Kapitel 12

Kate sah die Mutterschafe. Mehr als tausend Stück, die den Hügel sprenkelten. Graue, wollige Kleckse, die in alle Himmelsrichtungen verstreut grasten. Das Tosen des Windes, der von der See her blies, war offenbar so laut, dass es das Geräusch des Dieselmotors von Kates Pick-up übertönte, denn die Schafe hoben ihre Köpfe erst, als Kate fast bei ihnen war. Auf der Ladefläche des Pick-ups war Wills Bordercollie Grumpy angebunden. Er spitzte die Ohren, aber eine plötzliche heftige Windböe veranlasste ihn, seine Ohren wieder anzulegen. Neben ihm hatte es sich Sheila bequem gemacht. Sie hatte sich in den Resten von Heu und dem Wirrwarr von Seilen, die auf der Ladefläche lagen, eine Art Nest gemacht. Die schlafende alte Hündin blinzelte nur ein paar Mal, als sie die Schafe witterte.

Die Mutterschafe drängten sich ein wenig enger zusammen, blieben dann aber ruhig stehen und wandten ihre Gesichter dem Fahrzeug zu. Will war es offenbar gelungen, ihnen ihre Scheu zu nehmen, wie Kate bemerkte. Er war wirklich ein ausgezeichneter Viehzüchter. Da seit seinem Tod gerade einmal zwei Wochen vergangen waren, war ihre Trauer noch frisch. Im Haus war der Kummer für Kate noch schwerer zu ertragen. Dort nämlich war ihr Verlust noch deutlicher zu spüren. Ihre Mutter und Will, ersetzt durch Fremde. Aber draußen im Freien spürte Kate ihre Mutter und ihren Bruder. Hier war sie zu Hause.

Kate zog die Handbremse an, stellte den Motor ab und vergewisserte sich, dass sie einen Gang eingelegt hatte. Dann drehte sie sich zu Nell um, die hinten in ihrem Kindersitz angeschnallt war.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob Onkel Wills Hund mit mir arbeitet, denn er kennt mich kaum. Ich gehe also ein bisschen zu Fuß, um ihm etwas dabei zu helfen. Willst du mitkommen oder lieber hier warten? Da draußen ist es ziemlich ekelhaft.«

Nell sah auf die windgepeitschte Weide hinaus.

»Hier warten«, sagte sie und lächelte voller Vorfreude, als Kate ihr eine Schachtel Sultaninen gab.

Draußen im Wind zog Kate sich ihre Kappe fest in die Stirn. Sie machte Grumpy von der Leine los. Er sprang von der Ladefläche des Pick-ups und schoss in Richtung der Schafe davon. Kate rief ihn jedoch mit einem schrillen Pfiff wieder zurück.

»Bei Fuß«, befahl sie ihm. Widerwillig trottete er auf sie zu und blieb dann hinter ihr stehen, während sie den Hügel hinaufsah und überlegte, wohin sie ihn schicken sollte. Bei diesem Wind waren die Schafe ziemlich schwierig zu handhaben. Außerdem könnte der Hund ihre Anweisungen kaum hören. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm auf eine so weite Distanz schon vertrauen konnte.

Also entschied sie sich dafür, die Schafe selbst ein bisschen zusammenzutreiben. Unter ihnen befanden sich möglicherweise ein paar kranke und schwache Tiere. Sie hoffte, keines von ihnen auf den Pick-up heben zu müssen, denn sie hatte sich seit Nells Geburt keinerlei schwere körperliche Arbeit mehr zugemutet. Ihr Vertrauen in ihren eigenen Körper und ihre Kraft war seit der Entbindung immer mehr geschwunden. Die sitzende Tätigkeit in dem Büro in Orange hatte das Ganze noch schlimmer gemacht.

Mit der Zeit und der entsprechenden Übung, so dachte sie, würde das Vertrauen in ihren Körper bestimmt wieder zurückkehren. Kate spürte, wie ihre Oberschenkelmuskeln arbeiteten, als sie den anstrengenden Weg den Hügel hinauf in Angriff nahm.

Als ihr Vater sie gebeten hatte, die Schafe noch vor dem Lammen zur Schur zusammenzutreiben, hätte Kate diese Aufgabe gern zu Pferd erledigt. Von Matildas Rücken aus hätte sie Grumpy nämlich wesentlich besser kontrollieren können. Es war ihr nicht leicht gefallen, Annabelle zu bitten, sich in der Zwischenzeit um Nell zu kümmern. Seit der Beerdigung hatten Kate und Annabelle es beide sorgsam vermieden, ihre gegenseitige Ablehnung offenkundig werden zu lassen.

