Kapitel 34

Als sie auf Bronty ankamen, half Nick Nell vom Rücksitz des Pick-ups und nahm sie an die Hand. Kate sah, wie sehr sich der Garten von Bronty verwandelt hatte. Das große Zelt des Auktionators, das so aufgestellt worden war, dass man aufs Meer hinaussehen konnte, nahm einen erheblichen Teil des Rasens ein. Kate wurde übel, als sie die vielen Reihen weißer Plastikstühle und das Podium mit der Lautsprecheranlage sah, die man für die Versteigerung aufgebaut hatte. Sie setzte ihren Cowboyhut auf und hatte dabei das Gefühl, als würde sie sich auf eine wilde Schießerei vorbereiten. Nick legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern.

»Bist du bereit?«

Sie nickte.

Als Kate zum Haus hinüberging, sah sie Janie und Dave. Sie rannte auf die beiden zu und umarmte sie herzlich.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Janie.

Kate gelang nur ein kurzes Nicken. Nick hantierte mit seinem Handy herum, überprüfte zum x-ten Mal, ob er auch Empfang hatte, damit er Angus anrufen konnte, wenn die Versteigerung begann. Sie gingen durch das Gartentor, das von einem altmodischen Blecheimer mit Blumen offengehalten wurde. Wie nett, dachte Kate bitter. Sie warf einen Blick zum Haus hinüber und wusste dabei ganz genau, dass Henry und Annabelle irgendwo dort drinnen warteten und die potentiellen Bieter beobachteten. Sie nahm die luxuriös aufgemachte Verkaufsbroschüre zur Hand und studierte noch einmal die Details.

An diesem Nachmittag sollten zuerst das Farmhaus sowie die dazugehörigen dreitausend Hektar Land versteigert werden. Im Anschluss daran die zehn Parzellen, die an der Küste ausgewiesen worden waren. Zum Schluss stand das übrige Land, das man in Abschnitte aufgeteilt hatte, die jeweils groß genug waren, um die Holzfirmen zufriedenzustellen, auf dem Programm. Kate seufzte. Sie war extrem nervös. Als sie im hinteren Teil des Zeltes Platz nahmen, merkte sie, dass die Leute sie anstarrten. Nick überprüfte noch einmal, ob sein Handy Empfang hatte und wählte dann, um ganz sicherzugehen, Angus’ Nummer.

Als Kate Nell auf den Schoß nahm, konnte sie nicht anders, als sich jeden Einzelnen, der in dem Zelt Platz nahm, ganz genau anzusehen. Ihr war bewusst, dass die meisten Anwesenden Leute aus der Gegend waren, die einfach nur dabei sein wollten, wenn wieder einmal eines der alten, traditionellen landwirtschaftlichen Anwesen unter den Hammer kam. Die ernsthaften Bieter blieben meistens irgendwo auf dem Festland in ihren eleganten Büros und hielten mit ihren Agenten, die irgendwo in der Menge saßen, telefonischen Kontakt.

Kate sah auf ihre Uhr. Es war kurz vor Mittag. Sie stellte sich vor, wie eine Glocke schlug. Ein Totengeläut. Nick nahm ihre Hand. Auch ihm war bewusst, was geschehen würde, wenn das Land erst einmal verkauft war. Auf Rutherglen hatte er ganz unmittelbar erleben müssen, was ein modernes Farmmanagement für das Land bedeutete. Seine Nachbarn waren durch Firmen ersetzt worden, die allenfalls telefonisch zu erreichen waren. Da die Nachbarn nicht mehr da waren, gab es auch niemanden mehr, mit dem man gemeinsam und mit vereinten Kräften das Unkraut bekämpfen, Grenzzäune nachspannen oder eine Bewässerungssanierung planen konnte. Stattdessen tauchten plötzlich mitten in der Ablammzeit professionelle Wildjäger auf, oder es brummte ein Flugzeug über sie hinweg, das keinen Zweifel daran ließ, dass man an diesem Tag wieder einmal Chemikalien spritzen würde. Die Angst, dass ein wertvoller Hütehund einen vergifteten Kadaver finden und fressen würde, war allzu gegenwärtig, genauso wie die Gewissheit, dass in den Städten und in der Regierung niemand der Landwirtschaft noch irgendeine Bedeutung zumaß.

