Kapitel 8

Janie kam mit einem Kissen und einer Bettdecke ins Zimmer, die mit Mickymäusen bedruckt war. Sie hielt Kate beides entgegen.

»Ich hatte nur Micky oder die Wiggles zur Auswahl. Aber ich habe mir gedacht, dass dich die vielen sexy Wiggles-Hintern zu sehr erregen würden.« Als sie sah, dass Kate, die Arme um ihre Knie geschlungen, auf der Couch vor- und zurückschaukelte und ins Leere starrte, ließ sie sich in einen Sessel fallen. »Kate? Was ist los mit dir?«

»Ich fass es einfach nicht, dass ich ausgerechnet dieses Lied gespielt habe, als er hereinkam. Wie peinlich! O mein Gott, Janie. Das war er! Das war Nick McDonnnell! Mannomann!«

»Psst. Du weckst noch die Kinder auf.« Janie warf ein Sofakissen nach ihr. Kate hielt sich den Mund zu und ein grunzendes Lachen drang dahinter hervor. »Für dich ist das alles nur ein großer Spaß, nicht wahr?«

Kate unterdrückte ein Lächeln. »Nein, ist es nicht. Ich bin todernst.«

»Ja, genau. Manchmal wünsche ich mir wirklich, du würdest endlich erwachsen!« Janie versuchte das ohne Vorwurf zu sagen, aber Kate vernahm dennoch den ärgerlichen Unterton in ihrer Stimme.

»Erwachsen werden?«, wiederholte Kate. »Du lieber Himmel, Janie. Niemand weiß besser als du, dass mir gar nichts anderes übrig geblieben ist, als schon ganz früh erwachsen zu werden. Ich war niemals etwas anderes als erwachsen. Da darf ich jetzt doch wenigstens ein bisschen Spaß haben, oder etwa nicht?«

Janie setzte sich jetzt auf die Lehne des Sessels, der neben dem Sofa stand. Sie seufzte.

»Du kannst Spaß haben und trotzdem verantwortungsbewusst sein, Kate. Das eine schließt das andere doch nicht aus.«

»Jawohl, Mama«, sagte Kate sarkastisch.

»Es gibt keinen Grund, mich anzugiften.« Janie rutschte von der Sessellehne herunter und kniete sich vor Kate hin, wobei sie ihr fest in die Augen sah. »So wie ich das sehe, gibst du Nell nicht unbedingt das Gefühl, eine besonders erwachsene Mutter zu haben.«

Kate verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur weil du dich entschieden hast, Big Dave zu heiraten, so schnell wie möglich Kinder zu kriegen und dich selbst in einen Käfig zu sperren, heißt das noch lange nicht, dass du das Recht hast, über mich zu urteilen! Ich hatte nämlich nie eine Wahl!« Kate zog ihre Decke bis unters Kinn hoch.

»Mich selbst in einen Käfig sperren! Du weißt genauso gut wie ich, dass ich in einem Käfig saß, bevor ich Dave kennen gelernt habe, nicht danach! Du konntest wenigstens die Schule fertig machen! Das Studium war hart für dich, das gebe ich zu. Aber du hattest wenigstens eine Mutter, die dir immer wieder gesagt hat, dass du intelligent bist. Ich habe nicht einmal gewusst, wie ein Buch überhaupt aussieht. Also halte mir keinen Vortrag darüber, wer hier eine Wahlmöglichkeit hatte. Wir haben die Herausforderung in jener Nacht beide angenommen. Erinnerst du dich?«

»Mich erinnern?«, fauchte Kate. »Wie könnte ich das je vergessen?« Sie zog sich die Bettdecke über ihren Kopf. Janie stand auf und sah auf den Umriss ihrer Freundin hinunter.

»Gute Nacht, Kate«, sagte sie schließlich, schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer.

Als sich Kates Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte sie fest, dass bleiches Mondlicht unter ihre Bettdecke drang. Es war gerade hell genug, dass sie das wie im Wahnsinn grinsende Gesicht von Mickymaus auf dem Kissen erkennen konnte. Plötzlich wünschte sie sich, dass Janie sich für den Wiggles-Bettbezug entschieden hätte. Sie schob die Decke zurück und sah zum Mond hinauf, der in der oberen linken Ecke des Fensters zu sehen war. Auch am Abend des Rouseabout B&S hatte der Vollmond am Himmel gestanden. Der Abend, an dem sie Nick zum ersten Mal gesehen und an dem sie zum ersten Mal dieses Kleid getragen hatte.


Kate strich das Kleid aus kirschroter Seide über ihren Hüften glatt und griff nach hinten, um den Reißverschluss zu schließen. Wenn ihre Mutter noch da gewesen wäre, hätte sie den Reißverschluss hochgezogen und sich dabei lachend darüber beschwert, dass dieses Kleid viel zu kurz und der Ausschnitt viel zu tief sei. Dann aber hätte sie ihr einen Kuss gegeben und ihr gesagt, dass sie trotzdem ausgehen und sich amüsieren solle. Kate seufzte und wünschte sich, dass ihre Mutter da gewesen wäre und ihr gesagt hätte: »Wenn du schon nicht brav sein kannst, dann sei wenigstens vorsichtig.« Aber ihre Mutter war nicht da, um die kleinen Silberzähnchen des Reißverschlusses zu schließen, der sich an Kates Rückgrat schmiegte. Ihre Mutter war tot. Kate dachte an ihre Mutter, die jetzt in ihrem dunklen Sarg unter dem schwarzen Lehmboden des örtlichen Friedhofs lag. Der schiere, nackte Kummer packte sie so unvermittelt, dass sie sich am Waschbecken festhalten musste. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie in ihr Gesicht im Badezimmerspiegel. Eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter starrte sie an.

»Da hast du dich aber fein herausgeputzt, Webster«, sagte sie voller Sarkasmus zu ihrem Spiegelbild und wusste dabei, dass ihre strahlende Erscheinung nur den Aufruhr in ihrem Inneren verdecken sollte. Der B&S-Ball an diesem Abend war eine Gelegenheit, sich so zu betrinken, dass sie den Schmerz der letzten Wochen nicht mehr spüren würde. Der Rouseabout! Ein ›Bachelor and Spinsters’‹-Ball, ein Ball für junge Leute. Der Fahrschein ins Vergessen.

