Kapitel 13

Die ersten Schafscherer kamen am frühen Morgen des folgenden Tages. Die Sonne ging gerade über dem Meer auf, und in den Tälern und Senken hing noch der Nebel, der von der See hereingezogen war. Die Männer standen vor der Scheune und versuchten, die Kälte des Morgens aus ihren Knochen zu bekommen. Sie wickelten sich fester in ihre Mäntel und Jacken und schlenderten dann zu ihrem schlammbespritzten Auto hinüber, um ihre Thermoskannen, Werkzeugkästen und Behälter mit Essen aus dem Kofferraum zu holen. Außerdem die Schlingen, in die sie sich beim Arbeiten einhängten, zerlumpte Handtücher und Arbeitsschuhe. Dann stampften sie in ihren ausgetretenen Blundstone-Stiefeln die Stufen hinauf und betraten die Scheune.

Dort hatte Kate zwischen der Wollpresse und den großen Wollbehältern eine bunte Decke ausgebreitet. Jetzt legte sie gerade Plastikbehälter mit kleinen Häppchen, Spielzeug, Decken, Kissen und Bücher darauf. Nell stand am Ende des Arbeitstisches und zog ein Wollpaddel geräuschvoll über die Bodenbretter, während sie der jungen Hündin BH, die in einem der Pferche angebunden war, im Befehlston Anweisungen gab. In ihrem roten, wattierten Mantel und den wasserfesten Hosen sah Nell aus wie eine kleine aufblasbare Puppe. Sie blickte auf, als sie die Männer hereinkommen hörte.

»Hier drin ist heute Morgen wohl Schule und Schafschur zugleich?«, fragte einer der Männer.

»Tag, Razor!«, sagte Kate und strahlte dann über das ganze Gesicht, als sie den Mann erkannte. »Ist schon ziemlich lange her, dass wir miteinander zu tun hatten.« Sie betrachtete sein vertrautes Gesicht mit den Hängebacken, die ihn wie ein altes Schaf aussehen ließen.

»Dann hast du mich vor ein paar Wochen also gar nicht gesehen? Beim … äh … deines Bruders?«, fragte Razor. Das Wort »Begräbnis!« wollte ihm offensichtlich nicht über die Lippen kommen.

»Nein, tut mir leid. Ich war … du weißt schon.«

Razor erwiderte Kates Entschuldigung mit einem verständnisvollen Blick und winkte ab. »Deine Kleine will uns heute wohl helfen?«

»Das ist Nell. Ich hoffe, dass es dich nicht stört, wenn sie hier in der Scheune bleibt.«

»Dann ist sich Ihre Ladyschaft drüben im Haus wohl zu schade, um auf sie aufzupassen?«

Kate sah das Blitzen in Razors Augen, das von einem Zwinkern und einem gequälten Lächeln begleitet wurde. In diesem Moment wusste sie, dass sie einen Verbündeten gefunden hatte. Die kommende Woche, in der alle Schafe auf der Farm geschoren werden sollten, erschien ihr mit einem Mal nicht mehr ganz so schlimm.

Razor bückte sich zu Nell hinunter.

»Bei dir alles klar, Gert?« Razor lächelte. Nell erwiderte sein Lächeln mit einem breiten Grinsen.

Kate zeigte auf den anderen Mann, der in der Nähe stand.

»Wie heißt dein Kumpel? Willst du uns nicht miteinander bekannt machen, Razor?« Der jüngere Mann, der gerade seine Schermesser an einem Nagel über seinem Platz hängte, blickte auf. Die Messer baumelten wie eine Reihe von silbernen Haifischzähnen an ihrem Kabel.

»Kate Webster und ich sind uns schon ein paar Mal begegnet«, sagte der Mann zu Razor. »Sie erinnert sich aber offenbar nicht mehr an mich.«

Kate betrachtet seine untersetzte Gestalt, den Bauchansatz und die Adlernase, konnte sich aber absolut nicht entsinnen, ihn schon einmal gesehen zu haben.

»Ich hab dich schon ein- oder zweimal auf einem B&S getroffen«, sagte er. Als Kate ihn noch immer völlig verständnislos ansah, fuhr er fort. »Jonsey. Jack Jones. Aus Campbell Town.«

Er streckte ihr seine Hand entgegen. Kate schüttelte sie und starrte ihm dabei noch immer an, so als würde in seinem Gesicht in winziger Schrift irgendetwas geschrieben stehen, was ihrem Gedächtnis auf die Sprünge half.

