerz die Augen. Doktor Sâmis Handy klingelte, er trat beiseite, um den Anruf entgegenzunehmen, und machte Taha dabei ein Zeichen, mit der Gabe des Sedativums fortzufahren.

»Erinnern Sie sich nicht an mich?«, flüsterte er Machrûs zu. Der schüttelte den Kopf, und Taha fügte hinzu: »Ich war vor drei Monaten zusammen mit meinem Vater bei Ihnen zu Besuch.« Bergas sah ihn mit einem mehrdeutigen Blick an, und Taha sagte, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen: »Mein Vater war gelähmt, er sass im Rollstuhl.«

Plötzlich wurde Machrûs’ Blick ungewöhnlich lebhaft. Er zog an Tahas Hand, damit der ihn stützte, bis er halb sass. Dann holte er tief Luft, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Arzt am Fenster am anderen Ende des Zimmers weitertelefonierte, suchte er nach einem Stimmband, das noch funktionsfähig war, und fragte dann: »Ihr Vater ist gestorben?«

»Gott hab ihn selig«, sagte Taha, steckte die Spritze in das Fläschchen und zog langsam die Flüssigkeit auf. »Darf ich Sie etwas fragen? Ich weiss, dass das nicht der passende Zeitpunkt ist, aber …«

Machrûs’ Stimme bebte: »Was wollen Sie?«

»Wissen Sie vielleicht, was mein Vater – Gott hab ihn selig – von Ihnen wollte?«

»Fragen Sie nicht, manche Dinge sollte man nicht aussprechen. Ähähähä …« Ein trockener Husten zerriss ihm fast die Brust. Währenddessen liess Taha keinen Blick von seinem Gesicht und sah, wie es rot anlief. Anschliessend fuhr Machrûs fort: »Besser, Sie vergessen alles und machen sich davon. Der Ort hier ist infiziert.«

Taha band Machrûs’ Arm erneut ab und klopfte mit dem Finger darauf, um eine Vene zu finden, die sich freiwillig für eine zweite Injektion zur Verfügung stellte. Schliesslich stiess er auf eine ganz versteckte. Er hielt die Hand fest und wollte die Nadel hineinstechen. Aber Machrûs packte ihn am Handgelenk, um ihn daran zu hindern. Eine sonderbare Furcht zeigte sich auf seinem Gesicht. Seine Augen starrten auf die Spritzennadel, als wäre sie ein vergifteter Dolch. Taha nickte beruhigend und klopfte ihm auf die Hand, um ihm ein wenig Vertrauen einzuflössen. »Haben Sie keine Angst!«, sagte er und stach hinein. Die Flüssigkeit strömte in die ausgedörrten Adern. Eine Minute, und Machrûs’ Körper begann zu erschlaffen. Die Lebensfunktionen wurden immer schwächer. Plötzlich, während er mühsam die Lider offen hielt, sagte er: »Ihr Vater hat mir von einem Traum erzählt. Er hatte geträumt, dass ich in drei Monaten sterben würde.« Das wunderte Taha nicht. Was ihn wunderte, war vielmehr, was dann kam: »Ich habe Service an jenem Tag nicht getroffen.« Kaum hatte Machrûs das gesagt, fiel er in tiefen Schlaf. Taha blieb minutenlang in derselben Position sitzen und betrachtete sein Gesicht. Er versuchte zu begreifen, was er gehört hatte.

Dann riss ihn der Arzt aus seinen Gedanken. »Wie sieht’s aus, sind Sie fertig?«

»Ja, ich bin fertig, Doktor.« Taha lächelte müde, verabschiedete sich mit rätselhaften Worten und ging.