Als Kate gerade sechzehn Jahre alt geworden war, hatte Will sie zu ihrem ersten Ball geschmuggelt. Ihre Mutter hatte nicht versucht, sie davon abzuhalten. Sie hatte Will nur mit ruhiger Stimme ermahnt, auf seine Schwester aufzupassen und ihrem Vater nichts zu sagen. Sie würde sie decken. So war Laney eben: bereit, ihnen beiden bedingungslos zu vertrauen und auch bereit, ihnen die Freiräume zu geben, die sie brauchten. In ihren Augen sollte man sein Leben nicht nur einfach leben, man sollte es genießen, es in sich aufsaugen, herausfordern und man sollte Gelegenheiten beim Schopf packen.

Kate wandte sich vom Spiegel ab und wappnete sich innerlich, bevor sie ins Wohnzimmer ging, um ihrem Vater gegenüberzutreten. Er saß in seinem dick gepolsterten Klubsessel, seine Füße lagen auf einem alten, ramponierten Lederhocker. Sein Gesicht war hinter dem Tasmanian Country, den er mit ausgestreckten Armen vor sich hielt, verborgen.

»Also dann, tschüs«, sagte Kate und hoffte dabei, dass er irgendetwas zu ihr sagen würde. Stattdessen ließ er die Zeitung sinken, musterte sie in ihrem kurzen, roten Kleid, schüttelte dann langsam den Kopf und hob die Zeitung schließlich wieder vor sein Gesicht.

»Dad«, sagte sie und streckte die Hand aus, um seinen Arm zu berühren. Er riss seinen Arm jedoch ärgerlich unter ihren Fingern weg, wobei die Zeitung laut raschelte. »Verdammt, Dad, kannst du denn nicht irgendetwas Nettes sagen? Mama würde sich bestimmt darüber freuen, dass wir ausgehen und uns ein bisschen amüsieren.«

Ihr Vater drehte sich von ihr weg und wandte auch den Kopf ab, so dass es aussah, als würde er intensiv die Viehmarktpreise studieren. Sie war sich jedoch sicher, dass er nicht las. Er hatte die Augen fest zusammengekniffen. Kate drehte sich um und ging mit großen Schritten zum Kaminsims hinüber, wo die Beileidskarten und die inzwischen verwelkten Blumen standen. Sie packte die Karten und riss die Blumen aus den Vasen. Grüne Tropfen stinkenden Blumenwassers spritzten auf die Bodendielen.

»Mama würde all das hier hassen«, sagte sie und warf die Karten und die Blumen in den kalten Kamin. »Wie kannst du nur glauben, dass es noch zu früh ist, um auszugehen? Es war für sie einfach nur zu früh zum Sterben! Willst du das denn nicht verstehen?«, schrie Kate. »Wie soll ich denn sonst weiterleben?«

Henry umklammerte die Zeitung mit seinen Fäusten.

»Geh«, sagte er. »Verschwinde einfach!«

Kate wollte ihm gerade entgegenschleudern, dass sie verdammt noch mal tatsächlich gehen und niemals wieder zurückkommen würde, als Will ins Zimmer kam. Er trug seinen blauen Samtanzug aus dem Second-Hand-Laden und ein rosa Rüschenhemd. Er sah das Durcheinander im Kamin, sah Kates hochrotes Gesicht und den traurigen Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters.

»Komm, Kate«, sagte er mit sanfter Stimme. Dann drehte er sich zu Henry um und bückte sich zu ihm hinunter.

»Das Vieh ist versorgt, nur die Hunde brauchen morgen etwas zu fressen. Ich habe ein Wallaby in die Futterkammer gelegt. Wir sehn uns dann am Sonntagabend. Okay, Dad?«

Henry antwortete ihm nicht und würdigte die beiden auch keines Blickes mehr, als sie sich umdrehten und das Zimmer verließen.


Das Rutherglen-Farmhaus sah im Mondlicht zwar wunderschön aus, aber es wirkte auch gespenstisch kalt, als Nick darauf zufuhr. Bis auf einen matten Lichtschein auf der einen Seite des Hauses waren alle Fenster dunkel. Sein Vater war also noch wach und schlurfte wahrscheinlich in der Küche herum. Sollte er ihm sagen, dass er Kate Webster heute Abend im Pub gesehen hatte? Würde das seinen Vater überhaupt interessieren?

Nick fand seinen Vater Lance schließlich in der Waschküche. Er beugte sich gerade über einen Wäschekorb und versuchte, ein Knäuel Bettwäsche in die Waschmaschine zu stecken. Nick erkannte an der Art und Weise, wie sein Vater mit der Wäsche herumhantierte, dass ihm das Ganze mehr als nur peinlich war. Er hatte offensichtlich wieder ins Bett gemacht, zu krank und zu langsam, um noch rechtzeitig zur Toilette zu kommen. Oder zu benommen von den Schmerzmitteln, um seinen Harndrang überhaupt zu bemerken.

»Deine Mutter hat ohnehin schon genug zu tun«, sagte Lance. »Sie braucht das hier morgen früh nicht auch noch zu machen.«

»Hier.« Nick nahm seinem Vater die Bettwäsche ab, vermied es dabei aber, ihm in die Augen zu sehen. In letzter Zeit fiel es ihm ohnehin ziemlich schwer, ihn anzusehen. Seine grauen Augen waren tief in seinem fahlen Gesicht eingesunken. Nick vermied es auch, dorthin zu sehen, wo sich der Beutel befand, den sein Vater unter seiner Kleidung tragen musste. Ein Beutel, der sich langsam mit seinen Exkrementen füllte. Jetzt im Licht der schirmlosen Lampe sah sein Vater aus wie der wandelnde Tod. »Ich mach das schon. Geh wieder ins Bett, Dad.«

»Dann gute Nacht«, sagte Lance und schlurfte hinaus, dankbar für die Hilfe seines Sohnes, gleichzeitig aber auch gedemütigt.

Nick warf einen Blick in die Waschmaschine und stöhnte leise auf, als er die nasse Wäsche sah, die an der Wand der Trommel klebte. Er nahm einen zweiten Wäschekorb und begann, die Waschmaschine auszuräumen.