Kate drückte Nicks Hand. Sie hatten bis spät in die Nacht die Fehler und Versäumnisse der Regierungspolitik diskutiert, die einerseits den Investoren massive Steuererleichterungen gewährte und andererseits den Farmern keinerlei Unterstützung zukommen ließ. Sie hatten über die Erbfolge gesprochen und darüber, dass jede neue Generation mit unlösbaren Problemen konfrontiert wurde. Kate und Nick hatten sich gefragt, ob es in ihrer Macht lag, etwas dagegen zu unternehmen. Sie beide lebten von und für die Landwirtschaft, aber ihre Zukunftsaussichten waren alles andere als vielversprechend.

Kate sah in die vertrauten Gesichter der Farmer, die auf ihren Stühlen saßen und am Podium vorbei auf das Meer starrten. Die Augen von unzähligen Fältchen umgeben, die Ärmel hochgekrempelt und Blundstone-Stiefel an den Füßen, sich mit den Prospekten Luft zufächelnd. Keiner von ihnen war auch nur annähernd so vermögend, dass er ein Anwesen wie Bronty hätte kaufen können. Aber in den Gesichtern aller stand eine stille, unausgesprochene Wut darüber, wie die Regierung ihre Arbeit einschätzte.

Nell rutschte von Kates Schoß und begann auf den Strohballen herumzuhüpfen, die das Zelt flankierten. Kate stand müde auf, um sie zurückzuholen.

»Willst du vielleicht bei mir sitzen, Nell?«, fragte Janie.

Nell schüttelte den Kopf. »Wo ist Opa?«, fragte sie Kate. »Gehen wir ihn suchen?«

»Nein, jetzt nicht. Ich weiß auch nicht, wo er ist. Komm, setzen wir uns wieder.«

Als sie sich Nell auf ihre Hüfte setzte, sah Kate durch die Bäume zum Maschinenschuppen hinüber, wo jetzt einige Farmer umhergingen und sich die vorhandenen Geräte und Maschinen ansahen. Das Land um das Haus herum wurde zwar Stück für Stück verkauft, wenn es aber zum größten Teil von den Sägewerken ersteigert wurde, würde es anschließend noch einen Räumungsverkauf geben, was bedeutete, dass auch alle landwirtschaftlichen Geräte zur Versteigerung angeboten wurden. Kate verspürte ein tiefes Gefühl von Trauer, als sie bemerkte, dass sich eine Gruppe von Männern für den Traktor interessierte, mit dem Will seinen tödlichen Unfall gehabt hatte. Sie sah auf das glitzernde Meer hinaus und versuchte dort draußen die Stärke von Will und ihrer Mutter zu finden.

Als sie sich umdrehte, sah sie Henry, der in einem neuen modischen Anzug bereits wie ein Millionär aussah. Neben ihm stand Annabelle in einer weißen Hose und einem orangeroten Top. Sie trug eine hellgelbe Perlenkette um den Hals und schien für ihr neues Leben in einem Penthouse an der Gold Coast bereit. Henry sah seine Tochter nur kurz an und ließ dann seinen Blick weiterwandern.

In diesem Moment spürte Kate, wie sich der altbekannte Zorn wieder in ihr regte. Sie presste jedoch die Lippen fest aufeinander und versuchte ihre Emotionen aufs Meer hinaustreiben zu lassen. Dann legte sie ihren Kopf an Nicks Schulter.

Einen Augenblick später eilte der Auktionator, der in seinem marineblauen Jackett sehr groß und breitschultrig wirkte, mit schnellen Schritten an ihnen vorbei. Er führte Annabelle und Henry zu ihren Plätzen in der ersten Reihe. Offensichtlich hatte er es eilig anzufangen.

