Kapitel 2

Kate warf einen bräunlichen Apfelrest aus dem Pick-up und fegte hastig mit der Hand die Überreste von Nells gestrigem Sandwich aus dem Kindersitz. Dann trat sie einen Schritt zurück und sah zu, wie ihre kleine Tochter in den Sitz kletterte und darauf wartete, dass sie angeschnallt wurde.

Während Kate den Motor anließ, betrachtete sie Nell im Rückspiegel, bemerkte ihr ungekämmtes Haar und die wahllos zusammengestellte Kleidung. Ihr T-Shirt war mit Vegemite beschmiert. Kate seufzte. Was für eine Mutter war sie nur? Nell sah aus, als hätte sie den Tag im Kinderhort bereits hinter sich und nicht so, als würde sie gerade erst dorthin gebracht. Sie fuhr auf die Straße hinaus, dabei erinnerte sie sich an ihre Reise von Tasmanien auf das Festland vor drei Jahren. Ihre ungewollte Reise in die Mutterschaft. Das alles war nur wenige Wochen nach dem Rouseabout B&S-Ball gewesen. Sie hatte sich auf dem Weg zur landwirtschaftlichen Hochschule befunden und fuhr zum ersten Mal in ihrem schrottreifen kleinen Subaru-Pick-up aufs Festland. Damals hatte sie weder einen Kindersitz noch einen Pick-up mit Rückbank gebraucht.

Kate hatte ihren Pick-up an einem schläfrigen Sommerabend durch die geöffnete Rampe in den Bauch des Schiffes gefahren. Auf dem nassen, glänzenden Deck hatte Kate zu den kirschroten Schornsteinen hinaufgesehen, die unablässig Dieselrauch in die frische Luft rülpsten. Zwei Stöße des Signalhorns, das Beben der im Rückwärtsgang arbeitenden Maschinen, und schon begann die Stadt Devonport langsam in die Ferne zu entschwinden. Die Menschen, die auf der felsigen Bühne standen und winkten, wurden schnell zu winzigen Punkten. Sie war traurig, dass niemand aus ihrer Familie gekommen war, um ihr zum Abschied zuzuwinken. Keiner von denen, die von ihrer Familie noch übrig waren.

Sie erinnerte sich an die supercoole Art, mit der sie es sich auf einer der dick gepolsterten Couchen in der Bar des Schiffes bequem gemacht und an einem Rum genippt hatte. Dabei hatte sie den Nachgeschmack, den die mit städtischem Trinkwasser bereiteten Eiswürfel hinterließen, einfach nur abscheulich gefunden.

Da war sie also. Ein Mädchen aus Tasmanien. Ein Mädchen vom Lande mit einem frischen Gesicht, das an der windgepeitschten Ostküste der Insel aufgewachsen war. Ein Mädchen, das bei der Arbeit Blundstone-Stiefel und in der Freizeit Cowboystiefel trug. Ein Mädchen mit einem betagten Kelpie, der im Hundetrailer der Fähre unten im Laderaum auf einer Decke lag. In der Nähe der Hunde war auch »Thelma« geparkt, Kates klappriger alter Subaru, dessen fleckiger Lack am Heck mit B&S-Aufklebern bedeckt war. Mehr hatte sie damals nicht gebraucht. Einen halbwegs zuverlässigen Pick-up mit einem ramponierten Beifahrersitz, auf dem Sheila sitzen konnte, und einer zerrissenen Abdeckplane, um wenigstens den größten Teil ihres Gepäcks auf der Ladefläche vor dem Regen zu schützen. Und einem funktionierenden Scheibenwischer, der allerdings vollkommen willkürlich über die Windschutzscheibe der Fahrerseite kratzte.

Damals war sie zu einer Art Abenteuer aufgebrochen. Sie hatte die Erinnerung an den Tod ihrer Mutter verdrängt, hatte sich von ihrem Vater losgesagt und dessen neue Frau angebrüllt, bevor sie endgültig gegangen war. Sie hatte nur kurz innegehalten, um ihrem Bruder Will zum Abschied einen Kuss zu geben und um ihr Pferd Matilda noch einmal zu umarmen. Dann hatte sie einen letzen Blick auf die Farm geworfen. Bronty. Ihr Zuhause.

Jetzt wartete Australiens Festland darauf, von ihr in Besitz genommen zu werden. Dort gäbe es B&S-Bälle und Jungs, und sie würde wilde, verrückte Tage und Nächte mit neuen Freunden erleben. Außerdem war sie geradezu versessen darauf zu lernen. Sie würde all das landwirtschaftliche Fachwissen in sich aufsaugen, das man ihr an der Hochschule vermitteln konnte, damit sie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten konnte – einer Frau, die, jedenfalls was die Zukunft der Landwirtschaft anging, eine Vision gehabt hatte.

