Kapitel 32

Kate versuchte schon seit einiger Zeit vergeblich, die rote Lebensmittelfarbe von ihren Händen abzuschrubben.

»Verdammt«, sagte sie, als sie einen Blick auf die Uhr warf. Sie würde noch zu spät zu Lance McDonnells Beerdigung kommen. Sie drehte sich zu Nell um, die mit den Zwillingen vergnügt am Küchentisch saß. Die Kinder konzentrierten sich gerade voll und ganz darauf, den frisch hergestellten Spielteig auszurollen und diesen dann mit dicken Plastikmessern in Stücke zu schneiden.

»Himmel, Janie, wo bleibst du nur?«, murmelte Kate leise vor sich hin. Ihr war durchaus bewusst, dass Janie sich unzählige Male ganz genauso gefühlt haben musste, weil sie, Kate, wieder einmal zu spät gekommen war. »Komm, Nell. Du musst dich jetzt anziehen.« Nell nahm keine Notiz von ihr. »Auf, auf. Komm, wir ziehen dir ein hübsches Kleid an. Und dann gehen wir in die Kirche.«

»Nein! Ich will lieber mit dem Spielteich spielen.«

»Teig. Es heißt Spielteig, nicht Spielteich.«

Ihre Worte ignorierend griff Nell nach einem herzförmigen Ausstecher. Kate nahm ihr diesen wieder aus der Hand, hob sie von ihrem Stuhl und bugsierte ihre laut protestierende Tochter dann ins Schlafzimmer.

»Was ist denn in dich gefahren, Nell? Du bist in letzter Zeit so was von widerspenstig,« schimpfte Kate, als sie dem jetzt schluchzenden Kind das Kleid überzog. Sie wusste jedoch ganz genau, dass Nell einfach nur zutiefst verunsichert war. Wie oft hatte sie ihre Mutter in den letzten Tagen weinen sehen? Sie fuhr mit der Bürste durch Nells Haare und putzte ihr die Nase.

»So, fertig«, sagte sie mit gespielter Fröhlichkeit. »Schau einmal in den Spiegel, dann siehst du, wie hübsch du bist.«

Nells Gesicht erhellte sich zusehends, als sie sich in ihrem marineblauen Gingham-Kleid mit der rosa Schleife im Spiegel sah. Kate, die hinter ihr stand, betrachtete ihr eigenes Spiegelbild. Sie trug ein schwarzes Kleid, das ihrer Figur schmeichelte und ihre Taille betonte. Es war am Ausschnitt mit winzigen roten Blüten bestickt. Ihre glänzenden schwarzen Haare fielen über ihre olivfarbenen Schultern. Sie betrachtete jetzt das rosige Gesicht ihres kleinen blonden Mädchens im Spiegel und seufzte.

»Willst du deine Sandalen oder deine Cowboystiefel anziehen?«

»Die Stiefel«, sagte Nell.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das mit den Stiefeln wirklich eine gute Idee ist«, sagte Kate und dachte dabei an die steife Gesellschaft, die sich vor der Kirche versammeln würde. Außerdem würde es heute ziemlich heiß.

»Die Stiefel!«, verlangte Nell noch einmal. Also nahm Kate die pinkfarbenen Miniaturstiefel und ein Paar Socken aus dem Schrank.

»Beeil dich bitte«, sagte Kate. Sie war unglaublich erleichtert, als sie jetzt Janies Schritte im Flur hörte.

»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe!« Janie lachte, als sie Kates Hände sah. »Wenn du anfängst, die Lebensmittelfarbe für den Spielteig zu verwenden, anstatt ihn auf einem B&S irgendwelchen Leuten ins Gesicht zu spucken, dann hast du dein Diplom als Mutter bestanden. Willkommen im Klub«, sagte sie, während sie sich die Zwillinge auf die Hüften setzte.


»Mist«, sagte Janie. Sie saß am Steuer ihres Geländewagens und sah zu der kleinen Gruppe von Familienangehörigen hinüber, die mit gesenktem Kopf am Grab standen. Kate folgte ihrem Blick und wurde plötzlich von der Erinnerung an Wills Begräbnis überwältigt. Unwillkürlich sah sie zu dem Grab hinüber, wo ihre Mutter und Will lagen.

»Es sieht so aus, als hätten wir den Gottesdienst verpasst«, fuhr Janie fort. »Die anderen sind anscheinend schon nach Rutherglen vorausgefahren.«

»Das hier ist eindeutig nur für Angehörige bestimmt«, sagte Kate und hatte das Gefühl zu stören.

»Es tut mir wirklich leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte Janie. »Dave und seine verdammten Schafe. ›Es dauert nur fünf Minuten, Schatz‹«, machte sie ihn nach. »Aber du weißt ja selber, wie Schafe sind! Fünf Minuten können da leicht zu fünf Stunden werden.«

Kate zuckte mit den Schultern. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Es ist nicht deine Schuld. Sobald es um Nick geht, klappt es bei mir mit dem Timing nie.«

»Na, einmal hat es anscheinend aber doch geklappt«, sagte Janie verschmitzt und machte eine Kopfbewegung in Nells Richtung.

»Haha, verdammt witzig«, sagte Kate. Sie hatte in den vergangenen Tagen immer wieder versucht, Nick anzurufen, hatte ihn jedoch nicht erreicht. Sie hatte festgestellt, dass die Ansage auf dem Anrufbeantworter jetzt eine andere war. Obwohl es Nicks Stimme war, die vom Band kam, hatte sie keine Nachricht hinterlassen. Was hätte sie denn sagen sollen. Womit hätte sie überhaupt anfangen sollen? Sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als Nells helle Stimme vom Rücksitz her ertönte.