Als die Besucher sahen, dass die Verkäufer Platz genommen hatten, begaben sie sich ebenfalls in den Schatten des Zeltes, um sich einen Sitzplatz zu suchen. Kate zupfte Nell am Ärmel und sagte ihr, dass sie sich hinsetzten sollte. Dabei traf sich ihr Blick wieder mit dem von Henry. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos und unbewegt, alles Gefühl schien daraus gewichen zu sein. Sie sah ihm lange in die Augen, bevor sie den Kopf senkte, so dass die Krempe ihres Hutes ihr Gesicht verdeckte und er den Schmerz in ihrem Gesicht nicht sehen konnte.

Als der Auktionator das Mikrofon einschaltete, setzte Kate mit zitternden Händen ihre Sonnenbrille auf.

»Meine Damen und Herren, willkommen auf Bronty«, sagte der Auktionator. »Hier und heute haben Sie die einmalige Chance, ein Stück vom tasmanischen Paradies zu erwerben.« Kate wurde übel. »Beachten Sie nur diesen herrlichen Ausblick!«

Der Auktionator zeigte mit seinem Hammer hinter sich, wo das Meer im Sonnenschein glitzerte. Ein sommerlicher Dunstschleier lag über Schouten Island. Es kam Kate fast so vor, als hätte der Auktionator dieses strahlend schöne Wetter extra bestellt. Es war ein vollkommener tasmanischer Sommertag. Das Licht war so klar und die See so blau, dass alles glitzerte und funkelte. Kate spürte, wie sich alle Muskeln in ihrem Körper verkrampften, als der Auktionator die Zahlen von Bronty herunterratterte. »Sieben Kilometer Küstenlinie, parzelliert in zehn Abschnitte. Zwölf Kilometer nahezu unberührte Flusslandschaft mit Bewässerungsgenehmigung. Zweitausendvierhundert Hektar meliorierter Weide und sechshundert Hektar Ackerland. Insgesamt dreitausend Hektar Busch und mit Einschränkungen nutzbares Weideland. … und wie Sie sehen können, ein herrlicher Garten und ein geräumiges Farmhaus, das erst vor Kurzem renoviert wurde.« Vor Kates Augen zuckte plötzlich eine Erinnerung auf. Sie sah ein Schaf auf dem Sofa stehen, sah mit Schafdung beschmutzte Hufe auf dem cremefarbenen Teppich und spürte Freude in sich aufsteigen. Dann schalt sie sich wegen ihrer Schadenfreude. Aber vielleicht war es das ja wert gewesen?

»Die Versteigerung geht in folgender Abfolge vonstatten. Zuerst werden die Farm und das Farmhaus …« Kate hörte die Worte des Auktionators nur noch wie durch Watte. Sie begann am ganzen Körper zu zittern, denn erst in ebendiesem Moment war ihr die volle Bedeutung dessen, was hier gerade geschah, bewusst geworden.

»Können wir anfangen?«, fragte der Auktionator. Er sah kurz zu seinem Assistenten herüber und wartete dann auf das Zeichen von Henry. Auch Kate wartete auf Henrys Nicken, aber es kam nicht. Stattdessen beugte sich Annabelle ein Stück nach vorn und nickte an seiner Stelle.

Um Kate herum begann alles zu verschwimmen. Sie nahm nur noch wahr, dass Nick neben ihr saß und Angus anrief. Sie hörte zwar, dass der Auktionator die Auktionsbedingungen vorlas, aber sie nahm davon nichts mehr auf. Sie vernahm Nicks Stimme, hörte, wie er mit seinem Bruder telefonierte.

»Es geht los, Kumpel«, sagte er. Kate setzte sich gerade hin, als der Auktionator das erste Gebot in Höhe von 350.000 Dollar aufnahm. Sie sah sich um, versuchte herauszufinden, vom wem dieses Gebot gekommen war. Es war ein Agent mit einem Handy am Ohr. Aber da waren noch ein zweiter und ein dritter Bieter. Sie telefonierten und nickten immer wieder. Kate sah Nick an, der ebenfalls das Handy am Ohr hatte. Die Finger seiner freien Hand hatte er mit den ihren verschränkt. Sie spürte, wie er ihre Hand hob und dabei mit dem Kopf nickte. Sein großer Hut wippte dabei. Einer der Assistenten rief »Ja!«, und zeigte mit dem Finger auf sie beide. Kate spürte ein Kribbeln im Bauch. Sie versuchten gerade Bronty zu retten! Sie beide gemeinsam! Sie klammerte sich an der Hoffnung fest.