»Ach, komm schon! Jones! So heißt doch jeder zweite Kerl, den ich getroffen habe«, neckte sie ihn und lachte, um die Panik, die sie plötzlich gepackt hatte, zu überspielen. War er an jenem Abend, als sie Nick McDonnell abgeschleppt hatte, auch da gewesen? Würde er sich Nell genauer ansehen und wissen, wer ihr Vater war?

»Es gibt ein paar B&S, an die ich mich nicht mehr so ganz genau erinnern kann«, fuhr sie rasch fort. »Die kleinen grauen Zellen, in denen du gespeichert warst, sind wohl inzwischen zum Teufel gegangen. Tut mir leid.«

Er lächelte sie an. Ein schiefes, freundliches Lächeln, und zuckte mit den Schultern. Dann legte er sich ein Handtuch um den Hals, zog seine Schafscherhose nach oben, zurrte seinen gestreiften Baumwollgürtel fest und ließ dann seinen Blick langsam über die Schafe in den Pferchen schweifen. Offensichtlich wollte er sich einen Überblick über die Arbeit für den heutigen Tag verschaffen.

Plötzlich begannen die Hunde zu bellen. Ein dunkler Pick-up hatte vor der Scheune angehalten. Aus dem Wagen stiegen zwei weitere Schafscherer und der Wollroller. Die Männer kamen in die Scheune und begrüßten Kate mit einem Kopfnicken. Es waren Rocker und B. D. Sie waren ebenso wie Razor berufsmäßige Schafscherer. Schließlich war da noch der ruhige und bedächtige Trev, der seinen Platz am Tisch einnehmen würde.

»Hier haben wir wohl noch eine billige Arbeitskraft. Was sagt denn da der Jugendschutz dazu?«, sagte B. D. und zeigte dabei auf Nell.

Die Männer lächelten zwar, aber die melancholische Stimmung, die sich in der kalten Scheune ausgebreitet hatte, war mehr als deutlich zu spüren. Wills Tod war ihnen allen noch viel zu gegenwärtig. Sie vermissten seinen herzlichen Empfang. Will, der als Wollbewerter in der Scheune der Boss gewesen war, hatte die Männer in den Pausen mit seinen freundlichen Neckerein immer schnell für sich eingenommen. Außerdem war es ihm mit seiner ungezwungenen, offenen Art stets gelungen, sie in ein Gespräch zu verwickeln. In diesem Jahr war die Traurigkeit der Männer geradezu mit den Händen zu greifen. Dass Will nicht mehr unter ihnen war, machte sie irgendwie befangen.

»Dann bist du also heute der Wollbewerter und der Boss?«, fragte Razor und brach damit das Schweigen, das nur vom Trappeln der Schafe auf dem Gitter erfüllt gewesen war. Kate schüttelte den Kopf. Als sie die Schur besprochen hatten, hatte Henry darauf bestanden, höchstpersönlich den Wolltisch zu beaufsichtigen und die Vliese zu bewerten.

»Nein. Ich bin hier nur der Handlanger, ich kümmere mich in dieser Woche um alles, was hier drin und draußen anfällt. Aden müsste jede Minute hier sein.« Kate warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, deren Zeiger sich auf 7.30 Uhr zubewegten.

»Nun, er sollte sich besser etwas beeilen«, brummte Rocker und bückte sich, um seine grauen Arbeitsschuhe anzuziehen.

»Er wird schon kommen«, sagte Kate mit wenig Zuversicht in der Stimme. In ebendiesem Moment betrat Henry die Scheune, räusperte sich und murmelte dann den Männern einen Gruß zu. In seinem marineblauen, wollenen Arbeitspullover und dem blau karierten Hemd, dessen Kragenecken aus dem Ausschnitt hervorsahen, sah er wie ein typischer Farmer aus. Er nahm seinen Hut ab und hängte ihn an denselben Nagel, an den er ihn jedes Jahr hängte. Als er dann zum Wolltisch hinüberging, zog er angesichts der Ansammlung von Kinderspielzeug in der Ecke eine Augenbraue hoch.

»Dort kommen normalerweise die farbigen Vliese hin«, sagte er mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme.