Draußen an der Wäscheleine, die zwischen zwei alten Apfelbäumen gespannt war, warf Nick ein Bettlaken über die Schnur. Das weiße Licht des Mondes auf dem flatternden Laken ließ Felicitys nervöse Turnierpferde aufgeregt schnauben und umhertraben.

»Ganz ruhig«, brummte Nick ihnen über den Zaun zu. Während er ärgerlich Unterhosen, Socken und alte Arbeitshemden mit Wäscheklammern an der Leine befestigte, sah er wieder zum Mond hinauf. Er war der Erde so nah, dass man die Wirbel auf seinem Gesicht erkennen konnte. Nick musste wieder an jene Nacht vor vielen Jahren denken. Damals war der Mond auch so nah erschienen.

In jener Nacht hatte er unter der dunklen, nach Diesel und Öl stinkenden Abdeckplane eines Pick-ups gelegen und zum Mond hinaufgesehen. Sein Bruder Angus hatte die Plane schließlich zurückgeschlagen und Nick von der Ladefläche des Pick-ups heruntergeholfen, die mit Kühlboxen und zusammengerollten Schlafsäcken beladen gewesen war.

»Vergiss nicht, Nick, heute Abend bist du achtzehn, okay? Wenn dich also irgendeiner von den Kerlen hinter der Bar komisch ansieht, tauchst du einfach in der Menge unter und hältst dich für eine Weile bedeckt. Dann wird dir schon nichts passieren.«

Nick stand auf der kurz geschnittenen Weide, wo Superphosphat-Dünger wie gerade gefallene Hagelkörner im Mondlicht schimmerte. Er zupfte an dem für seinen mageren Körper viel zu weiten Anzug herum, als die hämmernde Musik aus der großen Scheune, in der normalerweise Schafe geschoren wurden, durch seinen Körper vibrierte. Der köstliche Duft von am Spieß gebratenem Hammel- und Schweinefleisch lag in der Luft. Viele Reihen von Autos und Pick-ups glitzerten im Licht des Mondes. Hinter ihnen bewegten sich Gestalten wie Ghule über die Koppeln. Ein paar Betrunkene torkelten herum, so dass es aussah, als würden sie sich an Deck eines Schiffes auf hoher See befinden.

»Und jetzt, kleiner Bruder, kommen die Regeln«, sagte Angus. Er legte Nick seine Hand, die so groß wie ein Speiseteller war, auf die Schultern und beugte sich dann hinunter, um seinem aufgeregten, jüngeren Bruder in die Augen zu sehen.

»Regel Nummer eins: Wenn du dich besäufst und kotzen musst, bleib weg von meinem Pick-up und von meinem Schlafsack. Kapiert? Regel Nummer zwei: Wenn du ein Mädchen aufreißt und es zur Sache geht, dann benutz eins von denen hier.« Angus drückte ihm eine zerknitterte Plastikfolie mit einem Kondom in die Hand. »Regel Nummer drei: Wer was isst, der mogelt. Mit diesen Worten gab er Nick eine Dose Bundy-Rum. Das kalte Aluminium fühlte sich in Nicks Hand gut an.

Angus zeigte auf die hell erleuchtete Scheune »Willkommen im B&S-Land, kleiner Bruder!«

Nick starrte zu der riesigen, weißen Mondscheibe am Himmel hinauf, während er einen kräftigen Schluck Rum trank. Er spürte, wie der hochprozentige Alkohol scharf wie Kies in seiner Kehle kratzte. Dies war sein erster B&S. Sein Herz raste. Während er noch einmal seine viel zu große Jacke zurechtzog, schlurfte er hinter seinem älteren Bruder auf das hell lodernde Lagerfeuer und die Scheune zu.


Kate lehnte in ihrem roten Seidenkleid am Bullenfänger von Wills Subaru Pick-up und zog ihre hochhackigen Schuhe aus. Sie hängte die Schuhe an den Rückspiegel und schlüpfte dann in ein Paar Hockeysocken und ausgelatschte Blundstone-Stiefel. Dann wartete sie ungeduldig darauf, das ihr Bruder mit dem Pinkeln fertig wurde.

»Bist du endlich so weit?«, fragte sie schließlich.

»Ja, es kann losgehen«, sagte Will und nahm sein Bier, das er auf der Motorhaube abgestellt hatte. Sie gingen zuerst an den langen Reihen von geparkten Autos vorbei und dann über die holprige Koppel auf den hämmernden Lärm zu, der aus der Scheune kam.

Zu ihrer Rechten war ein blaues Zelt aufgebaut, das wohl von einer Viehhandelfirma ausgeliehen worden war. In dem Zelt standen mit Speisen beladene Tapeziertische. Mit Butter bestrichene Scheiben Weißbrot waren zu hohen Türmen aufgestapelt. Große Schüsseln mit Kartoffelsalat und grob geschnittenem, schwerem Krautsalat reihten sich aneinander. Auf silbernen Wegwerftabletts stapelte sich das Fleisch. Einige Mädchen saßen im Schneidersitz auf dem Boden und aßen manierlich von Tellern, während diejenigen, die schon betrunkener waren, ihr Fleisch einfach in der Hand hielten und es nach Art der Wikinger mit den Zähnen von den Knochen rissen. Als Kate und Will vorbeikamen, zerstreute sich die Schlange von hungrigen Gästen für kurze Zeit, als ein junger Hitzkopf seinem Kumpel eine ganze Schüssel Krautsalat über den Kopf kippte. Kate lächelte, als sie sah, wie der Junge sich die Mayonnaise aus den Augen wischte und ganze Hände voll geriebener Karotten und Kohl in die Menge warf. Es war erst acht Uhr, aber einige der Leute waren jetzt schon außer Rand und Band.