»Mami? Schau!«

Kate drehte sich um. »O nein!« Die Gesichter von Brendan und Jasmine waren, genau wie die Kindersitze, über und über mit Joghurt beschmiert. Nell hatte offensichtlich den Erdbeerjoghurt in der Provianttasche entdeckt und die Zwillinge damit gefüttert. Jetzt leckte sie sich die Finger ab.

»Lecker!«

»Na toll«, sagte Kate tonlos.

»Kein Problem. Ich bring das schon in Ordnung«, sagte Janie und griff über Kate hinweg, um eine Packung Feuchttücher aus dem Handschuhfach zu nehmen. Kate wollte gerade vorschlagen, dass sie irgendwo hinfahren sollten, um die Kinder zu säubern. Janie war jedoch schon aus dem Wagen gesprungen und sammelte den Joghurtbecher ein, um ihn in eine Plastiktüte zu stecken. Dann nahm sie Jasmines Gesicht zwischen Daumen und Zeigefinger, und begann mit der anderen Hand ihr Gesicht zu säubern. Sie rieb dabei so fest, dass Kate glaubte, sie würde ihrer Tochter die Haut wegrubbeln.

Kate ließ ihren Blick langsam zu dem kleinen Hügel des Friedhofs neben der Kirche schweifen, wo immer wieder die Elstern von den Eukalyptusbäumen heruntersegelten, um zwischen den verstreuten Rindenstücken nach Maden zu suchen. Es war jetzt offensichtlich, dass der Gottesdienst schon vorbei war. Die Angehörigen nahmen einander in die Arme und hielten sich lange fest, während der Pfarrer bereits versuchte, die Familie taktvoll zum Aufbruch zu bewegen, damit er nach Hause gehen und seinen Nachmittag genießen konnte.

Die Familie McDonnell kam jetzt auf sie zu. Kate konnte erkennen, dass Nick an Alices Seite war. Ein großer, massiger Mann stützte Alice auf der anderen Seite. Kate sah ihn sich genauer an.

»Ist das Nicks Bruder?«, fragte sie und drehte sich dabei zu Janie um. Sie wünschte sich verzweifelt, dass ihre Freundin sich etwas beeilen würde. Einer der Zwillinge war bereits wieder sauber, den anderen hatte Janie gerade in Arbeit.

Janie blickte auf. »Angus?«

»Er hat ganz schön zugelegt. Sieh ihn dir nur an! Er war schon immer dick, aber jetzt ist er richtig fett!«

»Zu viel Champagner und Kaviar. Zu wenig Bewegung«, sagte Janie.

Sie sahen zu, wie Nick und Angus ihre Mutter gemeinsam zu einem der Autos führten, die nicht weit entfernt geparkt standen. Alice sah so schmal und zerbrechlich aus. Der heiße Sommerwind zerzauste ihr blondgraues Haar und presste ihren Rock gegen ihre dünnen Beine. Ihre Nase war vom vielen Schnäuzen ganz rot. Sie erinnerte Kate an Nell, wenn sie geweint hatte.

Kate sah zu den übrigen Trauernden hinüber. Es war ein merkwürdiger Gedanke, dass einige von ihnen Nells Blutsverwandte sein mussten, aber da gab es jemanden, der ihr ganz besonders ins Auge fiel. Felicity.

Kate reagiert mit Eifersucht, der jedoch sofort Schuldgefühle folgten. Natürlich war Felicity auf der Beerdigung. Schließlich hatte sie Lance mehr als ein Jahr lang gepflegt. Ihre Anwesenheit musste in Bezug auf Nick also überhaupt nichts bedeuten.

»Können wir jetzt fahren?«, fragte Kate, da sie einfach nicht den Mut aufbrachte, aus dem Wagen zu steigen und der Familie ihr Beileid auszusprechen.

Dann sah sie, dass Nick sie entdeckt hatte. Sein Gesicht wirkte entsetzlich angespannt. Es war ein Anblick, der Kate sehr wehtat. Sie sprang aus dem Wagen und ging zu ihm hinüber. Er hatte seine Mutter losgelassen und kam jetzt ebenfalls auf sie zu.

Sie begrüßten sich mit einer kurzen Umarmung, die jedoch heftig und voller Emotionen war, dann löste sich Nick wieder von ihr und trat einen Schritt zurück. Wie er da in seinem Anzug und der hellblauen Krawatte vor ihr stand, sah er unglaublich gut aus. Die Anspannung der vergangenen Tage stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, aber seine gebräunte Haut hatte nichts von ihrem lebendigen Strahlen verloren.

»Es tut mir so leid«, sagte Kate.

»Mir auch.«

»Es tut mir wirklich leid. Alles.«

»Ich weiß«, sagte er. Sie sahen einander eine Weile in die Augen. Dann sagte Nick: »Kommst du mit zur Farm?«

»Ja. Wenn das in Ordnung ist.«

Autotüren knallten, als Angus Alice beim Einsteigen half und dann Nick etwas zurief.

»Natürlich ist es das. Aber ich sollte jetzt besser gehen. Danke, dass du gekommen bist«, sagte Nick abrupt.

Er drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Kate sah ihm dabei zu, wie er Felicity die Beifahrertür öffnete. Sie warf Kate einen kurzen Blick zu, bevor sie einstieg. Nick hob seine Hand zu einem kurzen Gruß und nahm dann neben seiner Mutter im Auto Platz.


In Rutherglen versammelten sich die Trauergäste auf der großen Veranda des alten Farmhauses. Eine Gruppe von Jungen lungerte mit Bierflaschen in den kräftigen Händen um den Tisch mit dem Essen herum und stopfte sich schweigend Sandwiches in den Mund. Beleibte Farmerfrauen mit üppigem Busen und bunten Schürzen eilten umher und trugen einen anscheinend endlosen Nachschub an belegten Brötchen und Kuchen herbei.