Kate spürte, dass sie rot wurde. Sie wusste selbst, dass im Laufe des Tages, wenn sich die Vliese erst einmal zu stapeln begannen, der Platz in der Scheune knapp würde. Als sie diesen Bereich für Nell beansprucht hatte, war ihr bewusst gewesen, das sie damit das altbewährte System in Frage stellte – ein System, das Will, seit er seine Zulassung als professioneller Wollbewerter bekommen hatte, stetig verfeinert hatte.

»Ich weiß, Dad. Aber können wir nicht eine Vliesreihe direkt in die Presse geben. So könnten wir ein bisschen Platz sparen.«

Ihr Vater zuckte ärgerlich mit den Schultern und ging dann davon, um eine der steifen Wollverpackungen auseinanderzuschütteln und in ein Metallgestell zu spannen.

Kate warf wieder einen Blick auf die Uhr und wünschte sich verzweifelt, dass Aden endlich kommen würde. Sie rief Nell zu sich, ging dann in die Hocke und nahm ihre Hände.

»Mami muss heute und auch die nächsten Tage hier arbeiten. Du musst schön brav sein, damit der Opa nicht böse wird. Okay? Pass auf.« Kate nahm ein Stück Kreide von der Anschreibetafel und malte damit einen Strich auf den Boden.

»Du darfst nicht über diese Linie gehen, sonst bist du den Männern im Weg. Verstanden? Kleine Mädchen müssen hinter dieser Linie bleiben. Ja?« Sie zeichnete ein Strichmännchen, zog einen Kreis darum und strich das Ganze dann durch.

Nell nickte. Sie wusste, dass die Schafschur eine wichtige und ernstzunehmende Sache war. Sie war schon als Baby auf Maureens Farm bei jeder Schur dabei gewesen. Sie war das laute Rattern der Blechwände, das Jaulen der Wollpresse unter Volllast und das plötzliche Krachen eines Besens gewohnt. Sie wusste, wie sie sich verhalten musste, um den hin und her rennenden Helfern und den Scherern, die sich in ihren Gurten hängend über die Schafe beugten, nicht in die Quere zu kommen. Nell war mit ihren drei Jahren in dieser Hinsicht schon ein alter Hase. Aber wie sollte Henry das wissen? Kate seufzte, als ihr bewusst wurde, wie viel sie ihrem Vater heute und in Zukunft noch beweisen musste.

»Also, Nellie. Wenn wir später mit dem Scheren beginnen, kannst du deinem Opa dabei helfen, die Wollflocken und die Wolle von den Unterseiten zu sortieren. Okay?«

»Ja, Mami. Ich helfe Opa.«

»Prima, Nell. Das freut mich.«


Punkt 7.30 Uhr, gerade als die Männer ihre Arbeitshosen festgeschnürt hatten, um das erste Schaf zu holen, kam endlich Aden. Er brachte eine Deodorantwolke mit. Seine Haare, die vom Duschen noch nass waren, hatte er sorgfältig zur Igelfrisur gekämmt. Sein glattes Gesicht und seine helle Haut standen in scharfem Kontrast zu den sonnengebräunten, gefurchten Gesichtern der Schafscherer. Kate drückte ihm ein Paddel in die Hand.

»Das wurde aber Zeit«, sagte sie und hätte ihn am liebsten in den Hintern getreten, weil er so spät kam. Stattdessen beschloss sie jedoch, Ruhe zu bewahren. Sie musterte demonstrativ seine gestylten Haare. »Nette Frisur.«

»Danke«, sagte er und tätschelte seine blondierten Haarspitzen, ohne sich von ihrem Sarkasmus auch nur im Geringsten irritieren zu lassen.

»Warst du schon einmal beim Scheren dabei?«, fragte sie.

»Nein. Ich habe nur danach den Boden gefegt, als ich das letzte Mal hier war.«

»Toll«, sagte sie kühl. »Bei vier Scherern hast du jede Menge zu tun, deshalb musst du sehr schnell sein. Okay? Ich werde dir erst einmal helfen, später musst du dann allein zurechtkommen.«

Er nickte, wobei ein eifriger Ausdruck auf seinem schmalen Gesicht lag.

Als die Männer ihre ersten Schafe zu scheren begannen, stützte Aden sich auf sein Paddel und sah fasziniert dabei zu, wie sie mit ihren Schermessern durch die Wolle am Bauch der Tiere fuhren.