»Schauen wir erst einmal, was die Bar zu bieten hat, und holen uns dann etwas zu essen«, schlug Will vor. Kate nickte. Die beiden gingen weiter. Ein riesiges Lagerfeuer sprühte Funken in den nächtlichen Himmel. Die Leute standen in Gruppen herum, tranken und unterhielten sich miteinander. Einige saßen auf Heuballen. Kate bemerkte ein Paar, das mitten auf der Koppel lag und sich leidenschaftlich küsste. Das Kleid des Mädchens war nach oben gerutscht, so dass jeder sowohl ihren rosa Slip sehen konnte – eine Pobacke drin, eine draußen – als auch die Grübchen auf ihren Oberschenkeln, die aussahen wie die bleiche Oberfläche des Mondes. Eine Gruppe von Jungen riss johlend einen Heuballen auseinander und bedeckte das Paar mit stachligem, kratzigem Heu. Die beiden kümmerten sich nicht sonderlich darum. Sie küssten sich einfach weiter, wobei der Junge als einzige Reaktion auf das, was seine Kumpel getan hatten, ihnen kurz zuwinkte und dabei verschmitzt lächelte. Kate ging auf die Bar zu. Sie war auf dem Rouseabout, Tasmaniens jährlichem großem Fest für junge Leute. Ihr Herz raste.

In der Scheune hatte der Geruch von verschüttetem Rum auf den mit Wollfett und Dung getränkten Gitterrosten die Menge bereits in Ekstase geraten lassen. Allein schon der Geruch von Rum und Dung versetzte Kate genau wie die meisten anderen B&S-Besucher, auf der Stelle in eine Art von Trance. Ihr einziges Ziel heute Abend war, sich völlig sinnlos zu betrinken. Sie wollte so wild und unbezähmbar sein wie ein Tier. Wollte alle gesellschaftlichen Schranken einreißen und sich von all den Zwängen befreien, die sie seit dem Begräbnis ihrer Mutter ertragen hatte. Heute Abend würde sie die Maske fallen lassen und zulassen, dass der Rum alles andere verdrängte und aussperrte. Sie spürte, wie die Menge um sie herum in Bewegung kam, als die Leute angerannt kamen, um den Reitern auf einem mechanischen Bullen zuzusehen.

»Riechst du das, Janie?«, rief sie und atmete tief ein, als sie über den Boden rutschte und schlitterte. »Wer will schon Tabletten einwerfen, wenn er auch von Schafscheiße, gemischt mit Rum high werden kann? Die Kids aus der Stadt kapieren einfach überhaupt nichts.«

Janie konnte sie jedoch nicht hören. Sie war zu sehr damit beschäftig, sich durch die Menge zu kämpfen. In ihrem selbst genähten, trägerlosen pfauenblauen Kleid sah sie wirklich hübsch aus. Ihr lockiges blondes Haar, zu locker ineinander verschlungenen Strähnen auf dem Kopf festgesteckt, rahmte ihr engelhaftes, sommersprossiges Gesicht.

Als es Kate endlich gelungen war, sich durch das Gewühl von schwarzen Anzügen zu schieben, stand Janie gerade unter einem Spruchband mit der Aufschrift: Der Rouseabout Bachelor and Spinsters’-Ball und der Karikatur eines Hundes, der sich gerade einen hinter die Binde kippte. Der DJ hatte seine Anlage sicher in der Nähe der Wollbehälter aufgebaut. In seinem glänzenden, bauschigen Trainingsanzug, mit seiner nach hinten gedrehten Baseballkappe und seinen Strandschuhen mit Reflektoren war er der Einzige, der nicht hierherzupassen schien. Aber zumindest hatte er die Leute im Griff. Er legte gerade Adam Brands »Dirt Track Cowboy« auf, woraufhin ein vielstimmiges Johlen erschallte und von dem Wellblechdach als Echo zurückgeworfen wurde. Adams sexy Stimme, so glatt wie frischer Teer, stachelte die Menge noch mehr auf.

Von all dem wie berauscht, stieß Kate Janie mit der Schulter an.

»Los. Trau dich!«, sagte sie, als sie Janie auf den mechanischen Bullen zuschob. Janie drehte sich um und strahlte sie an. Sie war offensichtlich auch zu allem bereit, befreit von der Traurigkeit, die Kates Verlust mit sich gebracht hatte und auch befreit von ihren eigenen Problemen zu Hause.

Sie stolperte auf den Ring zu, zog ihr Satinkleid bis über ihre stämmigen Oberschenkel hoch, schleuderte ihre Arbeitsstiefel einfach von den Füßen und kletterte dann auf den Bullen. Ihre goldenen Haare fielen ihr über ihre hübschen, molligen Schultern, als der Bulle sich langsam zu bewegen und zu drehen begann. Dann schneller und immer schneller und immer höher. Janie warf einen Arm in die Luft und versuchte die Bewegungen des Bullen auszugleichen.

»Gib es ihm, Janie!«, schrie Kate aus vollem Hals. »Reite diesen Kerl! Komm schon!«

Janie peitschte schaukelnd vor und zurück, bis sie schließlich ein schneller, scharfer Ruck auf die Matte schleuderte. Die Zuschauer brüllten dem mutigen, drallen Mädchen ihre Anerkennung zu, und Janie krabbelte lachend auf allen vieren zu Kate und Will hinüber.

»Ein Ritt von acht Sekunden ist einfach nicht lange genug für mich!«

Während sie noch nach Luft schnappend dastand, wurde bereits ein Junge in die Arena geschoben. Sein lockiges blondes Haar war mit Rum durchtränkt. Er schwankte ein wenig und grinste dabei von einem Ohr zum andern. Kate registrierte sowohl sein engelsgleiches Lächeln als auch, dass seine viel zu große Anzughose von einer orangefarbenen Schnur festgehalten wurde.

»Sieh dir nur dieses Küken an«, sagte Kate.

»Der ist bestimmt noch minderjährig. Sicher fliegt er bald raus«, sagte Will.

»Das hängt davon ab, was du unter minderjährig verstehst, Will«, sagte Janie. »Ist das nicht Angus McDonnells kleiner Bruder Nick? Der müsste inzwischen siebzehn sein, oder? Damit darf er zwar weder Alkohol trinken noch auf einem B&S sein – aber er darf Sex haben.«

»Du bist wirklich unmöglich«, sagte Will.

»Aus ihm ist wirklich ein süßes kleines Kerlchen geworden«, sagte Kate und musterte dabei interessiert seine goldenen Locken und seine glatte, goldene Haut.