In der Apotheke liess er Wâil die Kunden bedienen und zog sich ins Labor zurück, um sich mit den bedrückenden Fragen auseinanderzusetzen, die sich über seinen Kopf hermachten wie eine Hyäne, die ein unvergleichlich schmackhaftes Stück Aas gefunden hat. Er war voller Zweifel und konnte kaum noch das Gleichgewicht halten. Nachdem er eine Beruhigungspille genommen hatte, zog er sich einen Stuhl heran, setzte sich und legte die Füsse auf einen Tisch voller Petrischalen. Gab es so etwas wie diesen Diamantenstaub, und hatte er tatsächlich diese Wirkung? Noch wichtiger war aber, dass er nun über Service Gewissheit hatte. Wie ein Squashball hüpften die Gedanken unermüdlich in ihm hin und her. Was ihm den Kopf eigentlich so schwer machte, wusste er nicht, vielleicht war es die Pille, die er genommen hatte. Er fiel in tiefen Schlaf und fuhr dann plötzlich wieder hoch, als hätte er an einen Elektrodraht gefasst. Als er versuchte aufzustehen, kribbelte sein Fuss und gehorchte ihm nicht. Also stellte er sich auf den anderen. Schliesslich ging er zu Wâil hinaus.

»Was ist denn, Herr Doktor? Sie sehen müde aus.«

»Wie spät ist es jetzt?«, fragte Taha.

»Zwanzig nach elf.«

»Um Gottes willen! Warum hast du mich nicht geweckt, Wâil?«

»Ich hab es ja versucht. Sie haben ganz laut geschnarcht.«

»Und wie bist du zurechtgekommen?«

»Alles in Ordnung. Ich hab nur von der Apotheke Rida eine Schachtel Amlodipin geholt, weil es alle war.«

»Hast du es schon bezahlt?«

»Nein, noch nicht. Wollen Sie eine Minute hier warten? Dann bringe ich ihnen das Geld.«

»Nein, ich hab keine Zeit. Ich bezahle es auf dem Heimweg.«

Taha holte seine Jacke und ging. In Doktor Ridas Apotheke traf er seinen Kollegen Amr. Er begrüsste ihn und gab ihm das Geld, und sie plauderten eine Weile über Medikamente und Preise, bis sie wunderbarerweise auf Service zu sprechen kamen.

»Das Einzige, was ich von ihm weiss, ist, dass er seit dem Tag, an dem er den Ziegelstein in die Scheibe geschmissen hat, mich belästigt«, sagte Amr.

Taha sah interessiert aus. »Service? Und natürlich kriegt er, was er will?«

»Ich geb es ihm, damit er abhaut, wir wollen doch keine Probleme. Am ersten Tag kam er und wollte Tramadol und Apetryl. Am zweiten Tag wollte er Tramadol, Apetryl und Einmalhandschuhe, am dritten Tag …«

Der Täter trug Einmalhandschuhe, auf dem Rollstuhlgriff haben wir Spuren von Puder gefunden. Dieser Satz Walîd Sultâns klingelte in Tahas Kopf. Er liess seinen Kollegen stehen und rannte nach Hause. Unterwegs entschuldigte er sich telefonisch, dass er wegen besonderer Umstände nicht zur Arbeit kommen könne. Er sprang die Treppe hoch, stürmte in die Wohnung, flitzte in sein Zimmer und schaltete den Computer an. Bei der Google-Suche gab er »Diamantenstaub« ein, dann fügte er noch das Wort »Gift« hinzu. Nach ein paar Sekunden erhielt er die Ergebnisse:

Diamantenstaub

In früheren Jahrhunderten gab es immer wieder Berichte über politische Morde, die von einer langsamen Tötungsmethode mit einer giftigen Substanz, bekannt als Diamantenstaub, berichteten. Zum ersten Mal erwähnt wurde er im Jahr 1250 im Zusammenhang mit dem Tod Friedrichs II., des Kaisers des Römischen Reiches.