»Regel Nummer eins«, sagte Kate und trat ihm dabei mit dem Fuß das Paddel weg. »Stütz dich niemals auf einen Besen oder ein Paddel. Ein guter Helfer ruht sich niemals aus.«

Erschrocken stellte sich Aden aufrecht hin. Anscheinend wurde ihm erst jetzt klar, dass dieser Tag wohl wesentlich mehr Arbeit für ihn bereithielt, als er sich vorgestellt hatte. Kate zeigte ihm mit fachmännischen Handgriffen, wie er die Wolle, die vom Bauch der Schafe stammte, zuerst säubern musste. Sie bewegte sich schnell und zielgerichtet in der Scheune, und erklärte ihm dabei, dass er die kurzfaserige Wolle, die von den Beinen der Schafe stammte, wegnehmen musste, noch bevor der Scherer die Sprunggelenke schor.

»Wenn du die Wolle vom Hinterbein so schnell wie möglich von der anderen Wolle trennst, hat der Bewerter am Tisch weniger Arbeit. Dort, die Wolle, schnell!« Sie zeigte auf B. D., der gerade mit den Beinen seines Schafes fertig geworden war und es gleich auf die Seite drehen würde.

Aden bemühte sich, Schritt zu halten, während er gleichzeitig völlig verblüfft darüber war, wie präzise und schnell Kate arbeitete. Er war geradezu fasziniert, mit welcher Effizienz und Professionalität Razor, B. D., Rocker und Jonesy die Schafe von ihrer Wolle befreiten, wobei sie dabei anscheinend nur ein Minimum an Energie aufwendeten.

»Du darfst dich niemals ausruhen«, sagte Kate zu Aden, als sie sich bückte und eine Reihe von Zotteln aus einem Vlies zupfte.

»Schau, ob die Wolle verschmutzt ist, so wie hier.« Sie zeigte ihm ein paar getrocknete, grüne Kotbällchen und warf sie dann in einen Eimer. »Wenn du also irgendwelchen Dreck siehst – zupf ihn raus. Und achte darauf, dass die Männer alles haben, was sie brauchen. Der Scherplatz muss sauber sein, wenn das nächste Schaf kommt. Alles klar? Und tu, was sie dir sagen. Mach sie einfach nur glücklich«, sagte sie laut, um das Brummen und Summen der Maschinen zu übertönen.

Während Razor gerade mit dem Hinterteil seines Schafes fertig wurde, ging Kate in die Hocke und zeigte Aden, wie er das Vlies aufheben und auf den Tisch werfen musste, um dann sofort zurückzulaufen und die kurzen Locken wegzufegen, bevor der Scherer mit dem nächsten Schaf kam. Sie deutete auf die Eimer und Körbe, gab ihm Tipps und Hinweise, während sie die ganze Zeit unbeirrt weiterarbeitete. Sie zeigte ihm die Schafe in den Pferchen und den Balken, auf dem der Rötelstift lag, für den Fall, dass sich ein Hammel oder ein nichttragendes Schaf in der Herde befand, das mit einem roten Strich auf der Nase gekennzeichnet werden musste.

Als sie zwei Stunden später die erste Pause einlegten, schwitzte Aden genauso heftig wie die Scherer, und Kate war fast am Ende ihrer Kräfte. Aden benötigte mehr Aufmerksamkeit als ihre dreijährige Tochter. Nell hatte die ganze Zeit stillvergnügt einen Pfosten der Scheune mit Kreide bemalt. Als der Lärm der Maschinen zur Pause verstummt war, bemerkte Kate, dass Razor, der noch an seinem Platz stand, Aden dabei beobachtete, wie dieser im Schneckentempo die Flocken wegfegte. Razor zwinkerte Kate verschwörerisch zu, um ihr zu signalisieren, dass er dasselbe dachte wie sie. Dann streckte und reckte er sich, und drückte dabei seinen runden Bauch heraus.

»Ach, ich werde langsam zu alt für diesen Job.«

»Ich würde eher sagen, du wirst zu fett dafür«, sagte Jonesy, und gab Razor mit dem Handrücken einen Klaps auf dessen Bierbauch.

»Du bist auch nicht besonders gut in Form«, sagte Razor, und gab Jonesy ebenfalls einen Klaps auf dessen Bauch.

»Ja? Wann hast du deinen Pimmel denn das letzte Mal gesehen, ohne dass du einen Spiegel gebraucht hast?«, fragte Jonesy. Alle lachten.

Razor schüttelte den Kopf.

