Kapitel 28

Kate wartete eine ganze Woche lang auf einen Anruf von Nick. Sie wurde in dieser Zeit jede Nacht von Alpträumen gequält, die sich alle um Bronty drehten. Die Träume waren so lebhaft, dass sie sie den ganzen Tag lang nicht mehr losließen. Immer wieder standen ihr plötzlich einzelne Bilder aus diesen Träumen vor Augen und erschreckten sie zutiefst. Eine Konstante war das Bild der See, die das Ufer auswusch, große Teile der Weiden verschlang und schließlich das Haus überschwemmte. Es war eine wütende See. Eine See, deren Wellen bis zu den kuppelförmigen Hügeln der Farm hinaufstiegen, wo sie gegen das Tor brandeten, an dem Will gestorben war, die Drähte des Zaunes einfach wegrissen, so als wären sie dünne Angelschnüre und es dann samt seiner mächtigen Spannpfosten einfach verschlangen.

Auch an diesem Morgen war Kate atemlos und voller Panik aufgewacht. Sie fragte sich, warum diese Träume immer wiederkehrten, so stetig und unerbittlich wie die Gezeiten. Jetzt kuschelte sie mit Nell zusammen noch auf der Couch, da sie den Moment, an dem sie Nell zu Janie bringen und sich dann an ihren Schreibtisch setzen musste, noch ein wenig hinausschieben wollte.

In diesem Augenblick hallte das schrille Läuten des Telefons durch das Haus.

»Telefon«, sagte Nell.

»Ich geh schon hin. Du bleibst hier sitzen. Es dauert bestimmt nicht lange.«

Kate legte Nell eine Decke über die Knie, gab ihr einen Kuss und ging dann mit ruhigen Schritten zum Telefon. Sie wollte nicht blindlings losstürzen, so wie sie das in der vergangenen Woche stets getan hatte, in der Hoffnung, dass es Nick wäre.

Sie hatte noch nichts von ihm gehört. Sie hatte vergessen, sich seine Handynummer geben zu lassen, und im Krankenhaus wollte sie auch nicht anrufen. Was war, wenn die Stationsschwester ihre Nachricht an Felicity weitergab? Vielleicht würde Janie ja heute Mittag irgendetwas Neues über Nick und seinen Dad erfahren, ein bisschen Tratsch, den sie bei den Müttern der Spielgruppe aufschnappte. Irgendetwas.

Sie starrte das klingelnde Telefon an. Möglicherweise war das auch wieder ihr Vater. Letzte Woche hatte er dreimal angerufen. Zwei kurze Nachrichten auf dem Anrufbeantworter mit der Bitte, ihn zurückzurufen. Beim dritten Mal hatte sie abgenommen, da sie gehofft hatte, dass es Nick wäre. Als sie jedoch Henrys Stimme gehört hatte, hatte sie ihm barsch erklärt, dass sie sich um Nell kümmern müsse und deshalb keine Zeit für ihn hätte. Dann hatte sie einfach aufgelegt und dabei große Traurigkeit empfunden. Als sie den Hörer jetzt von der Gabel nahm, wünschte sie sich verzweifelt, dass Nick dran wäre.

»Hallo?«

Schweigen. Dann das Klappern von Münzen, die in einen Münzfernsprecher geworfen wurden. Schließlich hörte sie seine Stimme.

»Kate?«

»Nick?«

Wieder Schweigen. Dann seine Stimme, gebrochen und kaum hörbar.

»Wir haben ihn verloren, Kate.«

Was? Sie hörte das Klicken und Scheppern der Telefonschnur, während Nick hörbar um Fassung rang. Kate stellte sich vor, wie er im Krankenhausfoyer stand. Er trug bestimmt ein ordentliches Hemd, dazu Wrangler Jeans mit einem braunen Ledergürtel und Stiefel. Seine breiten Schultern waren sicher gebeugt. Irgendwo in dieser riesigen, hässlichen Klinik würde man seinen Vater auf einem stählernen Wagen in einen Lift schieben, um ihn in die Leichenhalle hinunterzubringen.