Nick McDonnell kletterte auf den kitschig rot und weiß bemalten Bullen. Die Menge johlte und klatschte. Er ritt mit Stil, und das trotz der unpassenden Kleidung, die er trug. Als der Bulle heftiger zu bocken begann, öffnete sich sein Hemd, so dass die Zuschauer seine nackte Brust sehen konnten.

»Dieser McDonnell ist richtig süß«, brüllte Kate Janie in dem Tohuwabohu zu.

»Ja. Da hast du Recht. Du solltest ihm sagen, dass er dich in ein paar Jahren, wenn seine Hormone mit ihm fertig sind, mal anrufen soll. Er ist wirklich verdammt süß«, brüllte Janie zurück.

Kate lachte. Der Junge hatte etwas absolut Unwiderstehliches an sich. Er hatte Charisma. Sein Aussehen war das eine, zudem strahlte er trotz seiner Jugend schon Selbstbewusstsein und Vitalität aus. Sie lachte, als der Bulle jetzt so heftig bockte, dass der Junge von seinem Rücken geschleudert wurde. Er landete weich, überschlug sich dabei wie Jackie Chan zweimal, rollte geschickt ab und stand dann auf. Schließlich warf er die Arme in die Luft, um sich bei der johlenden Menge zu bedanken.

Als Nächstes wollte es offenbar ein grinsender Kerl, groß und quadratisch wie ein riesiger Heuballen versuchen.

»Das ist vielleicht ein Prachtexemplar«, schrie Janie Kate über den Lärm hinweg zu. »Dave Shaw. Ein Cowboy aus Woodsden. Er stößt sich hier die Hörner ab, bevor er zur Farm seines Vaters zurückmuss. Die liegt übrigens ganz in eurer Nähe. Kennst du die Shaws?«

»Du redest wie jemand, der auf sein Land scharf ist.«

Janie sah sich den großen Mann auf dem bockenden Bullen jetzt genauer an.

»Land ist bestimmt nicht das, worauf ich heute Abend scharf bin«, sagte sie.

Kate drehte sich grinsend zu Janie um.

»Ich wette, dass du dich nicht einmal traust, ihn zu küssen!«

»Sei nicht albern«, sagte Janie. »Ich wollte mir heute eigentlich Johnno schnappen.«

Sie sah zu einem dunkelhaarigen Jungen mit kantigem Kinn hinüber, der gerade versuchte, einen Stapel Plastikbecher auf dem Kopf zu balancieren. Seine Kumpel feuerten ihn dabei begeistert an.

»Ach, vergiss es. Sieh ihn dir doch an. Du wirst es niemals schaffen, ihn von Simmo und Blue lozueisen. Außerdem kommen die drei alle vom Festland. Das ist witzlos.«

Janie musterte den pummeligen Simmo, der gerade ein Bier hinunterkippte, und Blue, einen echten Rotschopf mit Sommersprossen, der gerade wie ein Idiot herumsprang. Die beiden verehrten ihren Kumpel Johnno geradezu. Sie waren immer zu dritt unterwegs und gaben jeden Dollar, den sie als Cowboys in Deniliquin verdienten, dafür aus, von einem B&S zum nächsten zu ziehen.

»Mmmm, gutes Argument«, sagte Janie.

»Dave spielt da in einer ganz anderen Liga. Wenn du ihm erst einmal deine großen Glocken gezeigt hast, bist du bestimmt im Spiel. Ich wette, dass du dich nicht traust, ihn anzumachen und …« Kate überlegte einen Moment. »Und ihm hinten auf dem Pick-up einen zu blasen. Dann würde er dich nämlich für den Rest seines Lebens lieben.«

Janie warf den Kopf zurück und lachte.

»Diese Wette nehme ich nicht an, Webster!«

»Ich will aber mit dir wetten!«, beharrte Kate.

»Also gut, du verrücktes Huhn, die Wette gilt. Aber jetzt bin ich dran, dir eine Wette anzubieten.«

»Dann mach schon. Was?«

»Ich wette mit dir …« Janie hielt inne und ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Dann erhellte sich ihr Gesicht. »Ich wette mit dir, dass du dich nicht traust, diesen kleinen Jungen dort drüben zu skalpieren. « Sie zeigte auf Nick McDonnell.

»Ihn skalpieren?«

»Ja«, sagte Janie. »Du weißt schon. »Dir seine Unschuld holen!«

»Er ist wohl kaum ein kleiner Junge, Janie. Er ist gerade einmal zwei Jahre jünger als wir!«

»Ja, aber er ist mit Sicherheit noch Jungfrau. Das sehe ich ihm einfach an. Ich wette also, dass du dich nicht traust.«

Kate lächelte und spürte dabei sowohl ein prickelndes Verlangen als auch das sichere Gefühl, dass alles möglich war, was sie wollte. Nick war wirklich sehr süß. Aber dann schüttelte sie doch den Kopf.

»Ha! Warum reißt du dann deine Klappe so weit auf, Webster«, sagte Janie und gab ihr einen Schubs. »Du schreist durch die Gegend, dass du heute Abend so richtig die Sau rauslassen willst, und dann ist das alles nichts als leeres Gerede.«

Kate spürte, wie ihre Haut zu kribbeln begann. Der Glanz der Nacht verblasste plötzlich. Die Kälte, die der Tod ihrer Mutter mit sich gebracht hatte, ergriff wieder von ihr Besitz. Sie fröstelte. Sie schnappte sich einen der drei Becher mit Rum, die Will in den Händen hielt, und kippte ihn hinunter.

»Also gut«, sagte sie. »Ich nehme die Wette an, du Nervensäge! Ich übernehme die männliche Jungfrau. Ein wenig junges Blut hat noch niemandem geschadet! Vielleicht kann ich ihm ja auch gleich ein oder zwei Dinge beibringen!«

Beide Mädchen warfen den Kopf in den Nacken und lachten lauthals. Dann stießen sie mit ihren Plastikbechern an.

»Bis Sonnenaufgang gehört er mir!« Kate warf mit einer dramatischen Geste ihr schwarzes Haar zurück, drehte sich auf dem Absatz um und wollte schnurstracks zu Nick hinübergehen.