Sie wurden jedoch sofort überboten. Dann spürte sie wieder, wie Nick ihre Hand hob. Mit dem Kopf nickte. »Ja!« rief der Assistent und deutete wieder auf sie.

Als das Höchstgebot jedoch über die Marke von einer Million Dollar kletterte, und selbst der Auktionator tief Luft holte, spürte Kate, wie etwas in ihr starb. Diese Summe lag erheblich über ihrem Limit. Nick schüttelte den Kopf. Das elektrisierende Flirren, das von seiner Hand in die ihre geströmt war, verschwand. Sie konnte Angus’ Stimme über die Leitung hören. Er versuchte sie zu trösten, sagte, dass es noch viele Fische im Meer gäbe. Kate starrte auf die blaue See hinaus. Aber es gab auf der ganzen Welt keinen Ort wie diesen, hätte sie ihm gern geantwortet. Nick legte schweigend auf und nahm sie in den Arm.

»Wir haben es nicht geschafft, Baby«, sagte er traurig. Dabei hatten sie beide sich so sehr nach einem guten Leben als Farmer gesehnt. Ein solches Leben war für sie nicht möglich, wenn sie auf Rutherglen blieben, das in einem noch trockneren Gebiet lag und vollständig von Plantagen umgeben war. Da half ihnen auch Angus’ Geschäftstüchtigkeit nicht weiter. Kate hörte zu, wie die Gebote immer weiterstiegen und zuckte nervös zusammen, als die Stimme des Auktionators lauter und aufgeregter wurde.

»Wie lautet das letzte Gebot? Zwei Millionen Dollar! Zwei Millionen Dollar«, schrie der Auktionator jetzt geradezu verzückt. Er schlug mit seinem Hammer auf das Pult, um die Versteigerung kurz zu unterbrechen.

»Lassen Sie uns an dieser Stelle einen Moment innehalten, meine sehr geehrten Damen und Herren.« Die Leute rutschten nervös auf ihren Stühlen herum. »Ich möchte, dass Sie sich noch einmal bewusst werden, worauf Sie hier bieten …«

Kate hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand eine Schlinge um den Hals gelegt. Sie bekam kaum noch Luft. Die Anspannung der Leute schien den Sauerstoff aus der Luft herauszusaugen. Viele der Farmer schüttelten den Kopf, als sie Zeuge wurden, wie die großen Offshore-Firmen sich ein weiteres Stück Land unter den Nagel rissen. Es hatte den Anschein, als machten zwei Telefonbieter das Ganze unter sich aus.

Auch die letzen Nicht-Investment-Bieter, ein gut gekleidetes Paar, stieg jetzt aus der Versteigerung aus. Die beiden flüsterten frustriert miteinander. Die anderen an der landwirtschaftlichen Nutzung interessierten Bieter hatten genau wie Nick, Angus und Kate längst aufgegeben. Kate wusste, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis der Zuschlag erfolgte. Dann war Bronty für immer verloren. Sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt, und heiße Tränen schossen ihr in die Augen. Deshalb nahm sie auch kaum wahr, dass Nell gerade von ihrem Schoß heruntergerutscht war. Kate konnte es einfach nicht ertragen mitzuerleben, wie die Farm verkauft wurde. Eine Hand vor den Mund gepresst und vornübergebeugt, lehnte sie sich an Nick und weinte leise um Will und um ihre Mutter.

»Ich habe versucht, Bronty für uns zu ersteigern, Kate. Ich habe es versucht«, sagte er und wiegte sie sanft vor rund zurück. »Das weißt du doch, oder?«

Kate, die völlig untröstlich war, konnte ihn nicht ansehen. Sie wusste, was nach der Versteigerung geschehen würde.