»O mein Gott. Das tut mir so leid.« Damit hatte Kate nicht im Entferntesten gerechnet. Sie war davon ausgegangen, dass es Lance inzwischen besser ging. Sie hatte ihn bereits wieder am Küchentisch sitzen sehen wie den Kapitän eines auf Grund gelaufenen Schiffes. Sein eingefallenes, graues Gesicht. Den leblosen Ausdruck seiner Augen. Plötzlich spürte sie einen heftigen Zorn in sich aufsteigen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrem Bruder hatte er die Wahl gehabt. Sie mussten sterben, obwohl sie das Leben geliebt hatten, Lance hingegen hatte sich bewusst dafür entschieden, seiner Familie das anzutun. Kates Zorn wuchs immer mehr. Sie fragte sich, ob Lance, als er beschlossen hatte, aus dem Leben zu scheiden, gewusst hatte, dass er eine Enkeltochter hatte. Die Worte lagen plötzlich auf ihrer Zunge, und bevor sie sie zurückhalten konnte, hörte sie sich fragen: »Hat er gewusst, dass er Großvater ist?«

»Nein«, sagte Nick. »Er ist nicht mehr aufgewacht. Ich habe es ihm gesagt, aber er konnte mich nicht mehr hören. Er konnte mich nicht mehr hören.«

Kate wusste, dass Nick weinte. Sie bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen.

»Ich bin sicher, dass er das konnte, Nick. Ich bin mir ganz sicher, dass er alles gehört hat, was du ihm gesagt hast«, sagte Kate. »Er hat es noch erfahren, bevor er starb.«

Sie wollte ihm noch sagen, dass Lance ihn sehr geliebt hatte, aber die Worte wollten einfach nicht über ihre Lippen. Wie konnte er seinen Sohn geliebt haben, wenn er sich doch dafür entschieden hatte, ihn alleinzulassen? Sie wartete.

»Es war meine Schuld«, sagte Nick schließlich leise.

»Nein, das war es nicht. Wie sollte es denn …«

»Es war meine Schuld«, unterbrach Nick sie. »Er hat einfach nur seine Medikamente durcheinandergebracht. Und das war zu viel für seinen kaputten Körper. Normalerweise hat Felicity sie ihm immer gegeben. Wenn ich nicht …« Seine Stimme brach. »Wenn sie noch immer, du weißt schon, ich meine, wenn sie noch da gewesen wäre, dann wäre das nicht passiert.«

Kate wusste, dass er sie nicht verletzen wollte. Die Trauer hatte ihn in eine Art Schockzustand versetzt. Dennoch packte sie angesichts der Situation die schiere Verzweiflung. Sie wollte ihn fragen, was er wirklich wollte. Eine Krankenschwester für seinen Vater oder eine Partnerin für sich selbst? Dann aber gewann das Mitgefühl für ihn wieder die Oberhand.

»Niemand ist schuld«, sagte sie. Wieder war da nur dieses Schweigen, unterbrochen von einem lauten Scheppern. Offenbar drehte er den Hörer in der Hand hin und her.

Schließlich sagte er: »Ich muss jetzt aufhören.«

»Okay«, sagte Kate leise. Dann war die Leitung tot.


Kate wanderte ruhelos wie ein Geist in dem kleinen Haus von Zimmer zu Zimmer. Starrte durch das Fenster in den hellen Tag hinaus. Das Sommergewitter in der Woche zuvor hatte das Gras auf den Weiden sprießen lassen. Sogar die Bäume sahen in ihrem grünen, sommerlichen Gewand jetzt wieder gesund und kräftig aus. Kleine Wattewölkchen segelten über den blauen Himmel und warfen seltsam geformte Schatten über die Landschaft. Kate nahm das alles jedoch nicht wahr. Alles, woran sie denken konnte, war: Nicks Vater ist tot. Die Worte gingen ihr wieder und wieder durch den Kopf. Sie kannte dieses unendlich tiefe Loch des Kummers, in dem Nick sich jetzt befand, nur allzu gut. Sie wusste, dass er für sie in nächster Zeit unerreichbar wäre. Sie verstand seinen Schmerz.

Dann dachte sie an ihre eigene Familie. An das, was davon noch übrig war. Sie hatte Nell, und dann war da noch Tante Maureen. Aber das war nicht genug. Früher gab es auch noch ihre Eltern und Will. Sie waren ihre Welt gewesen. Ihr Vater hatte fest zu dieser Welt dazugehört. Sie hatte ihn geliebt, und sie war sich sicher, dass auch er sie geliebt hatte. Es war an der Zeit, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.