Kate schwor sich, dass sie dort weitermachen würde, wo ihre Mutter Laney aufgehört hatte. Dass sie eine tiefe und dauerhafte Furche in die Agrarindustrie ziehen würde, jene Industrie, die von jedermann als der wirkliche Herzschlag des Landes hätte erkannt werden müssen. Kate trank einen kräftigen Schluck von ihrem Rum und ließ ihren Blick über die Passagiere an Bord des Schiffes schweifen. Sie hörte noch die Stimme ihrer Mutter. »Es werden deine Kinder sein, Kate, die Farmer der Zukunft, die all diese Menschen retten werden. Noch ist es den Menschen nicht bewusst, aber es gibt nichts Wichtigeres als Nahrung. Die Farmer sind der Schlüssel zur Zukunft. Und du kannst daran teilhaben, wenn du willst.«

An diesem Abend auf dem Schiff gab es nur eine einzige andere Stimme, die die ihrer Mutter in Kates Kopf übertönte. Es war mehr ein quälender Verdacht. Ein Verdacht, der sich tief in ihrem Körper bemerkbar machte. Der Verdacht, dass sie eine riesige Dummheit gemacht hatte. Sie dachte an die Schachtel, die sie in einer der Seitentaschen ihres Rucksacks verstaut hatte. Die Schachtel mit dem Schwangerschaftstest.

Kate hatte ihr Glas geleert, dann ihren Rucksack geschultert und war an Deck gegangen, um die Kurzschwanzsturmtaucher zu beobachten, die über der schlammigen, dunklen Dünung der Bass Strait dahinhuschten. Als ihre Finger vom eisigen Wind ganz taub waren, hatte sie die schwere Tür aufgezogen und war mit schwankenden Schritten den Korridor des rollenden Schiffes entlanggegangen. Dann hatte sie sich in einer schaukelnden Toilettenkabine eingeschlossen, in der es noch ein wenig nach Erbrochenem roch, und den Schwangerschaftstest ausgepackt, um herauszufinden, ob das, was sie befürchtete, tatsächlich zutraf.

Sie erinnerte sich jetzt noch an das erstickende Gefühl, das sie in der Toilettenkabine überfallen hatte und an das Rollen und Schlingern des Schiffes in der unerbittlichen Dünung. Sie hatte mit zitternden Händen die Folie von der Packung gerissen und das Plastikstäbchen herausgenommen. Als sie die zwei blauen Striche gesehen hatte, die ihr unmissverständlich »positiv« entgegengeschrien hatten, hatte ihre ganze Welt zu schlingern begonnen. Sie war schwanger. Schwanger und allein. Sie hatte sich verzweifelt gewünscht, dass sie niemals auf diesen Rouseabout B&S-Ball gegangen wäre und dass sie niemals getan hätte, was sie getan hatte.

Als am nächsten Morgen in aller Frühe eine ungeduldige Schlange von Autos, Wohnwagen und Lastern aus dem Bauch des Schiffes in Richtung des belebten Stadtzentrums vom Melbourne gerollt war, hatte Kate auf der Strandpromenade, die parallel zu dem braunen, frisch gerechten Strand verlief, an einer Telefonzelle angehalten. Sie hatte vor lauter Panik keinen klaren Gedanken fassen können, als sie ganz automatisch die Nummer ihres Vaters gewählt und dabei inständig gehofft hatte, dass Will abnehmen würde. Stattdessen hatte sich jedoch ihre Stiefmutter Annabelle gemeldet.

»Ist Will da?«, hatte Kate gefragt.

»Er ist unterwegs.«

»Oh. Ist Dad da?«

»Moment, ich hole ihn.« Kate hatte gehört, wie der Hörer abgelegt wurde. »Henry!«, hörte sie Annabelle dann rufen. Kurz darauf hatte sie die Stimme ihres Vaters vernommen.

»Du bist also schon drüben auf dem Festland?«

»Ja«. Kate hatte krampfhaft versucht, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie hatte einfach nicht weitersprechen können. »Kate? Was ist los?« Die Stimme ihres Vaters hatte verärgert geklungen. Kate hatte sich vorgestellt, wie sein Kaffee gerade langsam kalt wurde, während sein Porridge, der neben der Tasse stand, allmählich zu einer zähen Masse erstarrte.

Sie platzte heraus: »Ich bin schwanger.«

Schweigen. Lange Zeit hörte sie über das Glasfaserkabel, das unter dem Grund des Meeres verlegt war, nur ein leises Klicken. Ein quälendes Schweigen lag über dem Wasser zwischen Melbourne und Tasmanien. Ein Schweigen, das direkt bis zum Ohr ihres Vaters reichte. Kate war sich sicher, dass er es nicht laut gesagt hatte, in ihrem Kopf aber schrie er: »Du dumme Gans! Ich wusste, dass du mir so etwas antun würdest! So eine verdammte Dummheit!«

Als er endlich wieder zu sprechen anfing, sagte er ganz ruhig: »Was willst du tun?«

»Ich weiß es nicht.« Sie wünschte sich verzweifelt, dass er ihr sagen würde, sie solle nach Hause kommen. Stattdessen hörte Kate ihn jedoch, den kalten Telefonhörer am Ohr und den Südwind im Rücken, etwas ganz anderes sagen.