Als Kate Annabelle an diesem Morgen gebeten hatte, sich ein paar Stunden um Nell zu kümmern, war Annabelle gerade in der Küche beschäftigt gewesen. Natürlich hatte Annabelle keine Zeit, auf Nell aufzupassen. Der Katalog von Pflichten, den sie Kate heruntergeleiert hatte, hatte sich wie ein Mantra angehört: Da waren das Geschirr zu spülen, die Betten zu machen und die Mahlzeiten zuzubereiten, die vielen Mahlzeiten für die vielen Leute, die jetzt hier lebten. Annabelle hatte Kate dabei an eine der roboterhaften Frauen von Stepford erinnert, die kurz davor stand durchzudrehen.

Es war sehr ernüchternd für Kate, als ihr langsam bewusst wurde, wie ein Leben auf Bronty ohne Will aussah. Ohne ihn fühlte sie sich einsam und verlassen. Und ihre Stieffamilie wurde, anders als sie es sich erhofft hatte, auch mit Nell in keiner Weise warm. Amy und Aden machten sich nicht das Geringste aus kleinen Kindern und blieben schon deshalb auf Abstand. Annabelle wiederum zeigte sich Nell gegenüber unangenehm autoritär. Sie verbot ihr ständig, irgendwelche Schränke zu öffnen oder auf irgendwelche Möbelstücke zu steigen, und behandelte sie, als wäre sie ihr andauernd im Weg oder würde laufend das totale Chaos anrichten. Kate hatte überlegt, ob sie ihren Vater darum bitten sollte, auf Nell aufzupassen, aber allein die Vorstellung war ihr dann doch so fremd, dass sie sich einfach nicht dazu durchringen konnte.

Während der ersten Tage nach dem Begräbnis war Kate aufgefallen, dass ihr Vater Nell mit einer gewissen Faszination beobachtete – sie hatte sogar geglaubt, in seinem Blick erste Anzeichen einer tiefen Zuneigung zu seiner kleinen Enkeltochter zu erkennen. Als Nell Henry dann zum ersten Mal »Opa« genannt hatte, hatte Kate gesehen, wie er bei diesem Wort förmlich zusammengezuckt war. Dann aber hatte er sich zu Nell hinuntergebeugt, hatte ihr zugezwinkert und sie gekitzelt. Sie hatte gekichert und ihn zurückgekitzelt. Nell ging mit kindlicher Unbefangenheit auf Henry zu. Sie kletterte immer öfter auf seinen Schoß, um ihm irgendetwas zu zeigen oder um ihm von einer der Entdeckungen, die sie in ihrer Welt gemacht hatte, zu erzählen. Aber auch wenn sie ihn inzwischen als ihren Großvater angenommen hatte, so hatte Henry noch immer große Probleme damit, sie als seine Enkelin zu akzeptieren. Kate wusste, dass er sich deshalb auch sträuben würde, wenn sie ihn darum bäte, auf Nell aufzupassen. Also war ihr an diesem Morgen nichts anderes übrig geblieben, als Nell einfach mitzunehmen. Heute würde es also mit dem Reiten nichts werden.

Während sie jetzt zu Fuß die Schafe umkreiste, konnte sie sehen, wie Nell eine Sultanine nach der anderen aß und dabei die Schafe beobachtete. Nell war daran gewohnt, auf irgendwelchen Koppeln zu warten. Schon auf der Farm von Tante Maureen hatte Kate die kleine Nell in ihrer Babyschale im Wagen festgeschnallt, um dann ein paar Ballen Heu an die Schafe zu verfüttern. Manchmal hatte sie Nell sogar gestillt, während sie im Schneidersitz inmitten von Schafkötteln auf der Weide saß und die Schafe um sie herum gierig das Heu fraßen. Immer wenn Kate ihr T-Shirt nach oben gezogen und ihren Still-BH geöffnet hatte, war das getrocknete Gras des letzten Sommers auf das Gesicht ihres Babys gefallen. Kleine Samenkörner hatten sich hartnäckig an Nells perfekter Haut festgehalten. Kate hatte sie mit ihren schmutzigen Fingern zärtlich weggewischt, damit sie nicht in Nells Augen kamen.

Jetzt, bei diesem Sturm, war Kate froh, dass sie sich, von Annabelle und der Enge des Farmhauses befreit, draußen im Freien aufhalten konnte und Nell bei sich hatte. Sie ging mit kräftigen Schritten den Hügel hinauf, während ihr Grumpy auf dem Fuß folgte.