Kate wurde plötzlich klar, dass sie die Wahl hatte: Sie konnte weiterhin jedem Kontakt mit ihrem Vater aus dem Weg gehen und Annabelle die Schuld an der Kluft zwischen ihnen geben. Sie konnte jedoch auch auf ihn zugehen, auf beide, bevor es zu spät war und der Tod ihr diese Entscheidung abnahm.

Kate wurde angesichts dieser Erkenntnis von einer Art Euphorie gepackt. Sie musste Nell erst in ein paar Stunden bei Janie abholen. Sie hatte also genügend Zeit, nach Bronty zu fahren. Kate packte den Sanierungsplan, den sie für Bronty erstellt hatte, in ihre Tasche, nahm ihren Hut von der Garderobe und ging dann zu ihrem Pick-up. Plötzlich hatte sie jedoch das Gefühl, dass sie ein paar Verbündete brauchte. Sie ließ deshalb Grumpy und Sheila aus ihren Zwingern. Sie ließ auch BH heraus, denn sie wusste, dass ihr ein paar Stunden ohne ihre Jungen und ein kleiner Ausflug guttun würden. BH zeigte sich ihnen gegenüber in letzter Zeit oft ziemlich gereizt. Kate wusste, wie sich die Hündin fühlte, denn auch sie hatte als junge Mutter des Öfteren die Nerven verloren. Sie leinte die drei Hunde auf der Ladefläche des Pick-ups an, bevor sie auf die Straße hinausfuhr.


Als Kate in den Zufahrtsweg nach Bronty einbog, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Panik erfasste sie. Sie bekam keine Luft mehr. Vor ihr erhoben sich zwei Pfosten aus der Erde, an die man ein Schild genagelt hatte. Zu verkaufen. Einmalige Gelegenheit. 15 Baugrundstücke direkt am Meer, zuzüglich 3000 Hektar Farmland. Bewässerungsgenehmigung für 600 Hektar. Charmantes Farmhaus. Rechtsanspruch auf weitere 3000 Hektar Busch liegt vor. Darunter befand sich ein Diagramm der Parzellierung. Kate wurde übel. Sie trat das Gaspedal durch und raste mit heulendem Motor über das Viehgitter in Richtung Haus.

Kate schlug die Wagentür zu, stieß das Gartentor auf und rannte den Weg entlang. Sie stürmte ins Haus, bereit für den Showdown. Sie wurde von gespenstischer Stille empfangen. Nur das leise Ticken der Küchenuhr war zu hören.

Um Kate herum begann sich alles zu drehen, als sie durch den Raum wankte und sich dabei an den Lehnen der Stühle festhalten musste. »Mama?«, rief sie verzweifelt. Plötzlich war sie wieder das kleine, barfüßige Kind, das den Flur entlangrannte und »Mama? Mama!« rief. Sie sah ihre ausgestreckte Hand vor sich – aber nein, das war nicht ihre Hand. Es war eine Kinderhand. Klein und pummelig. Kleine Finger mit Grübchen. Sie drückte eine Tür auf.

»Will?«, hörte sie eine Stimme fragen. Es war ihre eigene Stimme, aber es kam ihr vor, als hörte sie sich von außerhalb ihres Körpers. So als ginge ein Riss durch die Realität. Zwei Zeiten. Zwei Familien. Als die Tür aufschwang und Kate Wills Zimmer betrat, erkannte sie es nicht mehr wieder. Das Zimmer, in einer für Annabelle typischen Farbe gestrichen, war mit Adens Sachen vollgestopft. Nichts deutete mehr darauf hin, dass es Will einmal gegeben hatte. Kate merkte, dass sie zu hyperventilieren begann. Sie musste in diesem Haus irgendetwas finden, das eine Beziehung zu der Liebe herstellte, die sie hier einst erfahren hatte. Sie konnte es einfach nicht ertragen, diesen Ort für immer zu verlieren.

Sie rannte durch den Flur und riss am Seil der Bodenluke. Die Luke öffnete sich, die hölzerne Leiter klappte herunter. Kate stand da und starrte zum Dachboden hinauf. Ein matt erleuchtetes Loch über ihrem Kopf. Sie begann die Leiter hinaufzusteigen.