Trotz der weißen Leinentischdecken und des feinen Porzellans wirkte das Farmhaus irgendwie heruntergekommen. Die Farbe blätterte von den hölzernen Pfosten der Veranda ab, und hinter den Fliegengittern der ungenutzten Fenster hatten Spinnen dichte Netze gesponnen. Dies war ein so riesiges, aber auch ein so bedrückendes Haus, dass Kate sich unwillkürlich fragte, warum ein Mädchen wie Felicity es als begehrenswertes Prestigeobjekt ansah. Dann wurde ihr bewusst, dass sie schon wieder eifersüchtig auf Felicity war. Sie beneidete sie, weil sie zu Nicks Familie gehörte, während ihr selbst dies versagt blieb. Felicity hatte sich allerdings alles Recht der Welt erworben, zur Familie zu gehören, ermahnte Kate sich streng. Dennoch hatte sie plötzlich wieder diese Zweifel an Nick. Auf dem Friedhof hatte er so distanziert, so unnahbar gewirkt. Aber wer wäre das kurz nach der Beerdigung seines Vaters nicht gewesen?

Kate ging über die Veranda mit ihren abgetretenen Dielen, nahm sich einen Teller mit Sandwichs und stieg dann die steinernen Stufen zum Rasen hinunter. Als sie an einer Gruppe älterer Männer und Frauen vorbeiging, die miteinander plauderten, erschrak sie zutiefst, als sie Annabelle und Henry sah. Dann fiel ihr wieder ein, dass Lance gesagt hatte, er kenne Henry von früher. Es war selbstverständlich, dass die beiden auch hier waren. Lance war ein angesehener und geachteter Farmer gewesen. Jetzt hatte ihr Vater sie ebenfalls gesehen. Er hob grüßend seine Teetasse. Es war eine Tasse aus feinem Porzellan mit Blumenmuster, die in seinen großen Händen völlig deplatziert wirkte. Annabelle, die neben ihm stand, führte gerade eine ebensolche Tasse elegant an ihre Lippen. Ihre Augen wurden schmal, als sie Kate sah, dann drehte sie ihr demonstrativ den Rücken zu. Kate ging weiter.

Auf dem Rasen ließ Kate dann ihren Blick über die großen, alten immergrünen Bäume zum Himmel hinaufwandern. Ein Wetterumschwung kündigte sich an. In nicht allzu großer Entfernung türmten sich bereits riesige graue Wolken auf. In die warme Luft mischten sich kühle Böen, und es wurde merklich dunkler.

»Ihr solltet so schnell wie möglich aufessen«, sagte Kate. »Es sieht nämlich aus, als würde es bald ein Gewitter geben.« Sie drückte den Zwillingen und Nell jeweils ein Sandwich in die Hand. »Wie sagt man?«

»Sandwich!«, krähte Nell.

»Ja … und wie sagt man noch?«

»Käse!«

»Jetzt stell dich nicht so dumm, Nell«, sagte Kate. »Man sagt ›Danke, liebe Mama‹, das weißt du doch. Aber du willst mich sicher nur ärgern, oder?«

»Bamke, lieme Mama«, sagte Nell mit vollem Mund.

»Schön, Nell. Aber nicht mit vollem Mund«, fügte Janie hinzu, als sie den Reißverschluss ihrer Provianttasche öffnete und zwei Trinkbecher für Brendan und Jasmine herausnahm. Als Kate in die Hocke ging, um Janie zu helfen, kam Nell zu ihr und schlang die Arme um Kates Hals.

»Ah … mein Kuschelbärchen! Danke, Nellie.« Sie gab Nell einen dicken Kuss. Noch während sie ihre Tochter knuddelte, sah sie, dass Alice auf die Veranda kam. In ihrem Haus wirkte sie stärker und wesentlich gefasster. Sie stand in ihrem feinen grauen Kleid und der rosa Jacke, die sie um ihre Schultern gelegt hatte, in aufrechter Haltung auf ihrer Veranda.

Auch Alice sah jetzt zum bedrohlich dunklen Himmel hinauf. Sie kniff die Augen zusammen, weil ihr plötzlich eine heftige Böe ins Gesicht blies. Dann sah sie zu Nell und Kate hinüber, die sich noch immer umarmten. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Kate war sich sicher, auch einen sehnsüchtigen Ausdruck darauf zu erkennen. Vielleicht dachte Alice gerade daran, wie sie selbst vor so vielen Jahren mit ihren beiden Jungen auf ebendiesem Rasen gespielt hatte. Es waren die Erinnerungen einer Mutter. Kostbarer als alles andere, dachte Kate. Kostbarer als alles Land oder Geld. Kate zog Nell an sich, atmete den Duft ihrer frisch gewaschenen Haare ein und schloss die Augen. Vergiss nie diesen Duft, sagte sie sich. Vergiss niemals diesen Moment, in dem das Leben und der Tod so eng miteinander verflochten sind. Vergiss nie zu lieben, egal was auch kommen mag.

»Ich hab dich lieb«, murmelte sie, während sie mit den Lippen über die weiche Haut von Nells Nacken strich. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Nick neben seiner Mutter auf der Veranda. Auch er beobachtete sie beide. Er beugte sich zu Alice hinüber und sagte etwas zu ihr.

Kate wurde klar, dass er zu ihr kommen und mit ihr reden wollte. Sie setzte sich aufrecht hin und lächelte ihn an. Genau in diesem Moment erschien jedoch auch Felicity auf der Veranda. In ihrer schwarzen Hose und der perfekt sitzenden hellgrauen Bluse machte sie eine auffallend gute Figur. Ihre Haare hatte sie zu einem Knoten im Nacken frisiert.