»Alter Angeber. Wenn es nicht so schwierig wäre, einen brauchbaren Scherer zu finden, würdest du schon längst auf der Straße sitzen, Jonesy. Das ist doch nur der Kummerspeck, den ich mir angefressen habe, weil du so schwer zu ertragen bist.«

Kate lächelte Razor an. Sie betrachtete dabei seinen glänzenden, kahlen Schädel und die dicken schwarzen Haare auf seinen Schultern, die jetzt schweißnass auf seiner Haut klebten. Sie wusste, dass sich unter seiner harten Schale ein weicher Kern verbarg. Er beugte sich zu ihr herüber und führte sie dann ein Stück weg, so dass sie außer Hörweite waren. Plötzlich war er wieder der professionelle Schafscherer.

»Bist du dir sicher, dass Aden es schafft, wenn du erst einmal draußen zu tun hast? Er ist kein guter Mann. Wenn du mich fragst, hat er die Schlafkrankheit oder so was. Er ist ja noch langsamer als Trev, und das will was heißen.«

»Könntest du für den Rest der Woche nicht einen anderen Helfer organisieren, wenn du dir schon sicher bist, dass wir Probleme kriegen? «, fragte Kate.

»Es sind die Schafe deines alten Herrn. Er entscheidet, wie viele Leute er braucht. Außerdem sind gute Helfer schwer zu finden. Selbst für mich ist es nicht einfach, einen guten Mann zu bekommen. Das wird auch dein Dad feststellen. Heutzutage will keiner mehr richtig hart arbeiten«, sagte Razor.

»Es ist wohl eher so, dass kein Mensch den ganzen Tag neben deinem gebückten, stinkenden Hintern stehen will«, mischte sich jetzt Jonesy ein.

»Ach, mein Sonnenschein, du bist doch nur eifersüchtig auf den Eeee-lectric Razor«, sagte Razor und wackelte dabei mit den Hüften.

Jonesy drehte sich zu Kate um und flüsterte ihr so laut zu, dass es jeder hören konnte: »Er glaubt, dass die Jungs ihn Razor nennen, weil er ein so guter Schafscherer ist. In Wirklichkeit tun sie das aber nur, weil er am Rücken und am Sack dringend mal rasiert werden müsste. Sieh dir das nächste Mal, wenn er sich bückt, doch einmal seinen Wombat-Arsch an. Er ist der haarigste Kerl, den ich je gesehen habe.«

Kate lachte und verdrehte die Augen.

»Wirklich nett«, sagte sie.

»Halt die Schnauze, Jonesy. Wenigstens ärgert Nell mich nicht«, sagte er und schlenderte dann zu Kates Tochter hinüber. »Na, wie läuft’s, Gertie?«

Nell saß in einem Wollbehälter auf einem Stapel Wolle und redete mit ihrer Puppe.

»Sie hält sich wirklich prima«, sagte Henry und sah von dem letzten Vlies auf, das er gerade für den ersten Durchlauf säuberte. »Sie ist meine persönliche Assistentin, stimmt’s?«

Nell sah Henry an und lächelte. Kate stellte mit Erstaunen fest, dass Henry den Kopf zur Seite neigte, wenn er mit Nell sprach, und dass dabei sogar ein freundliches Lächeln um seinen sonst so ernsten Mund spielte. Sie war unglaublich erleichtert.

Während der Arbeit hatte Kate sehr unter Druck gestanden. Zum einen, weil sie die ganze Zeit ein Auge auf Nell haben und zum anderen auch noch Adens Unfähigkeit ausgleichen musste. Das Ganze hatte sie viel Kraft gekostet, und dabei war dies der erste Tag. Der erste Durchlauf! Jetzt wurde ihr jedoch bewusst, dass auch ihr Vater Nell die ganze Zeit über beobachtet hatte.

Bevor Kate zur Scheune gefahren war, hatte sie sich alle möglichen Ablenkungsmanöver überlegt, um Nell ruhig zu halten. Und um ihrem Vater zu beweisen, dass sie bei der Schafschur helfen und sich gleichzeitig um ihre Tochter kümmern konnte. Kate musste dafür eine lange Liste im Kopf behalten: Nells kleine blaugelbe Trinkflasche, die stets griffbereit sein musste. Ihre rote Lunchbox mit ein paar Keksen. Ein Stück Obst. Ein Buch – nicht irgendein Buch, sondern eines von jenen, die sie besonders gern mochte. Einen Mantel, eine zweite Hose, falls irgendein Malheur passieren sollte, eine zusätzliche Kappe, Sonnenschutzmittel, Papiertaschentücher, Lappen, mehrere T-Shirts für warmes Wetter, Handschuhe für kaltes Wetter. Und für den Fall der Fälle hatte sie eine Flasche mit warmer Milch, Nells Kuscheldecke und ein dickes, weiches Kissen eingepackt. Diese Dinge waren alle in einer großen blauen Tasche verstaut, die Tante Maureen genäht hatte.