Der Schreibtisch war noch da. Daneben standen gepackte Umzugskartons. Sie waren sauber aufgestapelt. Neben den alten Samenschränken aus Holz wirkten sie jedoch überaus hässlich. Kate ging auf die Kartons zu. Sie wusste, was sich in ihnen befand. Wills Sachen. Eingepackt und mit Klebeband verschlossen. Sein Leben, auf dem Dachboden entsorgt, damit es nicht mehr im Weg war. Ein ungeheurer Zorn packte sie. Sie starrte durch das dicke alte Glas der Fenster auf das Meer hinaus. Schouten Island war hinter einer Wand dichter Wolken verschwunden. Kate versuchte sich die Parzellierung an der Küste vorzustellen. Millionen von Dollar teure Wohnhäuser, die sich entlang der Uferstraße aneinanderreihten und das Land verunstalteten. Sie drehte sich um. Dann durchmaß sie den Dachboden in seiner ganzen Länge und ließ ihre Finger dabei über die Samenschränke gleiten. Sie hakte einen Finger in einen der Griffe, öffnete die Schublade und betrachtete nachdenklich die Umschläge, die dort in ordentlichen Reihen aufbewahrt und katalogisiert waren. Sie berührte zärtlich das Papier mit der Handschrift ihrer Mutter. Tränen liefen ihr dabei übers Gesicht und fielen als dicke Tropfen auf den Holzboden. Sie ging zum Schreibtisch zurück, ließ sich in den Bürosessel fallen und stützte den Kopf in die Hände. Der Schmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben. Zu verkaufen? Wie konnte er das nur tun? Sie wollte, dass ihr Vater sie liebte. Sie wollte doch die Liebe ihrer Mutter durch ihn spüren. Außerdem vermisste sie Will mehr als alles andere. Sie weinte still in sich hinein, während sie mit leerem Blick die hölzerne Schreibtischplatte anstarrte. Wie konnte es ihm nur in den Sinn kommen, Bronty zu verkaufen?, fragte Kate sich immer wieder. Wie konnte er diesen Ort einfach auslöschen? Ihr Atem kam heftig und stoßweise. Sie spürte, wie ihr Herz raste.

Nachdem Kate lange Zeit so dagesessen hatte, wischte sie sich mit dem Handrücken über ihre Nase und richtete sich im Sessel auf. Dabei fiel ihr Blick auf einen kleinen Stapel ungeöffneter Briefe. Sie blätterte sie geistesabwesend durch und sah, dass sie allesamt an sie adressiert waren. Das meiste davon war nur Werbung – daher war es verständlich, dass ihr Vater sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie ihr nachzusenden. Pferdekataloge, Flyer von Countrybands, ein Schreiben ihrer alten Schule. Ihr Vater hatte die Briefe wahrscheinlich hier hingelegt, um sie ihr später zu geben. Er hatte den Schreibtisch wohl deshalb gewählt, weil dies der einzige Gegenstand in diesem Haus war, der noch in Verbindung mit ihr stand. Als sie die wenigen ernsthaften Briefe durchsah, fiel Kate ein weißer Umschlag mit einem seriös aussehenden Firmenlogo auf. Sie öffnete den Brief stirnrunzelnd und begann ihn zu überfliegen. Das Brief sah formell aus, die Unterschrift darunter war ein wichtigtuerischer Schnörkel in blauer Tinte. Der Brief kam von einer Versicherungsgesellschaft. Er bezog sich auf eine Lebensversicherung für den Fall des Todes von Mr William Webster. Man bat darin um Namen und Anschrift von Mr Websters Testamentsvollstrecker, damit dieser formell Anspruch auf die Versicherungssumme von $ 200.000 erheben konnte, die der Begünstigten Ms Katherine Elaine Webster zustand. Kate starrte das Schreiben verständnislos an. In ihrem Job hatte sie sich inzwischen einigermaßen an die umständlich formulierten Schreiben und die Gepflogenheiten der Geschäftswelt gewöhnt, in ihrer gegenwärtigen Verfassung dauerte es jedoch eine ganze Weile, bis sie begriffen hatte, was dort stand. Will hatte einen Lebensversicherung in Höhe von 200.000 Dollar abgeschlossen, und sie sollte das Geld bekommen. Kate spürte, wie sie von einer tiefen Traurigkeit erfasst wurde, als sie sich ihren großen, jovialen Bruder vorstellte. Seit sie ihre Mutter verloren hatten, war er so übervorsichtig gewesen, dass es Kate jetzt nicht im Geringsten überraschte, dass er eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte. Mit seinen gerade einmal fünfundzwanzig Jahren hatte er bereits eine alte Seele besessen. Er hatte stets versucht, auf alles vorbereitet zu sein. Dies hier entsprach genau seiner Art, sich um seine kleine Schwester zu kümmern. Als Kate mit dem Brief im Schoß dasaß, spürte sie, wie ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Was jetzt? Was nützte das jetzt noch, da ihr Vater Bronty zum Verkauf anbot? Was nützte es jetzt noch, da Annabelle auf dieser Farm so gut wie alle Erinnerungen ausgelöscht hatte? Kate hatte ihren Vater inzwischen so oft vor den Kopf gestoßen, dass er jetzt bestimmt keine Liebe mehr für sie empfinden konnte.