»Ich fahre jetzt besser in die Stadt zurück, Alice«, sagte sie ein wenig außer Atem. Kate sah, wie Felicity Alice in die Arme nahm. Dann ergriff sie Nicks Hand, drückte sie und umarmte kurz auch ihn. Kate wandte schnell den Blick ab. Dann verschwanden die drei ins Haus.

»Stört es dich, wenn Nell und ich noch einen kleinen Spaziergang machen?«, fragte Kate Janie leise. Felicity mit Nick zusammen zu sehen, hatte ihr die Luft zum Atmen genommen. Felicity hatte jedes Recht der Welt, hier zu sein, ganz egal, wie sich ihr Verhältnis zu Nick auch entwickelt haben mochte, rief Kate sich zum x-ten Mal in Erinnerung. Dennoch tat ihr Felicitys Anwesenheit weh, obwohl ihr bewusst war, dass Felicity angesichts ihrer und Nells das gleiche Unbehagen empfinden musste. Ihre Beziehung mit Aden spielt dabei keine Rolle. Janie nickte.

»Wir sind hier. Lass dir ruhig Zeit. Wir sehen uns dann später.«

Der Garten von Rutherglen hatte trotz der ungepflegten Beete und des ungemähten, mit Löwenzahn geradezu übersäten Rasens nichts von seinem Charme verloren. An der mit weißem Kies bestreuten Auffahrt bogen sich wuchtige Ulmen ächzend im Wind, während die stürmischen Böen an den sommerlich grünen Ranken der großen Weiden zerrten und zogen. Kate sah zu, wie Nell in ihrem im Wind flatternden Gingham-Kleid vorauslief und lachend über den Rasen hüpfte. Obwohl es Kate Freude machte, ihre Tochter so fröhlich zu sehen, war sie doch auch sehr bedrückt.

Nick zu sehen hatte sie mit großer Sehnsucht erfüllt und ihre Gefühle wieder in Aufruhr versetzt. Es gab auf der Welt keinen Mann, den sie mehr begehrte. Aber Kate wusste, dass sie loslassen musste. Sie musste Nick loslassen. Musste Bronty aufgeben. Ihren Zorn darüber vergessen, dass sie nahezu alle Menschen, die sie liebte, verloren hatte. Sie musste all das loslassen, sonst würde es sie irgendwann auffressen. Aber es gab da etwas, das sie niemals loslassen würde, und das war Nell. Nell war ein Teil ihres Lebens. Sie war ihr Fleisch und Blut. Sie sollte die Möglichkeit erhalten, ein wirklich außergewöhnliches Leben zu führen.

Kate lief ihrer Tochter hinterher, nahm sie in die Arme und hob sie dann hoch. Sie wirbelte sie herum, so dass ihre Haare wild im Wind flatterten. Nell kniff vor Begeisterung die Augen zusammen, und auf ihrem rosigen Gesicht erschien ein breites Lächeln, bei dem ihre Milchzähne zu sehen waren. Dann ließen sie sich beide kichernd auf den Rasen fallen. Kate genoss nach Luft ringend das köstliche Gewicht von Nell, die auf ihr lag. Als ihr Lachen in ein regelmäßiges Atmen überging, hörte Kate plötzlich eine Stimme.

»Ah! Jetzt erinnere ich mich. Endlich komme ich drauf.« Sie setzte sich auf. Von der Sonne, die plötzlich hinter den dahinjagenden Wolken aufgetaucht war, geblendet, erkannte sie zuerst nur die große, massige Silhouette eines Mannes. Kate schob Nell von ihrem Schoß hinunter, hielt sich die Hand vor ihre Augen und legte den Kopf schief.

»Angus?«

»Ja, der bin ich. Und du bist … Catherine?«

»Kate.«

»Ah, ja. Wie in Der Widerspenstigen Zähmung, Kate. Richtig. Du bist dieser heiße Feger, der auf einem B&S meinen kleinen Bruder aufgerissen hat, nicht wahr?«

Kate zuckte mit den Schultern.

»Ist das dein Sprössling?«

»Ja. Nell, sag Angus hallo.«, Onkel Angus, dachte Kate.

»Hallo«, sagte Nell.

»Auch hallo«, sagte Angus. »Wie alt bist du denn?«

»Drei«, sagte Nell und hielt dabei vier Finger in die Luft.

»Fast vier«, fügte Kate hinzu.

Angus nickte bedächtig, als rechne er gerade nach. Um seine Aufmerksamkeit von Nell abzulenken, platzte Kate heraus. »Das mit deinem Vater tut mir leid.«

Angus zuckte mit den Schultern.

»Er wollte wohl gehen. So etwas kommt vor. Das ist eben das Leben. «

Kate merkte an der Art, wie er das sagte, dass da ein großer Schmerz war, den er versuchte, tief in seinem Inneren zu vergraben, wo er dann jahrelang schwelen würde – ein Schmerz ähnlich dem ihren, als sie ihre Mutter verloren hatte.

»Man sagt, dass ein verletztes Tier sich durch schiere Willenskraft dazu zwingen kann zu sterben. Ich denke, genau das hat er getan. Aber sein Tod hat auch sein Gutes. Nick ist jetzt frei«, fuhr er fort.

»Was meinst du damit?«

»Das heißt, dass er diese heruntergekommene alte Farm endlich verkaufen und mir mein Erbe auszahlen kann. Einige Typen aus der Stadt blättern jede Menge Geld für Häuser wie dieses hin. Und auf das Land hier sind die Holzfirmen schon lange scharf.« Er zeigte auf das Farmhaus, wo die Gäste gerade die Tische von der windigen Nordseite des Hauses auf die nach Süden gelegene geschützte Veranda umstellten. Die Frauen liefen umher wie aufgeregte Hühner, denen der Wind die Schwanzfedern zerzauste. Der Sturm gewann immer mehr an Kraft, und es wurde immer kühler.