Es würde nur wenige Tage dauern, dann hätte man alle Tiere an die Schlachthäuser verkauft. Binnen weniger Monate würden die Weiden umgepflügt und mit langen Reihen von Bäumen bepflanzt. Die Flächen, die sich nicht für Eukalyptuspflanzungen eigneten, würden die Firmen einfach sich selbst überlassen, so dass sie schon nach kürzester Zeit von Unkraut überwuchert wären. Das Unkraut würde schon bald Samen ansetzen, die der Seewind dann zu den mit Busch bestandenen Hügeln tragen würde. In nur wenigen Jahren würden die Zäune verrotten, die Schafweiden im Busch verwildern und die Scheunen im hinteren Teil des Besitzes verfallen.

»Das hier ist doch nicht das Ende? Nicht solange wir zusammen sind, nicht wahr?«, sagte Kate zu Nick. Sie sah die Freundlichkeit und Güte, die seine Augen ausstrahlten, sah aber auch den entschlossenen und ernsten Zug, der um seinen Mund lag.

»Nein. Natürlich nicht«, sagte er. Dann nahm er sie in seine Arme und küsste sie. Als sie sich im Schutz ihrer beiden Hüte küssten, schmeckte Kate das Meer auf seinen Lippen und spürte die stille Kraft des Landes in seiner Umarmung. Sie spürte die Schönheit und Stärke seiner Seele in seiner Liebe. Er war ihre Landschaft. Er war alles für sie. Als sie sich küssten, trat die Welt um sie herum in den Hintergrund, und die laute, aufdringliche Stimme des Auktionators wurde immer leiser. Kate hatte das Gefühl, gemeinsam mit Nick über das Meer davonzuschweben. Als sie sich schließlich wieder voneinander lösten, sah sie Nick tief in die Augen und lächelte.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich gleichzeitig so traurig und so glücklich sein könnte.«

»Ich auch nicht.« Er zog sie an seine Brust und hielt sie fest.

»Wo ist Nell?«, fragte Kate plötzlich. Da war sie wieder, die ihr so vertraute Angst einer Mutter.

Sie sahen beide auf. Das Geschrei des Auktionators strebte gerade seinem Höhepunkt entgegen.

»Drei Komma zwei Millionen Dollar, zum Ersten, zum Zweiten und zum …« Der Auktionator hatte seinen Hammer in die Luft erhoben, seine Stimme schraubte sich immer höher, genauso wie die eines Sportreporters, der gerade die entscheidenden Momente eines Hundertmeterlaufs kommentiert. Alle warteten wie gebannt. Aber gerade als der Auktionator den Hammer heruntersausen lassen wollte, knackte es laut in den Lautsprechern und seine Stimme verstummte. Henry stand an der Lautsprecheranlage, ein Kabel in der Hand. Auf seiner Hüfte trug er ein kleines, blondes Mädchen. Nell. Den Zuschauern stockte der Atem. Alle Blicke lagen jetzt auf Henry und Nell.

»Dies ist nur ein kleines technisches Problem, meine Damen und Herren«, rief der Auktionator mit hochrotem Gesicht, wobei seine kurz zuvor noch so eindringliche und hypnotische Stimme ohne das Mikrofon jetzt ziemlich kraftlos klang. Er legte seinen Hammer auf das Pult und ging zu Henry Webster hinüber. »Was ist los, Henry?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Kate war von ihrem Sitz aufgesprungen, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, und sah jetzt verblüfft zu, wie Henry dem Auktionator die Hand beruhigend auf die Schulter legte und leise mit ihm sprach. Dann trat Henry, der noch immer Nell auf dem Arm hatte, einen Schritt zur Seite. Der Auktionator steckte die Lautsprecheranlage wieder ein und blies ins Mikrofon.

»Äh … Probe, eins, zwei. Ä-hm. Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung, meine Damen und Herren.« Der Auktionator versuchte gelassen zu wirken, als er seine Stimme senkte und dann in ernstem, gebieterischem Ton fortfuhr: »Der Verkäufer bittet noch um etwas Zeit. Haben Sie also bitte noch einen Moment Geduld.«

Ein aufgeregtes Murmeln lief durch die Zuschauerreihen.