»Katie«, sagte Will und hielt sie sanft zurück. »Mach langsam, okay?«

»Für wen hältst du dich eigentlich?«, fuhr sie ihn an und schüttelte dabei seine Hand ab. »Für meine Mutter?«


Nick starrte die geprägte Blechdecke seines Schlafzimmers an. Der Mond warf seine Schatten über das kunstvolle Design aus Blättern und Linien. Er dachte an Felicity und daran, wie er sich am Abend zuvor in diesem Pub gefühlt hatte. Unter Druck gesetzt. Seit dem Unfall seines Vaters fühlte er sich oft unter Druck gesetzt. Er stand auf, schwang seine kräftigen Beine vom Bett und ging über die kalten Bodendielen zum Fenster hinüber. Dort stand er, nur mit seinen Boxershorts bekleidet, und schlang seine Arme um seine breite Brust. Er kam sich in diesem Schlafzimmer wie in einer Falle vor. Als wäre er einfach viel zu groß für diesen Raum. Wertlose Wimpel und Pony-Klub-Bänder, ausgeblichen und verstaubt, hingen an der Blende für die Gardinenleiste. Modelle von Traktoren und landwirtschaftlichen Geräten standen wie bei einem Räumungsverkauf unordentlich auf einem Regal herum. Das Gewicht der niedrigen Decke schien ihn erdrücken zu wollen. Er hatte das Gefühl, als müsse er sich vornüberbeugen, als wäre es ihm in diesem Zimmer überhaupt nicht gestattet, erwachsen zu sein. Als könne er sich hier nicht richtig entfalten.

Er hörte, wie sein Vater im Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs hustete und seine Mutter daraufhin leise etwas murmelte. Nick fragte sich, wo Alice nur die Kraft hernahm, ihren Mann sogar im Halbschlaf noch zu trösten.

Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass seine Eltern jetzt in getrennten Betten schliefen. Zwei Einzelbetten, die an die Wände ihres Schlafzimmers gerückt waren, dazwischen eine breite Kluft. Die große, weiche Insel des Trostes, auf die er als Kind so oft geklettert war, gab es nicht mehr. Zwischen den Betten stand jetzt ein weißes, Schränkchen, das mit all den medizinischen Dingen und Gerätschaften gefüllt war, die nötig waren, damit der Körper seines Dads noch einigermaßen funktionierte: Stomabeutel, Tabletten, Watte, Bandagen und Klebeband, um all die Schläuche und Kanülen an Ort und Stelle zu halten. Medikamente gegen die Schmerzen und Medikamente zur Beruhigung. Arztberichte, Röntgenbilder in riesigen Mappen, halb leere Wassergläser, kleine Nierenschälchen voller Spritzen. Dieses Schränkchen und die beiden Einzelbetten hatten Nick seine Kindheitserinnerungen an dieses Zimmer genommen. Das Zimmer war nicht das Einzige, was sich verändert hatte.

Seit jener Nacht, in der sie die Nachricht bekommen hatten, dass sein Dad mit seinem Pick-up draußen auf der Tin Pot Marsh Road gegen eine große alte Pinie gefahren war, hatte sich einfach alles geändert. Für Nick schien das Leben inzwischen völlig zum Stillstand gekommen zu sein. Er hatte das Gefühl, durch einen Sumpf zu waten. Er war der Welt da draußen gegenüber wie taub geworden. Er war in einer einzigen Nacht viele Jahre älter geworden.

Mit seinem Verstand hatte er versucht, gegen die Angst anzukämpfen, mit seinem Herzen hatte er um seinen Vater getrauert. Sein Zorn auf das alles hatte mit der Zeit zu einem Schweigen zwischen ihnen geführt. Manchmal sprachen sie mehrere Tage lang kein einziges Wort miteinander. Nick wurde stets von Gewissensbissen gequält, wenn er sich in Gedanken immer wieder stumm fragte: »Warum bist du in jener Nacht nicht gestorben, Dad?« Wäre sein Dad ein Tier, hätte man ihm den Lauf eines Gewehrs an den Kopf gesetzt und ihm den Gnadenschuss gegeben. Nick fragte sich oft, warum die Menschen so versessen darauf waren, Leben zu bewahren, selbst wenn dieses Leben in keiner Weise mehr lebenswert war. Dieses neue Leben, das sein Vater jetzt führte, war viel zu hart für ihn. Eine ewig währende »Genesung«, von der Nick wusste, dass sie niemals eintreten würde. Seinem Vater würde es nie mehr besser gehen. Nur immer schlechter.

Eine Kurve, ein Baum und ein wenig Rollsplitt, und ihr aller Leben war bis zu Unkenntlichkeit zertrümmert worden. Lance McDonnell, der zu schnell gefahren war, weil er sonst zum Bier im Feuerwehrschuppen zu spät gekommen wäre.

Nick seufzte, als er jetzt am Fenster stand. Wenn er erst einmal mit Felicity verheiratet war, würde er das Ganze hier übernehmen. Die Farm. Die Verantwortung. Er würde sowohl für seine Mutter als auch für Felicity da sein. Er würde sich um alles hier kümmern. Heiraten und so schnell wie möglich erwachsen werden. Wieder nach vorn sehen. In eine Zukunft, die mehr bereithielt, als einfach nur jeden einzelnen schwierigen Tag mit seinem gebrochenen Vater zu leben. Nick musste die Verantwortung übernehmen. Das war unumgänglich. Sein Vater würde das sicherlich akzeptieren.

Er und seine Eltern wussten, dass auf seinen Bruder Angus kein Verlass war. Angus, der nie da war, wenn er gebraucht wurde. So war es schon immer gewesen, und so würde es immer sein. Er erlebte Abenteuer auf den Perlenbooten in Broome. Schipperte auf einer Jacht durch die Karibik. Betrieb einen Schlepplift in der Schweiz. Jettete nach Dubai, um sich die Rennpferde eines Ölscheichs anzusehen. Nick wusste, dass Angus nicht einmal zu seiner Hochzeit nach Hause kommen würde. Angus, der für die Familientraditionen nur Hohn und Spott übrighatte. Der sich über die Monogamie lustig machte. Über Aufmerksamkeiten und Freundlichkeit die Nase rümpfte.