Sie steckte den Brief in ihre Hosentasche. Ein ungeheurer Zorn trieb sie an, als sie die Treppe hinunterstieg, durch den Flur stürmte und dann das Haus verließ. Draußen hatten inzwischen Nebel und ein feiner Nieselregen den zuvor noch so sonnigen Tag in ein trübes Grau verwandelt. In ihr schrie alles nach Rache. Sie musste diese verfluchte Bande wissen lassen, dass sie das einfach nicht zulassen würde. Aber wie? Sie ließ ihren Blick langsam über die Weiden schweifen. Nah am Haus sah sie eine Herde Schafe auf einer Weide, ungefähr hundertfünfzig junge Hammel. Sie holte die Hunde von der Ladefläche des Pick-ups und lief zum Tor hinüber. Dann schickte sie Grumpy nach vorn, während sie BH und Sheila zunächst noch bei Fuß gehen ließ. Bald waren die Schafe auf dem Hof. Jetzt trieben alle drei Hunde die Herde auf sie zu. Sie stieß das schmale Gartentor auf und wartete, bis der Leithammel die Lücke entdeckte. Als die Tiere alle im Garten waren, schloss Kate das Tor wieder und sah dann voller Genugtuung zu, wie die hungrige Herde die Blumenbeete zertrampelte und an den Rosen knabberte.

Aber das reichte Kate bei Weitem noch nicht. Rasend vor Zorn öffnete sie die Haustür. Die ersten Schafe musste sie noch hineinschieben, aber als Grumpy bellend auf ihre Rücken sprang und die beiden anderen Hunde den Tieren auf der Veranda keine Ausweichmöglichkeit ließen, trappelten die Hammel schon bald durch den Flur und traten dann vorsichtig auf den weichen, cremefarbenen Teppich in Annabelles Wohnzimmer. Porzellanfiguren fielen zu Boden und wurden von scharfen, gespaltenen Hufen zertrampelt. Die kitschige vergoldete Uhr landete, mit dem Zifferblatt nach unten, in einem frischen, schleimigen Haufen Schafdung. Kurz bevor Kate die Tür schloss, konnte sie noch sehen, wie ein Schaf auf der Suche nach einem Ausweg auf die geblümte Couch sprang, um aus dem Fenster zu sehen. Urin lief auf ein geblümtes Kissen.

»Entschuldigt, dass ich euch im Pfirsichdorf einsperre, Jungs«, sagte Kate durch das Fenster zu den Schafen. »Aber ihr müsst sicher nicht allzu lange hier drinbleiben. Versprochen.« Zufrieden leinte sie ihre Hunde wieder auf der Ladefläche des Pick-ups an und fuhr dann die Zufahrt hinunter auf die tiefgraue See zu.

Als Kate jedoch am Zufahrtstor von Bronty das »Zu verkaufen«-Schild sah, schwand die Genugtuung, die sie bei der Verwüstung des Hauses empfunden hatte. Was brachte ihr diese kindische Aktion eigentlich? Sie schalt sich dafür, dass sie wieder einmal ausgerastet war. Außerdem taten ihr die eingesperrten Schafe leid. Sie war jedoch zu verletzt und ihr Schmerz noch immer zu groß, um noch einmal zurückzufahren. Also steuerte sie den Pick-up die Küstenstraße entlang und hielt dann in den Dünen an. Sie machte die Hunde los und ging einen Pfad zum Strand hinunter. Der feine Nieselregen benetzte ihr Gesicht und ließ ihr Haar am Kopf kleben, als sie zwischen den silbernen Grasbüscheln und den Bäumen hindurch aufs Meer zuging.