Jetzt aber, da ihr Vater hier war, am Wolltisch arbeitete und sich hin und wieder bückte, um sich mit Nell zu beschäftigen, spürte Kate, wie der Druck ein wenig nachließ.

Als Razor, Trev und Jonesy im Geräteraum verschwanden, um dort Pause zu machen, stellte Kate die schwere blaue Tasche neben Henry auf den fettigen Wolltisch und begann darin herumzukramen. Dann sagte sie zu ihrem Vater. »Würde es dir etwas ausmachen, Nell eine Kleinigkeit zu essen zu geben, während ich draußen die nächsten Schafe hole?«

Henry sah Kate nicht einmal an. Stattdessen wandte er seinen Blick Nell zu.

»Willst du denn mit deinem Opa etwas essen?«, fragte er und streckte ihr beide Hände entgegen. Nell sprang auf und lief mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, um von ihm hochgenommen zu werden. Kate drückte Henry lächelnd eine Kindertasse in die Hand, nachdem er Nell auf seine Hüfte gesetzt hatte.

»Danke, Dad«, sagte sie, dann drehte sie sich um und verließ die Scheune. Aus dem Geräteraum drang Razors Stimme, der in schauderhaft näselndem Ton ein Lied krächzte. Dazu das rhythmische Klappern eines Löffels, mit dem jemand auf die Deckel der Kaffeebüchsen trommelte.

»Gütiger Gott! Kastriert da drin gerade jemand eine Katze?«, hörte Kate Rocker aus einem der hinteren Pferche rufen, wo er sich gerade über einem der Gitter erleichterte. Sie lächelte. Auch wenn Will nicht bei ihnen war, so war sie hier in der Scheune von Bronty bei diesen Burschen, genau dort, wo sie hingehörte. Hier würde sie wieder zu sich selbst finden.


Draußen im hellen Sonnenschein, der den Frost vertrieben hatte, begann Kate, die Schafe in den Pferchen zu zählen. Nachdem sie die Tore geschlossen hatte, zog sie ein Notizbuch aus der Tasche ihrer Jeans und trug dann das Ergebnis ein. Sie sah sich die Scherspuren an, die die Männer auf den Rücken der Schafe hinterlassen hatten. Ihrer Beobachtung nach war Razor noch immer der schnellste und, wie sie feststellte, auch der sorgfältigste Schafscherer.

Sie pfiff Grumpy zu sich. Er kam auf sie zugesprungen, während sie ihren Blick langsam über die Koppeln schweifen ließ, dorthin, wo ihr Vater erst gestern mit dem Traktor und dem Scheibenpflug den Boden bearbeitet hatte. Das dunkelrote, umgebrochene Erdreich zeichnete sich auf dem ansonsten stumpfgrünen Hang als großes Rechteck ab. Allein der Gedanke an den Traktor löste bei Kate eine Welle großer Traurigkeit aus. Sie wandte sich ab und bückte sich, um das Tor des Unterstandes zu öffnen, während sie sich verzweifelt wünschte, dass Will noch am Leben wäre.

Als die Schafe aus der nach Moschus riechenden Dunkelheit unter dem Unterstand hervorkamen, fragte Kate sich, wie wohl der Rest des Tages laufen würde. Es warteten draußen noch einige Aufgaben auf sie: Sie musste die Schafe durch das Desinfektionsbad auf die Weide treiben, dann musste sie die Tiere aussortieren, die nicht trächtig waren und schließlich die anderen Schafe holen. Aden war keine große Hilfe, denn er war langsam wie eine Schnecke. Und auch wenn Nell und ihr Vater im Augenblick gut miteinander auskamen, so konnte sie nicht sagen, was geschehen würde, wenn Nell es leid wurde, in der Scheune herumzusitzen. Wieder spürte sie einen heftigen Schmerz, weil Will nicht mehr da war.