»Die frigide Felicity«, so hatte Angus seine Verlobte genannt, und Nick hätte ihn dafür beinahe verprügelt.

Angus hatte sie ein paar Monate nach dem Unfall seines Vaters zum letzten Mal besucht. Er hatte in seinem europäischen Maßanzug wie ein Gangster ausgesehen und war in Nicks Zimmers herumstolziert. Dann hatte er ein Bündel Geldscheine auf sein Bett geworfen.

»Du kannst die Farm haben, Nick. Ich will sie nicht. Schau, was ein bisschen Unternehmergeist bewirken kann.« Er hatte noch mehr Geld aus der Tasche gezogen und damit vor Nicks Gesicht herumgewedelt.

»Ehrlich verdientes Geld. Mit Cleverness verdientes Geld. Farmer zu sein, hat überhaupt nichts mit Cleverness zu tun, Nick. Rein gar nichts. Schau dir den alten Griesgram da drin an, er war doch schon halb tot, bevor er gegen diesen Baum gefahren ist. Sag mir, wann hat er aufgehört, das Leben zu genießen? Jetzt ist er endgültig fertig. Für ihn ist es zu spät. Lebe hier und heute, sage ich dir.«

Nick hätte seinem Bruder am liebsten seine Schulter in den massigen Leib gerammt und ihn gegen die Wand gedrückt. Er hatte es jedoch nicht getan. Er war einfach nur wie ein geprügelter Hund aus seinem Zimmer geschlichen.

Nick sah jetzt im fahlen Licht des Mondes an seinem Körper hinunter. Betrachtete seinen weißen Oberkörper und seine sonnengebräunten Arme. Die Arbeit hatte ihn stark gemacht. Er liebte die Landwirtschaft. Sie war sein Leben. Aber jetzt, da es den ganzen Herbst keinen Tropfen geregnet hatte und er nicht wusste, wie es weitergehen sollte, fühlte er sich völlig ausgebrannt. Er sah auf die dürren Koppeln hinaus. Die Bäume warfen im Mondlicht gespenstische Schatten. Die Schafe, die um diese Zeit in der Nacht normalerweise ruhig auf der Weide gelegen hätten, wanderten auf der Suche nach Futter verzweifelt umher. Andere standen mit hängenden Köpfen in kleinen Gruppen zusammen. Der tiefschwarze Schatten des Schuppens am Haus erinnerte Nick daran, dass kein Heu mehr da war.

Er hatte sich dieser Farm mit Leib und Seele verschrieben, ganz egal, wie das Wetter auch war – genauso hatte er sich auch Felicity verschrieben, ganz egal, wie heftig es in dem Moment, als er Kate Webster wiedergesehen hatte, bei ihm gefunkt hatte. Felicity hatte seinen Eltern über die schlimmste Zeit nach dem Unfall hinweggeholfen. Sie war jetzt seine Zukunft.

In ebendiesem Moment kam der Mond hinter einer Wolke hervor und leuchtete so hell, dass Nick blinzeln musste. Ärgerlich zog er die Vorhänge zu und legte sich wieder in sein zerwühltes Bett. Der Mond war jedoch noch immer zu sehen und malte einen hellen Streifen Licht auf das Kopfteil des Bettes. Während Nick in seinem Bett lag und nicht mehr einschlafen konnte, dachte er an diesen einen Abend zurück.


Sie stand in ihrem roten Kleid und mit ihren langen schwarzen Haaren vor ihm, nachdem sie einfach seine Hand gepackt und ihn auf die Tanzfläche gezogen hatte. Er war nur ein wenig größer als sie und konnte seine Augen einfach nicht von ihren drallen, blassen Brüsten losreißen, die sich über der engen Hülle aus rotem Stoff wölbten, die man kaum ein Kleid nennen konnte. Ihre kräftigen Beine sahen selbst in zerknitterten Hockeysocken und Arbeitsstiefeln richtig gut aus. Natürlich kannte sie jeder hier. Sie war das hübscheste und lustigste Mädchen in der ganzen Gegend. Im Internat in der Stadt hatten die älteren Jungen sie stets ganz oben auf ihrer »Wichsliste« gehabt. Und jetzt stand sie auf diesem Rouseabout B&S leibhaftig vor ihm und tanzte sogar mit ihm. Er war siebzehn. Und Kate Webster tanzte mit ihm!

Seine Wangen begannen zu glühen, als er sich fragte, ob er cool aussah oder nicht. Zu dem Song der Violent Femmes mit seinem komplizierten Rhythmus war es schwierig zu tanzen. Er wünschte sich, der DJ würde ein anderes Stück spielen. Er spürte ihre Hände überall. Auf seinem Rücken. Seinen Pobacken. Unter seinem Hemd. Sie wackelte mit ihren Hüften. Machte einen Schmollmund. Zog ihn zu sich heran, verschränkte ihre Finger hinter seinem Nacken und drückte schließlich seinen Kopf nach unten, so dass seine Nase fast ihr Dekolleté berührte. Als Nick McDonnell seine Hände vorsichtig auf ihre Hüften legte, war er schon viel zu betrunken, um noch zu bemerken, dass Kate ihren Kopf wandte und einer Gruppe von Mädchen, die ihnen zusahen, verschmitzt zuzwinkerte. Die Mädchen lachten und zwinkerten zurück.

Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie es genau passiert war. Sie hatte ihn neben ihrem Pick-up geküsst, ihr Mund war dabei heiß und süß vom Rum gewesen. Sie hatte sich mit ihrem ganzen Körper an ihn gepresst. Er musste dann wohl seinen zusammengerollten Schlafsack von Angus’ Pick-up heruntergeholt und ihn bis ganz zum Rand des Geländes getragen haben, von wo aus die Musik nur noch leise zu hören war. An den Geruch der jungen Akazien, in denen der Tau schon schwer hing und deren Zweige sein Gesicht berührten, erinnerte er sich noch sehr gut. Er hatte den Schlafsack unter den Bäumen ausgerollt, damit man sie nicht sehen konnte. Er war sich nicht sicher, warum Kate so scharf auf ihn war, aber das war ihm irgendwann auch egal.

Als er den Schlafsack ausgebreitet hatte, hatte sie lauthals über die zerknitterten Laken darin gelacht. Thomas the Tank Engine.