»Du fährst am besten wie geplant zu deiner Tante Maureen. Sie kann sich besser um dich kümmern als ich.«

Kate wusste tief in ihrem Inneren, dass er das nicht so meinte. Dennoch waren seine Worte für sie wie ein Schlag ins Gesicht. Eine eiskalte Zurückweisung. Genau das hatte sie auch von ihm erwartet, oder etwa nicht? Diesen endgültigen Bruch zwischen ihm und ihr.

Sie knallte den Hörer auf die Gabel und rannte zu ihrem Wagen zurück. Sheilas Kopf im Schoß, fuhr Kate dann in ihrem Pick-up auf der Straße zwischen der Port Philip Bay und den wie eine Steilklippe aufragenden Wolkenkratzern an der Stadt entlang. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter bei ihr wäre. Hier und jetzt.

Dann saß sie eine ganze Stunde lang in ihrem Auto, streichelte Sheilas seidige Ohren und dachte dabei an den winzigen Zellhaufen, der sich in ihr zu teilen begonnen hatte. Sie konnte in ein Krankenhaus gehen. Eine Abtreibung machen lassen und dann mit ihrem Studium beginnen. Das Leben würde einfach weitergehen, als wäre nichts geschehen. Dann aber dachte sie an ihre Mutter. An das Saatgut, das auf dem Dachboden zu Hause auf Bronty lagerte. Sie hatte wieder vor Augen, wie Laney die Samen in ihre Handfläche geschüttet und mit den Fingerspitzen darin herumgerührt hatte.

»Das Leben in diesen Samen«, pflegte Laney zu sagen, während sie ihre Kinder mit großen Augen ansah, »ist ein unvorstellbares Wunder. «

Auch Henrys Mutter, seine Großmutter und seine Urgroßmutter hatten schon Saatgut gesammelt. Jede Generation von Frauen hatte die Samen sorgfältig katalogisiert und unter dem schrägen Dach des Raumes in wunderschön gezimmerten hölzernen Schubladen aufbewahrt. Samen von gesunden, widerstandfähigen Gemüsesorten, die schon seit den ersten Tagen der Besiedelung angebaut und gesammelt worden waren. Sorgfältig aufbewahrt in vergilbten Papierumschlägen, auf denen sich die winzigen Spuren hungriger Silberfischchen mit den schwungvollen Handschriften dreier Generationen von Webster-Frauen vermischten. Da gab es winzige schwarze Pünktchen, aber auch glatte, runde Kügelchen. Unter den Samen aus dem weitläufigen Kolonialgarten von Bronty waren so gut wie alle Formen und Größen vertreten.

Als Kate ungefähr zehn Jahre alt gewesen war, hatte ihr ihre Mutter, während sie die winzigen, schwarzen Samenkörner, von denen einige nicht größer als Fliegendreck waren, betrachtet hatte, eine Geschichte erzählt.

»Deine Großmutter wünschte sich so sehr einen Bruder oder eine Schwester für deinen Dad«, hatte Laney gesagt. »Aber wir Frauen bekommen manchmal kein Baby, obwohl wir gern eines hätten. Im Leben dreht sich alles um gesunde Samen und darum, dass man einen gesunden Boden braucht, damit sie darin wachsen können. Mit den Babys ist das ganz genauso – ohne gesunden Samen und ohne einen gesunden Schoß kann man kein Baby bekommen. Genau deshalb hast du weder Onkel noch Tanten. Gott hat deiner Großmutter nur einen einzigen gesunden Samen geschenkt, und dieser kostbare Samen war dein Dad. Schau nur, was für ein prächtiger Baum aus ihm geworden ist.«

Kate erinnerte sich auch daran, dass ihre Mutter ihnen im Gemüsegarten von Bronty einmal die Ranke einer Stangenbohne gezeigt hatte, die begonnen hatte, sich an der schiefen Vogelscheuche hinaufzuwinden, die Kate und Will aufgestellt hatten. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihre Kinder stets ermutigt hatte, ihre weißen Zähne in Zuckererbsen zu graben und so viele Erdbeeren zu essen wie sie wollten, jedenfalls so lange, bis Wills von Natur aus rosa glänzende Wangen von einem Nesselausschlag überzogen wurden.

Kate wusste, was ihre Mutter zu der Sache mit dem Baby sagen würde. Sie würde ihr sagen, dass sie diesen Samen wachsen lassen sollte, dass sie Leben schenken sollte, für den Fall, dass in ihrem Schoß keine weiteren Samen mehr wachsen würden. Dies war möglicherweise die einzige Schwangerschaft, die sie erleben würde.

Entschlossen setzte Kate sich jetzt aufrecht hin. Dann legte sie ihre Hand auf ihren noch flachen Bauch und hatte dabei das Gefühl, als wäre ein Teil von ihrer Mutter jetzt auch in diesem Baby, das in ihr wuchs. Dann ließ sie den Motor ihres alten Pick-ups an und machte sich auf den Weg nach New South Wales.