»Ich habe schon einen Bekannten der staatlichen Landvermessungsstelle gebeten, die Farm auszuschreiben.«

Kate runzelte die Stirn. Sie war verblüfft darüber, wie sehr sich Nick von diesem großen, energischen Mann doch unterschied. Angus ähnelte von der Art her eher seinem Vater Lance vor seinem Unfall. Sie beschloss, ihm gegenüber ebenso direkt zu sein, wie er es ihr gegenüber war. Sie sah keinen Grund, sich zurückzuhalten, wenn er das auch nicht tat.

»Von Verkauf zu reden ist wohl noch ein bisschen früh, oder? Was ist mit deiner Mutter?«

»Ihr steht es bis obenhin, dieses Monster sauber zu halten. Sie hat da ein kleines Häuschen weiter unten an der Küste im Auge.«

»Und Nick?«

»Er hat auch schon etwas im Auge.« Angus verschränkte die Arme vor seiner ausladenden Brust. »Es gibt da eine Farm an der Küste mit so viel Grund, dass er parzelliert und als Baugrund angeboten werden kann. Das Ganze steht zum Verkauf. Die Auktion soll schon bald über die Bühne gehen, deshalb müssen wir jetzt schnell handeln. Jedenfalls wäre das Ganze eine lohnende Investition für mich, und es wäre auch gutes Farmland für Nick. Ich denke, du kennst die Farm.« Angus zwinkerte ihr zu, dann drehte er sich um und ging davon. Kurz bevor er außer Hörweite war, rief er ihr noch über die Schulter gewandt zu. »Süßes Kind, übrigens. Erinnert mich irgendwie an jemanden, den ich ziemlich gut kenne.«

Kate sah zu, wie er sich entfernte, während ihr seine Worte in den Ohren hallten. Er schien nicht nur zu wissen, dass Nell Nicks Tochter war, er versuchte sie auch damit zu ködern, dass er Bronty kaufen wollte. Das war offensichtlich. Aber warum hatte Nick ihr nicht gesagt, dass er und sein Bruder an der Farm interessiert waren? Bedeutete ihm ihre gemeinsame Zeit denn überhaupt nichts?

Kate streckte instinktiv die Arme aus, um Nell an sich zu drücken, die neben ihr gesessen und eifrig Gänseblümchen gepflückt hatte. Aber Nell war nicht da. Kate sah sich suchend um, konnte sie jedoch weder auf dem Rasen noch in der Nähe des Hauses entdecken. Sie sah nur Janie und die Zwillinge, die zusammen mit den anderen Trauergästen auf der Veranda vor dem Wind Schutz gesucht hatten. Kate stand auf und drehte sich um.

Dann sah sie mit großer Erleichterung, dass Nell gerade in das kleinen Wäldchen hineinhüpfte, das an den Rasen angrenzte. Kate begann auf jene Stelle zuzulaufen, an der Nell zwischen den riesigen, alten Bäumen verschwunden war. Dabei wurde sie von einer so heftigen Windböe getroffen, dass sie beinahe zu Fall gekommen wäre.

»Nell?«, rief sie. Der Wind riss ihren Schrei mit sich fort. Er schüttelte die Baumwipfel so heftig, dass Kate angst und bange wurde. In diesem Moment hörte sie ein lautes Knacken und ein Stöhnen, als sich ein riesiger Ast aus dem Blätterdach löste und zu Boden krachte.

»Nell!«, schrie Kate. Sie rannte los. Ihr Beine trugen sie voran, ihre Schritte fraßen die Distanz. Sie sah dicke alte Äste, die einander wie Dominosteine mitrissen und sich dann mit großer Wucht in den Boden bohrten. Schon bald befand sie sich mitten zwischen den Bäumen, kämpfte sich durch einen Wall aus herabgestürzten Ästen, rief weinend immer wieder Nells Namen. Überall um sie herum brauste und tobte der Sturm.

Die Leute auf der Veranda hörten das Krachen und sahen, wie die knorrigen alten Äste brachen. Sie sahen, dass Kate losrannte, und wussten instinktiv, dass irgendetwas Entsetzliches passiert sein musste. Hörten den Schrei einer Mutter. Sie waren bei ihr, noch bevor es ihr richtig bewusst wurde. Sie kletterten in ihren feinen Anzügen und eleganten Kleidern über die Äste und suchten in dem dunklen Wirrwarr hundertjähriger Bäume nach einem kleinen Kind.

»Meine Tochter! Sie ist irgendwo dort drin. Meine kleine Tochter! O Gott! Nellie!«, schrie Kate. »Bitte nimm sie mir nicht auch noch!« Als der Wind um sie herum brauste und toste, hatte sie das Gefühl, ihr würde das Herz brechen.

Kate schluchzte, als sie sich durch die Äste kämpfte und verzweifelt nach dem blauen Gingham-Kleid Ausschau hielt. Ihre Hände, die sie sich an spitzen Ästen aufgerissen hatte, waren blutverschmiert. Sie stolperte, fiel hin und schlug sich dabei ihr Knie auf. Dann spürte sie, wie sie von zwei kräftigen Armen festgehalten wurde. Es war Nick. Sein Gesicht war aschfahl.

»Sie haben sie schon gefunden, Kate.« Er zog sie an seine Brust. »Beruhige dich. Sie haben sie doch schon gefunden.« Sie klammerte sich an ihn. Schloss die Augen, versuchte nicht zu schreien. Sie wünschte sich verzweifelt, dass es endlich zu stürmen aufhören würde. Sie hörte überall um sich herum Stimmen, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagten. Die deutlichste von allen war die von Felicity.