Als Kate ihre Arbeit vor der Scheune vorläufig beendet hatte, rollte sie das massive Tor aus Wellblech nach oben, so dass es donnerte wie bei einem Gewitter. Sie betrat die Scheune und brachte mattes Sonnenlicht mit, das sich als eine Art goldener Schleier über die Gitter und die wolligen Rücken der Schafe legte. Als sie das Tor wieder hinter sich schloss und damit auch die Sonne aussperrte, fiel ihr auf, dass der Lärm der Schermesser verstummt war. Sie hörte Aden laut fluchen und vernahm dann das panische Getrappel von Hufen, als die Herde wie ein Fluss der Hochwasser führte, gegen die Zäune brandete. Sie sah auf ihre Uhr. Bis zum Mittagessen waren es noch zwanzig Minuten. Warum hatten die Schafscherer schon zu arbeiten aufgehört?

Die Männer standen mit dem Rücken zu den Fangpferchen. Sie hatten Schraubenzieher in der Hand und hantierten damit schweigend an ihren Scheraufsätzen herum. Offensichtlich tauschten sie gerade die Messer aus. Kate hörte das Geräusch von Metall, das über Metall glitt, als sie die Schermesser mit ihren mit Lanolin überzogenen Daumen gegen die langen Zähne der Kämme schoben.

Als sie sich vergewissert hatten, dass ihre Messer und Kämme wieder einsatzbereit waren, steckten die Männer die Scheraufsätze wieder auf die Geräte und legten sie auf dem Boden zurecht. Dann zogen sie ihre Hosen hoch, bereit weiterzuarbeiten. Die Pferche waren jedoch noch immer leer. Razor und Jonesy sahen sich kurz an, dann gingen sie durch die Schwingtür auf Aden und die Schafe zu.

»Wir helfen dir«, bot Razor an.

»Ich komm schon klar«, keuchte Aden. »Ich brauche eure Hilfe nicht.«

Henry, der gerade zusammen mit Trev einen Haufen Vlieswolle auf dem Tisch durchsah, blickte von seiner Arbeit auf. Kate sah, dass der Boden mit Wollflocken geradezu übersät war. Sie lagen überall herum und sammelten sich wie kleine Schneewehen an den Wänden. Ungesäuberte Vliese türmten sich am Ende des aus Latten bestehenden Wolltischs wie Kumuluswolken kurz vor einem Unwetter auf.

Razor sah dem heftig schnaufenden jungen Mann, der soeben seine Hilfe abgelehnt hatte, direkt in die Augen.

»Mach, was du willst«, sagte er, bevor er wieder davonschlenderte und sich auf den Wolltisch hockte, um mit Jonesy über das Football-Endspiel zu plaudern. Rocker und B. D. sahen sich kurz an, nahmen dann ihre Wasserflaschen und setzten sich dazu.

In dem Pferch schleuderte Aden gerade ein Schaf auf das Tor. Es krachte mit dem Kopf gegen einen der hölzernen Stützpfosten, so dass die ganze Scheune vibrierte. Aden hob das Tier wieder auf und wollte es in Richtung des nächsten Pferchs werfen, als Kate ihn anschrie.

»He!«

Sie schob sich durch die Schafe auf ihn zu.

»Die dämlichen Mistviecher wollen sich einfach nicht bewegen«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Das Schaf versuchte, an ihm vorbeizurennen. Kate sah, wie er seine Faust hob.

»Aden! Nein!«

Seine Knöchel trafen das knochige Gesicht des Schafes. Das verängstigte Tier verdrehte die Augen und ging mit den Vorderläufen in die Knie. Mit seiner dichten Wolle und so hoch trächtig wie es war, knickten dann auch seine Hinterbeine unter ihm ein.

»Hör auf!«, schrie Kate Aden an. Aus der Nase des Schafs tropfte Blut in die weichen Falten seines Mauls. Auf Kates Schrei hin stürmte Razor mit seinem gewaltigen Körper durch die Schwingtüren der Pferche, so dass sie so wild hin- und herschwangen wie die Saloontüren in einem Western. Er packte Aden beim Hemdkragen und drückte ihn dann mit seinem Gorillaarm an einen der Pfosten.

»Ich hatte schon heute Morgen so eine Ahnung, dass du ein Arschloch bist, Kumpel. Aber jetzt bin ich mir sicher«, sagte er, wobei er Aden an seinem Hemd festhielt und ihn heftig schüttelte.