»Was soll das?«, zischte Annabelle. Henry sah sie ruhig an.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich komme gleich wieder.«

Kates Blick wanderte rasch zu Annabelle. Es war offensichtlich, dass diese versuchte, die Fassade der netten Ehefrau aufrechtzuerhalten. Ihr Lächeln geriet jedoch zu einer einzigen Grimasse. Sie nickte kurz.

Henry, der noch immer Nell auf dem Arm hatte, drehte sich um und kam auf Nick und Kate zu. Er sah die beiden an.

»Nick, wärst du bitte so freundlich und würdest einen Moment lang auf Nell aufpassen?«, fragte er.

»Sicher«, sagte Nick, der sichtlich verblüfft war. Er streckte die Arme aus und nahm ihm Nell ab.

»Kate? Kommst du bitte mit?«, fragte Henry dann leise.

»Natürlich«, sagte Kate. Sie spürte, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. »Natürlich.« Sie folgte ihrem Vater den Gartenweg entlang ins Haus.

Im kühlen Halbdunkel des Hauses angekommen, sah Kate ihrem Vater dabei zu, wie er am Seil der Dachbodenleiter zog. Die Leiter klappte aus, und Henry kletterte hinauf. Kate konnte kaum glauben, was da gerade geschah, während sie hinter ihm herkletterte. Sie war verwirrt, nervös und am Boden zerstört, dass ihre Familie diesen Tag erleben musste. Gleichzeitig war sie höchst gespannt, denn sie hatte nicht die geringste Ahnung, was da gerade vor sich ging.

Oben auf dem Dachboden war die Luft sommerlich warm. Das Blech des Daches quietschte und knarrte so laut, als wollte es seine Meinung zu der Invasion von Menschen unten auf dem Rasen kundtun.

Henry ging um den großen Schreibtisch herum, setzte sich auf dessen Kante und sah dann durch das Fenster zum Meer hinaus. Kate folgte ihm und nahm neben ihm Platz. Da saßen sie nun, Seite an Seite. Vater und Tochter. Auf dem Rasen unter ihnen leuchtete das weiße Zelt gleißend hell im Sonnenschein. Autos und Pick-ups parkten in langen Reihen auf der Koppel. Das alles erinnerte Kate an einen B&S. Sie nahm ihren Hut ab und legte ihn neben sich auf den Schreibtisch.

»Dieser Nick ist anscheinend ein netter Kerl«, sagte Henry plötzlich. Er sprach so ruhig und bedächtig, dass es Kate überraschte. »Bedeutet er dir viel?«

Kate lächelte und nickte.

»Ja. Er ist der Eine.«

»Und er liebt auch Nell, nicht wahr?«

»Absolut.«

Henry schürzte die Lippen und nickte langsam. Dann saß er schweigend da und sah zu den Leuten auf dem Rasen vor dem Haus hinunter. »Da unten sind eine Menge Leute«, sagte er schließlich.

Kate fragte sich, ob ihr Vater verrückt geworden war. Sie nickte schweigend und wartete. Sie saßen eine Zeitlang stumm da, umgeben von all den Dingen aus ihrer Vergangenheit: den Schränken mit den Samen, Laneys Tagebüchern, die sich in den Ablagefächern stapelten, den Kartons mit Wills persönlichen Sachen, Kates Kinderbett aus Holz, in dem noch ihre Babydecke und ihre Kuscheltiere lagen.

»Es ist mir wichtig, dass du mich verstehst«, sagte Henry schließlich. »Ich war wirklich der Meinung, dass es das Beste ist, wenn ich die Farm verkaufe. Nach all dem, was geschehen ist, habe ich sie irgendwann einfach nur noch gehasst.« Kate nickte.