»Sie hat einen Schock«, hörte Kate sie sagen. »Gib mir deine Jacke. «

Kate spürte, wie jemand ihr etwas über die Schultern legte. Sie zitterte am ganzen Körper. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie selbst diejenige war, von der hier die Rede war.

»Alice, du bleibst bei ihr«, sagte Felicity. »Nick. Den Verbandkasten. In meinem Auto. Los. Schnell!«

Kate war völlig benommen. Sie spürte, dass Alice einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte und sie sanft dazu veranlasste, sich auf den Boden zu setzen. Eine Hand strich ihr leicht übers Haar. Die Hand einer Mutter. Tröstlich und voller Fürsorge.

»Nellie. Nellie«, rief Kate, während sich ihre Finger in das Gras und die vermoderten Blätter vom letzten Herbst gruben. »O Gott, Nellie!«

»Pssst, pssst.« Alice zog Kates Kopf an ihre Brust. »Es geht ihr gut, Kate. Der Kleinen geht es gut. Es ist ihr nichts passiert.«

Kate hörte Alices Worte, aber sie ergaben keinen Sinn. Nell war tot. Dessen war sich Kate absolut sicher. So war es immer in ihrem Leben. Jeder, den sie liebte, wurde ihr genommen.

»Wo ist sie?« Kate versuchte aufzustehen, sah zwischen den Bäumen hindurch zu einer Gruppe von Menschen hinüber. Kate sah, wie Nick angerannt kam und Felicity einen Kasten in die Hand drückte.

»Nein«, stöhnte Kate. »Ich will nicht, dass meine Kleine stirbt.«

»Sie stirbt nicht, meine Liebe«, beruhigte Alice sie, während sie mit ihr über das Gewirr von Ästen stieg und sie dabei stützte. »Sie haben einen Schock. Geben Sie Ihrem Verstand einfach etwas Zeit, um sich zu beruhigen. Ihre Tochter ist nicht tot. Es ist ihr nichts passiert. Es geht ihr gut.«

Kate versuchte sich auf das, was dort drüben vor sich ging, zu konzentrieren.

»Sie lebt? Sie lebt?«, fragte Kate verzweifelt.

Die Leute traten zur Seite, und Kate sah Nell, die weinend auf dem Rasen lag. Felicity war damit beschäftigt, das Blut zu stillen, das aus einer Platzwunde an Nells Kopf quoll.

»Hier ist sie«, sagte Alice und setzte Nell dabei auf.

Kate sank neben Nell auf die Knie, küsste sie wimmernd.

»Psst, mein Schatz, psst! Es wird alles gut, Nell.« Sie sah mit um Bestätigung flehendem Blick Felicity an.

»Deine Mami hat Recht, Nell«, sagte Felicity nüchtern. »Alles ist in Ordnung.« Dann an Kate gewandt: »Und die Mami setzt sich jetzt dort drüben hin. Ich reinige noch Nells Wunde, bevor wir alle zum Haus zurückgehen.«

Felicity sagte leise etwas zu Alice, dann spürte Kate, wie Alice sie ein paar Schritte wegführte. Sie ließ sie sich dort auf den Boden setzten und legte wieder die Arme um sie. Kate sah, wie Felicity Nell auf Knochenbrüche untersuchte, ihr in die Pupillen leuchtete und ihren Puls fühlte. Nick war ebenfalls da. Er zupfte Nell sanft ein paar Zweige und Blätter aus den zerzausten Locken.

Kate wandte sich wieder an Alice.

»Ist es wirklich nichts Schlimmes?«

Alice nickte lächelnd, auch wenn ihr dabei Tränen in den Augen standen. Auch in ihrem lockigen blondgrauen Haar hingen vertrocknete braune Blätter. Auf ihrer hellen Strickjacke war ein Blutfleck zu sehen, denn Kate hatte sich, Halt suchend, an Alices Schulter gelehnt, nachdem sie die blutverschmierte Nell im Arm gehalten hatte.

»Ja, es geht ihr gut. Sie hat nur ein paar Schürfwunden und eine dicke Beule am Kopf, mehr nicht. Wenn Felicity sagt, dass ihr sonst nichts fehlt, dann ist das auch so.«

Kate sah auf. Am Rande ihres Gesichtsfeldes nahm sie weiße blitzende Lichter und wogende grüne Blätter wahr. Im Zentrum des Ganzen erkannte sie Nick. Klar und deutlich wie der helle Tag. Sie kniff die Augen zusammen, um auch die Person, die neben ihm stand, erkennen zu können. Es war Henry. Er hielt Nells Hand und strich ihr ganz sanft über das blutverklebte Haar. Der Wind schüttelte noch immer die Bäume, versetzte Kate wieder in Angst und Schrecken.

»Ich muss zu ihr!«, sagte sie. Wieder überfiel sie diese entsetzliche Panik. Was war, wenn Alice sie angelogen hatte? Sie versuchte aufzustehen, aber Alice hielt sie mit sanfter Gewalt fest.

»Psst! Es geht ihr gut. Vertrauen Sie mir, meine Liebe.« Alice strich Kate mit ruhigen, tröstenden Bewegungen über die Haare. Kate schloss die Augen und versuchte ihren ungleichmäßigen Atem unter Kontrolle zu bekommen.