Die nächste Erwähnung findet sich im Jahr 1512, als man den Verdacht hegte, dass er bei der Ermordung Bayezids II., des Sultans des Osmanischen Reiches, durch seinen Sohn Selim verwendet worden war. Während der Renaissance in Florenz, genauer gesagt während der Herrschaftszeit Caterina de’ Medicis, gab es vermehrt Berichte, dass sie eine Substanz namens Herrschaftspulver verwende. Dies war nur ein Synonym für eine Mischung aus Diamantenstaub und Arsen. Unter dem Vorwand, die Armen und Kranken zu speisen, testete Caterina de’ Medici ihren magischen Staub, mass die Zeitdauer, bis die Wirkung eintrat, ermittelte den Wirkungsgrad im Verhältnis zur Menge und untersuchte die Symptome bei den Opfern. Schliesslich gelangte sie zu befriedigenden Ergebnissen, die sie in die Lage versetzten, die Gegner ihres Regimes zu liquidieren.

Ein weiteres Mal erscheint der Staub in der Autobiographie Benvenuto Cellinis, des hochberühmten Goldschmieds und Bildhauers aus der Epoche von Pier Luigi Farnese, dem Herzog von Parma, der für seine Grausamkeit gegenüber seinen Feinden, seine Ausschweifungen und später für seine Pädophilie bekannt war. Der Diamantenstaub begleitete ihn in seiner Herrschaftszeit als Mittel zur Liquidierung seiner Feinde, was Benvenuto Cellini in seinen letzten Aufzeichnungen, die er im Gefängnis verfasste, erwähnt. Dort beschreibt er das Fortschreiten und die Wirkung der Krankheit auf sich selbst, nachdem einer seiner Bewacher ihm Diamantenstaub ins Essen gemischt hatte. Bis heute hat niemand Klarheit darüber gewonnen, ob Diamantenstaub wirklich ein Mordwerkzeug im Gefolge grausamer Herrscher war oder ob es sich nur um ein Schauermärchen handelt, das einst von Minenbetreibern erfunden wurde, um die Arbeiter daran zu hindern, die Edelsteine zu schlucken.

Auf Websites zur Geschichte fand Taha nur so viel, also suchte er auf naturwissenschaftlichen Seiten weiter, bis er dort auf eine weitere Information stiess:

Diamantenstaub gilt als eins der gefährlichsten Gifte, weil es geruchs- und geschmacksneutral ist und sich zu Beginn der Vergiftung keine eindeutig erkennbaren Symptome zeigen. Die tödliche Dosis beträgt weniger als 0, 1 Gramm. Die Wirkungsweise des Gifts lässt sich dahin gehend zusammenfassen, dass beim Verschlucken schon einer sehr geringen Menge der winzigen Splitter die Fremdkörper – das heisst der Diamantenstaub – durch die peristaltischen Bewegungen entlang des gesamten Verdauungstrakts in Fleischwucherungen eingebettet werden. Die natürliche Bewegung des Körpers führt dann dazu, dass diese Splitter immer tiefer eindringen, so dass es zu einer langsamen, unstillbaren Blutung kommt, die anfangs schwer festzustellen ist, bis der Staub schliesslich das Organsystem erreicht. Die diesen Vorgang begleitenden Schmerzen sind unvorstellbar. Die genannten Symptome treten innerhalb einer Zeitspanne von durchschnittlich drei Monaten auf. Schon in der Anfangsphase ist eine Rettung des Betroffenen schwierig. Die einzige Möglichkeit ist eine Operation zur Entfernung der Diamantsplitter, und diese ist nahezu unmöglich. Festzuhalten bleibt, dass der Mord mit Diamantenstaub in der europäischen Renaissance zu den bevorzugten Methoden zur Herbeiführung eines langsamen Todes gehörte.

Das waren die einzigen Informationen, die zu finden waren. Taha sass etwa drei Stunden vor dem Computer und recherchierte im Internet, ohne dabei noch auf etwas Erwähnenswertes zu stossen.

In seiner linken Schädelhälfte pochte die Migräne, und seine Augen wurden immer lichtempfindlicher. Taha zog die Vorhänge zu, bis der Raum im Dunkeln lag, nahm zwei Migranil-Pillen und zündete sich eine Zigarette an. Dann ging er ins Zimmer seines Vaters. Nur eine Frage trieb ihn um: Wo hat er ihn versteckt?

Der Staub seiner rechten Hand!