»Ich glaubte, dass ich, wenn ich Annabelle heirate, die Vergangenheit vergessen könnte. Mein Leben verändern. Aber … aber dann ist das mit Will passiert. Und alles wurde nur noch schlimmer. Es hat einfach nicht funktioniert. Und Annabelle ist, nun, sie ist eben Annabelle. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine, mit der ich allein zurechtkommen muss.« Er schüttelte den Kopf. »Ohne deine Mutter war nichts mehr so, wie es gewesen ist. Will war für mich der letzte Strohhalm.«

Kate betrachtete das Profil ihres Vaters, der jetzt den Kopf gesenkt und die Hände wie zum Gebet gefaltet hatte. Jetzt hob er eine Hand und bedeckte damit seine Augen. Sie wusste, dass er weinte.

»Wenn du nur wüsstest, wie dunkel und sinnlos mein Leben geworden ist, seit sie gegangen ist. Seit sie und Will gegangen sind.«

Die Hände ihres Vaters zitterten. Er bedeckte seine Augen mit dem Unterarm und begann laut zu schluchzen. Schließlich holte er tief Luft. Es hörte sich an wie der letzte Atemzug eines Sterbenden, dann jedoch fasste er sich wieder. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und trocknete sich damit die Augen.

»Ich weiß, dass ich nicht immer ein guter Vater gewesen bin«, sagte er mit heiserer Stimme.

»Ich war auch nicht immer eine gute Tochter.« Kate nahm seine Hand. Ihre knochige Stärke fühlte sich irgendwie fremd für sie an. »Es tut mir leid, Dad. Wirklich.«

»Das weiß ich.« Er erwiderte ihren Händedruck, dann stupste er sie mit der Schulter an, zog sie zu sich heran und legte seinen Arm um sie. Sie sahen schweigend auf die glitzernde See hinaus, nahmen die Wärme des Dachbodens in sich auf und spürten dabei die Gegenwart jener Frauen, die in den Generationen vor ihnen hier gearbeitet, miteinander geplaudert und die Samen sortiert hatten. Sie spürten Wills Nähe, stellten sich vor, wie er den Schreibtisch an ebendiesen Fleck gestellt hatte, voller Vorfreude darauf, dass seine Schwester wieder nach Hause kam. Die Zeit schien rückwärtszulaufen bis zu den Jahren vor Laneys Tod, als Kate noch optimistisch in die Zukunft geblickt und ihr Vater sich noch nicht in seinem Kummer vergraben hatte. Als seine Liebe zu ihr so sicher und so fest wie der Boden unter ihren Füßen gewesen war.

»Wir haben alle eine Menge durchgemacht«, sagte er. »Aber jeder hat für sich allein gekämpft. Es ist jetzt an der Zeit, das zu ändern. Ich habe genügend Fehler gemacht, damit muss jetzt Schluss sein. Von jetzt an bin ich für dich da, Katie.«

Kate nickte und lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters. Sie beobachtete, wie in der Ferne die Seevögel in den warmen Winden des Sommers segelten, so als hingen sie an unsichtbaren Fäden. Sie fragte sich, was die Leute da unten im Zelt wohl gerade dachten. Dann aber wurde ihr bewusst, dass ihr das vollkommen egal war. Sie war einfach nur glücklich darüber, hier mit ihrem Dad zu sitzen. Nach einer Weile begann Henry wieder zu sprechen.

»Ich habe mir deinen Sanierungsplan angesehen. Er ist wirklich gut«, sagte er. »Du und Will, ihr beide hättet etwas aus der Farm machen können.«

Als ihr Vater Will erwähnte, spürte Kate, dass ihre Unterlippe zu zittern begann.

»Dann habe ich gesehen, dass ihr, du und Nick, auf die Farm geboten habt. Ihr beide wollt also tatsächlich hier leben. Ist das so?«

Kate hatte jetzt leise zu weinen begonnen. Große Tränen liefen ihr übers Gesicht und fielen auf ihre Jeans.

»Mehr als alles andere. Vor allem wegen Nell.«

»Also noch einmal. Willst du dieses Risiko tatsächlich eingehen?«, fragte Henry.