»Ich kann mich noch gut dran erinnern«, begann Alice mit ruhiger Stimme, »wie Nick sich einmal den Kopf aufgeschlagen hat. Er war damals ungefähr so alt wie Nell. Er fiel von einem der Bäume da drüben. Ich glaube, Angus hatte dabei ein bisschen nachgeholfen, aber das nur nebenbei bemerkt. Jedenfalls hat Nick sehr stark geblutet. Als ich aus dem Haus kam und ihn sah, bin ich einfach umgekippt. Wenn es um das eigene Kind geht, fühlt man seinen Schmerz. Glauben Sie mir. Ich konnte mit all den blutigen Schrammen, die sich die Freunde meiner Söhne zugezogen haben, wenn sie hier zu Besuch waren, durchaus umgehen. Auch mit all dem Blut, das man auf einer Farm zwangsläufig zu sehen bekommt. Aber wenn eines meiner Kind geblutet hat, konnte ich das einfach nicht ertragen. Felicity macht Nell nur noch sauber, dann können Sie sie wieder in Ihre Arme schließen.«

»Sind Sie sicher?«, frage Kate noch eimmal mit zitternder Stimme.

»Ganz sicher.« Alice setzte sich aufrecht hin und sah Kate direkt in die Augen. »Immerhin ist sie doch meine Enkeltochter. Ich sollte also wissen, ob es ihr gut geht oder nicht.«

Kate spürte Tränen in ihren Augen brennen. Sie wusste also Bescheid! Alice wusste Bescheid. Kate legte die Arme um sie und hielt sie fest. So fest, wie sie ihre Mutter damals immer gehalten hatte, wenn das Leben so beängstigend war, dass Worte nicht mehr halfen.


Nick trug Nell, die jetzt in eine karierte Decke eingewickelt war, zu Kate und legte sie ihr dann vorsichtig in die Arme.

»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« Kate vergrub ihr Gesicht in Nells Haaren, die durch das Blut und das Wasser rosa gefärbt waren. Die Locken klebten an der Kopfhaut. Auf ihrem vollkommenen kleinen Gesicht waren mehrere Kratzer und Striemen zu sehen. Eines ihrer Augen begann langsam zuzuschwellen. Kate spürte Nicks Hand, die auf ihrem Rücken lag. Warm und stark. Dann stand ihr Vater vor ihr. Er beugte sich über sie und sagte leise: »Hier draußen ist es viel zu gefährlich, Katie. Meinst du, du schaffst es bis zum Haus?«

Wie um seine Worte zu bestätigen, fegte eine weitere heftige Windböe über den Rasen und traf die alten Bäume. Über ihren Köpfen knackten Äste. Kate zuckte zusammen. Dann nickte sie. Nick nahm ihr Nell vorsichtig aus den Armen. Kate sah ihn dankbar an, bevor sie sich von Henry und Alice beim Aufstehen helfen ließ. Sie spürte die Hände ihres Vaters auf ihrem Oberarm. Er hielt sie umfasst, gab ihr Halt, beruhigte sie. Sie konzentrierte sich auf das Gehen, wobei sie ihren Blick fest auf Nick gerichtet hatte, dessen breiten Rücken sie sah, als er vor ihnen über den Rasen zum Haus ging.

Als sie in dem stillen Farmhaus angekommen waren, wies Felicity Kate an, sich auf die Couch zu setzen.

»Es geht mir gut, wirklich«, sagte Kate, fühlte sich dabei jedoch noch immer sehr unsicher auf den Beinen.

»Du musst die Füße hochlegen«, sagte Felicity mit fester Stimme. »Nick, bring Nell hierher, dann kann sie sich neben ihre Mami setzen.« Nick hob Nell hoch und setzte sie auf die Couch. Sie schmiegte sich in Kates Arme und begann dann leise zu weinen. Kate konnte nichts anderes tun, als sie festzuhalten und ebenfalls zu weinen. Einige der Trauergäste standen verunsichert im Zimmer herum und starrten sie an, bis Felicity sie alle hinausscheuchte.

Nur Alice, Nick, Felicity und Henry blieben im Wohnzimmer, während Annabelle mit besorgtem Gesicht im Türrahmen stand und wartete. Nick, Alice und Henry standen schweigend vor Kate und Nell und wussten offensichtlich nicht, was sie tun oder sagen sollten. Nur Felicity lief zielstrebig hin und her, um Kate ein Glas Wasser und etwas Gerstenzucker zu bringen.

Schließlich sagte eine kleine piepsige Stimme unter der Decke: »Blöde Bäume!« Alle lachten. Ihre Beziehungen zueinander waren für kurze Zeit wieder gekittet. Kate setzte sich auf. Sie sah, dass ihr Vater sie anlächelte. In diesem Moment war dieses Band der Liebe zwischen ihnen wieder da. Dessen war sie sich ganz sicher. Kaum war es jedoch geknüpft, meldete sich Annabelle zu Wort.

»Also, da offensichtlich alle heil und gesund sind, sollten wir uns jetzt besser auf den Weg machen, Henry, mein Liebling. Ich habe mit Janie gesprochen, Kate. Sie wird dich nach Hause fahren.«

»Nach Hause«, wiederholte Kate geistesabwesend, da ihr aufgrund des Schocks das Denken noch immer schwerfiel. »Danke.«

Alice wandte sich jetzt an Annabelle und Henry, wobei die ihre Hand sanft auf Henrys Oberarm legte.