Als sie am Strand entlanglief, durchbrachen ihre Schritte die oberste Sandschicht, die nass und grau war, und ließen den trockenen, weißen Sand darunter zum Vorschein kommen. Die Hunde tollten um sie herum, hechelnd und mit heraushängenden Zungen. Sie liefen immer wieder ins Meer, so dass das Salzwasser ihr Fell durchnässte. Kate wandte dem Ozean den Rücken zu und sah über die mit Gras bewachsenen Dünen zu Bronty hinüber.

Wie sah die Zukunft dieses Landes jetzt aus? Wenn es erst einmal verkauft war, würde der Strand in kleine Parzellen aufgeteilt werden. Kate wusste, dass die tasmanische Tradition der kleinen Strandhütten, die oftmals alt und baufällig waren, allmählich ausstarb. Die Hütten wurden durch repräsentative Strandhäuser, wie sie auf dem Festland üblich waren, ersetzt. Yuppie-Behausungen, von Yuppie-Architekten vom Festland geplant, die auf den menschenleeren, windgepeitschten Küstenstrich einfach so hingeknallt wurden. Häuser für Menschen, die zu dieser Insel keinerlei Bezug hatten. Kate stand auf einem der letzten unberührten Abschnitte von Tasmaniens Ostküste, und auch dieser sollte nun verkauft und zerstört werden. Sie konnte vor ihrem inneren Auge sehen, wie ihr Zuhause, die Farm und die Tiere, die dort lebten, durch Chardonnay schlürfende, gelangweilte Millionäre und ihren Anhang ersetzt wurden. Wie konnten die Behörden nur zulassen, dass das geschah, fragte sie sich. Wie konnte ihr Vater das nur tun?

Sie sah zu den mit Busch bedeckten Hügeln Brontys hinauf. Welches Schicksal drohte Wills geliebten kleinen Tälern, die sich zwischen die Berge an der Küste schmiegten? Was würde mit dem Land geschehen, das die Investoren als wertlos ansahen, nur weil es keinen Meerblick hatte? Sie stellte sich den dunklen Schatten einer Plantage mit Millionen von Eukalyptusbäumen vor, die sich wie ein Monster erhob. Ihre Wurzeln, die sich in die Erde krallten und den Boden sauer werden ließen. Ihre Äste, die so hoch wuchsen, dass sie die Sonne verdunkelten und die kalten Winde kanalisierten, die aus dem Westen über die Insel bliesen.

Sie stellte sich vor, wie sich Tausende von Wallabys und Fuchskusus in diesen Plantagen einnisteten, um dann von Schädlingsbekämpfungsmitteln getötet zu werden. Sie sah, wie Flugzeuge an ruhigen, schönen Tagen vom Meer her hereinschwebten und dann aus ihren Bäuchen Chemikalien auf die Erde fielen, um junge Bäume zu schützen, die wie fremde Soldaten in Reih und Glied standen. Wusste ihr Vater denn nicht, welchem Schicksal er dieses Land auslieferte?

Kate dachte an den Sanierungsplan, der auf dem Beifahrersitz ihres Pick-ups lag. Sie dachte an Will und die Träume, die sie beide für die Farm gehabt hatten: die Rückzugsflächen für wildlebende Tiere; das Geschäft mit historischen Gemüsesorten und Saaten. Saaten, in denen die Vergangenheit bewahrt wurde und auf denen sie eine Zukunft aufbauen wollten. Saaten, die dafür sorgen würden, dass auch Nells Enkeln noch gesunde Lebensmittel zur Verfügung standen.

Henrys Plan, das Land so unüberlegt zu Geld zu machen, als wäre es ein Wohnblock in der Stadt, ließ Kate schier verzweifeln. Dieser Ort, von salzigen Winden gepeitscht, voller Erinnerungen und von den Geistern der früheren Eigentümer des Landes beherrscht, war unendlich kostbar. Sie kniete sich in den nassen Sand und spürte, wie die Hoffnungslosigkeit sie zu überwältigen drohte. Selbst den Hunden, die um sie herumsprangen und sie zum Spielen animieren wollten, gelang es nicht, ihr eine Reaktion zu entlocken. Sie war machtlos. Sie allein konnte das Land nicht verteidigen. Wer war sie denn schon? Ein dummes, selbstsüchtiges Mädchen, das als allein erziehende Mutter geendet hatte. Ein Mädchen, das so selbstgerecht war, dass es die Chance, hier zu leben, einfach weggeworfen hatte.