Kate runzelte irritiert die Stirn. Sie fragte sich, was ihr Vater damit meinte.

»Was würdest du sagen, wenn ich Bronty auf der Stelle dir und Nell überschreiben würde?«

Kate war völlig sprachlos. Sie wagte kaum zu glauben, was sie da gerade gehört hatte.

»Aber …«, stotterte sie, »aber was ist damit?« Sie machte eine Handbewegung zum Fenster, unter dem das Auktionszelt stand.

Er schüttelte den Kopf und lachte dann leise.

»Vergiss das Ganze einfach. Das kommt dabei heraus, wenn ein verzweifelter Mann einen Fehler macht.«

»Ach?«, fragte Kate. »Was hat dich dazu bewogen, deine Meinung zu ändern?

»Das Leben«, sagte er. »Das Leben hat sich verändert. Nell ist die Zukunft. Sie ist auch meine Zukunft. Sie ist unsere Zukunft.« Kate hörte seine Worte, während ihr gleichzeitig tausend Fragen durch den Kopf schossen.

»Also, wie sieht es aus? Bist du bereit, Bronty zu übernehmen?«

»Ja«, sagte Kate entschieden. »Ja!«


Als Henry und Kate aus dem Haus kamen, machten die Leute ihnen respektvoll Platz. Annabelle stürmte auf sie zu. Ihr Gesicht zeigte eine unheilvolle Mischung aus Sorge, Verwirrung und Zorn.

»Henry?«, fragte sie.

»Komm bitte mit«, sagte Henry und nahm sie beim Arm, um dann mit ihr zum Auktionator hinüberzugehen, der, umringt von seinen Assistenten, noch immer neben dem Podium stand. Nick, der Nell auf dem Arm trug, stellte sich neben Kate und sah sie fragend an.

Kate lächelte und nickte in Richtung des Auktionators, der jetzt wieder sein Mikrofon einschaltete.

»Meine Damen und Herren. Dies war ein überaus interessanter und turbulenter Nachmittag. Genauer gesagt, einer der interessantesten Nachmittage, die ich in meinem Berufsleben bisher erlebt habe. Ich bitte Sie zur Kenntnis zu nehmen, dass das Anwesen mit sofortiger Wirkung vom Verkauf zurückgezogen wurde.«

Nick blieb der Mund offen stehen, als ein kollektives Seufzen durch die Menge ging und dann alle gleichzeitig zu reden anfingen. Die Agenten griffen nach ihren Handys, um ihre Klienten anzurufen. Die Journalisten drängten mit ihren Notizblöcken nach vorn. Kate bekam plötzlich eine Gänsehaut. Sie spürte, wie Nick ihre Hand nahm. Der Auktionator versuchte die aufgeregte Menge zu beruhigen. Annabelle stand mit geröteten Wangen neben Henry und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nell, die die plötzliche Aufregung sichtlich beunruhigte, klammerte sich ängstlich an Kates Bein. Kate hob sie hoch, bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und versicherte ihr, dass alles gut sei, ja, sogar mehr als gut. Dann gingen Kate, Nell und Nick zu Henry hinüber. Der Auktionator schlug wie ein Richter, der Ruhe im Saal fordert, mit seinem Hammer mehrmals auf das Pult. Dann sprach er ins Mikrofon.

»Ich weise darauf hin, dass dem Verkäufer das Recht eingeräumt wurde, bis zum Zuschlag vom Verkauf zurückzutreten. Wir bitten die Bieter um Entschuldigung. Die Auktion ist hiermit beendet. Vielen Dank für Ihr Interesse.« Der Auktionator stieg von seinem Podium herunter. Henry sah ihn verlegen an.

»Ich werde Ihnen die Unkosten in Rechung stellen, Henry. So einfach kommen Sie aus dieser Sache nicht raus.« Dann aber breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er kniff Nell freundlich in die Wange.

»Zum Teufel mit diesen Investoren«, sagte er verschwörerisch. »Gebt diesem kleinem Mädchen hier und der Landwirtschaft eine Chance. Irgendjemand muss es ja schließlich tun.«