»Vielen Dank für Ihre Unterstützung. Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass Sie zur Beerdigung meines Mannes gekommen sind. Lance hat immer sehr freundlich von Ihnen gesprochen, Henry. Von Laney war er geradezu begeistert. Er sagte oft, dass sie eine Schönheit war«, fügte Alice augenzwinkernd hinzu. Kate wurde es warm ums Herz, als sie hörte, dass jemand in Anwesenheit von so vielen Menschen so positiv von ihrer Mutter sprach. Bevor Alice Henry und Annabelle aus dem Zimmer begleitete, fügte sie, diesmal mit lauterer Stimme als üblich, hinzu:

»Es hätte ihn bestimmt sehr gefreut, wenn er noch erfahren hätte, dass unsere Familien jetzt auf besondere Weise miteinander verbunden sind. Deshalb werden wir die Websters in Zukunft auch öfter hier bei uns begrüßen dürfen, nicht wahr? Der heutige Tag war ein Zeichen des Himmels, dass wir uns alle um unsere wunderbare kleine Enkeltochter kümmern sollen.«

Henry und Annabelle sahen sie verständnislos an. Dann aber zählten sie offensichtlich zwei und zwei zusammen, während sie ihren Blick immer wieder zwischen Nick und Nell hin- und herwandern ließen, und ihnen wurde klar, was Alice meinte. Alice schien ihre Überraschung und Verblüffung nicht zu bemerken, vielleicht wollte sie das auch gar nicht. Jedenfalls fuhr sie unbeirrt fort.

»Jetzt, da Lance nicht mehr unter uns ist, ist es ein Segen, dass uns eine Enkeltochter geschenkt wurde. Nell ist ein wunderbares Kind. Unser Herrgott kennt vielerlei Wege der Heilung, und Nell ist genau das: ein Heilmittel für uns alle. Es ist jetzt unsere Aufgabe, ihr dabei zu helfen, ihren Weg im Leben zu finden. Da stimmen Sie mir doch sicher zu?« Dann begleitete Alice die beiden auf ihre freundliche, aber bestimmte Art nach draußen.

In dem Schweigen, das folgte, sah Kate verlegen Nick und Felicity an. Sie wartete darauf, dass Felicity explodierte. Sie ging jedoch nur vor ihr in die Hocke und sagte in dem für sie so typischen herrischen Ton: »Ich glaube, dass Nell keine Gehirnerschütterung hat. Aber um ganz sicherzugehen, solltest du sie erst einmal nicht länger als zwanzig Minuten schlafen lassen. Ich habe Janie erklärt, worauf ihr aufpassen müsst. Ich denke auch nicht, dass Nell genäht werden muss. Pass einfach auf, dass kein Schmutz in die Wunden kommt und wechsle in ein paar Tagen die Pflaster. Falls es wider Erwarten Probleme geben sollte, fährst du am besten mit ihr ins Krankenzentrum. Und was dich angeht, so nimm es nicht so schwer. Der Schock und der Stress fordern manchmal ihren Tribut. Ich würde dir dringend raten, erst einmal ein paar Tage freizunehmen.«

»Danke«, sagte Kate und meinte es aufrichtig.

Felicity zuckte mit den Schultern. »Das ist mein Job.« Sie lächelte Kate an. »Die Leute halten mich oft für herrisch. Das kommt wohl daher, dass ich in Krisensituationen sofort in eine Art automatisches Notfallprogramm umschalte.«

Kate sah sie dankbar an.

»Felicity?«

Felicity legte den Kopf schief, wartete auf das, was Kate sagen würde.

»Es tut mir leid wegen … wegen der Probleme, die ich dir gemacht habe«, sagte Kate und warf dabei einen Blick zu Nick hinüber. Dann sah sie Felicity wieder an. »Du weißt schon. Es tut mir wirklich leid.«

Felicity legte ihre kühle schmale Hand auf Kates Arm.

»Du hattest es nicht leicht, nicht wahr?« Ihre Augen wurden für einen kurzen Moment feucht, dann gewann sie wieder die Kontrolle über sich. Sie reckte würdevoll das Kinn in die Luft. »Aber wie Alice schon sagte, vielleicht ist Nell ja wirklich ein Segen für uns alle. Nick und ich haben uns über alles unterhalten. Wahrscheinlich hätten wir einen großen Fehler gemacht, wenn wir geheiratet hätten. Wir wissen, dass wir nicht füreinander bestimmt waren.« Sie sah Nick noch einmal traurig an. Dann fasste sie sich wieder und stand energisch auf. »Jetzt lasse ich euch allein.« Sie gab Nick einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verließ das Zimmer.

Als sie allein waren, spürte Kate, dass sie den Schock noch nicht überwunden hatte. Sie sah plötzlich wieder die sturmgepeitschten Bäume vor sich und wurde panisch. Sie begann zu weinen und beteuerte dabei immer wieder schluchzend, wie leid ihr das alles täte.

»He«, beruhigte Nick sie, nahm sie in den Arme und drückte ihren Kopf an seine Brust. Er legte auch einen Arm um Nell, so saßen sie alle drei schweigend da, während die Uhr auf dem Kaminsims laut vor sich hin tickte.

»Es tut mir leid«, sagte Kate noch einmal.

»Das hast du in letzter Zeit schon ein oder zwei Mal gesagt.«

»Ich will, dass du weißt, dass es so ist. Das mit deinem Dad tut mir wirklich leid. Und dieser Abend im Pub … Ich war … Aber da war nichts.«

»Pssst. Das weiß ich doch. Dieser verdammte Jonesy. Ich weiß, dass er hinter dir her war und nicht umgekehrt. Das alles ist auch meine Schuld. Ich hätte dich damals nach dem Rouseabout nicht im Stich lassen dürfen. He, wollten wir nicht noch einmal ganz von vorn anfangen? Hier und jetzt. Du, ich und Nell?«

Kate spürte seine Fingerspitzen auf ihrem Gesicht, als er sie näher an sich heranzog. Dann küsste er sie so sanft und beinahe scheu, dass es Kate so vorkam, als wäre dies ihr erster Kuss. Als sich ihre Lippen berührten, fiel all der Schmerz, den sie in ihrem Leben erlitten hatten, von ihnen ab. Alles, was jetzt noch zählte, waren sie beide. Sie beide und das kleine Mädchen, dass sich zwischen sie kuschelte.