»Mann. Was mache ich da eigentlich?«, hörte er sie leise vor sich hin murmeln. Dann hatte sie gekichert.

»Ich denke, ich kann es. Ja, ich denke, ich kann«, sagte sie und zog ihn dabei zu sich auf den Schlafsack herunter. Sie legte sich auf ihn, und er spürte, wie sie an der Schnur zog, die seine Hose festhielt.

»Dafür braucht man ja ein Taschenmesser«, sagte Kate. Dann bewegte sie sich jedoch nach unten und versuchte, den Knoten mit ihren Zähnen zu lösen. Perfekten weißen Zähnen, und roten, roten Lippen, die von den weit entfernten Scheinwerfern des B&S in ein sanftes Licht getaucht wurden. Ihre dunklen Haare fielen auf seine Brust, so dass er sich gleichzeitig vor Verlangen aber auch vor Angst wand. Sie fuhr mit ihren Fingern über seinen nackten Bauch und dann seine sehnigen weißen Beine entlang.

»Es ist okay, Tom Tank Engine. Es wird dir gefallen. Vertrau mir«, flüsterte sie, als sie seinen Hals küsste und mit ihren Fingern durch seine Locken fuhr. Er spürte, wie sie sich neben ihm hin und her bewegte und dabei ihre Unterhose von ihren braunen Beinen streifte. Dann setzte sie sich rittlings auf ihn.

»O Gott«, stöhnte er. Er hatte seine Jacke liegen gelassen. Er hatte seine Jacke liegen gelassen, und in ihr steckte das Kondom.

»O Gott«, stöhnte er noch einmal.


Bei dem Geräusch der Vorhänge, die über die Vorhangstange gezogen wurden, schlug Kate die Augen auf. Sie blinzelte und sah die Silhouette eines großen Mannes vor dem Fenster. Helles Tageslicht erfüllte das Zimmer.

»Träumst du noch, Kate?«

»Dave?«, fragte sie mit krächzender Stimme. »Wo ist Janie?«

Sie stützte sich auf ihre Ellbogen und sah Dave Shaw an. Die Schultern so breit wie der Schlachtblock eines Metzgers, Hände so groß wie Schaufeln. Ein vierkantiges Gesicht, das ebenso gut einem erstklassigen Rubgyspieler hätte gehören können, eingerahmt von einer unbezähmbaren, braunen Haarmähne. Dazu kleine, haselnussbraune Augen, die vor Freundlichkeit geradezu strahlten. Er hatte etwas Bodenständiges und Einfaches an sich, wozu auch seine langsame, etwas schleppende Sprechweise passte. Was Kate über Dave gelernt hatte, war jedoch, dass er trotz seines Äußeren und der Art, wie er sprach, ein ziemlich kluger Bursche war.

»Janie liegt im Bett, ihr ist hundeelend. Dank dir.« Er warf ein Handtuch nach ihr. »Du setzt jetzt am besten deinen Arsch in Bewegung, Webster. Die Kinder sind bald wach, und hier unten bist du für sie Freiwild.«

Kate stöhnte, als sie aufstand und sich dabei in die Bettdecke hüllte. Sie schenkte Dave, der jetzt in der Küche stand und Müsli in mehrere Schüsseln schüttete, ein schiefes Lächeln.

»War Nell brav?«, rief sie, während sie ihre Jeans anzog.

»Ja, sie ist brav wie ein Lamm ins Bett gegangen, und da ist sie noch immer. Ich habe gerade bei den Kindern reingeschaut. Sie schlafen alle noch wie die Murmeltiere.«

Als Kate angezogen war, ging sie in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen.

»Mit Milch und drei Stück Zucker, danke«, sagte sie. Dave zeigte mit zwei dicken Fingern auf sie und brummte mit seiner tiefen Stimme: »Mach dir selbst einen, Webster.«

»Es war ein toller, toller Abend.«

»Ja. So wie Janie über mich hergefallen ist, muss er das wirklich gewesen sein. Frauen, die zwei kleine Kinder zu Hause haben, fallen normalerweise nicht völlig hemmungslos über ihre Männer her.«

»Nun, dann solltest du mir dankbar sein, dass ich sie abgefüllt habe.«

»Ja, ja«, sagte er und warf Kate ein Stück Toast zu. »Sie hat gesagt, dass du letzten Abend Nick McDonnell wiedergesehen hast. Wie findest du ihn, jetzt, da die Hormone bei ihm wirken?«

»Du hältst dich wohl für sehr komisch?«, antwortete sie ihm und sah ihn dabei mit zusammengekniffenen Augen an.

»Du wirst alles klarstellen? Ihm sagen, dass er ein Kind hat und alles?«, fragte Dave.

»Himmel! Jetzt fang du nicht auch noch an!«

»Wir kennen dich eben alle viel zu gut, Webster. Der arme Kerl wird noch nicht einmal auf seinem Sterbebett erfahren, dass da ein kleines Kälbchen herumläuft, das seine Gene hat.«

»Halt die Klappe«, sagte Kate und versuchte, nicht allzu abwehrend zu klingen.

»Also, mach dich nützlich und weck die Kinder auf. Ich bringe sie zu ihrer Großmutter, damit Janie ihren Rausch ausschlafen kann. Und für dich ist es jetzt an der Zeit, dass du mit Nell nach Hause fährst, damit sie ihre Stiefoma kennen lernt.«

Kate verdrehte die Augen. »Puh. Erinnere mich bloß nicht daran.«

»Kate«, sagte Dave, während er mit einem Löffel auf sie zeigte. »Es ist an der Zeit, dass du endlich aufhörst, dich ständig unsichtbar zu machen. Will braucht da draußen alle Hilfe, die er kriegen kann.«

»Will? Ha! Der ist doch ein großer Junge. Er kann ganz gut auf sich selbst aufpassen.« Als Kate das sagte, bekam sie jedoch ein schlechtes Gewissen. Will brauchte sie sehr wohl. Nicht nur, damit sie ihm auf der Farm half. Jetzt, da Annabelles Kinder da waren, war er hoffnungslos in der Unterzahl. Sie und Nell sollten also alles tun, um den Punktestand wieder auszugleichen.