Er rief seine Tante an: »Hallo. … Ja, Tante. Gott erhalte dich! … Gott sei Dank! … Tante, hör mal, hast du nicht ein Tütchen oder Fläschchen gefunden, als du saubergemacht hast? Mit so einer Art weissem Puder drin? … Sicher? … Nein, Tante, was denn für Drogen? … Das war was von Papa, ja. … Es ist Kakerlakenpulver, ja. … Ich hab so viele Kakerlaken hier. … Gut, Tante. … Ja, wirklich, ich esse. … Natürlich. … Tschüss, Tante.«

Taha ging durch die Wohnung, die verwaist war, seit er fast alle Möbel in ein Zimmer geräumt hatte. Diesen Raum nahm er von seinen Nachforschungen aus, weil er selbst ihn vollgestellt hatte. Er suchte im Zimmer seines Vaters, in Bad und Küche und in seinem eigenen Zimmer. Als er nichts fand, kehrte er ins Zimmer seines Vaters zurück.

Der Staub meiner rechten Hand!

Er öffnete den Kleiderschrank, leerte ihn Stück für Stück und untersuchte erst die rechten, dann die linken Ärmel. Nichts. Er setzte sich in eine Ecke und überdachte noch einmal, was er gelesen hatte. Dabei starrte er auf eine leere Stelle auf dem Zimmerboden. Er wusste nicht, wie lange er in dieser Position verharrt hatte. Plötzlich stand er auf, als hätte ihn etwas gestochen, holte einen Hammer und einen Schraubenzieher und begann den PVC-Boden herauszureissen. Nach drei Stunden, in denen er sich die Hände wund gearbeitet hatte, lag der Raum nackt und in Trümmern wie Port Saîd zur Zeit des Krieges. Aber gefunden hatte er nichts. Um wieder zu Atem zu kommen, machte er eine Pause. Die Sonne ging gerade unter. Feine goldene Strahlen drangen durchs Fenster und durch den Staub, der nach dem Herausreissen des Bodens überall in der Luft hing, bis sie auf ein Hindernis trafen, das unter seinen Füssen einen Schatten in Form eines Stuhls warf – eines Rollstuhls.

Warum war er nicht schon vorher auf die Idee gekommen? Es war die am nächsten liegende Möglichkeit. Er griff nach dem Stuhl und untersuchte ihn, löste die Scharniere und Muttern. Schliesslich fiel sein Blick auf die trauriggraue Armlehne. Die rechte Hand … Er zog kräftig daran, und ein kleines Fläschchen fiel heraus, das mit einer dünnen Schnur umwickelt war. Taha hielt es sich vor die Augen. »Jasminduft – al-Sahâr, Fabrik für Parfums und Duftessenzen« stand darauf. Er löste die Schnur, öffnete die Hand und klopfte behutsam mit dem Finger auf das Fläschchen. Ein weisses Pulver rieselte heraus, glitzernd und weich anzufühlen. Er rieb es zwischen den Fingerspitzen und hielt es sich vor die Augen, um die Lichtreflexe auf den winzig kleinen Oberflächen zu beobachten. Mehrere Minuten lang betrachtete er es, dann schüttete er es zurück in die Flasche, als sperrte er eine Schlange ein.

Damit war alles klar. Sein Vater hatte nichts anderes im Sinn gehabt, als die verlorene Gerechtigkeit wiederherzustellen.

Sein Vater war ein Mörder gewesen!

Taha hörte wieder die Worte seiner Mutter: Das Problem war, dass dein Vater sich für einen Gott hielt. Er war der, der richtete und strafte. Die Wände der Wohnung begannen es herauszuschreien. Ein Erdbeben liess seine Hand und seine Finger zittern, und die Migräne führte ihre Arbeit zu Ende. Ein breiter Riss tat sich in seiner linken Seite auf, und wieder begann das regelmässige Pochen. Es war nicht auszuhalten. Taha warf einen letzten Blick auf das Fläschchen, dann steckte er es in die Tasche und verliess das Haus, um ein wenig Luft zu schnappen.