»Lass mich los!« Aden versuchte sich aus Razors Griff zu befreien. Als er ihm dabei jedoch kurz in die Augen sah, war sein Zorn wie weggeblasen. Razor bestand nur aus Muskeln, Sehnen und rauen Stoppeln, wenn er es wollte, konnte er wirklich sehr unangenehm werden. Seine gefletschten gelben Zähne, sein stechender, männlicher Geruch und die pulsierenden Adern auf seinen schweißglänzenden Schläfen machten ihn ohne jeden Zweifel zu einem absoluten Alpha-Männchen. Aden sah in seinem gebügelten Hemd, den frisch gefärbten Haarspitzen und den neuen Stiefeln dagegen aus, als käme er gerade aus einem Schönheitssalon.

Aden begann zu schlagen und zu strampeln, aber die Hand, die ihn festhielt, hatte bereits seit dreißig Jahren unzählige Schafe im vollen Wollkleid gehalten, während die andere ein Schermesser durch ihr Vlies geführt hatte. Die Hand, die Aden festhielt, war wie ein Schraubstock.

»Schwangere zu schlagen ist bei mir nicht drin, Kumpel«, sagte Razor. »Und es ist mir scheißegal, ob es sich dabei um eine Frau, ein Schaf, einen Hund oder einen verdammten Frosch handelt. Es ist ganz einfach nicht drin.«

»Lass ihn los.« Das war Henry Websters Stimme.

Razor drehte sich um und sah seinen Boss an. »Tut mir leid, Boss. Aber ich lasse nicht zu, dass irgendjemand hier die Schafe verprügelt.« Razor ließ Aden, der inzwischen einen feuerroten Kopf hatte, los. »Und ich will auch nicht, dass meine Leute beim Scheren knietief in der Wolle stehen. Seit Kate nicht mehr in der Scheune ist, ist nämlich genau das der Fall. So geht es einfach nicht. Dieser Idiot hier hält alles auf. Die kleine Nell dort würde es besser machen!« Da Razor wusste, dass Wills Abwesenheit der tatsächliche Grund für diesen chaotischen Morgen war, sah er Henry jetzt an und sagte mit ruhigerer Stimme: »Wenn es dir recht ist, machen wir etwas früher Mittagspause, Kumpel. Das gibt dir Zeit, einen anderen Helfer zu suchen. Geht das in Ordnung?«

Henry Webster seufzte.

»Hört sich fair an«, sagte er, da er wusste, dass Razor Recht hatte.

Henry bedeutete Aden mit einer Kopfbewegung, dass er ihm folgen sollte. Aden zog sein Hemd glatt, straffte die Schultern und verließ dann mit hochrotem Gesicht die Scheune, wo die Männer schweigend ihre Kleidung für das Mittagessen in Ordnung brachten. Kate ging zu Nell und nahm sie auf den Arm. Sie wusste, dass das, was sich hier gerade abgespielt hatte, ihre Tochter sehr verwirrt haben musste. Sie setzte Nell auf ihre Hüfte, gab ihr einen tröstenden Kuss und strich ihr ein paar widerspenstige Locken aus den Augen. Als Kate sich zu den Männern umdrehte, schüttete sich Jonesy vor Lachen aus.

»Mann, Kumpel. Du bist vielleicht ein Rindvieh.« Er gab Razor einen Schubs.

»Wieso?«, fragte Razor sichtlich verwirrt.

»Es sind Kaulquappen«, sagte Johnsey.

»Kaulquappen?«

»Ja«, erklärte Jonesy. »Du hast ihm gesagt, dass Frösche schwanger werden. Die verdammten Frösche werden aber nicht schwanger, Kumpel. Sie legen Eier, und daraus schlüpfen dann Kaulquappen. Hast du jemals einen schwangeren Frosch gesehen?«

Jetzt begannen alle lauthals zu lachen, während Razor ein Lächeln unterdrückte und den Kopf schüttelte.

»Dieses Arschloch hat mich schon verstanden. Außerdem wollte ich ihm ja auch keinen Vortrag in Biologie halten.«

»Eine Lektion hätte er allerdings dringend nötig«, sagte Kate. »Ich glaube, man nennt sie Grundkurs in Schafpsychologie.«

»Für einen Arsch wie ihn wäre selbst der Grundkurs noch zu schwer«, sagte Jonesy. »Ich fand ihn schon in dem Moment zum Kotzen, als ich ihn das erste Mal gesehen habe.«

Und Rocker fügte zustimmend hinzu: »Je schneller wir einen anderen Helfer kriegen, desto besser.«

»Da gibt es nur ein kleines Problem«, sagte Kate. »Wo sollen wir den denn finden?«