Als sie den Hund endlich anwies, die Schafe zusammenzutreiben, schoss er in perfekter Collie-Manier davon und machte sich an die Arbeit, ohne dabei die Tiere im Geringsten zu erschrecken. Jetzt wusste Kate, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Er würde die Herde zusammenhalten, während sie zurückging und den Pick-up holte. Sie hätte ihm von Anfang an vertrauen sollen. Vor allem hätte sie wissen müssen, dass Wills Hund ebenso sanft und freundlich wäre, wie er selbst es war. Am Pick-up angekommen, klopfte sie lächelnd an die Fensterscheibe und winkte Nell zu. Nell winkte lachend zurück, wobei ihr einige Rosinen aus dem Mund fielen.

Kate fuhr mit dem Pick-up über den felsigen Boden des Hügels, wobei sie die Schafe auf der einen Seite leitete, während Grumpy das hintere Ende der Herde kontrollierte. Der Hund beschrieb dabei Halbbogen, so als würde er den unsichtbaren Umriss einer Mondsichel auf dem Gras nachziehen. Wieder und wieder.

Als sie sich dem Zaun auf der windabgewandten Seite des Hügels näherten, sah Kate das Tor. Die Muskeln in ihrem Nacken und ihren Schultern verspannten sich. Am Horizont ging die kabbbelige See in dunkle, regenschwere Wolken über. Himmel und Meer vermischten sich zu einem einzigen brodelnden, grauen Sturm.

Am Tor angekommen, stieg Kate aus dem Pick-up und gab Grumpy dann mit erhobener Hand ein Zeichen. Er setzte sich hin, behielt die Leittiere der Herde aber im Blick, bereit, sofort einzugreifen, wenn eines von ihnen versuchen sollte auszubrechen. Kate ging zum Tor, um es zu öffnen. Sie versuchte, dabei nicht hinzusehen, aber sie konnte einfach nicht anders. Da war der verbogene Rahmen, die verzogenen Angeln, dort wo die Bolzen den Spannpfosten gerade noch gehalten hatten. Die Schleifspuren auf dem Boden waren noch gut sichtbar. Farbspray von der polizeilichen Untersuchung und die zerfetzten Reste flatternden gelben Plastikbandes. Alles war da. Der ganze Schrecken. Kate brach in Tränen aus, aber der Wind riss ihr Schluchzen mit sich fort. Sie hatte Nell den Rücken zugewandt, damit ihre Tochter sie nicht sehen konnte. Sie rüttelte wütend und mit zusammengebissenen Zähnen an dem Tor. In ihren Schläfen klopfte das Blut. Sie riss sich die Kappe vom Kopf und legte die Stirn an den kalten Metallrahmen, schlug mit ihrem Kopf so lange dagegen, bis sich ihre Haut rötete und sie den Schmerz zu spüren begann.

»Will. Mama. Will. Mama«, sagte sie leise immer wieder vor sich hin.

Hinter ihr begannen sich die Schafe in Bewegung zu setzen. Sofort rannte Grumpy los, um das Leittier zu blockieren. Kate atmete tief ein, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und hakte dann die widerspenstige Kette auf. Dann öffnete sie das Tor, das Tor, das sie so sehr hasste, dass sie es am liebsten mit ihrem Pick-up aus dem Boden gerissen hätte.

Sie trat einen Schritt zurück und sah dann dabei zu, wie die Schafe langsam an ihr vorbeiliefen. Versuchte, all das in sich aufzunehmen. Sah das, was Will zuletzt gesehen haben musste. Das Meer. Dieses herrliche Stück Küste. Die halbmondförmige Bucht. Ein lebendiger Himmel. Ein sicherer Hafen.

Kate sah zu, wie die Schafe sich ihre Trampelpfade suchten und dann in Richtung der Scheune, wo sie geschoren werden sollten, weitertrotteten. Dann stieg sie wieder in den Pick-up, setzte sich neben Nell und strich ihr über die Haare.

»Mami hat dich lieb, weißt du«, sagte sie. »Sehr, sehr lieb.«

»Vogel!«, sagte Nell und zeigte auf einen Seeadler, der hoch über ihnen im Wind segelte.

»Ja, Schätzchen, es sind sogar zwei. Siehst du sie? Eine Vogelmama …«

»… und ein Vogelkind!«

»Ja, Nellie. Und ihr Vogelkind.«

»Wo ist der Vogelpapa?«

»Manchmal ist der Vogelpapa einfach nicht da.«

»Warum?«,fragte Nell.

»Darum.«

»Warum darum?«

»Einfach darum.«